Fünftes Kapitel
Der Kronrath vom 24. Januar

[548] Wann der Gedanke, mich zu beseitigen, in dem Kaiser entstanden, wann zum Entschlusse gereift ist, kann ich nicht wissen. Der Gedanke, daß er den Ruhm seiner dereinstigen Regierung mit mir nicht theilen werde, wenn ich Minister bliebe, war ihm schon als Prinzen nahe gebracht und eingängig geworden. Es war natürlich, daß an den künftigen Thronerben, solange derselbe in der zugänglichen Stellung eines jungen Offiziers war, sich Streber nestelten, die man ihrer Zeit mit einem Berolinismus als »Militair- und Civilschuster« bezeichnete. Je näher die Wahrscheinlichkeit rückte,[548] daß der Prinz bald nach seines Großvaters Tode zur Regierung kommen werde, desto lebhafter wurden die Bestrebungen, den zukünftigen Kaiser für persönliche und Parteizwecke zu gewinnen. Gegen mich ist schon vorher die von Graf Waldersee angebrachte, wohlberechnete Phrase dabei ausgenutzt worden: wenn Friedrich der Große einen solchen Kanzler gehabt hätte, so wäre er nicht der Große geworden.

Die Verstimmung, welche durch die Stöcker'sche Sache in den brieflichen Verkehr des Prinzen Wilhelm mit mir gekommen war (Brief desselben vom 14. Januar 1888) verzog sich wieder, wenigstens äußerlich. Auf dem Diner, welches ich am 1. April 1888 gab, brachte der inzwischen Thronfolger gewordene Prinz einen Toast auf mich aus, in welchem er nach dem von der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« als authentisch gegebenen Texte sagte:

»Um mich eines militärischen Bildes zu bedienen, so sehe ich unsere jetzige Lage an wie ein Regiment, das zum Sturm schreitet. Der Regimentskommandeur ist gefallen, der nächste im Kommando reitet, obwohl schwer getroffen, noch kühn voran. Da richten sich die Blicke auf die Fahne, die der Träger hoch emporschwenkt. So halten Ew. Durchlaucht das Reichspanier empor. Möge es, das ist unser innigster Herzenswunsch, Ihnen noch lange vergönnt sein, in Gemeinschaft mit unserem geliebten und verehrten Kaiser das Reichsbanner hochzuhalten. Gott segne und schütze denselben und Ew. Durchlaucht!«

Am 1. Januar 1889 erhielt ich folgendes Schreiben:


»Lieber Fürst! Das Jahr, welches uns so schwere Heimsuchungen und unersetzliche Verluste gebracht hat, geht zu Ende. Mit Freude und Trost zugleich erfüllt Mich der Gedanke, daß Sie Mir treu zur Seite stehen und mit frischer Kraft in das neue Jahr eintreten. Von ganzem Herzen erflehe Ich für Sie Glück, Segen und vor allem andauernde Gesundheit und hoffe zu Gott, daß es Mir noch recht lange vergönnt sein möge, mit Ihnen zusammen für die Wohlfahrt und Größe unseres Vaterlandes zu wirken.

Wilhelm. I.R.«


Bis zum Herbst waren keine Symptome einer Sinnesänderung bemerkbar; aber im October bei der Anwesenheit des Kaisers von Rußland war S.M. überrascht darüber, daß ich den beabsichtigten zweiten Besuch in Rußland widerrieth, und gab durch sein Verhalten[549] gegen mich eine Verstimmung zu erkennen. Der Vorgang wird seinen rechten Platz in einem späteren Abschnitt finden.1 Einige Tage später trat der Kaiser die Reise nach Constantinopel an, von welcher er aus Messina, Athen und den Dardanellen freundliche Telegramme über seine Eindrücke an mich sandte. Jedoch ist es später zu meiner Kenntniß gekommen, daß er im Auslande »zuviel von dem Kanzler« hatte sprechen hören. Eine etwaige Verstimmung darüber wurde durch berechnete Witzworte meiner Gegner gesteigert, in denen unter anderm von der Firma Bismarck und Sohn die Rede war.

