Heeresstärke und Rekrutierung im 4. Jahrhundert


4. Heeresstärke und Rekrutierung im 4. Jahrhundert.

[241] Die Überlieferung ist, daß durch Diocletian die römische Heeresmacht vervielfacht, sogar vervierfacht sei. Lactanz macht dem Kaiser aus der Erhöhung der Militärlast den schwersten Vorwurf, und Mommsen hat nach der Notitia dignitatum und allen anderen Zeugnissen geglaubt, annähernd berechnen zu können, daß die gesamte römische Macht im 4. Jahrhundert 5-600000 Mann betragen habe, während er für den Anfang des 3. Jahrhunderts, als Severus die Zahl der Legionen auf 33 erhöht hatte, einen Bestand von etwa 300000 Mann annimmt147.

Die Grundlagen dieser Berechnung sind aber, wie Mommsen selber hervorhebt, sehr unsicher. Was von den in der notitia aufgeführten Truppenteilen tatsächlich vorhanden und wie stark die einzelnen Abteilungen gewesen sind, steht darin; ebenso, wie weit die limitanei überhaupt noch als Soldaten zu betrachten sind. Eine unbedingt zuverlässige Zahl, von der man ausgehen und an der man die anderen kontrollieren könnte, finde ich eigentlich nirgends. Die Heereszahlen, die die Historiker für die Konstantinischen Schlachten angeben, sind ohne allen Wert. Große Heere aber mit Naturalwirtschaft zu ernähren, darf von vornherein als unmöglich betrachtet werden – wir werden darüber im Fortgang dieses Werkes noch oft zu reden haben –, und der Verlauf der Kriegshandlungen, wie die einzige Heereszahl, die wir haben und der ein Zeugniswert beigemessen werden darf, sprechen dafür, daß die Heere dieser Zeit nicht größer, sondern erheblich kleiner waren, als in der Zeit des Augustus und Tiberius.[241]

In einem Schreiben, in dem der Kaiser Valerian dem späteren Kaiser Aurelian ein großes Kommando überträgt148, werden alle seine einzelnen Truppenteile aufgezählt; es sind eine Legion, vier germanische Fürsten, 300 Ityräische Bogner, 600 Armenier, 150 Araber, 200 Saracenen, 400 Mesopotamier, 800 schwere Reiter. Es kann doch nur im ganzen ein recht kleines Heer gewesen sein, wo so unbedeutende Kontingente besonders aufgeführt wurden.

Am wichtigsten aber ist, daß mit nicht mehr als 13000 Mann Julian i. J. 357 die Alemannen bei Straßburg besiegt haben soll, die ihrerseits 35000 Mann stark angegeben werden149. Die Zahlen gehen wahrscheinlich auf Julians eigene Aufzeichnungen zurück. Die Schlacht selbst werden wir im nächsten Buch zu behandeln haben, hier nur die Stärkeangaben. Die 35000 Alemannen werden wir ohne weiteres streichen; es ist die übliche Übertreibung. Es hat überhaupt nie eine Zeit gegeben, wo 13000 Römer 35000 Germanen in offener Feldschlacht besiegen konnten, und im 4. Jahrhundert ganz gewiß nicht. Die Frage ist, ob wir die 13000 Römer akzeptieren dürfen. Die Neigung, die eigenen Kräfte zu gering anzugeben, um den Ruhm des Sieges um so heller leuchten zu lassen, ist doch gar zu häufig, und 13000 Mann in der Hand eines Feldherrn, dem nicht bloß die Kräfte von ganz Gallien, sondern vermutlich auch von Britannien und Spanien zur Verfügung standen, nicht bei einem gelegentlichen Zusammentreffen, sondern in einer lange vorhergesehenen und vorbereiteten Entscheidungsschlacht, für die ihn nichts hinderte, alles Verfügbare heranzuziehen, scheint doch gar zu wenig.

Nehmen wir aber auch an, daß Julian tatsächlich viel zu wenig angegeben hat, immerhin dürfen wir aus dieser Zahl folgern, daß es nicht mehr Heere von 60000 und 80000 Mann waren, die damals die großen Entscheidungen ausfochten. Auch Entstellungen und Übertreibungen rechnen doch immer mit herrschenden Vorstellungen, und Julian durfte keine Zahl geben, deren Verkehrtheit die Zeitgenossen sofort durchschaut hätten; wenn er prahlen wollte, so hätte er ja die Zahl der Alemannen noch mehr erhöhen können. Ohne seine 13000 Mann für unbedingt laubwürdig zu halten, meine ich also doch, daß wir aus dieser Angabe mit Sicherheit auf kleinere Heereszahlen in dieser Schlacht und damit auch in dieser ganzen Epoche schließen dürfen, als in den Kriegen Cäsars und Germanicus'.

