II

[209] Auch die Dienste, welche die preußische Politik der russischen bei dem Frieden von Adrianopel und bei Unterdrückung des polnischen Aufstandes 1831 erwiesen hat, gratis zu leisten, lag um so weniger Veranlassung vor, als die unfreundlichen Machenschaften, die kurz vorher zwischen dem Kaiser Nicolaus und Karl X. stattgefunden hatten, dem Berliner Cabinete nicht unbekannt waren. Die Gemüthlichkeit der fürstlichen Familienbeziehungen war bei uns in der Regel stark genug, um russische Sünden zu decken, es fehlte aber die Gegenseitigkeit. Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne Zweifel einen Anspruch auf preußische Dankbarkeit erworben; Alexander I. war im Februar 1813 und bis zum Wiener Congreß seiner Zusage, Preußen zu dem status quo ante wiederherzustellen, im Großen und Ganzen treu geblieben, gewiß ohne die russischen Interessen zu vergessen, aber doch so, daß dankbare Erinnerungen Friedrich Wilhelms für ihn natürlich blieben. – Solche Erinnerungen waren in meinen Knabenjahren bis zum Tode Alexanders, 1825, auch in unsrem Publikum noch sehr lebhaft; russische Großfürsten, Generale und gelegentlich in Berlin erscheinende Soldaten-Abtheilungen genossen noch ein Erbtheil der Popularität, mit welcher 1813 die ersten Kosacken bei uns empfangen worden waren.

Flagrante Undankbarkeit, wie der Fürst Schwarzenberg sie proklamirte, ist in der Politik wie im Privatleben nicht nur unschön, sondern auch unklug. Wir haben aber unsre Schuld ausgeglichen, nicht nur zur Zeit der Nothlage der Russen bei Adrianopel 1829 und durch unser Verhalten in Polen 1831, sondern in der ganzen Zeit unter Nicolaus I., welcher der deutschen Romantik und Gemüthlichkeit ferner stand als Alexander I., wenn er auch mit seinen preußischen Verwandten und mit preußischen Offizieren freundlich verkehrte. Unter seiner Regierung haben wir als russische Vasallen gelebt, 1831, wo Rußland ohne uns kaum mit den Polen fertig geworden wäre, namentlich aber in allen europäischen Constellationen von 1831 bis 1850, wo wir immer russische Wechsel acceptirt und honorirt haben, bis nach 1848 der junge österreichische Kaiser dem russischen besser gefiel als der König von Preußen, wo der russische Schiedsrichter kalt und hart gegen Preußen und deutsche Bestrebungen entschied und sich für die Freundschaftsdienste von 1813 voll und schließlich bezahlt machte, indem er uns die Olmützer Demüthigung aufzwang. Später kamen wir[210] Rußland gegenüber im Krimkriege, im polnischen Aufstande von 1863 bedeutend in Vorschuß, und wenn wir in dem genannten Jahre Alexanders II. eigenhändiger Aufforderung zum Kriege nicht Folge leisteten und er darüber und in der dänischen Frage Empfindlichkeit bewies, so zeigt dies nur, wie weit der russische Anspruch schon über Gleichberechtigung hinaus gediehen war und Unterordnung verlangte.

Das Deficit auf unsrer Seite war einmal durch Verwandtschafts-Gefühl, durch die Gewohnheit der Abhängigkeit, in welcher die geringere Energie von der größeren stand, sodann durch den Irrthum bedingt, als ob Nicolaus dieselben Gesinnungen wie Alexander I. für uns hege und dieselben Ansprüche auf Dankbarkeit aus der Zeit der Freiheitskriege habe. In der That aber trat während der Regierung des Kaisers Nicolaus kein im deutschen Gemüth wurzelndes Motiv hervor, unsre Freundschaft mit Rußland auf dem Fuße der Gleichheit zu pflegen und mindestens einen analogen Nutzen daraus zu ziehen wie Rußland aus unsrer Dienstleistung. Etwas mehr Selbstgefühl und Kraftbewußtsein würde unsern Anspruch auf Gegenseitigkeit in Petersburg zur Anerkennung gebracht haben, um so mehr, als 1830 nach der Juli-Revolution Preußen, trotz der Schwerfälligkeit seines Landwehr-Systems, diesem überraschenden Ereigniß gegenüber reichlich ein Jahr lang ohne Zweifel der stärkste, vielleicht der einzige zum Schlagen befähigte Militärstaat in Europa war. Wie sehr nicht nur in Oesterreich, sondern auch in Rußland die militärischen Einrichtungen in 15 Friedensjahren vernachlässigt worden waren, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Garde des Kaisers und der polnischen Armee des Großfürsten Constantin, bewies die Schwäche und Langsamkeit der Rüstung des gewaltigen russischen Reichs gegen den Aufstand des kleinen Warschauer Königreichs.

Aehnliche Verhältnisse fanden damals in der französischen und mehr noch in der österreichischen Armee statt. Oesterreich brauchte nach der Juli-Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall seiner Heereseinrichtungen so weit auszubessern, daß es eben nur seine italienischen Interessen zu schützen im Stande war. Die österreichische Politik war unter Metternicht geschickt genug, um jede Entschließung der drei östlichen Großmächte so lange zu verschleppen, bis Oesterreich sich hinlänglich gerüstet fühlte, um mitzureden. Nur in Preußen functionirte die militärische Maschine, so schwerfällig sie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußische Politik eigne Entschlüsse zu fassen vermocht, so würde sie[211] Kraft genug gefunden haben, die Lage von 1830 in Deutschland und den Niederlanden nach ihrem Ermessen zu präjudiciren. Aber eine selbstständige preußische Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger Jahre überhaupt nicht bestanden; unsre Politik wurde abwechselnd in Wien und in Petersburg ge macht. So weit sie in Berlin von 1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 selbstständig ihre Wege suchte, wird sie vor der Kritik vom Standpunkte eines strebsamen Preußen kaum Anerkennung finden.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 209-212.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen 3 Bände in einem Band.
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen