Vormittagssitzung.

[280] VORSITZENDER: Ich möchte die Entscheidung des Gerichtshofs in Bezug auf die Generale Halder und Warlimont bekanntgeben. – Ich bitte Dr. Nelte, vorzutreten.

Ich wollte Sie fragen, Dr. Nelte, ob Sie der einzige Verteidiger sind, der die Generale Halder und Warlimont vorladen will?


DR. NELTE: Nein, außer mir haben, soviel ich weiß, der Kollege Dr. Laternser, Professor Dr. Kraus und Professor Dr. Exner den General Halder und auch Herrn General Warlimont geladen.


VORSITZENDER: Gut, ich verstehe.

Dann lautet die Entscheidung des Gerichtshofs wie folgt:

Als der Anklagevertreter der Sowjetunion die eidesstattlichen Erklärungen dieser Generale einreichen wollte, ordnete der Gerichtshof an, daß im Falle der Vorlage dieser Erklärungen die Zeugen zum Kreuzverhör hierher gebracht werden müssen. In Anbetracht der Tatsache jedoch, daß die Verteidiger um die Vorladung dieser Zeugen gebeten haben, wünscht der Gerichtshof eine Entscheidung seitens der Verteidigung darüber, ob sie es vorziehen würde, daß diese beiden Generale Halder und Warlimont jetzt während des Vortrags der Anklagebehörde zum Kreuzverhör vorgeladen werden, oder ob sie später während des Vortrags der Verteidigung vorgeführt werden sollen. In diesem Falle würden sie natürlich auch der Anklagebehörde im Kreuzverhör zur Verfügung stehen müssen. Ich möchte jedoch klarstellen, daß im Einklang mit der Verfügung, die der Gerichtshof gestern oder vorgestern – ich weiß nicht mehr genau wann – getroffen hat, diese Zeugen wie alle anderen Zeugen nur einmal hier vorgeladen werden können. Sobald Sie vorgeladen sind, muß jeder Verteidiger, der ihnen Fragen vorzulegen wünscht, dies bei der einmaligen Vorladung tun.

Sollten diesbezügliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verteidigern bestehen, daß ein Verteidiger jetzt die Vorladung zum Kreuzverhör wünscht, also während des Vortrags der Anklagevertretung, während andere Verteidiger eine spätere Vorladung vorziehen würden, also während des Vortrags der Verteidigung, dann ist der Gerichtshof der Ansicht, daß in Anbetracht der bereits ergangenen Verfügung die Generale Halder und Warlimont jetzt vor Gericht erscheinen sollten. Die gleiche Regelung gilt auch dann. Sie können nur einmal vorgeladen werden, deshalb müssen also Fragen, die die Verteidiger zu stellen haben, jetzt vorgebracht [280] werden. Die Wahl, ob diese Generale jetzt oder während des Vortrags der Verteidigung vorgeladen werden sollen, ist daher den Verteidigern hier überlassen.

Ist das klar?


DR. NELTE: Ich bitte darum, heute zu Beginn der Nachmittagssitzung die Entschließung der verschiedenen Verteidiger anhören zu wollen.


VORSITZENDER: Ja, selbstverständlich, bitte lassen Sie es uns während der Nachmittagssitzung, zu Beginn der Nachmittagssitzung, wissen, wofür die Verteidiger sich entschieden haben.


DR. NELTE: Danke.


VORSITZENDER: Bitte, Oberst Smirnow.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich fahre mit dem Zitat des »politischen Berichts« des Professors Paul Thomson fort. Das Dokument ist dem Gerichtshof in der gestrigen Nachmittagssitzung vorgelegt worden. Die Herren Richter werden dieses Dokument auf Seite 116 des Dokumentenbuches finden. Ich beginne das Zitat und zitiere nur 2 kurze Auszüge aus dem politischen Bericht:

»Obgleich ich hier im Osten nur einen speziellen, wissenschaftlichen Auftrag habe, so fühle ich mich doch verpflichtet, meinen sachlichen Berichten eine allgemeine politische Betrachtung hinzuzufügen. Ich muß offen und ehrlich sagen, daß ich mit den schwersten Eindrücken in die Heimat zurückkehre.

In dieser Schicksalsstunde unseres Volkes kann jeder Fehler, den wir machen, die verhängnisvollsten Folgen nach sich ziehen. Eine polnische und tschechische Frage können wir über das Knie brechen, dazu reichen die biologischen Kräfte unseres Volkes. Volkssplitter wie die Esten, Letten und Litauer haben sich uns anzupassen, oder sie gehen zugrunde.

Ganz anders liegen die Dinge im riesigen russischen Raume, den wir als Rohstoffbasis dringend brauchen.«

Ich unterbreche hier das Zitat und fahre auf Seite 117 des Dokumentenbuches fort, Absatz 10 und 11. Ich zitiere:

»Über die wirtschaftlichen Maßnahmen, wie zum Beispiel die Schließung des freien Marktes in Kiew, die von der Bevölkerung als schwerer Schlag empfunden wurden, wage ich mir kein Urteil anzumaßen, da ich die Gesamtsituation nicht übersehen kann. Der ›Unteroffizierston‹, das Prügeln und Anschreien auf offener Straße, das sinnlose Vernichten von wissenschaftlichen Einrichtungen, das z.B. in Dnjepropetrowsk [281] noch flott weiter betrieben wird, müßte aber sofort eingestellt und schwer bestraft werden....

Kiew, den 19. Oktober 1942 Professor Paul W. Thomson.«

Dem Gerichtshof wurde bereits die bestens bekannte Theorie der deutschen Faschisten über die »Germanisierung« vorgetragen, die dahin ging, daß nicht die Völker, sondern ihre Länder zu germanisieren seien. Ich werde dem Gerichtshof Beweise darüber erbringen, daß die Hitleristen ähnliche Verbrechen in Jugoslawien zu begehen beabsichtigten. Dieses Verbrechen konnte, dank der Freiheitsbewegung, die in ganz Jugoslawien aufflammte, nicht durchgeführt werden. Ich zitiere einen kurzen Abschnitt aus dem Bericht der Jugoslawischen Regierung, den der Gerichtshof auf Seite 68, Absatz 7 des Dokumentenbuches finden wird:

»Gleich nach dem Einzug der deutschen Truppen in Slowenien begannen die Deutschen ihren lang gehegten Plan, nämlich die Germanisierung der ›annektierten‹ Teile Sloweniens, zu verwirklichen. Den führenden nazistischen Kreisen war es vollkommen klar, daß eine erfolgreiche Germanisierung Sloweniens nur dann durchführbar sei, wenn man den größten Teil der national- und sozial-bewußten Elemente vorher entfernte. Um aber den Widerstand, den die Volksmassen den deutschen Behörden bei Ausübung der Germanisierung leisteten, zu schwächen, war es notwendig, sie zahlenmäßig zu vermindern und wirtschaftlich zu ver nichten.

Der deutsche Plan sah auch die gänzliche ›Säuberung‹ einzelner Teile Sloweniens von Slowenen und die Ansiedlung deutscher Bevölkerung in diesen Gegenden vor (und zwar der sogenannten ›Gottscheer-Deutschen‹ und der Deutschen aus Bessarabien).«

Ich lasse einen Absatz aus und setze das Zitat fort:

»Schon einige Tage nach der Besetzung Sloweniens wurden Zentralstellen für die Umsiedlung gebildet. Der Stab war in Maribor (Marburg-Drau) und Bled (Veldes). Gleichzeitig, das heißt am 22. April 1941, wurde die ›Verordnung für die Festigung deutschen Volkstums‹ bekanntgegeben. Ihr erstes Ziel war die Einziehung des Vermögens aller Personen und Einrichtungen, die ›dem Reiche gegenüber feindlich gesinnt waren‹. Als solche wurden natürlich diejenigen betrachtet, die im Sinne des Planes aus Slowenien vertrieben werden sollten. Die Hitleristen gingen zur bewährten Durchführung des Planes über. Sie verhafteten zahlreiche Personen, die nach Serbien oder Kroatien deportiert werden sollten. Die Behandlung der Verhafteten war äußerst grausam. Ihr gesamtes Vermögen wurde zugunsten des ›Reiches‹ beschlagnahmt.

[282] Es wurden viele Sammelstellen in Maribor, Celje und anderen Ortschaften eingerichtet, die praktisch in Konzentrationslager umgewandelt wurden.«

Was die Behandlung der Verhafteten in diesen Sammelstellen anbelangt, so ist im Bericht der Jugoslawischen Regierung folgendes gesagt, die Mitglieder des Gerichtshofs werden diese Stelle auf Seite 69, Absatz 4, des Dokumentenbuches finden:

»Die internierten Personen wurden ohne Nahrung unter unhygienischen Bedingungen gehalten; das Lagerpersonal unterwarf sie physischen und psychischen Folterungen aller Art. Die Lagerkommandanten und das ganze Personal gehörten der SS an. Unter ihnen waren viele Deutsche aus Kärnten und Steiermark, die alles Slowenische und überhaupt Jugoslawische haßten.«

Charakteristisch ist folgender Satz:

»Durch besondere Grausamkeiten zeichneten sich die Mitglieder des Kulturbundes aus.«

Zur Bestätigung dieses Verbrechens der Hitleristen lege ich dem Gerichtshof als USSR-139 ein Schreiben der deutschen Kommandantur in Smeredov vor, das an einen jugoslawischen Quisling-Kommissar, Stefanovitsch, gerichtet ist, und in dem er angewiesen wurde, über die Ansiedlungsmöglichkeiten eines großen Teiles von Slowenen nach Serbien zu berichten. Die Herren Richter werden dieses Dokument auf Seite 119 des Dokumentenbuches finden.

