Die Schlacht bei Bibracte.

[508] Schon aus allgemeinen Erwägungen haben wir schließen müssen, daß die Zahl, die Cäsar für den Helvetierzug angibt, 368000 Köpfe, ungeheuerlich übertrieben ist. Die Betrachtung des politischen Charakters des Unternehmens wird weiter den Zweifel anregen, ob wirklich das ganze Volk der Helvetier mit seinen Bundesgenossen ausgezogen ist. Eine gewisse Menge Weiber und Kinder waren gewiß dabei, das erforderte der Plan, aber daß die Helvetier sich wirklich mit allen ihren Familien und ihrem ganzen Hausrat beladen und ihre Weiler und Dörfer hinter sich verbrannt haben sollten, ist doch schwer zu glauben. Die Tagemärsche, die sie machen, sind zwar nicht auffällig kurz, aber auch nicht lang,[508] und sprechen für einen gewissen Troß; die Erzählung von der Schlacht zeigt, daß er nicht gar zu groß gewesen sein kann. Cäsar, der eine halbe Meile hinter den Helvetiern gelagert hatte, gab das weitere Nachfolgen auf und wandte sich in die Richtung auf Bibracte. Einige überlaufende Knechte brachten den Helvetiern diese Nachricht, sie kehrten um, und um die siebente Stunde, also zwischen 12 und 1 Uhr mittags, begann das Gefecht. Die Helvetier waren mit allen ihren Karren gefolgt und bildeten aus ihnen eine Wagenburg. Die Helvetier haben also mit allen ihren Karren erst ihren Marsch in der einen Richtung angetreten, dann sind sie umgekehrt und sind Cäsar in der andern Richtung gefolgt. Anderthalb bis zwei Meilen muß der Karrenzug an diesem Morgen doch wohl wenigstens gemacht haben; wir wissen, was das bedeuten will, wenn auch Cäsars Worte natürlich nicht besagen, daß alle Karren schon wieder zur Stelle waren, als die Schlacht begann. Man kann es nicht spezifizieren, aber daß die Menge, die solche Bewegungen macht, doch im ganzen nur eine mäßige sein kann, leuchtet ein.

Cäsar hatte sechs Legionen und Hilfsvölker, darunter 4000 Reiter (cap. 15). Sechs Legionen würden normal 36000 Mann stark sein; davon mag Cäsar 30000 zur Stelle gehabt haben, unter ihnen zwei Rekrutenlegionen, die er rückwärts aufstellte und nicht an der Schlacht teilnehmen ließ. Cäsar hatte also, seine Hilfsvölker261 eingerechnet 36000 bis 40000 Mann und damit eine erhebliche numerische Überlegenheit auf dem Flecke.

Sobald Cäsar bemerkte, daß die Helvetier anrückten, schickte er ihnen seine Reiterei entgegen, um sie möglichst aufzuhalten, ließ seine vier Veteranenlegionen in drei Treffen auf dem Abhang eines Hügels aufmarschieren und verwandte die beiden Rekrutenlegionen mit sämtlichen Hilfsvölkern dazu, hinter der Schlachtlinie eine Lagerbefestigung[509] anzulegen und zu besetzen, in die der ganze Train gefahren wurde.262

Die Helvetier liefen gegen die sehr vorteilhaft gewählte Stellung der Römer an und wurden zurückgeworfen. Als die Römer ihnen nachdrängen, wurden sie von den Beinen und Tulingern in der Flanke angegriffen, sei es, daß diese erst jetzt auf dem Schlachtfeld eintrafen, sei es, daß in der ursprünglichen Position die Römer im Terrain eine Flankendeckung gehabt hatten, aus der die Helvetier sie mit Absicht hervorlockten. Der Flankenangriff ermutigte auch die Front der Helvetier zu erneutem Vorgehen, und die Lage wäre bei der außerordentlichen Tapferkeit, mit der die Gallier kämpften, für die Römer gefährlich geworden, wenn nicht die römische Treffentaktik sich gegen den Doppelangriff bewährt hätte: Cäsar ließ das dritte Treffen gegen die Boier und Tulinger einschwenken und ging nach beiden Seiten offensiv vor (Romani conversa signa biparito intulerunt). Langsam wichen die Gallier zurück; erst in der Dunkelheit gelang es den Römern, die Wagenburg zu erstürmen. Eine Verfolgung ließ Cäsar nicht eintreten, sondern verweilte drei Tage auf dem Schlachtfelde, um der Wunden willen, wie er sagt, und um die Toten zu begraben. Die Helvetier flohen nach Osten (Nord-Osten) ins Land der Lingonen und ergaben sich einige Tage später.