Ich war inzwischen, am 16. October, nach Friedrichsruh gegangen. In meinem Alter hing ich um meiner selbst willen nicht an meiner Stelle, und wenn ich die baldige Trennung vorhergesehen hätte, so würde ich sie für den Kaiser bequemer und für mich würdiger herbeigeführt haben. Daß ich sie nicht vorhergesehen habe, beweist, daß ich trotz vierzigjähriger Uebung kein Höfling geworden war und die Politik mich mehr in Anspruch nahm als die Frage meiner Stellung, an welche mich nicht Herrschsucht und Ehrgeiz, sondern nur mein Pflichtgefühl fesselte.

Im Laufe des Januar 1890 kam es zu meiner Kenntniß, wie lebhaft der Kaiser sein Interesse der sogenannten Arbeiterschutzgesetzgebung zugewandt und daß er sich darüber mit dem Könige von Sachsen und dem Großherzoge von Baden benommen hatte, die zur Beisetzung der Kaiserin Augusta nach Berlin gekommen waren. In Sachsen waren die Bestimmungen, welche unter der genannten Rubrik den Reichstag und den Bundesrath beschäftigt hatten, das heißt gesetzliche Beschränkung der Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit, zum Theil bereits vor längerer Zeit eingeführt und von verschiedenen Industrien unbequem empfunden worden. Die sächsische Regierung wollte der zahlreichen Arbeiterbevölkerung gegenüber nicht ihre eigenen Anordnungen selbst reformiren; die betheiligten Industriellen drückten auf sie mit dem Wunsche, daß im Wege der Reichsgesetzgebung eine Revision der sächsischen Einrichtungen herbeigeführt oder die Unbequemlichkeit derselben für das ganze Reich, also für alle deutschen Konkurrenten verallgemeinert werden möge, und der König hatte ihnen in soweit nachgegeben, daß die sächsischen Vertreter im Bundesrathe im Sinne des sogenannten Arbeiterschutzgesetzes thätig wurden, für welches nach und nach alle Parteien im Reichstage, um Stimmen der Wähler zu gewinnen oder doch nicht zu[550] verlieren, sich in Resolutionen ausgesprochen hatten. Für die bundesräthliche Bureaukratie lag in den wiederholten Resolutionen des Reichstags ein Druck, dem sie bei ihrem Mangel an Fühlung mit dem praktischen Leben nicht widerstand. Die Mitglieder der betreffenden Ausschüsse glaubten ihren Ruf als Menschenfreunde zu schädigen, wenn sie nicht in die von England ausgehenden humanitären Phrasen einstimmten. Auch das gewichtige bayerische Votum war nicht von Vorgesetzten instruirt, welche die Verantwortlichkeit für den Schein antihumaner Bestrebungen zu übernehmen geneigt waren. Ich veranlaßte, daß die Resolutionen des Reichstags im Bundesrathe unbeachtet blieben. Es war unter diesen Umständen für Herrn von Boetticher eine leichte und dankbare Aufgabe, im Verkehr mit seinen bundesräthlichen Kollegen meine Ansicht zu kritisiren anstatt sie zu vertreten. Meine lange Abwesenheit von Berlin brachte ihn in die Lage, dasselbe dem Kaiser gegenüber zu thun und, wenn er ihm in meiner Vertretung Vortrag zu halten hatte, meinen Eigensinn als das Hinderniß auf dem Wege des Kaisers zur Popularität zu bezeichnen.

Es widerstrebte meiner Ueberzeugung und Erfahrung, in die Unabhängigkeit des Arbeiters, in sein Erwerbsleben und in seine Rechte als Familienhaupt so tief einzugreifen wie durch ein gesetzliches Verbot, seine und der Seinigen Arbeitskräfte nach eignem Ermessen zu verwerthen. Ich glaube nicht, daß der Arbeiter an sich dankbar dafür ist, daß man ihm verbietet, Geld zu verdienen an Tagen und in Stunden, wo er dazu geneigt ist, wenn auch ohne Zweifel von den Führern der Socialisten diese Frage zu einer erfolgreichen Agitation benutzt wird, mit der Vorspiegelung, daß die Unternehmer auch für die verkürzte Arbeitszeit den unverkürzten Lohn zu zahlen im Stande seien. Mit dem Verbote der Sonntagsarbeit habe ich bei persönlicher Erkundigung die Arbeiter stets nur dann einverstanden gefunden, wenn ihnen zugesichert werden konnte, daß der Wochenlohn für sechs Arbeitstage ebenso hoch sein werde wie früher für sieben. Mit dem Verbote oder der Beschränkung der Arbeit Nicht-Erwachsener waren die Eltern der von der Arbeit Auszuschließenden nicht einverstanden, und unter den Nicht-Erwachsenen nur Individuen von bedenklicher Lebensrichtung. Die Ansicht, daß der Arbeiter von dem Arbeitgeber dauernd gezwungen werde, auch gegen seinen Willen zu bestimmten Zeiten zu arbeiten, kann bei der heutigen Eisenbahnverbindung und Freizügigkeit doch nur ausnahmsweise bei ganz besondren Arbeits- und Communications-Verhältnissen richtig sein, schwerlich[551] in der Ausdehnung, daß ein die Gesammtheit treffender Eingriff in die persönliche Freiheit dadurch gerechtfertigt erschiene. Bei den Streiks hatten diese Fragen keine Rolle gespielt.

