IV

[455] Als der Kaiser Wilhelm sich nach Alexandrowo begab, hatte ich schon in Gastein eine Begegnung mit dem Grafen Andrassy eingeleitet, die am 28. August stattfand.

Nachdem ich ihm die Lage dargelegt hatte, zog er daraus die Folgerung mit den Worten: »Gegen ein russisch-französisches Bündniß ist der natürliche Gegenzug ein österreichisch-deutsches.« Ich erwiderte, daß er damit die Frage formulirt habe, zu deren Besprechung ich unsre Zusammenkunft angeregt hätte, und wir kamen leicht zu einer vorläufigen Verständigung über ein rein defensives Bündniß gegen einen russischen Angriff auf einen von beiden Theilen, dagegen fand mein Vorschlag, das Bündniß auch auf andre als russische Angriffe auszudehnen, bei dem Grafen keinen Anklang.

Nachdem ich nicht ohne Schwierigkeit die Ermächtigung Sr. Majestät dazu erlangt hatte, in amtliche Verhandlungen einzutreten, nahm ich zu dem Zwecke meinen Rückweg über Wien.

Vor meiner Abreise von Gastein richtete ich am 10. September folgendes Schreiben an den König von Bayern:


»Gastein, den 10. September 1879


E.M. haben früher die Gnade gehabt, Allerhöchstihre Zufriedenheit mit den Bestrebungen auszusprechen, welche meinerseits dahin gerichtet waren, dem Deutschen Reiche Frieden und Freundschaft mit den beiden Nachbarreichen Oesterreich und Rußland gleichmäßig zu erhalten. Im Laufe der letzten drei Jahre ist diese Aufgabe um so schwieriger geworden, je mehr die russische Politik dem Einflusse der theils kriegerischen, theils revolutionären Tendenzen[455] des Panslavismus sich hingegeben hat. Schon im Jahre 1877 [1876] wurde uns von Livadia aus wiederholentlich die Forderung gestellt, uns darüber in verbindlicher Form zu erklären, ob das Deutsche Reich in einem Kriege zwischen Rußland und Oesterreich neutral bleiben werde. Es gelang nicht, dieser Erklärung auszuweichen, und das russische Kriegswetter zog einstweilen nach dem Balkan ab. Die auch nach dem Congresse noch immer großen Erfolge, welche Rußland infolge dieses Krieges gewonnen hat, haben leider die Erregtheit der russischen Politik nicht in dem Maße abgekühlt, wie es für das friedliebende Europa wünschenswerth wäre. Die russischen Bestrebungen sind unruhig und friedlos geblieben; der Einfluß des panslavistischen Chauvinismus auf die Stimmungen des Kaisers Alexander hat sich gesteigert, und mit der, wie es leider scheint, ernstlichen Ungnade des Grafen Schuwalow hat dessen Werk, der Berliner Congreß, seine Verurtheilung durch den Kaiser erfahren. Der leitende Minister, insoweit es einen solchen in Rußland gegenwärtig giebt, ist der Kriegsminister Milutin. Auf sein Verlangen sind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland von Niemanden bedroht ist, die gewaltigen Rüstungen erfolgt, welche trotz der Finanzopfer des Krieges den Friedensstand des russischen Heeres um 56000, den Stand der mobilen westlichen Kriegsarmee um fast 400000 Mann steigerten. Diese Rüstungen können nur gegen Oesterreich oder Deutschland bestimmt sein, und die Truppenaufstellungen im Königreich Polen entsprechen einer solchen Bestimmung. Der Kriegsminister hat auch den technischen Commissionen1 gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland sich auf einen Krieg ›mit Europa‹ einrichten müsse.