In dem Bericht der Jugoslawischen Regierung, Seite 49 des russischen Textes, die der Seite 59, Absatz 7 des Dokumentenbuches entspricht, heißt es, daß die deutschen Behörden zuerst die Absicht hatten, 260000 Slowenen nach Serbien fortzuführen. Der Verwirklichung dieses Planes standen jedoch viele Schwierigkeiten im Wege. In diesem Zusammenhang zitiere ich die diesbezüglichen Stellen aus dem jugoslawischen Regierungsbericht:

»Da es sich aber erwiesen hat, daß die Umsiedlung einer so großen Zahl von Slowenen nach Serbien auf sehr große Schwierigkeiten gestoßen ist, kam es bald danach zu Verhandlungen zwischen den deutschen Behörden und der quislingischen Ustascha-Verwaltung in Agram über den Transit der ausgewiesenen Slowenen durch kroatisches Gebiet und die Ansiedlung eines Teiles dieser Slowenen in Kroatien selbst, während die Serben aus Kroatien deportiert werden sollten.«

Ich lege dem Gerichtshof als USSR-195 das Protokoll einer solchen Besprechung vor, die am 4. Juni 1941 bei der Deutschen Gesandtschaft in Agram stattfand. Vorsitzender bei dieser Besprechung war der Deutsche Gesandte in Agram, SA-Obergruppenführer Siegfried [283] Kasche. Dieses Protokoll wurde in serbischer Sprache im Archiv des Kommissariats für das Flüchtlingswesen der sogenannten »Regierung Milan Neditsch« erbeutet. In dem Protokoll wird der Besprechungsgegenstand wie folgt angegeben:

»Die Umsiedlung der Slowenen aus dem Reich nach Kroatien bzw. nach Serbien, und der Serben aus Kroatien nach Serbien.«

Der Gerichtshof wird dieses Dokument auf Seite 120 des Dokumentenbuches finden. An dieser Stelle des Protokolls heißt es wörtlich:

»Die Besprechung wurde vom Auswärtigen Amt mit Telegramm Nr. 389 vom 31. Mai bewilligt. Die Genehmigung des Führers für das Umsiedlungsverfahren wird hier durch Telegramm Nr. 344 vom 25. Mai mitgeteilt.«

Damit ist die unmittelbare Verantwortlichkeit des Angeklagten von Ribbentrop für dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit erwiesen. Wie aus dem Bericht der Jugoslawischen Regierung weiter hervorgeht, wurde gleichzeitig die Verschleppung einer beträchtlichen Zahl von Slowenen nach Deutschland durchgeführt. Ich führe einen Absatz aus dem Bericht der Jugoslawischen Regierung an, den die Herren Richter auf Seite 70, letzter Absatz, des Dokumentenbuches finden werden.

Ich zitiere:

»Bald danach begann die Umsiedlung. Frühmorgens kamen die Lastwagen in die einzelnen Dörfer. Soldaten und Gestapomänner, mit Maschinengewehren und Gewehren bewaffnet, drangen in jedes einzelne Haus ein und forderten die Bewohner auf, ihre Heimstätten unverzüglich zu verlassen und von ihren Sachen nur soviel mitzunehmen, wie jeder selbst tragen konnte. Alle diese unglücklichen Menschen mußten in wenigen Minuten ihre Häuser und ihre ganze Habe verlassen. Mit Last kraftwagen wurden sie in das katholische Trappistenkloster nach Reichenberg gebracht. Von hier gingen die Transporte ab. Jeder einzelne Transport nahm 600 bis 1200 Personen nach Deutschland mit. So wurde der Bezirk Bregitza fast vollständig, der Bezirk Krsko bis 90 % entvölkert. Aus beiden Bezirken wurden 56000 Einwohner verschleppt. Aus den Gemeinden Cirkovci und Ptuja wurden außerdem noch etwa 4000 Personen deportiert.«

Ich lasse einen Absatz aus und setze das Zitat fort:

»Sie mußten die schwersten Arbeiten verrichten und unter den schrecklichsten Bedingungen leben. Infolgedessen war die Sterblichkeit ungeheuer groß. Für das geringste Vergehen wurden die strengsten Strafen verhängt«.

[284] Ich werde keine weiteren Stellen in Verbindung mit diesem Thema aus dem Bericht der Jugoslawischen Regierung anführen. Ohne zu zitieren, möchte ich den Gerichtshof bitten, folgendes Dokument als Beweisstück anzunehmen, und zwar einen amtlichen Ergänzungsbericht der Jugoslawischen Regierung, den ich als USSR-357 vorlege.

Ähnliche Vergehen wurden von den deutschen Verbrechern auch im besetzten Gebiet von Polen begangen. Ich verlese kurze Auszüge aus dem amtlichen Bericht der Polnischen Republik. Die Mitglieder des Gerichtshofs finden diese Stelle auf Seite 3, Absatz 3 des Dokumentenbuches. Dieser Abschnitt ist unter Punkt A unter der Überschrift »Germanisierung Polens« zu finden:

»Klare Hinweise hinsichtlich dieses Programms sind in einer Bekanntmachung zu finden, die an die Mitglieder der NSDAP in Deutschland im Jahre 1940 verteilt wurden. Sie enthielt die Grundsätze der deutschen Politik im Osten.

Hier sind einige Zitate daraus:

›... In militärischer Hinsicht ist die polnische Frage gelöst, aber vom nationalpolitischen Standpunkt aus hat sie für Deutschland erst jetzt begonnen. Der nationalpolitische Konflikt zwischen den Deutschen und Polen muß soweit getrieben werden, wie ihn die Geschichte bis jetzt noch nie gesehen hat.

Die deutsche Politik auf dem Gebiet des ehemaligen polnischen Staates verfolgt ein doppeltes Ziel:

1. zu trachten, daß ein gewisser Teil dieses Gebietes von fremdblütiger Bevölkerung befreit und von deutscher Bevölkerung bewohnt wird;

2. die deutsche Herrschaft einzuführen, um sicherzustellen, daß auf diesem Gebiet kein frischer Brand gegen Deutschland ausbricht. Es ist klar, daß dieses Ziel nie mit den Polen, sondern nur gegen sie erreicht werden kann.‹«

Ich unterbreche das Zitat und fahre auf Seite 15 des Berichts der Polnischen Regierung fort, die der Seite 5, Absatz 5 des Dokumentenbuches entspricht. Dieser Absatz lautet: »Die Kolonisierung Polens durch deutsche Ansiedler.«

Ich zitiere:

»Die Politik in dieser Beziehung wird von den amtlichen deutschen Behörden klar zum Ausdruck gebracht.

Der ›Ostdeutsche Beobachter‹ vom 7. Mai 1941 veröffentlicht folgenden Aufruf:

›Das erste Mal in der deutschen Geschichte werden wir auf eine politische Weise militärische Siege ausnutzen. Nie mehr [285] soll ein Zentimeter des Bodens, den wir erobert haben, den Polen zukommen‹.«

Das war der Plan. Die Mittel, mit denen dieser Plan in die Praxis umgesetzt wurde, waren die folgenden:

»Eine Ortschaft nach der anderen, Dorf um Dorf, Städtchen und Städte in den annektierten Gebieten wurden von den polnischen Bewohnern geräumt. Dies begann im Oktober 1939, als die Ortschaft Orlowo von allen Polen, die dort lebten und arbeiteten, gesäubert wurde. Dann kam der polnische Hafen Gdingen an die Reihe. Im Februar 1940 wurden ungefähr 40000 Menschen aus der Stadt Posen vertrieben. An ihre Stelle kamen 36000 Baltendeutsche und die Familien deutscher Militär- und Zivilbeamter.

Die polnische Bevölkerung wurde aus folgenden Städten vertrieben: aus Gnesen, Kulm, Kostian, Neschkwa, Inowrotzlaw...«

und vielen anderen Städten.

»Die deutsche ›Grenzzeitung‹ berichtete, daß im Februar 1940 das ganze Zentrum der Stadt Lodz von Polen geräumt und für die zukünftigen deutschen Siedler bestimmt worden war. Im September 1940 wurde die durchschnittliche Zahl der aus Lodz verschleppten Polen auf 150000 geschätzt. Aber es wurde nicht nur der Befehl gegeben, daß die Einwohner diese Ortschaften zu verlassen haben, sondern es wurde ihnen auch untersagt, ihr Eigentum mitzunehmen. Alles mußte zurückgelassen werden. Den Platz dieser aus ihren Wohnungen, Unternehmungen und Anwesen vertriebenen Polen nahmen die deutschen Ankömmlinge ein. Im Januar 1941 wurden auf diese Weise mehr als 450000 Deutsche angesiedelt.«

Ich lasse den nächsten Teil des Berichts aus und möchte den Gerichtshof bitten, seine Aufmerksamkeit auf den Teil »Germanisierung der polnischen Kinder« zu lenken. Dieses kurze Zitat besteht nur aus 2 kleinen Absätzen:

»Tausende polnische Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren wurden unbarmherzig von ihren Eltern gerissen und nach Deutschland verschleppt.

Die Deutschen haben selbst das Ziel ihrer grausamen Maßnahmen angegeben. In der ›Kölnischen Zeitung‹, Ausgabe Nummer 158, Jahrgang 1940, lesen wir: ›Sie sollen deutsch erzogen werden; es wird ihnen auch der deutsche Geist eingeflößt, damit sie deutsche Mustermädel und Musterjungen werden!‹«

Um aufzuklären, auf welche Weise die deutschen Faschisten die Durchführung ihrer kannibalischen Pläne zur Vernichtung der sowjetischen Menschen, der friedlichen Bevölkerung meines [286] Vaterlandes, der Frauen, Kinder und Greise verwirklichten, bitte ich den Gerichtshof, den Zeugen Yakow Grigoriewitsch Grigoriew vorführen zu dürfen. Es ist ein Bauer aus dem Dorf Pawlow, Dorfsowjet von Schkwertowsk, Bezirk Porchow, Kreis Pleskau. Er kam aus dem Gebiet von Pleskau, es ist ein Kreis in der Nähe von Leningrad. Soviel ich weiß, befindet er sich im Gerichtsgebäude. Ich bitte das Gericht, diesen Zeugen vernehmen zu dürfen.

VORSITZENDER: Ja, gewiß.


[Der Zeuge Grigoriew betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Wie heißen Sie?

ZEUGE YAKOW GRIGORIEW: Yakow Grigoriew.


VORSITZENDER: Schwören Sie den folgenden Eid: »Ich, Yakow Grigoriew, Bürger der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken, als Zeuge vor dieses Gericht geladen, gelobe und schwöre in Gegenwart des Gerichts, dem Gericht die volle Wahrheit über alles zu sagen, was ich in Verbindung mit diesem Fall weiß.«


[Der Zeuge spricht die Eidesformel

auf russisch nach.]


VORSITZENDER: Sie können sich setzen.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie mir bitte, Zeuge, in welchem Dorf lebten Sie vor dem Kriege?


GRIGORIEW: Ich lebte im Dorf Kusnezow, im Bezirk Porchow, im Gebiet Pleskau.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: In welchem Dorf überraschte Sie der Krieg?


GRIGORIEW: Im Dorf Kusnezow.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Existiert dieses Dorf jetzt noch?


GRIGORIEW: Nein, es existiert nicht mehr.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte Sie, dem Gerichtshof zu erzählen, was sich zutrug.


GRIGORIEW: Am denkwürdigen 28. Oktober 1943 überfielen die deutschen Soldaten unerwartet unser Dorf und begannen, die friedliche Bevölkerung niederzumetzeln, erschossen sie oder trieben sie in die Häuser. An diesem Tag arbeitete ich mit meinen zwei Söhnen Alexei und Nikolai auf der Tenne. Plötzlich kam zu uns ein deutscher Soldat auf die Tenne und befahl uns, ihm zu folgen.