Wie dem auch sei, Thatsache ist, daß der König von Sachsen trotz allem Wohlwollen für mich auf die kaiserlichen Auffassungen in einer Richtung eingewirkt hat, welche der von mir seit Jahren, namentlich in der Rede vom 9. Mai 1885 über die Sonntagsruhe vertretenen entgegengesetzt war. Daß sich an diesen Ausgangspunkt mein Ausscheiden aus dem Dienste knüpfen würde, hatte er nicht erwartet und bedauerte dieses Ergebniß. Dasselbe hätte sich auch schwerlich daran geknüpft, wenn nicht durch den Einfluß des Großherzogs von Baden und der Minister Boetticher, Verdy, Herrfurth und Andrer die kaiserliche Stimmung ohnehin soweit bearbeitet gewesen wäre, daß S.M. überzeugt war, mein seniler Eigensinn sei ein Hinderniß für sein Streben, die öffentliche Meinung zu gewinnen und die Gegner der Monarchie in Anhänger derselben zu verwandeln.

Am 8. Januar trat der Reichstag wieder zusammen. Schon vor und bald nach Weihnachten hatte der Kaiser mir in einer Weise, die für mich einem Befehle gleich kam, empfohlen, ich möge nicht zu der Session nach Berlin kommen. Am 23. Morgens, zwei Tage vor dem Schlusse des Reichstags, telegraphirte mir Boetticher, der Kaiser habe ihm durch einen Adjutanten sagen lassen, daß am folgenden Tage um 6 Uhr Kronrath sein solle, und antwortete auf meine Rückfrage, was der Gegenstand der Berathung sein werde, er wisse das nicht. Mein Sohn, durch mich von meiner Correspondenz mit Boetticher unterrichtet, begab sich Nachmittags zu dem Kaiser und erhielt auf seine Frage nach dem Zweck des Conseils die Antwort, S.M. wolle dem Ministerium seine Ansicht über die Arbeiterfrage darlegen und wünsche, daß ich dazu komme. Auf die Bemerkung meines Sohnes, er erwarte mich schon am Abend des laufenden Tages, sagte der Kaiser, ich möge lieber erst um Mittag des folgenden Tages eintreffen, damit ich nicht en demeure gesetzt würde, noch im Reichstage zu erscheinen, da eine Aeußerung meiner von der Majorität abweichenden Ansicht das Cartell gefährden könne – es ist hinzuzudenken: und mit den Allerhöchsten Intentionen unverträglich sein werde.

Ich traf am 24. gegen 2 Uhr Nachmittags ein. Um 3 fand eine von mir berufene Ministersitzung statt. Herr von Boetticher gab keine Andeutung, daß er über die Absichten des Kaisers Näheres wisse, und auch die übrigen Minister ergingen sich nur in Vermuthungen.[552] Ich schlug vor und fand Einverständniß darüber, daß wir den kaiserlichen Eröffnungen gegenüber, wenn sie einschneidend sein sollten, uns vorläufig receptiv verhalten wollten, um sie demnächst in vertraulicher Besprechung unter uns zu diskutiren. Der Kaiser hatte mich eine halbe Stunde früher als die übrigen Minister auf 51/2 Uhr, bestellt, woraus ich schloß, daß er die beabsichtigte Eröffnung vorher mit mir besprechen wolle. Darin irrte ich mich; er gab mir keine Andeutung dessen, was berathen werden sollte, und machte mir, als das Conseil zusammengetreten war, den Eindruck, als ob er eine für uns freudige Ueberraschung im Sinne habe. Er legte zwei ausführliche Elaborate vor, das eine eigenhändig, das andere nach seinem Dictat von einem Adjutanten geschrieben, beide socialistischen Forderungen Erfüllung verheißend. Das eine verlangte die Redaction und Vorlage eines in begeisterter Sprache gehaltenen, zur Veröffentlichung bestimmten allerhöchsten Erlasses im Sinne der Elaborate. Der Kaiser ließ dieselben durch Boetticher vorlesen, der mit dem Texte vertraut zu sein schien. Für mich war derselbe überraschend, nicht sowohl wegen seiner geschäftlichen Tragweite – in dieser Beziehung hatte ich den Eindruck, daß sich Redactionen, welche den Kaiser befriedigten, finden lassen würden – als wegen der praktischen Ziellosigkeit des Elaborates und wegen des Anspruchs auf Schwunghaftigkeit; diese konnte die Wirkung der angekündigten Schritte nur abschwächen und drohte die ganze Sache im Sande volksbeglückender Redensarten verlaufen zu lassen.

