Vormittagssitzung.

[309] VORSITZENDER: Dem Gerichtshof liegt ein Antrag von Dr. Steinbauer zur Genehmigung vor, ein Affidavit für den Angeklagten Seyß-Inquart vorlegen zu dürfen.

Hat die Anklagebehörde Gelegenheit gehabt, dieses Affidavit zu überprüfen, und hat sie einen Einwand dagegen?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Herr Vorsitzender! Ich glaube nicht, daß alle meine Kollegen schon Gelegenheit gehabt haben, dieses Affidavit zu überprüfen, sie haben es erst gestern abend erhalten. Wenn Euer Lordschaft uns eine oder zwei Stunden genehmigen würden, werden wir uns gern heute noch zu einem späteren Zeitpunkt dazu zum Wort melden.


VORSITZENDER: Wenn Sie das tun wollen, bitte.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wie Euer Lordschaft wünschen.


DR. LATERNSER: Herr Präsident! Nur ganz wenige Augenblicke.

Auf Grund eines mir gestern abend zugegangenen Briefes bin ich in der Lage nachzuweisen, daß ein schriftlicher Befehl vorgelegen hat, nach dem irgendwelche Vorbereitungen für einen aktiv geführten Bakterienkrieg verboten waren.

Ich habe bereits mit Sir David Maxwell-Fyfe gesprochen; dieser Brief soll übersetzt werden, und dann soll darüber gesprochen werden, ob dieser Brief als Beweismittel zugelassen werden soll.

Ich wollte das nur ankündigen, damit das Vorbringen nicht als verspätet zurückgewiesen werden könnte.


VORSITZENDER: Dr. Laternser! Meinen Sie, daß der Brief übersetzt und der Anklage vorgelegt wird, die uns dann mitteilen wird, ob sie bereit ist, der Vorlage dieses Briefes zuzustimmen, soweit er von Erheblichkeit ist? Das muß aber heute noch geschehen.


DR. LATERNSER: Jawohl.


VORSITZENDER: Gut. General Taylor, bitte!


OBERST TELFORD TAYLOR, BEIGEORDNETER ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Herr Vorsitzender, meine Herren Richter!

In der Anklageschrift verlangt die Anklagebehörde, sechs Gruppen oder Organisationen als verbrecherisch zu erklären. Zum Zwecke der Klarheit bei der Festlegung der Beschuldigungen [309] und der Sammlung des Beweismaterials erscheint diese Aufteilung in sechs Teile angebracht, da sie den formalen Aufbau des Dritten Reiches genau wiedergibt.

Allerdings zerfiel, genau genommen, das Reich nicht in sechs Teile; es war einfacher, als es dieser Aufteilung entsprechen würde. Das Dritte Reich war eine politische und eine militärische Maschine. Es wurde durch die Nazi-Partei und die Wehrmacht verkörpert und hat durch sie seine Ziele verfolgt. Seine Erfolge im In- und Ausland wurden mit Hilfe dieser beiden Werkzeuge erreicht. Die Wehrmacht verdankte ihre Wiedererstehung zum großen Teil der Nazi-Partei, die Nazi-Partei ihrerseits wäre ohne die Wehrmacht hilf- und kraftlos gewesen. Wie General Reinecke es zum Ausdruck gebracht hat, seien die beiden Grundpfeiler des Dritten Reiches die Partei und die Wehrmacht, und jeder von beiden stehe und falle mit dem anderen.

Anhang B der Anklageschrift spezifiziert die einzelnen Führer und Hauptwerkzeuge der Partei und der Wehrmacht. Die Anklageschrift spezifiziert von der Partei zum Beispiel das Korps der Politischen Leiter und auch die Mitglieder der SS als Hauptausführungsorgane der Partei. Für die Wehrmacht führt die Anklageschrift die führenden Generale auf, die mit dem Entwurf der Pläne und der Durchführung der Operationen vornehmlich betraut waren.

Die Zusammenstellung dieser Gruppe militärischer Führer ist von seiten der Anklagebehörde während des Hauptprozesses geschildert worden und bedarf daher kaum einer weiteren Erläuterung. Die Verteidigung hat den Standpunkt eingenommen, daß diese militärischen Führer keine Gruppe im Sinne der Anklage darstellen. Die Ausführungen, die diesen technischen Einwand stützen, sind meiner Ansicht nach nicht stichhaltig, aber ich will ihnen direkt und klar erwidern.