VORSITZENDER: Einen Augenblick, warten Sie bitte; wenn Sie diese Birne auf jenem Pult oder hier glühen sehen, dann bedeutet dies, daß Sie zu schnell sprechen, verstehen Sie?


GRIGORIEW: Ich verstehe.


[287] VORSITZENDER: Gut.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sprechen Sie bitte langsam, Zeuge. Fahren Sie fort, bitte!


VORSITZENDER: Sie sagten, Sie arbeiteten mit Ihren beiden Söhnen auf dem Feld?


GRIGORIEW: Ja, meine beiden eigenen Söhne.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Fahren Sie fort!


GRIGORIEW: Man führte uns durchs Dorf, und zwar in das letzte Haus am Rande des Dorfes. Im ganzen waren wir 19 Mann in diesem Hause. Da saßen wir in dem Haus. Ich saß am Fenster und sah hinaus. Ich sah, wie deutsche Soldaten noch viele Menschen zusammentrieben; ich sah auch meine Frau und meinen jüngsten Sohn, der 9 Jahre alt war. Sie wurden bis zum Haus getrieben und dann wieder weggeführt, wohin, das wußte ich noch nicht. Etwas später kamen drei deutsche Soldaten mit Maschinenpistolen, gefolgt von einem vierten, der einen schweren Revolver in der Hand hielt. Man befahl uns, in ein anderes Zimmer zu gehen. Sie stellten uns alle 19 Männer an die Wand, auch mich und meine beiden Söhne, und begannen mit der Maschinenpistole auf uns zu schießen. Ich stand direkt an der Wand etwas vornüber geneigt. Als der erste Schuß fiel, sank ich vor Schreck auf den Boden und blieb regungslos liegen. Nachdem alle erschossen waren, verließen die deutschen Soldaten das Haus. Ich kam wieder zu mir, sah mich um und erblickte nicht weit von mir meinen Sohn Nikolai erschossen, das Gesicht zur Erde gekehrt. Den zweiten Sohn entdeckte ich nicht und wußte auch nicht, ob er tot war oder noch lebte. Nach einiger Zeit begann ich darüber nachzudenken, wie ich am besten fliehen könnte. Ich zog meine Füße unter einem Leichnam, der darauf gefallen war, hervor, richtete mich auf und wollte überlegen, wie ich entfliehen könnte. Aber statt nachzudenken, schrie ich, kopflos geworden, aus Leibeskräften: »Kann ich denn jetzt gehen?« In diesem Augenblick erkannte mich mein Söhnchen, das am Leben geblieben war.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Das war Ihr zweiter Sohn?


GRIGORIEW: Jawohl, das war der zweite Sohn; der erste lag unweit von mir erschossen. Mein zweiter Sohn rief: »Papa, du lebst.«


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: War er verwundet?


GRIGORIEW: Er war am Bein verwundet. Ich beruhigte ihn und sagte ihm: »Fürchte Dich nicht, mein Kind, ich verlasse Dich nicht, wir werden irgendwie fliehen! Ich werde Dich hier hinaustragen.« Kurz darauf fing das Haus zu brennen an. Da öffnete ich das Fenster und schwang mich mit meinem am Bein verwundeten [288] Jungen aus dem Fenster. Kriechend stahlen wir uns vom Hause weg, damit uns die deutschen Soldaten nicht bemerkten. Unweit vom Haus war ein hoher Zaun. Wir konnten die Latten nicht verschieben, deshalb begannen wir sie zu zerbrechen. In diesem Augenblick bemerkten uns die deutschen Soldaten und begannen auf uns zu schießen. Ich flüsterte meinem Sohne zu, er solle sich regungslos verhalten, während ich versuchen würde wegzulaufen; denn ich konnte ihn ja nicht tragen. Er lief ein Stückchen und konnte sich in einem Gebüsch verstecken, während ich fortlief. Nachdem ich eine kurze Strecke gelaufen war, sprang ich in ein Gebäude, das unweit des brennenden Hauses stand. Dort blieb ich einen Augenblick und beschloß dann, weiter zu laufen. Ich lief in den nächsten Wald, der nicht sehr weit von unserem Dorf entfernt war und brachte dort die Nacht zu. Am Morgen traf ich aus dem benachbarten Dorf den Bauern Alexei N., der mir erzählte, daß mein Sohn Aljoscha am Leben sei, da er sich bis ins benachbarte Dorf geschleppt habe. Am nächsten Tag traf ich aus diesem Dorf Kusnezow den Knaben Vitja, einen Flüchtling aus Leningrad, der während der Besatzung in unserem Dorf lebte.

Auch er war wie durch ein Wunder gerettet; er entkam dem Feuer. Er erzählte mir, was sich in der zweiten Hütte zugetragen hatte, in der meine Frau und mein kleines Söhnchen waren. Dort geschah folgendes:

Die deutschen Soldaten trieben die Leute in die Hütte, öffneten die Türe zum Korridor und schossen über die Schwelle mit Maschinengewehren auf die Menschen. Nach Vitjas Erzählung brannten dort noch halblebende Menschen. Auch mein kleiner Sohn Petja von 9 Jahren verbrannte bei lebendigem Leibe. Als er aus der Hütte lief, sah er meinen Petja noch lebend unter einer Bank sitzen und seine Ohren mit den Händchen halten.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie alt war der älteste Bewohner Ihres Dorfes, das von den Deutschen zerstört wurde?


GRIGORIEW: 108 Jahre alt, und zwar war es eine Frau, namens Artemjova Ustnia.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie mir bitte, wie alt war der jüngste Einwohner in dem vernichteten Dorf?


GRIGORIEW: Der jüngste Einwohner war 4 Monate alt.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wieviel Einwohner des Dorfes wurden insgesamt umgebracht?


GRIGORIEW: 47 Leute, ohne diejenigen zu zählen, die wie durch ein Wunder gerettet wurden.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Warum wurden diese Einwohner vernichtet?


[289] GRIGORIEW: Das ist unbekannt.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Und was sagten die Deutschen dazu?


GRIGORIEW: Als der deutsche Soldat zu uns auf die Tenne kam, fragten wir ihn: »Warum bringt ihr uns alle um?« Er sagte: »Kennt Ihr das Dorf Maximowo«? Dieses Dorf liegt in der Nähe unseres »Dorfsowjets«. Ich antwortete: »Ja«. Er erzählte mir, Maximowo sei »kaputt« – die Einwohner seien »kaputt«, und wir müßten nun auch »kaputt« gemacht werden.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Und warum »kaputt?«.


GRIGORIEW: »Weil sich bei Euch Partisanen verborgen haben.« – Das entsprach jedoch nicht der Wahrheit, denn bei uns waren keine Partisanen, und niemand nahm an Partisanentätigkeit teil, weil niemand da war, der es in diesem Dorf hätte tun können. Es waren bloß alte Leute und kleine Kinder im Dorf geblieben. Wir wußten nichts von Partisanen und sahen sie nie.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Waren viele erwachsene Männer im Dorfe geblieben?


GRIGORIEW: Es war nur ein 27jähriger Mann da, aber er war krank, schwachsinnig und Paralytiker. Die anderen waren alte Leute oder Kinder. Alle übrigen Männer waren in der Armee.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, ist nur die Bevölkerung Ihres Dorfes von diesem Schicksal ereilt worden?


GRIGORIEW: Nein, nicht nur sie. Die Deutschen haben außerdem in Kurischewa 43 und in Wschiwowa 47 Personen erschossen; im Dorf Pawlow, in dem ich jetzt wohne, haben sie 23 Personen verbrannt, und in einer ganzen Reihe anderer Dörfer, wo nach unserem »Dorfsowjet« ungefähr 400 Leute gezählt wurden, haben sie friedliche Bürger, alte Leute und Kin der vernichtet.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Bitte wiederholen Sie die Zahl derer, die in Ihrem »Dorfsowjet« vernichtet wurden?


GRIGORIEW: In unserem »Dorfsowjet« sind ungefähr 400 Personen vernichtet worden.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, wer blieb von Ihrer Familie am Leben?


GRIGORIEW: Von meiner Familie blieben nur mein Sohn und ich am Leben. Erschossen wurde meine Frau, im sechsten Schwangerschaftsmonat, mein Sohn Nikolaj, 16 Jahre alt, und mein jüngster Sohn Peter im Alter von 9 Jahren. Ferner meine Schwägerin, die Frau meines Bruders mit ihren beiden Kindern Sascha und Toni.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich habe keine Fragen mehr an diesen Zeugen, Herr Vorsitzender.


[290] VORSITZENDER: Haben andere Anklagevertreter Fragen an den Zeugen zu stellen? Haben Mitglieder der Verteidigung Fragen an den Zeugen zu stellen? Dann kann der Zeuge sich zurückziehen.


[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Gestatten Sie, daß ich fortfahre?

Ich komme jetzt zum nächsten Abschnitt meines Berichts und zwar zur »Diskriminierung der Sowjetbürger«. Die unterschiedliche Behandlung der Sowjetbevölkerung war eine übliche Methode der Hitlerschen Verbrecher. Sie wurden von den Verbrechern konsequent und überall befolgt.

In diesem Teil meines Berichts wende ich mich dem Beweismaterial der deutschen Verbrecher selbst zu, das erst jetzt beschafft wurde und der Sowjetanklagevertretung zur Verfügung steht.

Diese Dokumente wurden von der Außerordentlichen staatlichen Kommission im Kriegsgefangenenlager Lamsdorf beschlagnahmt. Ich lege dem Gerichtshof als USSR-415 den Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission über die von der Deutschen Regierung und dem Oberkommando der Wehrmacht an Sowjetkriegsgefangenen im Lager Lamsdorf begangenen Verbrechen vor. Diesem Bericht sind eine Reihe von Originaldokumenten der deutsch-faschistischen Verbrecher beigefügt, die dem Archiv des Lagers entnommen wurden.

