[21] Ein getreues Spiegelbild der Geschichte des germanischen Kriegertums gibt uns die Geschichte des germanischen Treueides, die wir, wenn sie auch nicht in jedem Moment urkundlich zu belegen ist, doch mit genügender Sicherheit verfolgen können.22 Die Urgermanen hatten keinen allgemeinen Treueid, sondern kannten nur den Eid, den die Gefolgsmänner ihrem Herrn schwuren. Unter den nächsten Nachfolgern Chlodwigs finden wir den allgemeinen Treueid gegen den König. Die Untertanen schwören ihm »fidelitas et leudesamio«; diese Formel läßt erkennen, daß der Eid dem alten Gefolgschaftseide nachgebildet ist: die ganzen Völkerschaften haben sich einem Kriegsherrn untergeordnet. Es ist wohl möglich, daß die erste Veranlassung, die gesamte Masse der Krieger dem Führer einen Eid leisten zu lassen, gegeben worden ist durch den römischen Dienst, in den ja nicht bloß einzelne Scharen, sondern die ganzen Völkerschaften als solche eintraten. Wir finden den Untertaneneid, den die Germanen ihrem Könige leisten, nicht bloß bei den Franken, sondern auch bei den Ost- und Westgoten und den Longobarden; bei den Angelsachsen aber, die nicht in römischem Dienst gestanden haben, finden wir ihn erst in Anlehnung an fränkische Muster viel später, im zehnten Jahrhundert.[21]
Dieser allgemeine fränkische Untertaneneid ist unter den späteren Merowingern obsolet geworden, und auch die ersten Karolinger, auch Pipin der König, verlangten noch keinen allgemeinen Treueid; er ist aufgesogen worden durch den mittlerweile entwickelten Vasalleneid. Auch den Untertaneneid unter den Merowingern haben ja nicht sämtliche Einwohner, sondern nur das eigentliche wahre Volk im Sinne der Zeit, die Krieger, geschworen,23 und diese Krieger sind in Vasallen verwandelt. Dem König schworen also jetzt nur seine direkten Vasallen, und deren Untervasallen waren ihm nur verpflichtet durch das Mittelglied ihrer Herren. Die Gefährlichkeit dieser Einrichtung erkannte Karl der Große, als bei einer Empörung, wahrscheinlich die des Thüringers Hardrad im Jahre 786, die Verbrecher sich darauf beriefen, daß sie ja dem Könige keinen Eid geleistet hätten. In Veranlassung dieses Falles, wie ausdrücklich in der Einleitung der uns erhaltenen Verordnung gesagt ist, verfügt nunmehr der König, daß alle Untertanen über 12 Jahre ihm direkt einen Eid zu leisten hätten, einen Eid, den er dann noch mehrfach, namentlich als er den Kaisertitel annahm und als er die Nachfolge-Bestimmungen traf, wiederholen ließ.24 Die Untertanen, die diesen Eid schwören sollen, werden im einzelnen aufgezählt: es sollen schwören die[22] Bischöfe und Äbte, die Grafen, die Königlichen Vasallen, die Vicedomini, Archidiaconen, Kanoniker, Kleriker (ausgenommen die Mönche, die ihr Gelübde abgelegt haben), die Vögte, Hunni und das gesamte Volk, alle die über 12 Jahre sind bis in das Alter, wo sie noch rüstig genug sind, daß sie die Gerichtstage besuchen und die Befehle ihrer Senioren ausführen können, auch dann, wenn sie nicht direkte Untertanen des Königs, sondern als Eingesessene oder Knechte von Grafen oder Bischöfen oder Äbten von diesen Lehen haben und mit Roß und Waffen, Schild, Lanze, Schwert und Dolch ausgerüstet sind.