Eine Anzahl der von der Verteidigung vorgebrachten Einwände beruhen entweder auf Mißverständnis oder absichtlicher Mißdeutung der in der Anklageschrift gebrauchten Definition. So haben verschiedene Zeugen erklärt, daß der »Generalstab« aus jungen Offizieren von verhältnismäßig niedrigem Range bestand, die den obersten Befehlshabern als Hilfskräfte zur Seite gestanden hätten. Dies stellt eine Verwechslung mit dem dar, was in Militärkreisen als »Generalstabskorps« bezeichnet wird und das aus Offizieren, die aus der Kriegsakademie hervorgegangen sind, besteht. Wie die Anklagebehörde dies von Anfang an klargemacht hat, bezieht die Anklageschrift diese Offiziere nicht mit ein. Soweit diese oder ähnliche Aussagen einen Angriff gegen die Bezeichnung, die die Anklage für die Gruppe der militärischen Führer anwendet, darstellen, ist dieser Punkt höchst unwesentlich. Es gibt weder im [310] Deutschen noch im Englischen einen feststehenden Ausdruck noch ein künstlich geschaffenes Wort für die militärischen Führer der Wehrmacht; die Anklageschrift verwendet beide Ausdrücke »Generalstab« und »Oberkommando« als am bezeichnendsten für die Chefs der vier Stäbe, des OKW, OKH, OKM und OKL, die alle Schlüsselstellungen für die militärische Planung innehatten und für die Oberkommandierenden, die die Operationen leiteten. Zusammengenommen umfassen sie sehr wohl die militärische Führung.

Einige andere Punkte von geringerer und nur technischer Bedeutung verdienen nur kurze Erwähnung. Man hat bei den graphischen Darstellungen, die den eidesstattlichen Erklärungen von Halder, Brauchitsch und Blaskowitz beigefügt wurden, beanstandet, daß sie nicht genau den Befehlsweg wiedergäben. Das ist wahr. Das Schaubild war nicht dazu da, den Befehlsweg aufzuzeigen. Die Affidavits, denen das Schaubild beigefügt ist, sagen nichts über den Befehlsweg, und die Anklage hat nichts Derartiges behauptet. Ebenso belanglos ist die Frage, ob Keitel im selben Feld mit Hitler hätte gezeigt werden können, statt ein Feld für sich zu haben. Keiner dieser das Schaubild betreffenden Einwände würde eine Hinzufügung oder Wegnahme eines einzelnen Mitglieds dieser Gruppe zur Folge haben oder die in der Anklageschrift gebrauchte Definition für die militärische Führung ändern. Ebenso unwesentlich ist die Behauptung, daß die Liste der Mitglieder der Gruppe einige Generale enthält, die nur vorübergehend Oberbefehlshaber waren und nie formell als solche bestätigt worden waren. Das mag später bei einem Prozeß gegen diese einzelnen Generale von Bedeutung sein, wenn sie beweisen können, daß sie in Wirklichkeit nie Rang und Verantwortung eines Oberbefehlshabers hatten, aber es ist bei der Betrachtung der Gruppe als Ganzes unwichtig.

Einige von der Verteidigung vorgelegte eidesstattliche Erklärungen weisen darauf hin, daß einige Generale weniger als sechs Monate Mitglieder der Gruppe waren, daß eine Anzahl gestorben ist, andere entlassen wurden oder von ihren Stellungen zurücktraten, bevor der Krieg zu Ende war, und daß die Jüngeren bei Kriegsausbruch noch nicht Generale waren. Aber das versteht sich von selbst. Wir haben es mit einem Zeitraum von sieben Jahren zu tun, der zum größeren Teil mit Krieg ausgefüllt war, und Krieg ist eine zufallsreiche und aufreibende Beschäftigung. Während dieser Jahre starben einige Generale, andere versagten, wieder andere fielen in Mißgunst; sie wurden durch neue ersetzt, das große Anwachsen der Anzahl deutscher Heeresgruppen und Armeen erforderte weitere Offiziere als Oberbefehlshaber. Da im Kriege Zufälle eine große Rolle spielen und Versagen kostspieliger für die Wehrmacht ist als für die Politik, mag dieser Wechsel entsprechend [311] größer in der Wehrmacht als in der Nazi-Partei gewesen sein. Diese Fragen sind aber wiederum nur für den Grad der Verantwortlichkeit des einzelnen Mitglieds von Bedeutung und nicht für die Verantwortlichkeit der Gruppe als solche.

