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[393] Jeder, der heutiger Zeit in politischen Kämpfen gestanden hat, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über deren Wohlerzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel aufgekommen sind, sobald sie in Kämpfe der Art gerathen, sich von den Regeln des Ehrgefühls und der Schicklichkeit, deren Autorität sie sonst anerkennen, für entbunden halten und aus einer karikirenden Uebertreibung des Satzes salus publica suprema lex die Rechtfertigung für Gemeinheiten und Rohheiten in Sprache und Handlungen ableiten, durch welche sie außerhalb der politischen und religiösen Streitigkeiten sich selbst angewidert fühlen würden. Diese Lossagung von Allem, was schicklich und ehrlich ist, hängt undeutlich mit dem Gefühle zusammen, daß man im Interesse der Partei, welches man dem des Vaterlandes unterschiebt, mit andrem Maße zu messen habe als im Privatleben und daß die Gebote der Ehre und Erziehung in Parteikämpfen anders und loser auszulegen sind als selbst im Kriegsgebrauch gegen ausländische Feinde. Die Reizbarkeit, welche zur Ueberschreitung der sonst üblichen Formen und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verschärft, daß in der Politik und in der Religion Keiner dem Andersgläubigen die Richtigkeit der eignen Ueberzeugung, des eignen Glaubens concludent nachweisen kann und daß kein Gerichtshof vorhanden ist, der die Meinungsverschiedenheiten durch Erkenntniß zur Ruhe verweisen könnte.[393]

In der Politik wie auf dem Gebiete des religiösen Glaubens kann der Conservative dem Liberalen, der Royalist dem Republikaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein anderes Argument entgegenhalten als das in tausend Variationen der Beredsamkeit breitgetretene Thema: Meine politischen Ueberzeugungen sind richtig und die deinigen falsch; mein Glaube ist Gott wohlgefällig, dein Unglaube führt zur Verdammniß. Es ist daher erklärlich, daß aus kirchlichen Meinungsverschiedenheiten Religionskriege entstehen und durch politische Parteikämpfe, so lange nicht ihre Erledigung durch Bürgerkrieg stattfindet, doch ein Umsturz der Schranken herbeigeführt wird, welche durch Anstand und Ehrgefühl wohlerzogener Leute im außerpolitischen Lebensverkehr aufrecht erhalten werden. Welcher gebildete und wohlerzogene Deutsche würde versuchen, im gewöhnlichen Verkehr auch nur einen geringen Theil der Grobheiten und Bosheiten zur Verwendung zu bringen, welche er nicht ansteht, von der Rednertribüne vor hundert Zeugen seinem bürgerlich gleich achtbaren Gegner in einer schreienden, in keiner anständigen Gesellschaft üblichen Tonart in's Gesicht zu werfen? Wer würde es außerhalb des politischen Parteitreibens mit der von ihm selbst beanspruchten Stellung eines Edelmanns von gutem Hause verträglich halten, sich in den Gesellschaften, wo er verkehrt, gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen und Verleumdungen gegen andre Genossen seiner Gesellschaft und seines Standes zu machen? Wer würde sich nicht schämen, auf diese Weise unbescholtene Leute unehrlicher Handlungen zu beschuldigen, ohne sie beweisen zu können? Kurz, wer würde anderswo als auf dem Gebiete politischer Parteikämpfe die Rolle eines gewissenlosen Verleumders bereitwillig übernehmen? Sobald man aber vor dem eignen Gewissen und vor der Fraktion sich damit decken kann, daß man im Parteiinteresse auftritt, so gilt jede Gemeinheit für erlaubt oder doch für entschuldbar.

Gegen mich begannen die Verleumdungen in dem Blatte, welches unter dem christlichen Symbol des Kreuzes und mit dem Motto »Mit Gott für König und Vaterland« seit Jahren nicht mehr die conservative Fraktion und noch weniger das Christenthum, sondern nur den Ehrgeiz und die gehässige Verbissenheit einzelner Redakteure vertritt. Als ich über die Giftmischereien des Blattes am 9. Februar 1876 in öffentlicher Rede Klage geführt hatte, antwortete mir die Kundgebung der sogenannten Deklaranten, deren wissenschaftliches Contingent aus einigen hundert evangelischen Geistlichen bestand, die in ihrem amtlichen Charakter mir in dieser[394] Form als Eideshelfer der Kreuzzeitungslügen entgegentraten und ihre Mission als Diener der christlichen Kirche und ihres Friedens dadurch bethätigten, daß sie die Verleumdungen des Blatts öffentlich contrasignirten. Ich habe gegen Politiker in langen Kleidern, weiblichen und priesterlichen, immer Mißtrauen gehegt, und dieses Pronunciamento einiger Hundert evangelischer Pfarrer zu Gunsten einer der frivolsten, gegen den ersten Beamten des Landes gerichteten Verleumdung war nicht geeignet, mein Vertrauen gerade zu Politikern, die im Priesterrock, auch in einem evangelischen, stecken, zu stärken. Zwischen mir und allen Deklaranten, von denen viele bis dahin zu meinen Bekannten, sogar zu meinen Freunden gehört hatten, war, nachdem sie sich die ehrenrührigen Beschimpfungen aus der Feder Perrot's angeeignet hatten, die Möglichkeit eines persönlichen Verkehrs vollständig abgeschnitten.