Diese Aufzählung darf uns als ein neuer Beweis gelten, daß die Kriegsverfassung schon damals völlig feudalisiert ist. Zwar haben diejenigen Forscher, die auch unter Karl dem Großen noch die allgemeine Wehrpflicht aller freien Männer annehmen, sich daran gehalten, daß nach dieser Eidesformel das gesamte Volk (cuncta generalitas populi) den Eid zu leisten habe. Aber wenn damit wirklich sämtliche Untertanen gemeint wären, so wäre ja die ausführliche und spezielle Aufzählung aller verschiedenen Kategorien der zu Verpflichtenden überflüssig gewesen. Was gemeint ist, ist die Gesamtheit der Kriegerschaft und daneben die Geistlichkeit; wer nicht Krieger ist, ist nicht im vollen, wahren Sinne ein freier Mann und rechnet nicht zum Volk im politischen Sinne, während umgekehrt auch Unfreie, die in den Kriegerstand eingetreten sind, zur Eidesleistung herangezogen werden. Erst hierdurch werden auch die Wendungen der Chroniken verständlich, wenn sie berichten, daß alle Aquitanier25 oder alle Longobarden26 zum König[23] gekommen wären, sich ihm unterworfen und ihm Treue gelobt hätten. Diese »Alle« sind nicht die Millionen der Bürger und Bauern, sondern die, auf die es ankommt, nämlich die Krieger, die sich tatsächlich annähernd auf einem Fleck versammeln lassen, und die Karl der Große nicht bloß mittelbar, sondern direkt in Pflicht nehmen lassen wollte. Die Formel der Eidesleistung, die nach der Kaiserkrönung festgestellt wurde, lautet dahin, daß der Schwörende verspricht, so treu zu sein, wie von Rechts wegen der Mann dem Herrn sein soll (sicut per drictum debet esse homo domino suo). Es kann nichts Charakteristischeres für den Geist der Zeit geben, als diese Formel: nicht die Treue gegen den König ist das Ursprüngliche, das, was der Mann versteht, woran das Staatsrecht anknüpft, sondern umgekehrt: das, was dem gemeinen Mann das Natürliche und Verständliche ist, das ist die Treue, die der Vasall seinem Herrn schuldet; diese Treue verlangt nun auch der Kaiser von ihnen, damit nicht etwa der Herr, gestützt auf die Treue seiner Leute, sich gegen den Kaiser wenden kann.
In der Folgezeit aber ist diese Überbauung des Vasalleneides durch den Untertaneneid schnell wieder gefallen und mit ihr die Einheit, Geschlossenheit und Autorität der Monarchie.
Bei der erneuten Eidesleistung im Jahre 802 für den nunmehrigen Kaiser ließ Karl eine besondere Belehrung über die aus diesem Eide entspringenden Pflichten verbreiten. Dabei wird besonders hervorgehoben, daß der Eid nicht bloß für die Lebenszeit des Kaisers binde – auch daran erkennt man wieder, daß der Vasalleneid die herrschende Vorstellung ist, aus dem jetzt der Untertaneneid neu herausgebildet wird. Denn der Vasalleneid ist seinem Begriffe nach rein persönlich, schafft keine Verbindung mit den Erben, der Familie, die vielmehr einen neuen zweiseitigen Akt erfordert. Der Untertaneneid aber gilt mit dem Monarchen zugleich seiner Dynastie, und das mußte besonders gesagt werden.
Eben jene Belehrung führt auch noch die besondere Pflicht auf, nicht kaiserliche Lehen in Eigengut zu verwandeln, was abermals auf die Vasalleneigenschaft der Schwörenden hinweist.
Schließlich sei noch bemerkt, daß zur Ausrüstung des Unfreien, der vereidigt werden soll, neben den Waffen auch das[24] Roß gehört. Unmöglich kann gemeint sein, daß Krieger zu Fuß nicht zu schwören brauchten; auch können sie schwerlich bloß vergessen sein, vielmehr ist die Annahme, daß der Krieger der Krieger zu Roß ist. Andere gibt es nicht, oder sie kommen nicht in Betracht.