Wenn es zweifelhaft ist, daß der Kaiser Alexander, ohne den Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der panslavistischen Einflüsse denselben dennoch geführt hat, und wenn inzwischen dieselbe Partei ihren Einfluß dadurch gesteigert hat, daß dem Kaiser die Agitation, welche hinter ihr steht, heute mehr und gefährlicheren Eindruck macht als früher, so liegt die Befürchtung nahe, daß es ihr ebenso gut gelingen kann, die Unterschrift des Kaisers für weitere kriegerische Unternehmungen nach Westen zu gewinnen. Die europäischen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf diesem Wege begegnen könnte, können einen Minister wie Milutin oder Makoff wenig schrecken, wenn es wahr ist, was die Conservativen in Rußland befürchten, daß die Bewegungspartei, indem sie Rußland[456] in schwere Kriege zu verwickeln sucht, weniger einen Sieg Rußlands über das Ausland als einen Umsturz im Innern Rußlands erstrebt.

Ich kann mich unter diesen Umständen der Ueberzeugung nicht erwehren, daß der Friede durch Rußland, und nur durch Rußland, in der Zukunft bedroht sei. Die nach unsern Berichten in jüngster Zeit versuchten Ermittlungen, ob Rußland in Frankreich und Italien, wenn es Krieg beginnt, Beistand finden würde, haben freilich ein negatives Resultat ergeben. Italien ist machtlos befunden worden, und Frankreich hat erklärt, daß es jetzt keinen Krieg wolle und im Bunde mit Rußland allein sich für einen Angriffskrieg gegen Deutschland nicht stark genug fühle.

In dieser Lage hat nun Rußland in den letzten Wochen an uns Forderungen gestellt, welche darauf hinausgehen, daß wir definitiv zwischen Rußland und Oesterreich optiren sollen, indem wir die deutschen Mitglieder der orientalischen Commissionen anwiesen, in den zweifelhaften Fragen mit Rußland zu stimmen, während in diesen Fragen unsrer Meinung nach die richtige Auslegung der Congreßbeschlüsse auf Seiten der durch Oesterreich, England und Frankreich gebildeten Majorität ist, und Deutschland deshalb mit dieser gestimmt hat, so daß Rußland theils mit, theils ohne Italien allein die Minorität bildet. Obschon diese Fragen, wie z.B. die Lage der Brücke bei Silistria, die der Türkei im Congreß concedirte Militärstraße in Bulgarien, die Verwaltung der Post und der Telegraphie und der Grenzstreit über einzelne Dörfer an sich im Vergleich mit dem Frieden großer Reiche sehr unbedeutende sind, so war das russische Verlangen, daß wir in Betreff derselben nicht mit Oesterreich, sondern mit Rußland stimmen sollten, nicht einmal, sondern wiederholt von unzweideutigen Drohungen begleitet bezüglich der Folgen, welche unsre Weigerung eventuell für die internationalen Beziehungen beider Länder haben würde. Diese auffällige Thatsache war, da sie mit dem Rücktritt des Grafen Andrassy2 zusammenfiel, geeignet, die Besorgniß zu erwecken, daß zwischen Oesterreich und Rußland eine geheime Verständigung zum Nachtheile Deutschlands stattgefunden hätte. Diese Besorgniß ist aber unbegründet; Oesterreich fühlt gegenüber der Unruhe der russischen Politik dasselbe Unbehagen wie wir und[457] scheint zu einer Verständigung mit uns behufs gemeinsamer Abwehr eines etwanigen russischen Angriffs auf eine der beiden Mächte geneigt zu sein.

Ich würde es für eine wesentliche Garantie des europäischen Friedens und der Sicherheit Deutschlands halten, wenn das Deutsche Reich auf eine solche Abmachung mit Oesterreich einginge, welche zum Zwecke hätte, den Frieden mit Rußland nach wie vor sorgfältig zu pflegen, aber wenn trotzdem eine der beiden Mächte angegriffen würde, einander beizustehen. Im Besitze dieser gegenseitigen Assecuranz könnten beide Reiche sich nach wie vor der erneuten Befestigung des Dreikaiserbundes widmen. Das Deutsche Reich im Bunde mit Oesterreich würde der Anlehnung Englands nicht entbehren und bei der friedfertigen Politik der beiden großen Reichskörper den Frieden Europas mit zwei Millionen Streitern verbürgen. Der rein defensive Charakter dieser gegenseitigen Anlehnung der beiden deutschen Mächte aneinander könnte auch für Niemanden etwas Herausforderndes haben, da dieselbe gegenseitige Assecuranz beider in dem deutschen Bundesverhältniß von 1815 schon 50 Jahre völkerrechtlich bestanden hat.