Es wurde besonders hervorgehoben, daß viele Mitglieder dieser Gruppe erst nach 1942 zu ihr stießen. Den Einwand, der daraus gefolgert wird, verstehe ich dahin, daß die Generale, die der Gruppe erst nach 1942 beitraten, nicht an der Planung und der Entfesselung von Angriffskriegen beteiligt gewesen sein konnten. Es ist richtig, daß gegen Ende des Jahres 1942 die Wehrmacht, die von der angeklagten Gruppe geführt war, bereits alle Nachbarstaaten oder einen großen Teil davon, bis auf die Schweiz und Schweden, angegriffen und überrannt hatte, so daß weitere Angriffskriege nicht mehr nötig waren. Ich nehme an, daß mit gleichem Recht hervorgehoben werden könnte, viele Deutsche seien erst nach 1942 der SS beigetreten oder hätten einen hohen Rang in ihr oder in der Parteiführungsgruppe erreicht. Dieser Einwand übergeht jedenfalls die Tatsache, daß die militärische Führungsgruppe lange nach 1942 eine Gruppe war, deren offizielle Befehle dahin gingen, Kommandos und Kommissare zu ermorden und »Befriedung« durch die Verbreitung von Terror zu erreichen. Viele der durch die deutsche Wehrmacht begangenen Greueltaten ereigneten sich erst später im Kriege. Auch hier ist dieser Punkt nur insofern von Bedeutung, als einzelne Spätkömmlinge in der Gruppe in anderen Prozessen dartun können, daß sie niemals von dieser verbrecherischen Tätigkeit gehört hätten oder an ihr beteiligt gewesen wären. Die Gruppe selbst kann sich der Verantwortung nicht entziehen, indem sie vorbringt, daß sie sogar noch dann fortlaufend anwuchs, als die Fähigkeit des Dritten Reiches, Angriffskriege zu beginnen, schon erschöpft war.

Die Verteidigung behauptet, daß die militärischen Führer keine »Gruppe« gewesen seien, da sie nur amtliche Stellungen ohne ein »vereinigendes Element« innegehabt hätten.

Dies ist eine Frage der Tatsachen.

Die Beantwortung wird nicht durch schönes Jonglieren mit Worten gefördert, wie zum Beispiel ob das deutsche Wort »Gruppe« »group« oder »number« »Zahl« bedeutet. Ich unterstelle die Annahme, daß »group« eine Anzahl von Personen bedeutet, die wegen irgendwelcher Gleichartigkeit herausgegriffen wurden, oder wie es Justice Jackson auslegte: die Mitglieder müssen in »nachweisbaren Beziehungen« zu einander stehen und ein »gemeinsames, allgemeines Ziel« haben. Ich möchte auch annehmen, daß die »Gleichartigkeit« oder die »Beziehungen« und der Zweck gemäß der Londoner Vereinbarung eine Bedeutung haben müssen. Die Generale, die die in der Anklageschrift aufgezählten Stellungen innehatten, stellten die militärische Führung des Dritten Reiches dar. [312] Das ist ihre »Gleichartigkeit«, ihre »nachweisbare Beziehung« oder ihr »vereinigendes Element«. Ihr »gemeinsames, allgemeines Ziel« war der Aufbau und die Ausbildung der Wehrmacht, das Entwerfen der Pläne und die Leitung ihrer Operationen.

Ich gebe der Meinung Ausdruck, daß das Beweisergebnis in dieser Hinsicht schlüssig und unwidersprochen ist. Führende deutsche Generale – Brauchitsch und Halder – haben in beschworenen Aussagen bezeugt, daß diejenigen, die die in der Anklageschrift aufgeführten Stellungen innehatten, die »tatsächliche Leitung der Wehrmacht« besessen und »in Wirklichkeit der Generalstab und das Oberkommando waren«.

Die technischen Einwände, die später von der Verteidigung hinsichtlich des Schaubildes vorgebracht wurden, sind für diesen wesentlichen Punkt vollständig unerheblich.