Ich werde die Möglichkeit haben, einige dieser Dokumente dem Hohen Gerichtshof zu unterbreiten. Der Wert der Dokumente, die ich vorlegen werde, liegt darin, daß aus ihnen ersichtlich ist, wie sogar unter diesem mörderischen Regime, das in einem der größten und grausamsten deutschen Konzentrationslager waltete, die Verbrecher, treu den kannibalischen Prinzipien ihrer Theorien, skrupellos die sowjetischen Menschen unterschiedlich behandelten. Ich möchte einige kurze Auszüge aus dem Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission, die ich dem Gerichtshof vorgelegt habe, zitieren. Dieser Auszug befindet sich auf Seite 123 des Dokumentenbuches, Absatz 4. Hier wird eine allgemeine Charakteristik des Lagers gegeben. Ich zitiere:

»Auf Grund der vorgenommenen Untersuchung hat die Außerordentliche staatliche Kommission festgestellt, daß in Lamsdorf, bei der Stadt Oppeln, vom Jahre 1941 bis März 1945 das deutsche Stalag 344 bestand. Im Jahre 1940/41 waren in diesem Lager polnische Kriegsgefangene untergebracht. Ab Ende 1941 begann man, sowjetische, englische und französische Kriegsgefangene aufzunehmen.«

Ich lasse die zwei nächsten Sätze aus und fahre mit dem Zitat fort:

[291] »Den Kriegsgefangenen nahm man die Oberkleider und Schuhe ab, so daß sie sogar im Winter barfuß gehen mußten. Solange das Lager bestand, waren dort nicht weniger als 300000 Kriegsgefangene untergebracht, von denen 200000 sowjetische und 100000 polnische, englische, französische, belgische und griechische Kriegsgefangene waren.

Die am weitesten verbreitete Methode für die Ausrottung der sowjetischen Kriegsgefangenen im Lager Lamsdorf bestand in dem Verkauf von Gefangenen an verschiedene deutsche Unternehmen zur Arbeit in den Betrieben, wo sie erbarmungslos ausgenutzt wurden, bis ihre Kräfte sie vollständig verließen und sie vor Erschöpfung starben. Zum Unterschied von den zahlreichen deutschen Arbeitsbörsen, in denen die Bevollmächtigten Sauckels die in die Sklaverei getriebenen Sowjetbürger im Detailhandel den deutschen Hausfrauen verkauften, wurde in dem Lamsdorfer Lager ein Großhandel mit Kriegsgefangenen, die in Arbeitskommandos eingeteilt waren, eingerichtet. Im Lager gab es 1011 solcher Arbeitskommandos.«

Wenn ich jetzt die folgenden Dokumente unterbreite, so möchte ich den Hohen Gerichtshof bitten, die Sachlage, zu deren Bekräftigung ich die Dokumente vorlege, richtig einzuschätzen. Ich will absolut nicht behaupten, daß das von den Deutschen eingeführte Regime gegenüber den britischen, französischen oder anderen Kriegsgefangenen sich durch Milde und Menschlichkeit auszeichnete, und daß die Lagerverwaltung nur die Sowjetkriegsgefangenen auf verbrecherische Art und Weise umbrachte. Dies war keineswegs der Fall. Das Lager Lamsdorf verfolgte grundsätzlich das Ziel, die Kriegsgefangenen ohne Unterschied ihrer Nationalität oder Staatsangehörigkeit zu vernichten. Aber auch in diesem »Vernichtungslager«, in dem die Kriegsgefangenen aller Nationen an sich schon unter sehr harten Bedingungen lebten, haben die deutschen Faschisten, getreu den Prinzipien ihrer Theorien, durch ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit für die sowjetischen Kriegsgefangenen besonders qualvolle Bedingungen geschaffen. Ich werde dem Gerichtshof in kurzen Auszügen eine Reihe von Dokumenten vorlegen, die aus dem Archiv dieses Lagers stammen. Sie werden dem Gerichtshof im Original vorgelegt. Alle diese Dokumente decken die offene Diskriminierung der Sowjetkriegsgefangenen auf, die von der Lagerverwaltung auf Befehl der Deutschen Regierung und des Oberkommandos der Wehrmacht durchgeführt wurden. Ich lege dem Hohen Gerichtshof als USSR-421 das Merkblatt für den Einsatz, sowjetischer Kriegsgefangener vor, das von dem Kommandeur der Kriegsgefangenen im Wehrkreis VIII an die Industrieverwaltungen gerichtet war, zu denen die Kriegsgefangenen geschickt wurden. Ich bitte den Gerichtshof, dieses Dokument als Beweisstück [292] anzunehmen. Es wird im Original vorgelegt, Ich zitiere Punkt 10 des Merkblatts. Der Gerichtshof wird im letzten Absatz, Seite 150, des Dokumentenbuches folgendes Zitat finden:

»Die Behandlung der Russen betreffend hat folgendes zu gelten: Die russischen Kriegsgefangenen sind durchwegs durch die Schule des Bolschewismus gegangen und demnach als Bolschewiken zu betrachten und zu behandeln. Ihren Instruktionen gemäß werden sie auch in der Kriegsgefangenschaft ein gegen den Gewahrsamstaat gerichtetes aktivistisches Verhalten an den Tag legen. Deshalb wird von Anfang an mit rücksichtsloser Schärfe gegen alle russischen Kriegsgefangenen eingeschritten, die dazu auch nur den allergeringsten Anlaß geben; die vollständige Scheidung der Kriegsgefangenen von der Zivilbevölkerung muß daher sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit strengstens durchgeführt werden. Zivilpersonen, die den Versuch machen, sich den eingesetzten sowjetischen Kriegsgefangenen zu nähern, Gedankenaustausch zu pflegen, ihnen Geld, Nahrungsmittel, Rauchwaren und sonstige Gegenstände zuzuwenden, werden ohne jede Warnung festgehalten, verhört und der Polizei übergeben.«

Ich zitiere die Einleitung des »Merkblattes«. Der Gerichtshof wird diesen Auszug auf Seite 149, Absatz 2 des Dokumentenbuches finden:

»Für den Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener sind vom Oberkommando der Wehrmacht Weisungen ergangen, die den Einsatz der russischen Kriegsgefangenen nur unter Bedingungen zulassen, die gegenüber dem Einsatz der Kriegsgefangenen anderer Nationen wesentlich verschärft sind.«

Auf diese Weise waren die Anordnungen für besonders grausame Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, lediglich weil sie sowjetische Menschen waren, keine willkürliche Angelegenheit der Lagerverwaltung Lamsdorf. Sie waren vom Oberkommando der Wehrmacht vorgeschrieben. Als die Lagerverwaltung das Merkblatt verfaßte, führte sie nur den unmittelbaren Befehl des Oberkommandos aus.

Ich führe zwei weitere ausreichend charakteristische Punkte des Merkblatts an. Ich zitiere Punkt 4, den der Gerichtshof auf Seite 149 des Dokumentenbuches, und zwar im letzten Absatz, finden wird. Es ist ein kurzes Zitat:

»Im Gegensatz zu den erhöhten Anforderungen, die an die Sicherheit der Russenunterkünfte gestellt werden, sind die Forderungen, an dieselben in wohnlicher Hinsicht nur den bescheidensten Anforderungen zu genügen.«

Ich werde später zu erklären versuchen, was das bedeutet.

Jetzt zitiere ich Punkt 7 auf Seite 150, Absatz 3, des Dokumentenbuches:

[293] »Die Verpflegungssätze für die in Arbeit eingesetzten russ. Kgf sind von denen, die für die Kriegsgefangenen anderer Nationalitäten gelten, verschieden; sie werden noch genauer mitgeteilt werden.«

So lautete das »Merkblatt« für die Industriellen, in deren Unternehmungen die Sowjetkriegsgefangenen als Arbeitssklaven geschickt wurden.

Ich lege als USSR-431 ein weiteres Merkblatt über die Bewachung sowjetischer Kriegsgefangener vor. Das Dokument wird im Original vorgelegt, und ich bitte den Gerichtshof, dies als Beweisstück zur Sache anzunehmen. Ich bitte um die Erlaubnis, einige kurze Auszüge aus diesem Dokument zu verlesen. Als erstes bringe ich den Teil des Dokuments, aus dem seine Herkunft ersichtlich ist. Auf der ersten Seite des Textes steht, daß es eine Anlage darstellt zur »Verfügung OKW/AWA Abteilung Kriegsgefangene«.

Dann folgen Nummer und Datum, das ist nicht so wesentlich. Ich zitiere die Einleitung des Merkblatts Seite 152 des Dokumentenbuches:

»Zum erstenmal in diesem Kriege steht dem deutschen Soldaten ein nicht nur soldatisch, sondern auch politisch geschulter Gegner gegenüber, der im Kommunismus sein Ideal, im Nationalsozialismus seinen ärgsten Feind sieht.«

Ich übergehe den nächsten Satz und lese weiter:

»Auch der in Gefangenschaft geratene Sowjetsoldat, mag er auch äußerlich noch so harmlos erscheinen, wird jede Gelegenheit benutzen, um seinen Haß gegen alles Deutsche zu betätigen. Es ist damit zu rechnen, daß die Kgf entsprechende Anweisungen für ihre Betätigung in der Gefangenschaft erhalten haben.«

Mein Kollege, Oberst Pokrowsky, hat bereits auf die Ungereimtheit dieser »besonderen Erlasse« hingewiesen, und ich halte es nicht für notwendig, sich noch weiter bei dieser Stelle aufzuhalten. Ich fahre mit dem Zitat fort:

»Ihnen gegenüber ist also äußerste Wachsamkeit, größte Vorsicht und schärfstes Mißtrauen dringendes Gebot.

Für die Bewachungsmannschaften gelten folgende Richtlinien:

1. Rücksichtsloses Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit und Ungehorsam. Zur Brechung von Widerstand ist von der Waffe schonungslos Gebrauch zu machen. Auf fliehende Kgf ist sofort (ohne Anruf) zu schießen, mit der festen Absicht zu treffen.«

Charakteristisch sind die Worte »ohne Anruf«.

Ich lasse die nächsten zwei Absätze aus und verlese den zweiten Teil des Punktes 3 des »Merkblatts«. Der Gerichtshof wird diesen [294] Auszug auf Seite 153, Absatz 2, des Dokumentenbuches finden. Ich zitiere drei Zeilen:

»Auch gegen den arbeitswilligen und gehorsamen Kgf ist Weichheit nicht am Platze. Er legt sie als Schwäche aus und zieht daraus seine Folgerungen.«

Ich lasse Punkt 4 aus und zitiere jetzt Punkt 5 der Denkschrift. Der Gerichtshof wird diesen Auszug auf Seite 153 im letzten Absatz des Dokumentenbuches finden:

»Niemals darf eine bei den bolschewistischen Kgf in Erscheinung tretende scheinbare Harmlosigkeit dazu führen, daß von vorstehenden Anordnungen abgewichen wird.«

Ich habe schon früher Punkt 4 des »Merkblatts« zitiert, das sich mit der Ausnutzung der Arbeitskraft der sowjetischen Kriegsgefangenen befaßt und für die Industriellen bestimmt war. Darin heißt es, daß den Forderungen für die Unterkunft der Sowjetkriegsgefangenen »in wohnlicher Hinsicht« nur im bescheidensten Umfang nachzukommen sei. Was das bedeutete, wird der Gerichtshof aus dem Schreiben des »Chefs der Heeresrüstung und BdE vom 17. Oktober 1941« ersehen, das an die stellvertretenden Generalkommandos und an die Wehrkreisverwaltungen versandt wurde.