Auffällig ist, daß Cäsar seine beiden Rekrutenlegionen gar nicht verwandte, sondern den Flankenangriff der Boier und Tulinger bloß durch das dritte Treffen zurückweisen ließ. Er erzählt uns mit starker Betonung, wie schwer die Helvetier den Römern den Sieg gemacht hätten und daß sie nur zurückgedrängt worden seien, niemand von ihnen aber den Rücken gewandt habe. Warum zog er da nicht seine Reserve ins Gefecht?

Die Erklärung wird wohl die sein, daß Cäsar, als er die Helvetier so plötzlich anrücken sah, den Verdacht faßte, daß die Häduer Verrat planten und daß er plötzlich, während er sich mit den Helvetiern schlug, von einem häduischen Aufgebot im Rücken angegriffen werden könne. Er hat das nicht sagen wollen, nicht nur, weil es nicht eingetroffen ist, sondern auch, weil er ja das[510] ganze Verhältnis der Häduer zu den Helvetiern möglichst zu verdunkeln suchte. Er erzählt uns immer bloß von Dumnorix, der das Volk verführe. Nach unserer Auffassung ist diese Partei aber sehr viel stärker gewesen, und wir finden sie aufs neue dadurch bestätigt, daß sich aus ihr auch eine Erklärung für das sonst unbegreifliche Zurückhalten aller Schützen und eines vollen Drittels der Hopliten ergibt.


1. Nach unserer Auffassung von der Natur des ganzen Feldzuges müssen die Helvetier östlich von Bibracte vorbeigezogen sein, während diejenigen Gelehrten, die das Wanderziel bei den Santonen festhalten, das Schlachtfeld westlich von der häduischen Hauptstadt ansetzen. Daß die Helvetier, wenn sie wieder nach Hause wollten, sich dennoch so nahe an Bibracte, also so weit nach Westen zogen, spricht nicht gegen unsere Auffassung, da sie fortwährend mit einem politischen Umschwung bei den Häduern gerechnet haben werden. Ein sehr starkes Argument für die Richtigkeit unserer Rekonstruktion ist aber Cäsars Angabe, daß sie ihren Rückzug zu den Lingonen, also nach Osten genommen haben. Wie sollen sie dahin gelangt sein, wenn sie, wie andere Gelehrte annehmen, die Schlacht mit der Front nach Osten geschlagen hatten? Ein völlig geschlagenes Heer flieht in der Richtung seiner Niederlage und jedenfalls nicht nach der gerade entgegengesetzten. Haben die Helvetier aber, wie ich annehme, die Schlacht mit der Front nach Westen geschlagen, so können sie nicht auf dem Wege zur Loire und weiter, zu den Santonen gewesen sein.

NAPOLEON III. und STOFFEL, Guerre de César et d'Arioviste p. 78 suchen den Vorgang dadurch möglich zu machen, daß sie, nachdem die Schlacht bei Luzy, südwestlich von Autun, mit der Front nach Süden geschlagen war, die Helvetier den Rückzug über Moulins-Engilbert, Lormes, Avallon auf Tonnerre, also nordwärts machen lassen. Zu dem Zweck muß man aber annehmen, daß bei Tonnerre schon Gebiet der Lingonen war, was, da es im Süden bis an die Saone reichte263 und ihr Hauptort Langres war, kaum glaublich erscheint. Auch steht diese Annahme in direktem Widerspruch mit Cäsars Angabe, daß die Helvetier auf ihrem Rückzuge am vierten Tage zu den Lingonen gekommen seien. Von Luzy bis Tonnerre sind 120 Kilometer Luftlinie, eine Strecke, die die Helvetier unter keinen Umständen, auch wenn sie Tag und Nacht marschierten,264 in vier Tagen zurücklegen konnten.[511]

Daraus, daß Cäsar nach der Kapitulation der Helvetier noch einen ziemlich bedeutenden Marsch bis Besancon zu machen hat (b. G. I, 38), ist nichts zu schließen, da er zwischendurch eine von ihm nicht weiter berichtete Bewegung gemacht haben kann.