Die Aussagen zahlreicher Generale, daß die militärischen Führer keine formelle Organisation oder einen geheimen beratenden Ausschuß besaßen, trifft – wenn wir diesen Aussagen Glaubwürdigkeit unterstellen – den Kernpunkt in keiner Weise. Die Anklagebehörde hat dies nicht behauptet, noch hat sie behauptet, daß die militärischen Führer eine politische Partei gewesen seien oder daß sie einen festen oder einheitlichen Standpunkt in innenpolitischen Angelegenheiten vertreten hätten.

Wir sind auch nicht überrascht, von einigen Zeugen der Verteidigung zu hören, daß die Deutschen genau wie wir es leichter fanden, innerhalb eines einzelnen Wehrmachtsteiles Koordination zu erzielen als zwischen dem Heer, der Marine und der Luftwaffe.

Das Bestehen des OKW allein ist genügend Beweis für die Wichtigkeit, die die Deutschen der Zusammenarbeit zwischen den Wehrmachtsteilen beigemessen haben, und zahlreiche Dokumente zeigen dauernde und bis in Einzelheiten gehende Planungen und Besprechungen zwischen den drei Wehrmachtsteilen. Jedenfalls ist es nicht notwendig, hinter den tatsächlichen Ablauf der Dinge zu sehen.

Sicherlich würde niemand im Jahre 1941, nachdem er Zeuge des koordinierten Einsatzes von Panzern und Stukas in Afrika und des Zusammenspiels aller drei Wehrmachtsteile während der Invasion in Norwegen gewesen ist, behauptet haben, die deutsche Kriegführung ermangele der Zusammenarbeit.

Halder hat uns berichtet, daß vom Standpunkt der militärischen Planung aus der Wehrmachtführungsstab, dessen Chef beziehungsweise stellvertretender Chef Jodl und Warlimont waren, der wichtigste Teil des OKW gewesen sei. Die Frontbefehlshaber nahmen ebenfalls an der Planung teil. Wir wissen von Brauchitsch und Blaskowitz, daß die militärischen Pläne für die Angriffe auf Polen [313] und auf andere Länder vorher den Oberbefehlshabern der Heeresgruppen und der Armeen vorgelegt wurden, damit das OKH sich ihre Vorschläge zunutze machen könnte. Brauchitsch und Blaskowitz haben uns auch berichtet, daß während der Gefechtshandlungen das OKH und die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und der Armeen in ständiger beratender Fühlungnahme standen und daß die Oberbefehlshaber wiederholt von Hitler selbst um Rat gefragt wurden. Die Aussage von General Reinhardt besagte das gleiche. Zeitgenössische Dokumente zeigen ganz klar die Teilnahme der Frontoberbefehlshaber an den Planungen für den Polenfeldzug.

Die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und der Armeen hatten in den besetzten Gebieten vollziehende Gewalt innerhalb ihres Kommandobereichs. Innerhalb dieses Bereichs herrschten sie unumschränkt und hatten Macht über Leben und Tod der Einwohner. Sie hatten die Verantwortung für die Entscheidung solcher Fragen, wie zum Beispiel, ob die Kommissar-und Kommandobefehle verteilt werden sollten und wenn sie verteilt wurden, in welchem Umfang und mit welchen Anweisungen.

Zusammenfassend kann man sagen, daß diese Generale eine Ansammlung von Personen darstellten, die die deutsche Wehrmacht leiteten und deren gemeinsames Ziel es war, diese auf militärische Operationen vorzubereiten und sie in diesen Operationen zu führen. Von Zeit zu Zeit, wenn alle Mitglieder zusammenkamen, stellte dies eine Versammlung dar. Der Zweck und der Geist des Londoner Abkommens lassen keinen Zweifel darüber, daß eine derartige Körperschaft unter Artikel 9 desselben fällt. Das Abkommen schuf diesen Gerichtshof, um solche Vergehen, wie die Planung und Führung von Angriffskriegen und Verletzungen der Kriegsgesetze und Kriegsgebräuche, zu ahnden. Die deutschen militärischen Führer werden unter anderem beschuldigt, die Pläne, nach denen ungesetzliche Angriffskriege begonnen wurden, entwickelt und die Wehrmacht bei Anzettelung und Durchführung dieser Kriege geleitet zu haben. Sie werden beschuldigt, in der ganzen Wehrmacht Befehle verbreitet zu haben, die den Mord einer gewissen Klasse von Gefangenen anordnete und ferner bei Mord und Mißhandlung der Zivilbevölkerung geholfen und mitgewirkt zu haben, alles in Verletzung der Kriegsgesetze und Kriegsbräuche.