Ich lege dem Gerichtshof dieses Dokument als USSR-422 im Original vor und bitte, es als Beweisstück zur Sache anzunehmen. Es wurde in Berlin herausgegeben und ist bereits vom 17. Oktober 1941 datiert. Ich zitiere einen Absatz dieses Textes. Dieser Absatz ist auf Seite 154 des Dokumentenbuches zu finden:

»Betrifft: Unterbringung sowjetischer Kriegsgefangener.

In der Besprechung, die am 19. 9. 41 beim Chef der Heeresrüstung und BdE (V 6) stattgefunden hat, ist festgestellt worden, daß durch Einbau von mehrstöckigen Liegepritschen an Stelle von Bettstellen eine RAD-Baracke mit 150 Gefangenen, eine nach der Musterzeichnung für Lager für so wjetische Kriegsgefangene errichtete Massivbaracke mit 840 Gefangenen als Dauerunterkunft belegt werden kann.«

Ich werde den weiteren Text des Dokuments nicht zitieren, da ich annehme, daß der Inhalt dieses Absatzes genügend klar ist.

Ich bitte den Gerichtshof, zwei weitere Originaldokumente anzunehmen, die bezeugen, daß im Lager die Vernichtung sowjetischer Menschen aus politischen Gründen durchgeführt wurde. Das war ein Mordsystem. Als erstes lege ich als USSR-432 den Befehl an das Lager Nr. 60 vor. Das Dokument wird im Original unterbreitet, und ich bitte, es als Beweisstück zur Sache anzunehmen. Die Mitglieder des Gerichtshofs werden den Absatz, den ich verlesen will, auf Seite 155 des Dokumentenbuches finden.

[295] VORSITZENDER: Der Gerichtshof vertagt sich jetzt.


[Pause von 10 Minuten.]


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich zitiere nur einen Absatz aus diesem bereits vorgelegten Dokument. Die Stelle, die ich zitiere, finden Sie auf Seite 155 im Dokumentenbuch. Punkt 4 des Befehls lautet:

»Verhalten bei Erschießungen oder ernstlichen Verletzungen von Kriegsgefangenen. (G.O.)

Jede Erschießung oder ernstliche Verletzung eines Kgf ist als besonderes Vorkommnis zu melden; handelt es sich um brit., franz., belg. oder amerikanische Kgf, so ist außerdem nach OKW Az. f 24... zu verfahren.«

Dieser Befehl trägt das Datum vom 2. August 1943.

Aber schon am 5. November 1943 folgte ein weiterer Befehl, der die Verhaltungsmaßnahmen gegenüber den Sowjetkriegsgefangenen abänderte. Ich bitte den Gerichtshof, den als USSR-433 vorgelegten Befehl an das Lager 86 als Beweisstück zur Sache anzunehmen. Aus diesem Dokument zitiereich nur einen Punkt, und zwar Paragraph 12:

»Die Erschießung von sowjetrussischen Kriegsgefangenen. (G.O.)

Erschießungen und tödliche Unglücksfälle von sowjetrussischen Kgf sind ab sofort nicht mehr als besonderes Vorkommnis fernmündlich dem Kommandeur der Kriegsgefangenen zu melden.«

In manchen Fällen hat das Oberkommando der deutschen Wehrmacht den Kriegsgefangenen ein geringfügiges Entgelt für ihre Arbeit zugebilligt; aber auch hier erhielten die Sowjetkriegsgefangenen um die Hälfte weniger als die Kriegsgefangenen anderer Nationalitäten. Zur Bestätigung bitte ich den Gerichtshof als Beweisstück zur Sache eine Weisung des OKW vom 1. März 1944 anzunehmen. Ich lege dem Gerichtshof die Urkunde als USSR-427 vor. Ich möchte den Gerichtshof darum bitten, dieses Dokument den anderen Dokumenten beizufügen. Ich zitiere nur zwei Sätze aus diesem Dokument. Diese Stellen finden Sie auf Seite 274 Ihres Dokumentenbuches:

1. Satz:

»Kriegsgefangene, die vollwertig und ganztägig arbeiten, erhalten je Arbeitstag eine Grundvergütung von

RM. 0.70 Nicht-Sowjetkriegsgefangene

RM. 0.35 Sowjetkriegsgefangene.«

Der zweite Satz steht am Schluß dieses Dokuments. Sie finden ihn auf Seite 275 Ihres Dokumentenbuches, letzter Absatz:

[296] »Die Mindestvergütung beträgt jedoch je Arbeitstag:

RM. 0.20 für Nicht-Sowjetkriegsgefangene

RM. 0.10 für Sowjetkriegsgefangene.«

Hiermit beende ich die Verlesung dieses Dokuments.

Wenn die anderen Kriegsgefangenen von den deutsch-faschistischen Mördern das Recht erhielten, täglich ein paar Züge frische Luft einzuatmen, so waren die Sowjetkriegsgefangenen auch dieses »Vorrechts« beraubt.

Ich bitte den Gerichtshof als USSR-424 den Originalbefehl an das Lager 44 als Beweisstück anzunehmen. Ich zitiere einen Satz aus Absatz 7 dieses Befehls, der die Überschrift hat:

»Spaziergänge der Kriegsgefangenen.

In besonders gearteten Fällen, wo Kgf im Arbeitseinsatz infolge ihrer innerhalb der Arbeitsstätte gelegenen Unterkünfte keinen Auslauf haben, können sie zum Zwecke der Erhaltung der Arbeitskraft an die frische Luft geführt werden.«

Ferner bitte ich den Gerichtshof, als Originalbeweisstück den Befehl an das Lager 46 anzunehmen. Das Dokument wird als USSR-425 vorgelegt. Ich erinnere den Hohen Gerichtshof daran, daß die Weisungen des vorhergehenden Befehls über die Spaziergänge der Kriegsgefangenen unter Ziffer 7 standen. Ich zitiere einen Satz aus Ziffer 10 des Befehls Nummer 46, der ebenfalls die Überschrift »Spaziergänge der Kriegsgefangenen« trägt, wobei zur Begründung dieses Punktes auf den Befehl des Kommandeurs des Kriegsgefangenenlagers 1259, Abschnitt 5, vom 2. Juni 1943 hingewiesen wird. Ich zitiere einen Satz:

»Zu der im Stalagbefehl Nr. 44 vom 8. Juni 1943 unter Ziffer 7 erschienenen Anordnung wird ergänzend bemerkt, daß sie nicht für sowjetische Kriegsgefangene gilt.«

Ferner bitte ich den Gerichtshof, die Anforderung des Arbeitsamtes »Mährisch-Schönberg« als Originalbeweisstück anzunehmen. Es ist die Anforderung von Kriegsgefangenen zur Verwendung bei nichtlandwirtschaftlichen Arbeiten. Ich zitiere zwei Sätze aus diesem Dokument. Den Teil, den ich vorlegen mochte, finden Sie auf Seite 160 des Dokumentenbuches:

»Der Austausch der auf dem Kriegsgefangenen- Arbeitskommando E 351, Papierfabrik Heinrichsthal, eingesetzten 104 engl. Kgf gegen 160 sowj.- russ. Kgf ist durch den in diesem Betrieb angetretenen Kräftebedarf erforderlich geworden. Eine zusätzliche Zuteilung von engl. Kgf auf den notwendigen Stand von 160 ist nicht möglich, da nach den in den letzten Monaten erfolgten Lagerüberprüfungen seitens der zuständigen Wehrmachtsstellen die vorhandenen Unterkünfte lediglich für 104 engl. Kgf ausreichen, während aber in den[297] gleichen Räumen ohne Schwierigkeiten 160 russ. Kgf untergebracht werden konnten.«

Ich bitte den Hohen Gerichtshof um die Erlaubnis, noch ein Dokument zu zitieren, und zwar »Anweisung Nr. 8« für dieses Lager, datiert vom 7. Mai 1942. Es trägt die Überschrift: »Arbeitsausnutzung der Sowjetkriegsgefangenen.«

Ich lege dieses Dokument im Original als USSR-426 vor und bitte, es als Beweisstück zur Sache anzunehmen. Ich zitiere einen Absatz mit der Überschrift:

»Maßnahmen zur Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit.«

Mir scheint, daß der grenzenlose Zynismus und die Grausamkeit dieses Dokuments feststehen und keines Kommentars bedürfen.

»Die Sowjetkriegsgefangenen befinden sich fast ohne Ausnahme in einem Zustand starker Unterer nährung, der sie zu einer normalen Arbeitsleistung zur Zeit noch nicht befähigt.«

Ich beende die Verlesung dieses Dokuments.

Der Generalstab der Deutschen Wehrmacht befaßte sich besonders mit zwei Fragen, erstens mit Decken für sowjetische Kriegsgefangene und zweitens mit der Frage, auf welche Weise die Beerdigung der durch das erbarmungslose Konzentrationslagerregime umgebrachten sowjetischen Leute erfolgen sollte. Beide Fragen wurden in einem Dokument gelöst. Ich lege es dem Gerichtshof als USSR-429 vor und bitte, es als Beweisstück zur Sache annehmen zu wollen. Dieses Dokument werden die Herren Richter auf Seite 162 Ihres Dokumentenbuches finden.

Es handelt sich um eine Verordnung der Wehrkreisverwaltung VIII vom 28. Oktober 1941. Ich zitiere nur den Text und beginne das Zitat:

»Betrifft: Kriegsgefangene Sowjetrussen. Gelegentlich einer Besprechung beim OKW wurden folgende Ausführungen gemacht: 1. Decken: Die Sowjetrussen erhalten Papierdecken, die sie selbst herzustellen haben, und zwar steppdeckenartig aus Papiergewebe mit Knautschpapier oder ähnlichem gefüllt. Das Material will OKW zur Verfügung stellen.«

Der zweite Teil, wie sich die Herren Richter vergewissern können, ist folgender:

Die Überschrift ist:

»2. Beerdigung der Sowjetrussen. Die sowj. Kgf sind unbekleidet, nur in Packpapier gehüllt, ohne Sarg zu beerdigen. Särge werden nur zum Transport benutzt.

[298] Auf Arbeitskommandos wird die Bestattung von der zuständigen Gemeinde vorgenommen. Die Kosten hierfür erstatten die zuständigen M. Stammlager.