Stoffel glaubt, zwischen Montmort und Toulon- sur-Arroux, gegen zwei Meilen südöstlich von Luzy, direkt südlich von Mont-Beuvray durch Ausgrabungen Spuren des Schlachtfeldes festgestellt zu haben. Aber irgend eine direkte Beziehung auf diese Zeit, ja auch nur auf eine Schlacht zeigen die gefundenen Gegenstände nicht, so daß ein Beweis hieraus nicht zu führen ist. Nach Holmes S. 619 sind seitdem auch Trümmer von Schwertern, Wurfspießen und Helmen in der Nähe der aufgedeckten Verschanzungen gefunden worden, aber ein wirklicher Beweis ist auch das noch nicht.

Einen direkten Gegenbeweis aber bietet eine Stelle in Cäsars Text. Er sagt, die Boier und Tulinger hätten die Römer a latere aperto umgangen. Nach der gewöhnlichen Auffassung heißt »latus apertum« die rechte, vom Schilde nicht gedeckte Seite. Es ist aber klar, daß, wenn der Zug der Helvetier, wie Stoffel will, nach Westen gegangen und ihre Front zuletzt nach Süden gerichtet war, ihr Nachtrab den Römern nur in die linke Flanke kommen konnte. Stoffel tritt deshalb einen ausführlichen Beweis an, daß latus apertum nicht speziell die rechte, sondern überhaupt die ungedeckte Flanke heiße. Diesen Beweis aber hat Holmes umgestürzt durch den Hinweis auf die Stellen bell. Call. V, 35, 2 und VII, 4, wo latus apertum offenbar als technischer Ausdruck für »rechte Flanke« gebraucht wird. Holmes selber, so treffend ihm sonst Stoffels Ausführungen erscheinen, weil sich deshalb doch nicht mit unbedingter Sicherheit aussprechen. Ich möchte umgekehrt sagen, daß hiermit der strikte Beweis erbracht sei, daß die Schlacht östlich von Bibracte geschlagen wurde. Denn wenn die Helvetier nach Westen abzogen und schließlich den Rückzug nach Norden nahmen, so müssen sie nach der linken Flanke aufmarschiert sein und während der Schlacht die Front nach Süden gehabt haben; die Bojer und Tulinger also, welche von Westen her nachgerückt kamen, konnten den Römern nur in die linke Flanke fallen. Fand die Schlacht aber östlich von Bibracte statt und die Helvetier nahmen die Flucht ungefähr nach Nordosten, so hatten die Helvetier die Front nach Südwesten oder Süden, die nachrückenden Bojer und Tulinger konnten also den Römern in die rechte Flanke fallen. Das würde durchschlagend sein, wenn nicht Holmes feststellte, daß die Cäsar-Handschriften bloß »latere aperto« haben, was sich vielleicht auslegen ließe »indem ihre Flanke entblößt war«. Immerhin fällt das »latere aperto« mit viel größerer Wahrscheinlichkeit für einen Angriff der Boier in die rechte Flanke der Römer, damit für[512] die Feststellung des Schlachtfelders östlich von Bibracte, damit für die Auffassung, daß die Helvetier nicht auf dem Wege zu den Santonen waren ins Gewicht.