Der Einwand der Verteidigung, daß die militärischen Führer keine »Gruppe« und deshalb nicht einer Erklärung gemäß Artikel 9 unterworfen seien, ist, wie wir behaupten, völlig unbegründet und mit dem klaren Zweck des Londoner Abkommens unvereinbar. Dieses Abkommen kann vernünftigerweise nicht dahin ausgelegt werden, daß man die Führer eines der beiden Führungsmittel des Dritten Reiches von der Anwendung des Artikels 9 ausschließen wollte.

[314] Die Verteidigung scheint geltend machen zu wollen, daß die Mitgliedschaft in dieser Gruppe nicht freiwillig gewesen sei. Ich sage »scheint«, da uns im gleichen Atemzug gesagt wird, daß die Generale ihre Stellungen nicht aufgeben konnten, daß andererseits aber viele infolge von Meinungsverschiedenheiten mit Hitler zurückgetreten seien.

Ich glaube, diese Frage ist sehr einfach. Wir haben es hier nicht mit dem gewöhnlichen deutschen Wehrpflichtigen zu tun, der die große Masse der Wehrmacht ausmachte. Wir befassen uns hier ausschließlich mit den Berufssoldaten, und zwar den eifrigsten, ehrgeizigsten und tüchtigsten deutschen Offizieren dieses Faches. Die meisten von ihnen wählten einen militärischen Beruf, weil er ihnen im Blute lag und weil sie, wie Manstein zum Ausdruck brachte, »den Kriegsruhm als etwas Großes betrachteten«. Sie schufteten in ihrem Beruf und waren ihm ergeben, und wenn sie den Rang eines Oberbefehlshabers erreicht hatten, waren sie wie Manstein stolz darauf, daß ihnen eine Armee anvertraut war. Niemand wurde deutscher Oberbefehlshaber, wenn er es nicht wollte.

Es trifft zu, daß in Kriegszeiten ein Berufsoffizier seinen Rang oder seine Stellung nicht nach seinem eigenen Willen aufgeben kann. Aber dies macht den Berufsoffizier nicht zu einem Wehrpflichtigen oder seine Stellung zu einer unfreiwilligen. Niemand wird Berufsoffizier, ohne im voraus die Pflichten zu kennen, die ihn in Kriegszeiten binden. Die fanatischen Nazis, die sich beeilten, sich freiwillig zu den ersten Waffen-SS-Divisionen zu melden oder freiwillig anderen halbmilitärischen Organisationen der Partei beitraten, konnten danach auch nicht austreten, wie sie gerade wollten, aber ich habe noch nicht behaupten gehört, daß sie deshalb Dienstpflichtige oder unfreiwillige Mitglieder gewesen seien. Die Mitglieder des Generalstabs und des Oberkommandos waren eifrige Berufssoldaten, die mit anderen ihresgleichen um die Verantwortlichkeiten und Ehren eines Oberbefehlshabers wetteiferten. Sie stiegen in der Wehrmacht genau so auf wie ein ehrgeiziges Parteimitglied zum Kreisleiter oder Gauleiter aufsteigen konnte.

Tatsächlich war sogar der Rücktritt für den Oberbefehlshaber leichter als für irgend jemand anderen in der Wehrmacht. Der Offizier niedrigeren Ranges, der gegen die ihn umgebenden Vorgänge Protest erhob, mochte vielleicht nicht befördert werden, zu einem weniger wünschenswerten Kommando versetzt oder vor ein Kriegsgericht gestellt und degradiert werden. Er hatte nicht die Wahl, sich in den Ruhestand versetzen zu lassen, und er war gewöhnlich zu jung, um Krankheit überzeugend vorschützen zu können. Die Oberbefehlshaber waren in einer viel besseren Lage. Kein Kriegsamt oder Kriegsministerium will einen Frontoberbefehlshaber haben, der dauernd und wesentlich von seinen Anweisungen abweicht. Ein solcher Oberbefehlshaber muß entfernt werden. Doch [315] hat er oft ein genügendes Dienstalter, Ansehen und anerkannte Fähigkeit, so daß seine Dienstgradherabsetzung oder Entehrung unbequem wäre und ein Versetzen in den Ruhestand oder die Annahme seines Rücktrittsgesuchs die beste Lösung für alle Beteiligten ist.