Die Auskleidung der Kgf veranlassen die Wachmannschaften. Im Auftrag: gez. Großekettler.«

Aber nicht nur die Leitung der Wehrkreisverwaltung befaßte sich damit, wie die sowjetischen Kriegsgefangenen beerdigt werden sollen, sondern auch das Innenministerium sandte an das Lager einen Schnellbrief mit dem besonderen Vermerk:

»Zur Veröffentlichung nicht geeignet (auch nicht auszugsweise in der Presse).«

Ich bitte den Gerichtshof, dieses Dokument als Beweisstück USSR-430 anzunehmen. Die Stelle finden die Herren Richter auf Seite 276 des Dokumentenbuches. Ich zitiere nur fünf Sätze dieses ziemlich umfangreichen Dokuments:

»... Wegen der Leichenüberführung (Gestellung von Fahrzeugen) ist mit Dienststellen der Wehrmacht in Verbindung zu treten. Für die Überführung und Bestattung ist ein Sarg nicht zu fordern. Die Leiche ist mit starkem Papier (möglichst Öl-, Teer- oder Asphaltpapier) oder sonst geeignetem Material vollständig einzuhüllen. Die Überführung und Bestattung ist unauffällig durchzuführen. Bei gleichzeitigem Anfall mehrerer Leichen ist die Bestattung in einem Gemeinschaftsgrab vorzunehmen. Hierbei sind die Leichen nebeneinander (aber nicht übereinander) in der ortsüblichen Grabestiefe zu betten. Auf Friedhöfen ist als Begräbnisort ein entlegener Teil zu wählen. Feierlichkeiten oder Ausschmückung der Gräber haben zu unterbleiben.«

Ich lasse die nächsten Sätze aus:

»Die Kosten sind so niedrig wie möglich zu halten.«

So haben die deutschen Verbrecher sogar in den eigens für die Vernichtung von Menschenleben geschaffenen Einrichtungen des deutschen Faschismus eine Politik der unterschiedlichen Behandlung aus rassischen und politischen Gründen durchgeführt.

Praktisch konnte diese Diskriminierung nur bedeuten, daß ein Teil der Lagerhäftlinge dem unumgänglichen Ende, dem Tode, schneller als der andere Teil zugeführt wurde; aber auch hier waren die Verbrecher bemüht, das Ende jener Opfer besonders qualvoll zu gestalten, die sie auf Grund ihrer menschenhassenden Theorie als »Untermenschen« betrachteten oder die sie eines aktiven Widerstandes für fähig hielten.

Ich bitte den Gerichtshof um die Erlaubnis, einen Absatz aus dem vorher dem Gerichtshof vorgelegten Dokument USSR-415 verlesen zu dürfen. Es ist der Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission: »Über die Verbrechen im Lager Lamsdorf«.

[299] Dieses Zitat wird das Ausmaß der verbrecherischen Tätigkeit der Hitler-Banden bezeugen. Damit schließe ich die Beweisführung über dieses Lager.

Die Herren Richter werden die von mir zitierte Stelle auf Seite 146, Absatz 3 des Dokumentenbuches finden. Ich beginne:

»Nach dem Gutachten der Sonderkommission haben die Deutschen im Lager Lamsdorf seit seinem Bestehen mehr als 100000 sowjetische Kriegsgefangene zu Tode gefoltert. Der größte Teil ging in den Gruben und in den Betrieben oder auf dem Rückweg ins Lager zugrunde. Ein Teil wurde in den Wohnbunkern verschüttet, viele wurden bei der Evakuierung des Lagers getötet. 40 000 Kriegsgefangene wurden in dem Lager Lamsdorf selbst zu Tode gemartert.«

Herr Vorsitzender! Die Sowjetische Anklagevertretung möchte Sie bitten, noch einen Zeugen, Doktor Kiwelischa, vernehmen zu lassen. Er ist Arzt und seine Zeugenaussage ist für die Feststellung des besonderen Regimes für die sowjetischen Kriegsgefangenen äußerst wertvoll. Die Sowjetische Anklagevertretung bittet um Ihre Zustimmung, diesen Zeugen verhören zu dürfen.

VORSITZENDER: Ja, Oberst Smirnow.


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Wie heißen Sie?

ZEUGE DR. EUGEN ALEXANDROWITSCH KIWELISCHA: Kiwelischa, Eugen Alexandrowitsch.


VORSITZENDER: Sprechen Sie mir die Eidesformel nach! »Ich«, und dann sagen Sie Ihren Namen, »Bürger der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken, der hier in diesem Prozeß als Zeuge geladen ist, gelobe und schwöre vor diesem Gerichtshof, dem Gericht die lautere Wahrheit und alles, was ich über diesen Fall weiß, zu sagen.«


[Der Zeuge spricht die Eidesformel

auf russisch nach.]


VORSITZENDER: Sie können sich setzen. Bitte, buchstabieren Sie Ihren Familiennamen.

KIWELISCHA: K-i-w-e-l-i-s-c-h-a.


VORSITZENDER: Bitte, Oberst Pokrowsky.


OBERST Y. V. POKROWSKY, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Welche Stellung hatten Sie zur Zeit des Überfalls von Hitler-Deutschland auf die Sowjetunion in der Roten Armee?


KIWELISCHA: Zur Zeit des Überfalls von Hitler-Deutschland auf die Sowjetunion war ich Unterarzt im 305. Regiment der 44. Schützendivision.


[300] OBERST POKROWSKY: Hat Ihr Regiment 305 der 44. Schützendivision an den Kämpfen gegen die Deutschen teilgenommen?


KIWELISCHA: Jawohl, unser Regiment 305 der 44. Schützendivision hat an den Kämpfen gegen die Deutschen vom ersten Tage des Krieges an teilgenommen.


OBERST POKROWSKY: An welchem Tag und unter welchen Umständen sind Sie in deutsche Gefangenschaft geraten?


KIWELISCHA: In deutsche Kriegsgefangenschaft bin ich am 9. August 1941 in der Gegend der Stadt Uman, Bezirk Kirowograd, geraten.

Ich bin in dem Augenblick in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, als zwei russische Armeen, zu denen unsere Gruppe gehörte, nach längeren Kämpfen eingekesselt waren.


OBERST POKROWSKY: Was wissen Sie über die Behandlung der Soldaten der Roten Armee, die von hitlerischen Truppen gefangengenommen wurden? In welcher Lage befanden sich diese Kriegsgefangenen?


KIWELISCHA: Ich kenne nur zu gut alle Formen der barbarischen Verhöhnung der russischen Kriegsgefangenen durch die hitlerischen Behörden und Armeen, weil ich mich lange Zeit selbst unter den Kriegsgefangenen befand.

Am ersten Tag meiner Gefangenschaft wurde ich in der Etappe einer großen Kolonne von Kriegsgefangenen einem Durchgangslager zugeteilt. Unterwegs erfuhr ich – ich betone, daß dies am ersten Tage war – während einer Unterhaltung mit Kriegsgefangenen, mit denen ich ging, daß der größte Teil der Kriegsgefangenen ungefähr drei bis vier Tage früher als die kleine Gruppe, zu der ich gehörte, gefangengenommen worden war. Während dieser drei oder vier Tage wurden diese Menschen unter stärkster deutscher Bewachung in einem Stall eingesperrt gehalten und erhielten während dieser Zeit weder Speise noch Trank. Als wir daher später durch Dörfer marschierten, haben alle Gefangenen beim Anblick von Brunnen oder Wasser ihre trockenen Lippen geleckt und unwillkürlich Schluckbewegungen gemacht, wenn ihre Augen auf die Brunnen und das Wasser fielen. Spät am Abend desselben Tages wurde unsere ganze Kolonne, ungefähr 5000 Gefangene, in einem Viehhof untergebracht, wo wir keine Möglichkeit hatten, uns von diesem langen Wege auszuruhen, und die ganze Nacht unter freiem Himmel stehen mußten. So ging es auch am nächsten Tage; auch da erhielten wir weder Nahrung noch Wasser.


OBERST POKROWSKY: Gab es nicht Fälle, in denen die Kriegsgefangenen beim Vorübergehen an Wasserbehältern oder Brunnen selbst versuchten, Wasser zu bekommen und zwei oder drei Schritte aus der Reihe heraustraten?


[301] KIWELISCHA: Ja, ich erinnere mich an einige Fälle und werde im einzelnen ein Beispiel anführen, das am ersten Tage unseres Marsches vorkam, und das war unter folgenden Umständen: Wir gingen an einem Dorf vorbei, wobei uns friedliche Zivilisten begegneten und versuchten, die Gefangenen mit Wasser und Brot zu versorgen. Aber die Deutschen ließen die Kriegsgefangenen nicht an die Zivilisten heran, ebenso durften auch die Zivilisten nicht an die Kriegsgefangenenkolonne herankommen. Einer der Kriegsgefangenen entfernte sich von der Kolonne 5-6 Meter und wurde ohne jede Warnung von einem deutschen Soldaten aus einer Maschinenpistole erschossen. Einige seiner Kameraden eilten ihm zu Hilfe, weil sie annahmen, daß er noch am Leben war, aber auch auf sie schoß man ohne jegliche Warnung. Einige von ihnen wurden dabei schwer verwundet, während zwei tot waren.


OBERST POKROWSKY: War das der einzige Fall, bei dem Sie Augenzeuge waren, oder konnten Sie während Ihrer Überführung von einem Platz zum anderen noch andere Fälle dieser Art beobachten?


KIWELISCHA: Nein, das war kein Einzelfall. Beinahe jede Überführung von einem Lager in ein anderes war von Erschießungen und Ermordungen solcher Art begleitet.


OBERST POKROWSKY: Wurden nur die Kriegsgefangenen erschossen oder wandte man auch Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilisten an, die versucht hatten, den Kriegsgefangenen Wasser und Brot zu reichen?


KIWELISCHA: Vergeltungsmaßnahmen wurden nicht nur gegen die Kriegsgefangenen ergriffen, sondern auch gegen friedliche Zivilisten. Ich entsinne mich, daß wir einmal auf einer Überführung einer Gruppe von Frauen und Kindern begegneten, die versuchten, so wie alle anderen, uns mit Wasser und Brot zu versorgen, aber die Deutschen ließen sie nicht an uns heran. Eine Frau schickte ein Mädchen von ungefähr fünf Jahren, wahrscheinlich ihre Tochter, an die Kolonne der Kriegsgefangenen. Das Mädchen kam ganz nahe an die Stelle der Kolonne, wo ich ging, heran, und als es ungefähr 5-6 Schritte von uns entfernt war, wurde es von einem deutschen Soldaten erschossen.


OBERST POKROWSKY: Aber, vielleicht brauchten die Kriegsgefangenen jene Nahrung nicht, die die Zivilisten ihnen zu bringen versuchten, vielleicht wurden sie von den Deutschen genügend mit Nahrung versorgt?


KIWELISCHA: Die Gefangenen litten buchstäblich Hunger, denn die Deutschen sorgten bei den Überführungen von einem Lager in ein anderes für keinerlei Nahrung.