Unterbleibt jedes Abkommen derart, so wird man es Oesterreich nicht verargen können, wenn es unter dem Drucke russischer Drohungen und ohne Gewißheit über Deutschland schließlich entweder bei Frankreich oder bei Rußland selbst nähere Fühlung sucht. Träte der letztere Fall ein, so wäre Deutschland bei seinem Verhältniß zu Frankreich der gänzlichen Isolierung auf dem Continent ausgesetzt. Nähme Oesterreich aber bei Frankreich und England Fühlung, ähnlich wie 1854, so wäre Deutschland auf Rußland allein angewiesen, und, wenn es sich nicht isolieren wollte, an die wie ich fürchte fehlerhaften und gefährlichen Bahnen der russischen innern und äußern Politik gebunden.

Zwingt uns Rußland, zwischen ihm und Oesterreich zu optiren, so glaube ich, daß Oesterreich die conservative und friedliebende Richtung für uns anzeigen würde, Rußland aber eine unsichere.

Ich wage mich der Hoffnung hinzugeben, daß E.M. nach Allerhöchstdero mir bekannten politischen Auffassung meine vorstehende Ueberzeugung theilen, und würde glücklich sein, wenn ich darüber vergewissert werden könnte.

Die Schwierigkeiten der Aufgabe, welche ich mir stelle, sind an sich groß, aber sie werden noch wesentlich gesteigert durch die Nothwendigkeit, eine so umfängliche und vielseitige Angelegenheit schriftlich von hier aus zu verhandeln, wo ich lediglich auf[458] meine eigne, durch die bisherige Ueberanstrengung ganz unzulänglich gewordene Arbeitskraft reducirt bin. Ich habe aus Gesundheitsrücksichten meinen Aufenthalt hier schon verlängern müssen, hoffe aber nach dem 20. ds. M. meine Rückreise über Wien antreten zu können. Wenn es bis dahin nicht gelingt, wenigstens principiell zu einer Gewißheit zu gelangen, so wird, wie ich fürchte, die jetzt günstige Gelegenheit versäumt sein, und bei dem Rücktritt Andrassys läßt sich nicht vorhersehen, ob sie jemals wiederkehren wird.

Wenn ich für meine Pflicht halte, meine Ansicht über die Lage der Politik des Deutschen Reiches in Ehrfurcht zu E.M. Kenntniß zu bringen, so wollen Allerhöchstdieselben der Thatsache in Gnaden Rechnung tragen, daß Graf Andrassy und ich uns die Geheimhaltung des vorstehend dargelegten Planes gegenseitig zugesagt haben und bisher nur Ihre Majestäten die beiden Kaiser Kenntniß haben von der Absicht ihrer leitenden Minister, eine Vereinbarung zwischen Allerhöchstdenselben herbeizuführen.«

1

Welche gewisse Bestimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli 1878 auszuführen hatten.

2

Am 14. August hatte der Kaiser Franz Joseph die von dem Grafen Andrassy nachgesuchte Entlassung im Princip genehmigt, sich aber die definitive Enthebung vorbehalten, bis über den Nachfolger Beschluß gefaßt sei. Der Graf verstand sich dazu, noch einige Zeit in Funktion zu bleiben, um das Bündniß mit Deutschland zu Stande zu bringen. Am 8. October wurde seine Verabschiedung und die Ernennung seines Nachfolgers Haymerle veröffentlicht.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 459.
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