Noch überraschender war die offne und schriftliche Erklärung des Monarchen vor seinen sachkundigen und verfassungsmäßigen Rathgebern, daß die Kundgebung auf den Informationen und Rathschlägen von vier Männern beruhe, welche der Kaiser als Autoritäten bezeichnete und namhaft machte. Es waren dies der Geheimerath Hinzpeter, ein Schulmann, der die Reste seines Ansehns als Lehrer seinem früheren Zöglinge gegenüber mit Ueberhebung und Ungeschick ausbeutete, mit sorgfältiger Vermeidung jeder Verantwortung; zweitens der Graf Douglas, ein glücklicher und reicher Speculant in Bergwerken, welcher das Ansehn, das ein großes Vermögen verleiht, durch den Glanz einer einflußreichen Stellung bei dem Souverän zu erhöhen bestrebt ist, zu diesem Behufe mit einer geläufigen und anerkennenden Gesprächigkeit sich politische oder doch wirtschaftlich politische Beziehungen zu dem Kaiser verschafft hat und durch freundlichen Verkehr mit den kaiserlichen Kindern zu erhalten sucht, von dem Kaiser zum Grafen[553] gemacht; drittens der Maler von Heyden, ein sich leicht bewegender Gesellschaftsmann, der, vor 30 Jahren Bergwerksbeamter eines schlesischen Magnaten, heut in den bergmännischen Fachkreisen für einen Maler und in den künstlerischen für einen Bergmann gilt. Derselbe hatte, wie uns mitgetheilt wurde, seinen Einfluß bei dem Kaiser weniger auf eignes Urtheil als auf seinen Verkehr mit einem alten Arbeiter aus dem Wedding begründet, welchen er als Modell für Bettler und Propheten benutzte und aus dessen Unterhaltung er zugleich Material für legislatorische Anregungen an höchster Stelle schöpfte.

Die vierte Autorität, welche der Kaiser seinen Räthen gegenüber geltend machte, war der Oberpräsident von Berlepsch in Coblenz, der durch seine arbeiterfreundliche Haltung während der Streiks von 1889 die Aufmerksamkeit des Kaisers auf sich gezogen hatte und in directe Verbindung mit ihm getreten war, die für mich, den vorgesetzten Ressortminister, ebenso ein Geheimniß geblieben war wie die Verbindung des Herrn von Boetticher in Betreff derselben Frage und die des Herrn Herrfurth in Betreff der Landgemeindeordnung.

Nach erfolgter Verlesung erklärte S.M., er habe den Geburtstag des großen Königs für diesen Kronrath gewählt, weil der letztere einen hochbedeutenden neuen historischen Ausgangspunkt geben werde, und er wünsche die Redaction des in dem einen Elaborat bezeichneten Erlasses so beschleunigt zu sehen, daß die Veröffentlichung an seinem eigenen Geburtstage (27.) erfolgen könne. Alle das Wort nehmenden Minister erklärten es für unthunlich, in einer so schwierigen Materie Berathung und Redaction sofort zu Ende zu bringen. Ich warnte vor den Folgen: die Steigerung der Erwartungen und der niemals zu befriedigenden Begehrlichkeit der socialistischen Klassen werde das Königthum und die Regierungsgewalt auf abschüssige Bahn treiben; S.M. und der Reichstag sprächen von Arbeiterschutz, es handle sich aber in der That um Arbeiterzwang, um den Zwang, weniger zu arbeiten; ob der Ausfall in den Einnahmen des Familienhauptes den Unternehmern gewaltsam aufgebürdet werden könne, sei fraglich, weil Industrien, welche 14% Arbeit durch die Sonntagsruhe verlören, vielleicht nicht bestandfähig bleiben und die Arbeiter schließlich ihren Erwerb verlieren würden. Ein Kaiserlicher Erlaß in dem gewollten Sinne würde die bevorstehenden Wahlen schädigen, weil er die Besitzenden erschrecken, die Socialisten ermuthigen werde. Eine Mehrbelastung der Productionskosten würde nur[554] dann möglich sein und auf die Konsumenten abgebürdet werden können, wenn die anderen großen Industriestaaten gleichmäßig verführen.