Man könnte noch entgegenhalten, daß hier ein Ausnahmefall vorliege, da Julian sich aufs stärkste beschwert hat, sein Vetter, Kaiser Constantius, habe ihn aus Neid und Argwohn absichtlich gehindert und schlecht unterstützt. Aber nicht nur unterliegt die Berechtigung dieser Anklagen starken[242] Zweifeln150, sondern, selbst wenn sie richtig wären, so hatte doch Julian die reichsten und schönsten Provinzen selber zu seiner unmittelbaren Verfügung, und auch seinem Rivalen in Rätien, Barbatio, gibt Ammian (XVI, 11) doch nicht mehr als 25000 Mann.

Die Kleinheit der Heere in dieser Epoche wird uns bestätigt durch die Betrachtung, daß ohne diese Voraussetzung die Germanen in der römischen Armee unmöglich eine so überragende Bedeutung hätten erlangen können. Zwar haben wir keinen Maßstab, wie groß etwa die ganze Volksmasse der germanischen Stämme in dieser Epoche anzuschlagen ist, immerhin können nicht im römischen Dienst damals schon Hunderttausende gewesen sein. Wenn sie also trotzdem im römischen Heere mehr und mehr den Ton angaben, so kann dieses Heer im ganzen nicht sehr zahlreich gewesen sein.

Bestimmte Zahlen wage ich nicht auszusprechen, aber es scheint mir sicher, daß von einer Vergrößerung des Heeres durch Diocletian im Verhältnis zu dem Bestande unter den Severen nicht die Rede sein kann, und auch die Berechnung von 300000 Mann für den Anfang des 3. Jahrhunderts ist sicherlich schon zu hoch. Ob die Vermehrung der Zahl der Legionen durch Septimius Severus überhaupt eine Vergrößerung des Heeres bedeutete, ist sehr fraglich, und jedenfalls kann man nicht annehmen, daß auch die Zahl der Auxilien vermehrt worden sei. Es scheint mir keineswegs ausgeschlossen, daß die Severe mit ihren 33 Legionen doch im ganzen nicht mehr als 250000 Mann hatten.

Die Herabsetzung der angenommenen Heeresziffer muß auch unsere Vorstellung von dem Charakter der Rekrutierung im 4. Jahrhundert verändern. Vegetius wie die Rechtsquellen überliefern uns, daß die Possessoren (Grundbesitzer) verpflichtet waren, die Rekruten zu stellen. Das erscheint als eine ganz neue Institution, deren Ursprung, wie MOMMSEN sagt (a.a.O. S. 246), im Dunkeln liegt, und die man wohl in Verbindung mit der ebenfalls neu auftauchenden Institution des Kolonats, der bäuerlichen Hörigkeit, gebracht hat. Man hat diese Rekrutenstellung als eine auf dem Großgrundbesitz ruhende Reallast bezeichnet.

Wenn ich recht sehe, so ist die neue Form der Rekrutierung der unmittelbare Ausdruck der neuen sozialpolitischen Zustände in einfacher Fortentwicklung der älteren Einrichtung. Die ältere römische Lokalverwaltung beruhte auf den Städten, denen die Bauernschaften untergeordnet waren. Die Großgrundbesitzer wohnten in der Stadt und verwalteten ihre Ländereien von dort aus, kamen auf die Güter nur zum Zweck der Inspektion und Villegiatur. Allmählich aber hatten diese Großgrundbesitzer sich von der Stadt aufs Land gezogen und ihre Güter politisch von den Stadt-Kommunen[243] emanzipiert und zu selbständigen Verwaltungsbezirken entwickelt, in denen sie selbst die Obrigkeit waren151. Die Naturalwirtschaft beschleunigte diesen Prozeß: der Herr, nicht mehr in der Lage, genügend Barpachten aus seinem Landbesitz zu beziehen, zog selbst hinaus, um die Erträge der Güter direkt zu verzehren.