Und gerade dies geschah mit einigen Oberbefehlshabern. Die Akten sind voll von Zeugenaussagen von Oberbefehlshabern oder über Oberbefehlshaber, die ganz öffentlich Hitler in taktischen Angelegenheiten widersprochen haben und die als Folge solcher Meinungsverschiedenheiten pensioniert worden sind oder die Erlaubnis zum Rücktritt erhalten haben.

Übrigens möchte ich ganz nebenbei bemerken, daß in den Akten jegliches Beweismaterial über offenen Widerspruch der Oberbefehlshaber gegen Hitlers Befehle, die die Kriegsgesetze verletzten, oder über erzwungene Pensionierung eben wegen solcher Befehle, völlig fehlt. Jedenfalls ist es ganz klar, daß ein Oberbefehlshaber, der zurücktreten wollte, einen Weg hierzu finden konnte, sei es durch Vorschützen von Krankheit oder durch ehrliches, gerades Verhalten. Wenn er nur den Willen hatte, fand er einen Weg. Es ist bemerkenswert, daß die drei Feldmarschälle, die vor diesem Gerichtshof ausgesagt haben, alle irgendwie einen Ausweg gefunden haben oder daß sich ihnen ein solcher angeboten hat, und die Akten zeigen, daß viele andere darin ebenso erfolgreich waren und daß wenige von ihnen deswegen nachher ernstlichen Schaden erlitten hätten.

Ich komme nun zu der verbrecherischen Tätigkeit. Die Anklagebehörde ist der Ansicht, daß das dem Gerichtshof vorliegende Beweismaterial die Teilnahme der Gruppe »Generalstab und Oberkommando« an der Erreichung der verbrecherischen Ziele der Verschwörung und an der Begehung von Verbrechen gemäß aller Teile von Artikel 6 des Statuts und gemäß allen Punkten der Anklageschrift schlüssig aufzeigt. Wir behaupten ferner, daß die verbrecherischen Ziele, Methoden und Tätigkeiten der Gruppe derart waren, daß die Mitglieder mit Fug und Recht der Kenntnis derselben beschuldigt werden können und daß sie größtenteils tatsächlich Kenntnis davon hatten.

Ich möchte zuerst von der Vorkriegszeit sprechen, oder, genauer ausgedrückt, von der Zeit bis zum Frühjahr 1939, als die detaillierte Planung für den Angriff auf Polen begann. Es ist bemerkenswert, daß während dieser Anfangszeit die in der Anklageschrift benannte Gruppe niemals mehr als acht Mitglieder hatte und daß vier davon in diesem Verfahren angeklagt sind.

Ich möchte Ihre Zeit nicht mit Wiederholungen in Anspruch nehmen. Wir wissen, daß während dieser Jahre die militärischen Führer die Wehrmacht aufbauten und zu einer furchtbaren militärischen Maschine machten, die die Nachbarländer mit Schrecken [316] erfüllte und später die meisten davon mit Erfolg überrennen konnte. Nicht der Schatten eines Beweises ist vorhanden, um die Beschuldigung zu widerlegen, daß Mitglieder der Gruppe »Generalstab und Oberkommando« den Aufbau und die Zusammensetzung dieser Maschine leiteten. Einige Zeugen haben ausgesagt, daß die Wiederaufrüstung nur Verteidigungszwecken gedient habe, aber die neue Stärke der Wehrmacht fand sofort zur Unterstützung der aggressiven Diplomatie Hitlers Verwendung. Österreich und die Tschechoslowakei wurden von der Wehrmacht sogar ohne Krieg erobert. Die Ereignisse von 1939 bis 1942 und die fürchterliche Angriffsstärke der Wehrmacht sind eine weitere und ausreichende Antwort selbst ohne Bezugnahme auf Blombergs offizielle schriftliche Erklärung vom Juni 1937, daß kein Anlaß gegeben sei, einen Angriff auf Deutschland von irgendeiner Seite zu befürchten.