2. Manche von den notwendigen Einwendungen gegen Cäsars Darstellung sind bereits ganz richtig in dem groben Büchlein »Die Kämpfe der Helvetier, Sueben und Belgier gegen C. J. Cäsar. Neue Schlaglichter auf alte Geschichten von MAX EICHHEIM. Neuburg a.D. Selbstverlag. 1866« gemacht, aber bei dem offenbaren wissenschaftlichen Dilettantismus des Verfassers und seinem wilden Ausfahren nach rechts und links von der gelehrten Welt nicht beachtet oder abgelehnt worden. In einer Jenenser Dissertation hat dann H. RAUCHENSTEIN (Der Feldzug Cäsars gegen die Helvetier, 1882) versucht, Eichheims Kritik so zu sagen vernünftig zu machen und dessen Einwendungen wissenschaftlich und methodisch zu verwerten und zu gestalten. Auch er hat jedoch keine Zustimmung gefunden, da er an den äußeren Tatsachen zu gewaltsame Operationen vornimmt. Die Konsequenz seiner Auffassung zwingt ihn zuletzt, anzunehmen, daß Cäsar bei Bibracte nicht gesiegt habe, sondern im Gegenteil in sein Lager zurückgetrieben worden sei; der Kampf um die Wagenburg, sei nicht um die der Helvetier, sondern der Römer geführt worden, und die Helvetier hätten endlich, da sie doch nicht stark genug waren, die Römer zu überwinden, ein Abkommen mit ihnen getroffen.

Der Punkt, wo Rauchenstein vom rechten Wege abirrt, ist gleich im Anfang bei dem Zweck des helvetischen Auszuges. Wohl alle Bearbeiter des gallischen Krieges ohne Ausnahme haben empfunden, daß die beiden Zwecke, die Cäsar nebeneinander angibt, Auswanderung und Eroberung der Hegemonie über die gallischen Völker, sich nicht miteinander vertragen. Rauchenstein erkennt das, aber ebenso wie alle anderen sucht er die Korrektur in der falschen Richtung; er läßt die Eroberung beiseite und behält die Auswanderung bei.

So macht es freilich auch Cäsar selbst, der, obgleich er ausdrücklich sagt, daß die Helvetier auch nach dem Tode des Orgetorix an dem einmal gefaßten Beschluß (Auswanderung und Eroberung) festhalten, doch von da an nur noch von der Auswanderung spricht. Er konnte nicht umhin, diese Lücke zu lassen, da er uns ja den eigentlichen Grund des Helvetierzuges, den beabsichtigten Kampf gegen Ariovist, der die Einmischung der Römer in die gallischen Dinge überflüssig und untunlich ge macht hätte, nicht gestehen will. Setzt man diesen wahren Zweck in seine Erzählung ein, d.h. streicht man von den beiden Motiven, die er gibt und von denen eins unter allen Umständen fallen muß, die Auswanderung oder vielmehr reduziert diese auf eine bloße politisch-militärische Maske, so ist alles vollständig klar.

Rauchenstein legt Gewicht darauf, daß Cäsar trotz seines Sieges weder die Helvetier verfolgte noch nach Bibracte ging, während er uns doch vorher gesagt hat, daß seine Soldaten nichts mehr zu leben hatten. Die Erklärung[513] ist, daß der Sieg Cäsars bereits alles gab, was er brauchte. Er verfolgte die Helvetier nicht, weil ihm nicht nur nichts daran lag, sie zu vernichten, sondern er im Gegenteil sie, nachdem sie besiegt waren, zu schonen wünschte, da er ja jetzt als Vorkämpfer aller Gallier gegen Ariovist aufzutreten gedachte. Dazu stimmt sehr gut, daß der römische Feldherr, was er selber nicht erzählt, Mommsen aber Hermes, Bd. 16 S. 447 nachgewiesen hat, den Helvetiern einen sehr günstigen Vertrag gewährte. Wiederum sofort in der entgegengesetzten Richtung auf Bibracte abzumarschieren, wäre unklug gewesen, da es den Anschein erwecken konnte, als ob der Sieg nicht so ganz zweifellos gewesen wäre. Lebensmittel aber werden die Häduer den Römern nach dem Siege schon geliefert haben, wo sie auch standen.

3. Die Untersuchung von H. KLÖVEKORN »Die Kämpfe Cäsars gegen die Helvetier i. J. 68« (Leipzig 1889) kenne ich nur aus der Besprechung von Ackermann in der »Wochenschr. f. klass. Philologie« 1889, Sp. 1392.

Eine Untersuchung über denselben Gegenstand von BIRCHER habe ich angeführt gefunden, habe sie jedoch nicht erlangen können.