Für die Nerven eines Mannes in reifen Jahren ist es eine harte Probe, plötzlich mit allen oder fast allen Freunden und Bekannten den bisherigen Umgang abzubrechen. Meine Gesundheit war damals längst geschwächt, nicht durch die Arbeiten, welche mir oblagen, aber durch das ununterbrochene Bewußtsein der Verantwortlichkeit für große Ereignisse, bei denen die Zukunft des Vaterlandes auf dem Spiele stand. Ich habe natürlich während der bewegten und gelegentlich stürmischen Entwicklung unsrer Politik nicht immer mit Sicherheit voraussehen können, ob der Weg, den ich einschlug, der richtige war, und doch war ich gezwungen, so zu handeln, als ob ich die kommenden Ereignisse und die Wirkung der eignen Entschließungen auf dieselben mit voller Klarheit voraussehe. Die Frage, ob das eigne Augenmaß, der politische Instinkt ihn richtig leitet, ist ziemlich gleichgültig für einen Minister, dem alle Zweifel gelöst sind, sobald er durch die königliche Unterschrift oder durch eine parlamentarische Mehrheit sich gedeckt fühlt, man könnte sagen, einen Minister katholischer Politik, der im Besitz der Absolution ist und den die mehr protestantische Frage, ob er seine eigne Absolution hat, nicht kümmert. Für einen Minister aber, der seine Ehre mit der des Landes vollständig identificirt, ist die Ungewißheit des Erfolgs einer jeden politischen Entschließung von aufreibender Wirkung. Man kann die politische Gestaltung in der Zeit, welche die Durchführung einer Maßregel bedarf, so wenig mit Sicherheit vorhersehen wie das Wetter der nächsten Tage in unsrem Klima und muß doch seine Entschließung fassen, als ob man es könnte, nicht selten im Kampfe gegen alle[395] Einflüsse, denen Gewicht beizulegen man gewöhnt ist, wie z.B. in Nikolsburg zur Zeit der Friedensverhandlungen, wo ich die einzige Person war und blieb, welche schließlich für das, was geschah, und für den Erfolg verantwortlich gemacht wurde und nach unsern Institutionen und Gewöhnungen auch verantwortlich war, und wo ich meine Entschließung im Widerspruch nicht nur mit allen Militärs, also mit allen Anwesenden, sondern auch mit dem Könige fassen und in schwerem Kampfe aufrecht halten mußte. Die Erwägung der Frage, ob eine Entschließung richtig sei und das Festhalten und Durchführen des auf Grund schwacher Prämissen für richtig Erkannten richtig sei, hat für jeden gewissenhaften und ehrliebenden Menschen etwas Aufreibendes, verstärkt durch die Thatsache, daß lange Zeit vergeht, oft viele Jahre, bevor man in der Politik sich selbst überzeugt, ob das Gewollte und Geschehene das Richtige war oder nicht. Nicht die Arbeit ist das Aufreibende, die Zweifel und Sorgen sind es und das Ehrgefühl, die Verantwortlichkeit, ohne daß man zur Unterstützung der letzteren etwas andres als die eigne Ueberzeugung und den eignen Willen anführen kann, wie das gerade in den wichtigsten Krisen am schärfsten Platz greift.

Der Verkehr mit Andern, die man für gleichgestellt hält, erleichtert die Ueberwindung solcher Krisen, und wenn er plötzlich aufhört und aus Motiven, welche mehr persönlich als sachlich, mehr mißgünstig als ehrlich, und so weit sie ehrlich, ganz banausischer Natur sind, der betheiligte verantwortliche Minister plötzlich von allen bisherigen Freunden boycottirt, als Feind behandelt, also mit sich und seinen Erwägungen vereinsamt wird, so muß das den Eingriff seiner amtlichen Sorgen in seine Nerven und seine Gesundheit verschärfen.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 393-396.
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