Die Zeugen der Verteidigung haben der Tatsache, daß die Generale wenig oder keine Vorkenntnis der Einverleibung Österreichs besaßen, großes Gewicht beigelegt. Viele dieser Zeugen waren damals nicht Mitglieder der Gruppe, aber der Einwand ist auf alle Fälle nutzlos, denn der Anschluß war nicht vorher von den Deutschen zeitlich festgelegt, sondern wurde durch Schuschniggs überraschenden Befehl für eine Volksabstimmung herbeigeführt. Aus diesem Grunde mußten, wie Manstein bezeugt, Pläne für den Einmarsch nach Österreich schnell improvisiert werden. Aber die Pläne wurden von Manstein unter der Leitung von Beck (Chef des Generalstabs des Heeres und Mitglied der Gruppe) entworfen, und andere Mitglieder der Gruppe waren sehr stark am Anschluß beteiligt, genauso wie andere Generale, die später Mitglieder wurden.

Was die Teilnahme der Generale an der Münchener Krisis und der Besetzung des Sudetenlandes betrifft, scheint der Hauptpunkt der Verteidigung der zu sein, daß Brauchitsch, Beck und andere Generale sich damals dem Risiko eines Krieges widersetzten. Aus den Akten geht ganz klar hervor, daß die Stellungnahme der Generale nicht auf irgendwelcher Opposition gegenüber einer von militärischen Drohungen unterstützten Diplomatie oder auf eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich des Ziels der Zertrümmerung der Tschechoslowakei gegründet war. Ihrer Meinung nach war vielmehr die Wehrmacht im Jahre 1938 noch nicht stark genug, um einen Krieg mit Großmächten beginnen zu können. Der Angeklagte Jodl hat es ganz klar in seinem Tagebuch ausgedrückt, indem er einen Gegensatz aufzeigte zwischen »der Erkenntnis des Führers, wir müssen noch in diesem Jahre« und der Auffassung des Heeres, »wir können noch nicht, da sicherlich die Westmächte eingreifen und wir ihnen noch nicht gewachsen sind«.

Die weitere Behauptung, daß für die Besetzung der Tschechoslowakei keine militärischen Vorbereitungen getroffen wurden und [317] daß der Oberbefehlshaber des Heeres keine diesbezüglichen Anweisungen gegeben hatte, ist ganz unglaubwürdig in Anbetracht der unzweifelhaft authentischen Dokumente aus jener Zeit, die dem Gerichtshof schon lange als Beweismaterial vorliegen und welche die Verteidigung nicht abstreiten konnte und auch nicht abzustreiten versuchte. Die in den Akten über den sogenannten Fall »Grün« enthaltenen militärischen Anweisungen und Planungsdenkschriften machen jegliche derartige Behauptung hinfällig und enthüllen deutlich die ausgedehnten Vorbereitungen, die von der Wehrmacht unter der Leitung von Keitel, Jodl, Brauchitsch, Halder und anderen getroffen wurden. Jodls Tagebuch gibt weitere Einzelheiten über solche Dinge, wie: das Zusammenwirken der Luft- und Landoffensive, Zeitbestimmung des Befehls für den Angriffstag, Zusammenarbeit mit der ungarischen Armee und Gefechtsordnung. Es zeigt auch die persönliche Beteiligung von anderen Mitgliedern der Gruppe und von anderen Generalen, die später Mitglieder wurden. Militärische Vorbereitungen für die Einverleibung der restlichen Tschechoslowakei gehen zur Genüge aus den dem Gerichtshof als Beweismaterial vorliegenden Dokumenten hervor.

Noch ein weiterer Punkt bezüglich dieser Vorkriegsperiode ist bemerkenswert. Die militärischen Leiter beteiligten sich nicht nur an den Plänen, sie waren auch begeistert über die Erfolge. Sie befürchteten, in einen Krieg verwickelt zu werden, ehe sie genügend vorbereitet waren, aber sie wollten eine große Armee, und auch die militärischen und strategischen Vorteile, die sich aus Hitlers Erfolgen mit Österreich und der Tschechoslowakei für Deutschland ergeben hatten, entsprachen ihrem Willen. Tatsächlich ist hierin die Ursache der Zusammenarbeit zwischen den Führern der Partei und den militärischen Führern zu finden; aus diesem Grunde wurde Hitler von den Generalen unterstützt; aus diesem Grunde konnte das Dritte Reich mit Hilfe der Partei und der Wehrmacht das erreichen, was es erreicht hat. Führende deutsche Generale haben dies vor dem Gerichtshof ganz ausführlich zum Ausdruck gebracht. Blomberg, sagt aus, daß die Generale vor 1938/1939 nicht gegen Hitler eingestellt gewesen seien; Blaskowitz sagt, alle Offiziere der Wehrmacht hätten die Wiederaufrüstung begrüßt und deshalb keinen Grund gehabt, sich Hitler entgegenzustellen. Beide sagten aus, daß Hitler die von allen Generalen erwünschten Erfolge erzielt habe.