4. Ein merkwürdiger Beweis, wie schwer es ist, sich von der Autorität des geschriebenen Wortes zu befreien, ist das Verhalten Napoleons III. und Stoffels zu Cäsars Zahlangabe. Napoleon gibt uns die Berechnung über die Länge, die der helvetische Wagenzug eingenommen haben müßte, wenn Cäsars Zahlen richtig wären. Aber weder er noch sogar Stoffel haben den Gedanken nun zu Ende gedacht und die Zahl Cäsars verworfen, und darauf gestützt erklärt wieder Holmes S. 224, da Stoffel doch ein Mann sei, der wisse, was er schreibe, daß Cäsars Zahlen sich nicht anfechten ließen. Aber nicht die Autorität, sondern die Natur der Dinge entscheidet hier, und das einzige sachliche Rettungsmittel, das Holmes gefunden hat, ist unbrauchbar. Er beruft sich darauf, daß die Helvetier doch nicht ihre Wagen alle in einer Reihe fahren zu lassen brauchten, sondern mehrere Reihen bilden konnten. Das kann man gewiß tun, aber nur so lange es über ebenes Feld geht. Ist auf dem Wege nur eine einzige schmale Stelle, eine Brücke, eine Furth, ein Hohlweg, so wirkt das ebenso, als wenn der ganze Weg schmal wäre. Mit sehr gutem Material und durchgebildeter Disziplin kann man wohl durchsetzen, daß die Wagen die Enge mit verdoppelter Schnelligkeit nehmen und dadurch das Hindernis ausgleichen. Aber das Mittel versagt bei einem Zuge, dessen Karren mit Ochsen bespannt und hauptsächlich mit Weibern und Kindern besetzt sind. Es versagt auch immer da, wo sehr weicher oder vom Regen aufgeweichter oder unebener Boden das zeitweilige Traben verhindert. Es ist deshalb anzunehmen, daß die »Völkerwanderungen«, wo sie tatsächlich vorgekommen sind, sich meist in einer Wagenlinie fortbewegten und ihr Hilfsmittel in sehr kurzen Tagemärschen hatten.

5. Daß Cäsars Angabe zu hoch sei, haben besonnene Köpfe auch damals schon in Rom erkannt. Wir dürfen das daraus entnehmen, daß wir bei Orosius (VI, 7, 6) eine andere Tradition finden, wonach der Auszug nur[514] 157000 Köpfe stark war, von denen 47000 unterwegs umkamen. Diese Nachricht geht vermutlich auf einen der Generale Cäsars im Bürgerkrieg, Asinius Pollio zurück.

Aber obgleich dieser hiernach die 110000 Köpfe, die bei der Rückkehr der Helvetier in ihr Land gezählt sein sollen, akzeptiert hat, so muß auch diese Zahl noch viel zu hoch sein. Vermutlich ist die Zählung mehr eine Abschätzung oder Zusammensetzung nach der Angabe der Altermänner (der Hundertschaft-Vorsteher) gewesen, die es so genau nicht nahmen, als ein wirklicher Census. Wenn ich alle Bewegungen überdenke, die der Zug gemacht hat, so kann ich mir nicht vorstellen, daß er je auch nur annähernd 110000 Köpfe gezählt hat, und vermute deshalb, daß in dieser Zahl auch die in der Heimat Gebliebenen einbegriffen sind. Bei Strabo IV 3,3 finden wir die Nachricht, daß die Zahl der Übriggebliebenen 8000 gewesen sei. Sollte diese Notiz so ganz aus der Luft gegriffen sein? Beziehen wir sie nur auf die Krieger und nehmen an, daß in Anbetracht der großen Verluste und der Lostrennung der Bojer, die bei den Häduern blieben, die Zahl ursprünglich um die Hälfte größer gewesen ist, so hat sie alle innere Wahrscheinlichkeit für sich. 12000 tapfere Barbaren mögen sich wohl zugetraut haben, es mit 4 römischen Legionen aufnehmen zu können, und die Heeresbewegungen erregen bei einem Zuge, der im ganzen vielleicht 20000 Köpfe zählte, keine Bedenken mehr.