S.M. wollte diese Ansicht nicht gelten lassen, erklärte sich aber schließlich damit einverstanden, daß seine Vorlagen zunächst im Staatsministerium berathen würden.

Das bevorstehende Ende der Reichstagssession stellte die Erneuerung des im Herbst ablaufenden Socialistengesetzes zur Frage. In der Commission, in welcher die Nationalliberalen den Ausschlag gaben, war aus der Vorlage des Bundesrathes die Ausweisungsbefugnis gestrichen worden; es fragte sich also, ob die verbündeten Regierungen in diesem Punkte nachgeben oder ob sie daran festhalten wollten auf die Gefahr hin, daß kein Gesetz zu Stande käme. Für mich unerwartet und im Gegensatz zu meinen für ihn maßgebenden Instructionen schlug Herr von Boetticher vor, am folgenden Tage in der letzten Sitzung des Reichstags eine Kaiserliche Erklärung einzubringen, durch welche die Vorlage im Sinne der Nationalliberalen abgemindert, das heißt auf die Ausweisungsbefugnis freiwillig verzichtet würde – was verfassungsmäßig nicht ohne vorgängige Zustimmung des Bundesrathes geschehen konnte. Der Kaiser trat sofort dem Vorschlage bei.

Ein definitiver Beschluß des Reichstags lag noch nicht vor, nur ein solcher zweiter Lesung und der Bericht über die Verhandlungen der Commission, nach welchem die unveränderte Annahme des Gesetzes nicht zu erwarten war. Wie ich seit Jahrzehnten gegen die Neigung von Commissarien und Ministern, die Regierungsvorlagen im Laufe von Commissionsverhandlungen und unter Coulisseneinflüssen der Fractionsführer zu ändern und abzuschwächen, gekämpft hatte, so erklärte ich auch in diesem Falle, daß die verbündeten Regierungen sich die Zukunft erschweren würden, wenn sie schon jetzt die Flagge streichen und ihre eigene Vorlage verstümmeln wollten. Thäten sie das, so würde den im neuen Reichstag nöthig werdenden verschärften Vorlagen die soeben von Boetticher befürwortete nur wenige Wochen alte Erklärung der Regierungen entgegenstehen, daß sie auch ohne den Ausweisungs-Paragraphen auskommen könnten. Ich verlangte daher, daß der Beschluß des Plenums abgewartet werde; wenn derselbe ein unzulängliches Gesetz ergebe, so sei es geboten, auch dieses anzunehmen; träte aber jetzt durch Ablehnung ein Vacuum ein, so müsse, wenn nicht aufgelöst werden sollte, der schließlich zu gewärtigende Anlaß zu ernsterem Eingreifen abgewartet werden.[555] Wir würden so wie so dem nächsten Reichstage ein schärferes Gesetz vorlegen müssen. Der Kaiser protestirte gegen das Experiment mit dem Vacuum: er dürfe es im Anfange seiner Regierung keinenfalls zu einer Situation kommen lassen, in der Blut fließen könnte; das würde ihm nie verziehen werden. Ich entgegnete, ob es zu Aufruhr und Blutvergießen käme, hinge nicht von Sr. M. und unsern Gesetzesplänen ab, sondern von den Revolutionären, und ohne Blut würde es schwerlich abgehn, wenn wir nicht mehr, als ohne Gefahr zulässig, nach geben und irgendwo standhalten wollten. Je später der Widerstand der Regierung einträte, desto gewaltsamer werde er sein müssen.