Die ältere Rekrutierung haben wir uns so vorgestellt, daß die aushebenden Magistrate aus der großen Zahl der vorhandenen Mannschaften zusammen mit den Kommunalobrigkeiten einige aussuchten. Die Lokalbehörden sind jetzt die Possessoren. Die Städte fallen für die Rekrutierung deshalb fast vollständig aus, weil ihre Bürger von den Dekurionen an abwärts dem Staate bereits anderweit erblich zu Zwangsdiensten verschiedener Art verpflichtet sind. Die Zahl der zu stellenden Rekruten ist minimal. Eine eigentliche Berechnung kann man nicht machen, da wir weder für die Größe der Bevölkerung, noch für die Größe des Heeres irgend einen sicheren Anhalt haben; nur beispielshalber, der Anschaulichkeit wegen sei einmal angenommen, die Bevölkerung des ganzen Reiches habe 90000000 Seelen betragen und das aus ihr zu erhaltende Heer, abgesehen von den barbarischen Hilfstruppen, sei 150000 Mann stark gewesen. Bei zwanzigjähriger Dienstzeit wäre davon etwa der 15. Teil oder 10000 Mann als Ersatz jährlich nötig geworden; nehmen wir aber selbst 20000 oder 30000 Mann und vergleichen damit, daß das Deutsche Reich heute (1900) bei 54000000 Seelen von 250000 junge Männer jährlich diensttauglich findet und einstellt, so sieht man, daß die Rekrutenstellung als solche für die römische Bevölkerung eine besondere Last nicht gewesen sein kann, auch wenn wir die Seelenzahl und die Heereszahl ziemlich erheblich anders, jene geringer, diese höher greifen.

Eine Rekrutierung, die von 30 oder 40 geeigneten jungen Männer immer nur einen nimmt, wird ganz von selbst mehr zu einer Werbung als zu einer Aushebung, und es ist Mommsen daher völlig beizustimmen, wo er sagt,152 »wenn schon in vordiocletianischer Zeit die Ergänzung des Heeres regelmäßig durch freiwilligen Eintritt bewirkt ward, so gilt dies von der späteren Epoche in noch gesteigertem Grade«.

Die im Codex Theodosianus erhaltenen kaiserlichen Erlasse (Buch VII, Tit. XIII, de tironibus; tit. XX de veteranis; tit XXII de filiis militarium apparitorum et veteranorum), wenn auch in manchem noch einer vollständigen und sicheren Interpretation harrend, lassen doch keinen Zweifel, daß auch die Rekrutenstellung durch die Grundbesitzer praktisch mehr den Charakter einer Werbung hatte. Die Söhne von Veteranen galten erblich für dienstpflichtig, und andere suchte man durch Steuerprivilegien, auch für die Eltern und die Frau, für den Dienst anzulocken. Hätte eine jährlich[244] gleichmäßige Werbung stattgefunden, so hätte sie wohl wenig Schwierigkeiten gemacht, aber naturgemäß kam sie sehr ungleichmäßig, stoßweise, nach großen Verlusten oder bei großen Gefahren. Da war denn wohl, trotz genügender Menschen, doch Mangel an Willigen, und die Werbung ging, wie im 18. Jahrhundert, über in ein mehr oder weniger gewaltsames Pressen, was dann wieder zur Folge hatte, daß Eingelieferte sich durch Selbstverstümmelung dem Dienst zu entziehen suchten.

Im ganzen und großen ist aber daran festzuhalten, daß die Werbung vorwaltete, und es ist miltärisch wichtig, das festzustellen, da es sonst nicht verständlich wäre, wie die römischen Truppenteile überhaupt noch irgend etwas haben leisten können. Ausgehobene oder gepreßte Soldaten sind nur verwertbar in sehr gut disziplinierten Truppenkörpern mit festen Cadres. Das sind die römischen Legionen dieser Zeit offenbar nicht mehr gewesen. Nur wenn die Mannschaften den guten Willen und die animalischen Instinkte zum Kriegerleben als Selbstgewähltem Gewerbe mitbrachten, waren sie als einigermaßen brauchbare Truppen zu verwenden. Man warb also der Sache nach, behielt aber die Stellung durch die Possessoren der Form nach bei, sowohl um das Werbegeschäft zu erleichtern und für den Staat zu verbilligen, als namentlich auch, um, was sehr häufig geschah, die Stellungspflicht in eine Geldleistung zu verwandeln, die bald erlaubt, oft aber geradezu geboten wurde. Im Jahre 406, in großer Not, warb der Staat direkt und bot erst drei, dann zehn Solidi (Goldstücke) Handgeld. Selbst Sklaven wurde die Freiheit verheißen, wenn sie sich anwerben lassen wollten, und ihnen noch zwei Solidi als Reisegeld (pulveraticum, Staubgeld) vergütet.153 Possessoren wurde ein Rekrut zu 30, manchmal zu 25 Solidi bei der Ablösung angeschlagen, und es teilten sich auch mehrere Grundbesitzer in die Leistung.154


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 241-245.
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