Die Untersuchung von WACHSMUTH Klio Bd. III (1903) S. 281 beruht auf der Voraussetzung der Glaubwürdigkeit der von den antiken Schriftstellern überlieferten Bewegungen der Hunderttausende.

6. VEITH a.a.O. gibt im Text seines Werkes Cäsars Erzählung wieder, im Anhang meine Auffassung, mit dem Vorbehalt, daß Cäsar nicht bewußt entstellt, sondern selber den Zusammenhang nicht durchschaut habe.

7. In Widerspruch zu meiner Auffassung haben mehrere neuere Untersuchungen die Glaubwürdigkeit von Cäsars Bericht in den Hauptsachen zu verteidigen gesucht, namentlich den Auswanderungsplan der Helvetier festgehalten und demgemäß die Schlacht nicht östlich, sondern südwestlich oder südlich von Bibracte angesetzt. Ich nenne: ZIEHEN, Der neueste Angriff auf Cäsars Glaubwürdigkeit. (Ber. d. fr. deutschen Hochstifts zu Frankfurt a. M. 1901.) FR. FRÖHLICH, die Glaubwürdigkeit Cäsars in seinem Bericht üb. d. Feldzug geg. d. Helvetier. Aarau 1903. H. BIRCHER, Bibracte. Aarau 1904.

Der entscheidende Punkt ist, ob die Helvetier wirklich an die Garonne-Mündung haben auswandern wollen, oder ob dieser Plan nur ein Vorwand war, um einen Hilfszug für die häduische Patriotenpartei gegen Ariovist einzuleiten.

Bei der zweiten Annahme erklärt sich sowohl das Abschwenken des Zuges nach Norden, nach dem Sonne-Übergang, wie das Umkehren zur Schlacht sehr einfach, bei der ersten bleibt beides schlechthin unerklärlich.[515]

Ziehen sagt: »Ich muß nun zunächst sagen, daß sich im Jahre 1900 auf Grund vorzüglicher Karten sehr leicht Ratschläge über Wege, die man wählen kann, geben lassen, für die armen Helvetier aber vor 2000 Jahren diese Kenntnis nicht so einfach zu erwerben war, zumal sie die Römer hinter sich hatten. Woher weiß ferner Delbrück, ob die von den französischen Gelehrten ausfindig gemachten Wege schon damals wirklich gangbar waren? Aber nehmen wir selbst an, sie seien es gewesen und die Helvetier hätten davon gewußt, so ist es durchaus möglich, daß sie ihnen durch die dortigen Gebirgsbewohner versperrt wurden. Wir wissen aus den Verhandlungen mit den Sequanern am Anfang des Zuges, wie viel den Helvetiern darauf ankam, schwierige Defilees zu vermeiden, und Delbrück selbst sagt gerade an unserer Stelle, die Helvetier hätten auf jenen Gebirgswegen die Römer leicht mit einer kleinen Nachhut aufhalten können. Was aber für die Helvetier gilt, muß auch gegen sie gelten; sie durften also diesen Weg nur dann wagen, wenn die Bevölkerung dort ihnen keine Schwierigkeiten machte, und die Möglichkeit, daß dies doch geschah, kann kein Mensch bestreiten.«