[302] OBERST POKROWSKY: Demnach waren die Gaben der jeweiligen Dorfbewohner praktisch die einzige Möglichkeit, um die Kraft der Kriegsgefangenen aufrechtzuerhalten?


KIWELISCHA: Das ist richtig.


OBERST POKROWSKY: Die Deutschen haben sie erschossen?


KIWELISCHA: Sie haben mich richtig verstanden.


OBERST POKROWSKY: In welchen Kriegsgefangenenlagern waren Sie selbst? Nennen Sie diese.


KIWELISCHA: Das erste Lager, in dem ich mich befand, war unter freiem Himmel auf einem Felde in der Nähe der kleinen Ortschaft Tarnowka.

Das zweite Lager befand sich auf dem Grundstück einer Ziegelei und früheren Geflügelfarm am Rande der Stadt Uman.

Das dritte Lager befand sich in der Nähe der Stadt Iwan-Gora.

Das vierte Lager befand sich auf dem Gelände der Pferdeställe irgendeiner Einheit in der Nähe der Stadt Gaisin.

Das fünfte Lager war in der Gegend der kleinen Garnison Winniza.

Das sechste Lager war in der Nähe der Stadt Schmerinka und das letzte Lager, wo ich am längsten blieb, war im Dorf Rakowo, sieben Kilometer von der Stadt Proskurow, im Gebiet von Kamenez-Podolsk, entfernt.


OBERST POKROWSKY: Auf diese Weise hatten Sie aus eigener Erfahrung die Möglichkeit, die Verhältnisse in einer Reihe von Lagern kennenzulernen?


KIWELISCHA: Ja, ich war selbst in allen diesen Lagern und kenne diese Verhältnisse durch und durch.


OBERST POKROWSKY: Sie sind von Beruf Arzt?


KIWELISCHA: Ja, ich bin Arzt von Beruf.


OBERST POKROWSKY: Sagen Sie dem Gerichtshof, wie es mit der ärztlichen Hilfe und der Ernährung jener Kriegsgefangenen bestellt war, die sich in den von Ihnen aufgezählten Lagern befanden.


KIWELISCHA: Als ich in das Lager unweit der Stadt Tarnowka eingeliefert wurde, sonderte man mich und andere Ärzte der russischen Armee von der allgemeinen Abteilung der Kriegsgefangenen ab und sandte uns in ein sogenanntes Lazarett zur Arbeit. Dieses Lazarett befand sich in einem Stall mit einem Zementboden, ohne jegliche Einrichtung für Verwundete. Hier lag auf dem Zementboden eine Gruppe verwundeter Sowjetkriegsgefangener, meistens Offiziere. Viele von ihnen waren zehn bis zwölf Tage vor meiner Ankunft in Tarnowka gefangengenommen worden. Während der ganzen Zeit erhielten sie keine ärztliche Hilfe, obwohl viele [303] operativer Eingriffe bedurften, Medikamente und Verbände brauchten. Sie wurden aber systematisch ohne Wasser gelassen, und sie wurden auch demgemäß versorgt. Zumindest als ich ins Lager kam, gab es keine Einrichtung, die den Eindruck erweckte, daß die Deutschen irgendwelche Nahrung für die Kriegsgefangenen gekocht oder vorbereitet hätten. Im Lager von Uman, in das ich am zweiten Tag nach meiner Ankunft in Tarnowka kam, waren ungefähr 15000 bis 20000 Verwundete, von denen sich zahlreiche nicht selbständig bewegen konnten. Sie lagen alle unter freiem Himmel in ihrer Sommer uniform. Man versorgte sie mit Essen und Wasser eben wie alle übrigen Gefangenen in diesem Lager. Ärztliche Hilfe wurde ihnen nicht erteilt. Sie lagen auf dem Boden, ihre Verbände waren verstaubt und mit Blut und Eiter durchtränkt. Verbandsmittel, Instrumente und Einrichtungen für Operationen und andere Eingriffe gab es im Lager Uman nicht.

In Gaisin waren die Kriegsgefangenen, Verwundeten und Kranken in einem Pferdestall, der einen Holzboden hatte, untergebracht. Dort gab es keine zur Unterbringung von Menschen geeignete Einrichtung. Die Gefangenen lagen auf dem Boden, wie es in anderen Lagern der Fall war, und erhielten nicht die geringste ärztliche Hilfe. Wie in den anderen Lagern waren auch hier weder Verbandsmittel noch Arzneien oder Instrumente vorhanden.


OBERST POKROWSKY: Sie sprachen von dem Uman-Lager. Sehen Sie sich diese Photographie an und sagen Sie mir, ist das nicht die Aufnahme eines Lagers, in dem Sie sich befanden?


KIWELISCHA: Auf dieser Photographie sehe ich das Lager auf dem Ziegeleigrundstück in Uman. Ich kenne das Bild sehr gut.


OBERST POKROWSKY: Ich möchte dem Gerichtshof noch mitteilen, daß die von mir dem Zeugen vorgelegte Photographie des Lagers von Uman dem Gerichtshof bereits als USSR-345 vorgelegt worden war und das Lager darstellt, über das wir bereits die Aussage des Zeugen Bingel haben.


[Zum Zeugen gewandt]:


Sie erkennen demnach auf der Photographie das Lager in Uman auf dem Grundstück der Ziegelei?

KIWELISCHA: Ja, auf dem Gelände der Ziegelei, das ist ein Teil des Lagers.

OBERST POKROWSKY: Wie war die Lagerordnung in Uman? Sagen Sie kurz das Hauptsächlichste.


KIWELISCHA: Fast alle Kriegsgefangenen im Uman-Lager wurden unter freiem Himmel gehalten. Die Ernährung war äußerst schlecht. Im Uman-Lager, wo ich acht Tage verbrachte, wurde zweimal täglich auf offenem Feuer eine dünne Erbsensuppe gekocht.[304] Bei der Verteilung dieser Suppe an die Kriegsgefangenen herrschte keinerlei Ordnung. Die Suppe wurde einfach in die Menge hineingestellt, und die Verteilung wurde nicht kontrolliert. Die ausgehungerten Menschen beeilten sich, wenigstens eine kleine Portion dieser dünnen Suppe ohne Salz, Fett und Brot zu bekommen. Es entstand Gedränge und Unordnung. Die deutsche Wache, mit Keulen, Gewehren und Maschinenpistolen ausgerüstet, suchte die Ordnung wie der herzustellen, indem sie alle Kriegsgefangenen, die in ihre Nähe kamen, mit Gewehrkolben schlugen. Sehr oft stellten die Deutschen absichtlich einen kleinen Topf Suppe in die Menschenmenge hinein, um wiederum bei der Wiederherstellung der Ordnung vollkommen Schuldlose unter Lachen, Beschimpfungen, Verhöhnungen und Drohungen zu verprügeln.


OBERST POKROWSKY: Sagen Sie bitte, Zeuge, war in dem Lager Rakowo die Ernährung besser oder ungefähr die gleiche wie in anderen Lagern? Und wie hat sich das auf die Gesundheit der Kriegsgefangenen ausgewirkt?


KIWELISCHA: Im Rakowo-Lager unterschied sich die Nahrung qualitativ in keiner Weise von der in anderen Gefangenenlagern, in denen Ich interniert war. Sie bestand aus roten Rüben, Kraut und Kartoffeln, die gewöhnlich in halbgekochtem Zustand verteilt wurden. Infolge dieser qualitativ unzureichenden Ernährung bekamen die Kriegsgefangenen Magenbeschwerden, die von Ruhr begleitet waren; diese erschöpften, die Menschen sehr schnell und verursachten ein Massensterben infolge des Hungers.


OBERST POKROWSKY: Sie sprachen davon, daß die Wachen sehr oft die Gefangenen aus belanglosen Gründen und auch sehr oft ohne jeglichen Grund schlugen.

KIWELISCHA: Ja.


OBERST POKROWSKY: Welcher Art waren die Wunden, die die Kriegsgefangenen dabei erhielten? Gab es infolge von heftigen Schlägen Schwerverwundete oder ging es meistens mit leichten Püffen ab?


KIWELISCHA: Im Rakowo-Lager war ich in dem sogenannten »Lazarett« und arbeitete dort in der chirurgischen Abteilung. Sehr oft nach dem Mittag- oder Abendessen wurden Gefangene mit den schwersten körperlichen Verletzungen eingeliefert. Nicht selten mußte ich mit allen Kräften den Menschen Hilfe leisten, die durch solche Schläge derart zugerichtet waren, daß sie, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, sehr bald starben. Ich erinnere mich eines zweiten Vorfalls, als zwei Kriegsgefangene mit einem harten Gegenstand derart auf den Kopf geschlagen wurden, daß das Gehirn aus der klaffenden Wunde herausquoll. Eines anderen Falles erinnere ich mich nur zu gut, als einem gefangenen Sportler aus Moskau mit einer Peitsche das Auge ausgeschlagen wurde. Dieser [305] Sportler erkrankte alsdann an einer Gehirnhautentzündung und starb bald darauf.


OBERST POKROWSKY: Wie groß war die Sterblichkeit im Rakowo-Lager unter den Kriegsgefangenen?


KIWELISCHA: Die Geschichte des Rakowo-Lagers kann man in zwei Zeitabschnitte einteilen. Der eine Abschnitt ist die Periode, die ungefähr bis November 1941 dauerte. Als sich nur eine kleine Anzahl von Kriegsgefangenen in dem Lager befand, war die Sterblichkeit nicht sehr groß. Im zweiten Zeitabschnitt dagegen, von November 1941 bis März 1942, währenddessen ich mich selbst im Lager von Rakowo befand, war die Sterblichkeitsziffer ungewöhnlich hoch. An manchen Tagen gab es oft 700, 900, ja sogar 950 Todesfälle im Lager.


OBERST POKROWSKY: Welche Strafmaßnahmen gab es im Lager von Rakowo, und aus welchen Gründen wurden die Kriegsgefangenen bestraft? Wissen Sie das?


KIWELISCHA: Ja! Mir ist bekannt, daß es im Lager eine Einzelzelle gab. Kriegsgefangene, die sich eines Fluchtversuchs schuldig machten, um diesen entsetzlichen Verhältnissen im Lager zu entgehen, oder die ein Vergehen begangen hatten, das gewöhnlich darin bestand, daß sie Nahrungsmittel aus der Küche entwendeten, wurden in diese Zelle gesperrt. Diese Gefängniszelle war im Keller, hatte einen Zementboden, die Fenster hatten kein Glas, sondern waren nur mit Eisengittern versehen. Der Gefangene wurde nackt ausgezogen, erhielt weder Wasser noch Essen und wurde dort 14 Tage eingesperrt. Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Kriegsgefangener diese Haft überlebt hätte. Alle sind in dieser Sonderzelle gestorben.