Die übrigen Minister außer Boetticher und Herrfurth sprachen sich, zum Theil mit ausführlicher Motivirung, in meinem Sinne aus. Da der Kaiser, sichtlich verstimmt durch die negative Votirung der Minister, noch einmal darauf zurückkam, vor dem Reichstage zu capituliren, so sagte ich, es sei meine Pflicht, auf Grund meiner Sachkenntniß und Erfahrung davon abzurathen. Bei meinem Eintritt 1862 sei die Königliche Gewalt in einer schwachen Stellung gewesen; die Abdikation des Königs, mit der Undurchführbarkeit seiner Ueberzeugung motivirt, habe vorgelegen; seitdem sei 28 Jahre lang die Königliche Gewalt in Macht und Ansehn ununterbrochen gestiegen; der von Boetticher angeregte freiwillige Rückzug im Kampfe gegen die Socialdemokratie werde der erste Schritt bergab auf dem bisher aufsteigenden Wege sein, in der Richtung auf eine vorläufig bequeme, aber gefährliche Parlamentsherrschaft. »Wenn S.M. meinem Rathe keine Bedeutung beilege, so wisse ich nicht, ob ich dann noch an meinem Platze sei.« Auf diese Erklärung sagte der Kaiser, von mir ab und gegen Boetticher gewandt: »Dadurch werde ich in eine Zwangslage versetzt.« Ich selbst habe diese Worte nicht verstanden, sie sind mir aber von meinem links vom Kaiser sitzenden Collegen später mitgetheilt worden.

Schon wegen der Stellung, welche der Kaiser im Mai 1889 zu den Streiks der Bergleute nahm, hatte ich befürchtet, daß ich auf diesem Gebiete nicht würde mit ihm einig bleiben können. Zwei Tage bevor er am 14. Mai 1889 die Deputirten der streikenden Bergleute empfing, war er unangemeldet in der Sitzung des Staatsministeriums erschienen und hatte erklärt, daß er meine Ansichten über die Behandlung des Streiks nicht theile. »Die Unternehmer und Actionäre müßten nachgeben, die Arbeiter seien seine Unterthanen, für die er zu sorgen habe; wollten die industriellen[556] Millionäre ihm nicht zu Willen sein, so würde er seine Truppen zurückziehen; wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Directoren in Brand gesteckt, ihre Gärten zertreten würden, so würden sie schon klein werden.« Meinen Einwand, daß die Besitzenden doch auch Unterthanen seien, die auf den Schutz des Landesherrn Anspruch hätten, überhörte S.M. und sagte in Erregung, wenn keine Kohlen gefördert würden, so sei unsre Marine wehrlos; wir könnten die Armee nicht mobil machen, wenn Kohlenmangel den Anmarsch per Bahn hindere, wir seien in einer so prekären Lage, daß er jetzt gleich den Krieg erklären würde, wenn er Rußland wäre.

Ideal Sr. M. schien damals populärer Absolutismus zu sein. Seine Vorfahren haben die Bauern und die Bürger emancipirt; würde eine analoge Emancipation der Arbeiter auf Kosten der Arbeitgeber heut in einer analogen Entwicklung verlaufen wie die halbhundertjährigen legislativen Arbeiten, aus denen die Regulirung der Bauern und die Städteordnung hervorgingen?

Die französischen Könige verschafften sich durch Ausspielen der Stände gegen einander den Absolutismus, der von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. Grundgesetz des Staates war, aber kein haltbares Fundament. Unbeschränktheit des Königlichen Willens bestand unter Friedrich Wilhelm I., ruhte aber nicht auf freiwilliger und wandelbarer Popularität in den Massen der Bevölkerung, sondern auf dem damals noch nicht angekränkelten monarchischen Sinne aller Stände und auf der jedem Widerstand überlegnen Militair- und Polizeimacht, ohne Parlament, Presse, Vereinsrecht. Friedrich Wilhelm I. schickte den, der ihm widersprach, »in die Karre« oder ließ ihn hängen (Schlubuth), und Friedrich II. schickte das Kammergericht nach Spandau. Die ultima ratio fehlt dem heutigen Königthume, und auf Akklamation der Massen würde sich eine absolute Königliche Gewalt auch dann nicht begründen lassen, wenn deren Lebensansprüche noch ebenso bescheiden wären wie zur Zeit Friedrich Wilhelms I. In Dänemark gelang 1665 das Königsgesetz und blieb lange Zeit haltbar; aber damals kam es nur darauf an, den Widerstand einer kleinen Minorität, des Adels zu brechen, nicht die wirthschaftliche Existenz der gewerbetreibenden Klassen.