Ich erwidere darauf: daß durch die Gebirgstäler in dem ganz gut bevölkerten, an Städten und Verkehr keineswegs armen Lande auch Wege gingen, ist ganz selbstverständlich. Ebenso, daß die Helvetier sie kannten. Sie hatten ihren Zug seit langem vorbereitet und waren nicht so gedankenlos, ins Blaue zu marschieren. Ihre kundgegebene Absicht war zweifellos, den geraden Weg zu den Santonen zu nehmen – wozu hätten sie sonst die Saone so weit südlich überschritten und sich nicht schon weit früher, entweder von Genf aus, oder von ihrem Eintritt in die Ebene an, nordwestlich gewandt? Was hatte nun der Umweg im rechten Winkel für einen Zweck? Denkbar scheint, daß die Völkerschaften im Gebirge ihnen unerwartet die Pässe zu sperren suchten. Das Motiv ist aber nicht stark genug, um eine Maßregel, wie die völlige Änderung der Marschrichtung zu rechtfertigen. Paßbesetzungen in einem so mäßig hohen Bergland bereiten wohl Aufenthalt, sind aber zu umgehen und die Schwierigkeit, die dabei entsteht, ist nicht zu vergleichen mit der Gefahr, der die helvetische Heereszug sich in der Flußebene aussetzte, indem die Römer ihn verfolgten. Vor allem aber ist die hier erwartete Feindseligkeit der Bergvölker eine ganz leere Vermutung; Cäsar sagt davon kein Wort; er gibt uns nicht nur kein Motiv an für die erstaunliche Richtungs-Änderung des feindlichen Zuges, sondern es ist auch deutlich, daß er selber von vornherein nichts anderes als den Marsch nordwärts an der Saone entlang erwartet hat. Denn die Verproviantierung seines Heeres, auf die er sich eingerichtet hat, folgt ihm auf dem Fluß, und als er sich von der Saone abwendet, fehlt ihm der Wagenpark, der ihm die Lebensmittel nachfahren kann. Hätte der Römer sich ursprünglich den Feldzug vorgestellt als über die Berge ins Loire-Tal gehend, so hätte er notwendig für einen genügenden Train sorgen müssen. Cäsar gibt uns für die Abschwenkung der Helvetier nach Norden kein Motiv an, weil er[516] selber nie an den Zug zu den Santonen geglaubt hat und die Schwenkung der Helvetier nach Norden ihm die natürlichere und selbstverständlichere ist.

Ganz ebenso steht es mit dem plötzlichen Umkehren der Helvetier zur Schlacht. Wollten sie zu den Santonen, warum in aller Welt ließen sie sich mit den Römern in eine Schlacht ein gerade in dem Augenblick, wo diese von der Verfolgung abstanden und eine andere Richtung einschlugen? Niemand hat bisher diese Frage auch nur einigermaßen plausibel zu beantworten übernommen.

Umgekehrt hat Fröhlich in dem Zeugnis Cäsars selbst den letzten Zweifel beseitigt. Ich habe oben geschrieben, daß der Angriff der Bojer und Tulinger »latere aperto« den Ausschlag geben müsse, falls dieser Ausdruck auch ohne die Zufügung der Präposition »a« die »rechte Flanke« bedeute. Fröhlich (S. 29) bringt nun zwei Stellen aus dem bellum Alexandrinum bei (20, 3 u. 40, 2), aus denen hervorgeht, daß die Zufügung der Präposition in der Tat bedeutungslos ist. Kamen nun die Bojer und Tulinger den Römern in die rechte Flanke, so muß nach der natürlichen Stellungnahme der Armeen der Abzug der Helvetier nach Ost oder Nord-Ost, also rechts von Bibracte erfolgt sein und Stoffels Konstruktion ist unmöglich geworden, da er den Angriff von links kommen lassen muß. Diesem Argument tritt nun freilich Bircher entgegen, indem er die hohen Heere bei der Aufstellung eine so starke Drehung (Römer Front nach Südwest) machen läßt, daß der Flankenangriff sie doch noch von rechts treffen konnte. Ich halte das für völlig ausgeschlossen; namentlich auch deshalb, weil das Gros der Helvetier dann nicht den Rückzug zu den Lingon en hätte nehmen können. Bircher selbst fügt noch hinzu, »am dunkelsten« seien die Folgen der Schlacht, sonderlich die rasende Flucht, 30 Kilometer den Tag. Jede Dunkelheit aber schwindet, wenn die Schlacht östlich von Bibracte, d.h. nicht sehr weit von den Grenzen der Lingonen stattfand.

8. ALFR. KLOTZ, Der Helvetierzug. N. Jahrb. f. d. klass. Altert. 1915. 35. u. 36. Bd. 10. Heft sucht wieder Cäsars Bericht zu retten, indem er über die Schwierigkeiten hinweggleitet.

9. KONR. LEHMANN, Sokrates, 69. Bd. 10/11. Heft. 1915. S. 488 verteidigt Cäsar im wesentlichen im Anschluß an meine Auffassung gegen die Angriffe Ferreros.[517]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 1, S. 508-518.
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