OBERST POKROWSKY: Offenbar haben diese Verhältnisse, von denen Sie gesprochen haben, bewirkt, daß die Zahl der körperlich geschwächten Menschen immer mehr anstieg?


KIWELISCHA: Ja.


OBERST POKROWSKY: Hat dies den Arbeitseinsatz irgendwie beeinträchtigt? Hat es die Zahl der arbeitsfähigen Kriegsgefangenen vermindert, und was geschah mit diesen Kriegsgefangenen?


KIWELISCHA: Die Mehrzahl dieser Kriegsgefangenen war in Pferdeställen untergebracht, die für menschliche Lebensbedingungen, besonders während der kalten Jahreszeit, nicht geeignet waren. Zuerst wurden alle zur Arbeit eingesetzt. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß diese Arbeiten völlig zwecklos waren. Sie bestanden darin, private Wohnhäuser zu zerstören und das Lagergrundstück mit den dabei gewonnenen Ziegelsteinen zu pflastern.

[306] Nach einiger Zeit, als die schweren Magenerkrankungen, die ich bereits erwähnte, immer häufiger auftraten, verminderte sich die Zahl der Arbeitsfähigen immer mehr.

Viele Kranke konnten sich nicht mehr bewegen, so daß sie nicht nur arbeitsunfähig waren, sondern den Stall auch nicht mehr zu den Essenszeiten verlassen konnten. Wenn in einem Stall sehr viele entkräftete, das heißt arbeitsunfähige Menschen waren, so wurde über sie eine sogenannte Quarantäne verhängt. Die Ein- und Ausgänge wurden zugemacht, so daß diese Menschen vom übrigen Lager vollständig abgetrennt waren. Nach vier bis fünf Tagen wurden die Ställe wieder geöffnet und die Leichen zu hunderten herausgeholt.


OBERST POKROWSKY: Können Sie uns sagen, Zeuge, zu welchen ärztlichen Arbeiten oder Sanitätsdiensten Sie und die anderen Ärzte von den Deutschen im Lager herangezogen wurden?


KIWELISCHA: Wir wurden im Lager zu keiner ärztlichen Arbeit verwendet. Was die Kriegsgefangenen betraf, so hatten die Deutschen nur ein Interesse, die Arbeitsfähigen von den Arbeitsunfähigen zu trennen. Rein ärztliche Hilfeleistungen konnten wir in dem Zustand, in dem wir uns selbst befanden, nicht bringen.


OBERST POKROWSKY: War in Ihren Pflichten in den verschiedenen Lagern auch eine sanitäre Überwachung eingeschlossen und was verstand man darunter?


KIWELISCHA: Mit der Aufgabe einer sanitären Überwachung wurden wir im Lager Gaisin betraut. Sie bestand darin, daß wir kriegsgefangenen Ärzte verpflichtet waren, in der Nähe der Hauptlagerlatrine Wache zu halten. Es war eine ausgehobene Grube, und sobald sie angefüllt war, mußten wir sie säubern.


OBERST POKROWSKY: Die Ärzte mußten das tun?


KIWELISCHA: Jawohl, die, Ärzte.


OBERST POKROWSKY: Haben Sie das als medizinische oder sanitäre Funktion betrachtet oder hielten Sie dies für eine ausgesprochene Verhöhnung der sowjetischen kriegsgefangenen Ärzte?


KIWELISCHA: Ich bin der Ansicht, daß es eine ausgesprochene Verhöhnung der sowjetischen Ärzte war.


OBERST POKROWSKY: Hoher Gerichtshof! Ich habe an diesen Zeugen keine weiteren Fragen.


VORSITZENDER: Hat einer der anderen Anklagevertreter Fragen zu stellen?


OBERST POKROWSKY: Nein, Herr Vorsitzender.


VORSITZENDER: Hat einer der Verteidiger Fragen an den Zeugen zu richten?


[307] DR. LATERNSER: Herr Zeuge! Sie haben eben gesagt, daß Sie im August 1941...


VORSITZENDER: Wollen Sie, bitte, Ihren Namen angeben und mitteilen, für wen Sie auftreten?


DR. LATERNSER: Dr. Laternser, Verteidiger für Generalstab und Oberkommando.


[Zum Zeugen gewandt]:


Herr Zeuge, Sie haben eben ausgesagt, daß Sie im August 1941 im Gebiet von Uman in Gefangenschaft geraten sind. Wissen Sie, ob in jener Zeit durch die Deutschen sehr viele Gefangene gemacht worden sind?

KIWELISCHA: Ja, ich weiß. Es wurden ungefähr 100000 Kriegsgefangene zu jener Zeit gemacht.

DR. LATERNSER: Wissen Sie auch darüber etwas, ob in der damaligen Zeit die deutschen Truppen ziemlich schnell vorangekommen sind auf dem russischen Gebiet?


KIWELISCHA: Darüber kann ich nichts sagen. Die deutschen Truppen kamen schnell vorwärts. Doch ehe wir umzingelt wurden, haben wir hartnäckig gekämpft und gingen kämpfend zurück bis zum 9. August.


DR. LATERNSER: Wie stark an Gefangenen war die Kolonne, in der Sie marschiert sind?


KIWELISCHA: Vier- bis fünftausend Mann.


DR. LATERNSER: Wann haben Sie nun die erste Verpflegung durch die deutschen Truppen bekommen?


KIWELISCHA: Ich persönlich habe von den deutschen Truppen zuerst in der Stadt Uman zu essen bekommen.


DR. LATERNSER: Als Sie die erste Mahlzeit bekommen haben, wie lange waren Sie da bereits in Gefangenschaft?


KIWELISCHA: Ich war da ungefähr 4 bis 5 Tage bereits in Gefangenschaft.


DR. LATERNSER: Sie waren im sowjetrussischen Heer Truppenarzt und haben daher sicher auch einen gewissen Einblick und Urteil darüber, daß die Verpflegung der Truppen nicht so einfach ist.


KIWELISCHA: Ich habe diesen Eindruck nicht erhalten, um so mehr als die Deutschen genügend Zeit und die Möglichkeit gehabt haben, die Kriegsgefangenen mit Nahrung zu versorgen. Ich möchte dazu noch bemerken, daß, wenn die deutschen Truppen die Kriegsgefangenen nicht versorgen konnten, die Zivilbevölkerung alles versucht hat, um die sowjetrussischen Kriegsgefangenen zu verpflegen. Doch gaben augenscheinlich weder die deutschen Behörden noch das[308] deutsche Militär irgendwelche Anweisungen dazu. Ich habe bereits berichtet, daß weder die Kriegsgefangenen noch die Zivilbevölkerung die Möglichkeit hatten, sich einander zu nähern. Im Gegenteil, man erschoß diejenigen Zivilisten, die versuchten, den Kriegsgefangenen Essen zu bringen, und jeden Kriegsgefangenen, der Essen von Zivilisten annahm.


DR. LATERNSER: Sie werden sich doch sicher vorstellen können, daß, wie Sie eben angegeben haben, es große Schwierigkeiten bereiten muß, wenn in einem Raum um Uman damals 100000 Gefangene gemacht worden sind.


KIWELISCHA: Im Raum von Uman waren nicht alle Kriegsgefangenen in einem Lager konzentriert. Es gab einige Durchgangslager und Stammlager. In Uman gab es ihrer mehrere.


DR. LATERNSER: Ich habe jetzt nicht davon gesprochen, über die Ernährung im Lager Uman, sondern wir sprechen immer noch über die Ernährung für die ersten Tage nach der Gefangennahme.


KIWELISCHA: Bei der Gefangennahme war ich von den anderen Kriegsgefangenen nicht abgesondert. Man versorgte mich genau so wie alle anderen Kriegsgefangenen. Ich befand mich in der allgemeinen Kolonne der Kriegsgefangenen. Die deutschen Befehlsstellen machten in den ersten Tagen der Gefangenschaft keinen Unterschied.


DR. LATERNSER: Aber Sie werden doch gewisse Schwierigkeiten zugeben müssen, die für die Ernährung bestehen, wenn plötzlich eine Kolonne, wie die Ihrige, in Stärke von 5000 Mann durch die vorgehende Truppe versorgt werden muß?


KIWELISCHA: Selbst wenn das deutsche Militär Schwierigkeiten gehabt hätte, uns zu ernähren, so hätte es den Kriegsgefangenen erlauben können, Nahrung in Empfang zu nehmen, die die sowjetrussische friedliche Bevölkerung ihnen geben wollte.


DR. LATERNSER: Darauf werden wir gleich nochmal kommen. Sie sagen, daß Sie eine Kolonne von 5000 Gefangenen waren. Können Sie mir sagen, wie stark die Bewachungsmannschaft war, die deutsche Bewachungsmannschaft, für diese Kolonne von 5000 Mann?


KIWELISCHA: Ich kann die genaue Zahl nicht angeben, doch waren sehr viele deutsche M.G.-Schützen da. Die Kolonne war zu sehr ausgedehnt, so daß ich die Zahl nicht angeben kann.


DR. LATERNSER: Gut, das verstehe ich, daß Sie mir diese Antwort nicht geben können mit der genauen Zahl. Aber schildern Sie doch einmal dem Gericht, wie groß der Abstand war zwischen den einzelnen Bewachungsposten, die längs der Kolonne mit dieser marschiert sind!


KIWELISCHA: Der Abstand war beispielsweise folgendermaßen: Zwei bis drei Soldaten, die in einer Reihe gingen, marschierten [309] hinter einer zweiten Gruppe, die ebenso groß war, und zwar im Abstand von fünf bis sechs Schritten.


DR. LATERNSER: Also, alle 50 bis 60 Meter, zu beiden Seiten oder nur auf einer Seite marschierten deutsche Truppen, und zwar immer 2, 3, einzeln, wie Sie sagen, oder habe ich Sie nicht richtig verstanden?


KIWELISCHA: Nicht fünfzig bis sechzig Meter, sondern fünf bis sechs Meter.


DR. LATERNSER: Waren das ältere Bewachungsmannschaften oder handelte es sich dabei um jüngere Soldaten?


KIWELISCHA: Es handelte sich um Soldaten des deutschen Heeres. Sie waren jeden Alters.


DR. LATERNSER: Ist vor Abmarsch der Kolonne den russischen Gefangenen angekündigt worden, daß auf sie geschossen würde für den Fall, daß sie die Kolonne verlassen?


KIWELISCHA: Ich habe bereits gesagt und wiederhole, daß keinerlei Warnung vorausgegangen war.


DR. LATERNSER: Auch nicht, bevor die Kolonne abmarschiert ist?


KIWELISCHA: Nein.


VORSITZENDER: Ich glaube, es ist jetzt Zeit, bis 2.00 Uhr zu unterbrechen.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 8, S. 280-311.
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