Die anständigen Arbeiter wurden natürlich in ihren Ansprüchen bestärkt durch den Glauben, daß die Haltung der höchsten Staatsgewalt ihnen günstig sei. Dazu kam die Uebereinstimmung der Reichstagsfraktionen im Wettkriechen vor dem wählenden Arbeiter[557] auf dem Gebiete der angeblichen Schutzgesetzgebung. Ich hielt die letztere angebrachtermaßen für schädlich und für eine Quelle von künftigen Unzufriedenheiten, ihre Tragweite aber nicht für bedeutend genug, um 1889 dem Kaiser gegenüber eine Kabinettsfrage daraus zu machen.

Die Gründe, welche in meinem politischen Gewissen gegen meinen Rücktritt sprachen, lagen auf anderen Gebieten, namentlich auf dem der auswärtigen Politik sowohl unter dem Gesichtspunkt des Reiches als unter dem der deutschen Politik Preußens. Das Vertrauen und die Autorität, welche ich mir in einer langen Dienstzeit bei ausländischen und bei deutschen Höfen erworben hatte, vermochte ich nicht auf Andere zu übertragen; dieser Besitz mußte bei meinem Ausscheiden dem Lande und der Dynastie verloren gehen. Ich hatte in schlaflosen Nächten Zeit genug, diese Frage in meinem Gewissen zu erwägen, und kam zu der Ueberzeugung, daß es für mich eine Ehrenpflicht sei, auszuharren, und daß ich die Verantwortlichkeit und die Initiative zu meinem Ausscheiden nicht auf mich nehmen dürfe, sondern dem Kaiser überlassen müsse. Ich wollte sie ihm aber nicht erschweren und beschloß nach dem Kronrath vom 24., zunächst mich freiwillig aus dem Ressort zurückzuziehen, auf dessen Gebiete sich meine amtlich seit Jahren verkündeten Ueberzeugungen als unvereinbar mit denen des Kaisers schon herausgestellt hatten, das heißt aus dem Handelsministerium, zu dessen amtlicher Kompetenz die Arbeiterfrage gehörte.

Ich hielt für möglich, die Entwicklung auf diesem Gebiete mit einem tolerari posse, mit passiver Assistenz, an mir vorübergehen zu lassen und die eigentlich politischen, namentlich die auswärtigen Geschäfte weiter zu führen. Daß die Behandlung der Arbeiterfrage gegenüber dem Glauben des Kaisers, daß sein guter Wille genüge, die Begehrlichkeit der Arbeiter zu beruhigen, ihre Dankbarkeit und ihren Gehorsam zu erwerben, für einen ehrlichen und einsichtigen Diener des Landes und der Monarchie eine schwierige Aufgabe sein würde, war vorauszusehen. Ich hielt es für recht und billig, daß Herr von Berlepsch, der als Regierungspräsident ohne Wissen des verantwortlichen Handelsministers, im Gegensatz zu meinen Auffassungen, im Sinne höherer Anregung 1889 thätig gewesen war, auch die ministerielle Verantwortlichkeit für die Richtung übernähme, in welcher er durch seine Mitwirkung den Kaiser bestärkt hatte. Dadurch würde zugleich der Kaiser in die Lage gesetzt werden, selbst und unbeirrt durch mich die Probe auf[558] die Ausführbarkeit seiner wohlwollenden Intentionen zu machen.

Ich berief eine Ministersitzung, sprach in derselben meine Ansicht aus, fand einhellige Zustimmung, und auf einen sofort erstatteten Immediatbericht erfolgte am 31. Januar 1890 die Ernennung des Herrn von Berlepsch zum Handelsminister. Ich füge hinzu, daß ich bei diesem Experiment auf Grund der Selbständigkeit, die der Oberpräsident von Berlepsch als unberufener Berather des Monarchen gezeigt hatte, seine Energie, sein Interesse zur Sache und seine Befähigung dafür höher eingeschätzt hatte, als sie sich ministeriell bewährt haben. Der Kaiser zieht Leute zweiten Ranges als Minister vor, und die Lage ist insofern keine correcte, als die Minister nicht den Monarchen mit Rath und Anregung versehen, sondern beides von Sr. M. erwarten und empfangen.

1

Vgl. S. 619.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 559.
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