Das Zeugnis von Blomberg und Blaskowitz wird keineswegs entkräftet durch die Aussagen von verschiedenen Zeugen der Verteidigung, nach denen viele Offiziere Hitlers Innenpolitik teilweise mit Mißbilligung und einigen Nazi-Politikern mit Mißtrauen gegenübergestanden seien. Man kann nicht erwarten, daß alle an einem Verbrechen Beteiligten einander sympathisch sind und sich gegenseitig trauen. Daß es dem Dritten Reich trotz dieser Unterschiede [318] beinahe gelungen wäre, der Welt seine Herrschaft und seine üblen Theorien aufzuzwingen, ist nur ein Beweis für das zwischen der Partei und den militärischen Führern bestehende tiefe Einverständnis im Hinblick auf die wichtigsten Ziele nationaler Einheit und gerüsteter Macht zum Zwecke territorialer Expansion. Dies kann nicht bezweifelt werden, und zur Bestätigung brauchen wir nur die Aussage eines von der Verteidigung gestellten Zeugen zu betrachten: Generaloberst Reinhardt, der vor dem Krieg Chef der Heeresausbildungsabteilung war und später eine Panzerarmee und eine Heeresgruppe an der Ostfront befehligte. Als er gefragt wurde, wie sich das Offizierskorps zu Hitler stellte, antwortete er: Ich glaube nicht, daß es einen einzigen Offizier gab, welcher Hitler in seinen außerordentlichen Erfolgen nicht unterstützte. Hitler hatte Deutschland aus dem tiefsten Elend herausgeführt, sowohl in politischer wie außenpolitischer Hinsicht und wirtschaftlich.

Nun gehen wir zum Krieg selbst über. Die Gruppe der in der Anklageschrift genannten militärischen Führer wird noch viel größer; wir haben es nicht nur mit den Generalen in Berlin zu tun, sondern auch mit den Kriegsherren, welche die Wehrmacht im Felde befehligten – Namen, die bei den Bewohnern der von den Deutschen überrannten Gebiete weitaus bekannter und gefürchteter waren. Namen wie Blaskowitz, von Bock, von Kluge, Kesselring, von Reichenau, von Rundstedt, Sperrle und von Weichs.

Was haben die Generale zur Verteidigung des Angriffs auf Polen zu sagen? Einige ihrer Aussagen, wie die Mansteins, daß die Polen »leichtfertig« Deutschland angreifen könnten, sind einfach lächerlich. Als bestes können sie nur vorbringen, sie hätten ein Nachgeben der Polen ohne Kampf erwartet. Wenn dies eine Verteidigung wäre, so ist ihre Glaubwürdigkeit zweifelhaft. Hitler selbst hatte den militärischen Führern klargemacht, daß es nicht um Danzig und den Korridor ginge, sondern um Lebensraum und bessere Lebensmittelversorgung durch deutsche Ausbeutungspolitik. Die Generale können kaum erwartet haben, daß die Polen sich ohne jeglichen Widerstand ergeben würden, und Hitler hatte gesagt, daß es zum Krieg und zu keiner Wiederholung des tschechischen Falles kommen würde.

Jedenfalls ist es keine Entschuldigung, daß die Generale auf einen »Blumenkrieg« gehofft hätten. Die Verteidigungszeugen haben zugegeben, daß die deutschen Forderungen an Polen durch militärische Drohungen und Waffengewalt erzwungen werden sollten. Es liegen keine Beweise dafür vor, daß die Generale sich diesem Verfahren eines glatten räuberischen Überfalls entgegengestellt hätten. Es ist in der Tat klar, daß sie diese Politik durchaus befürwortet haben, da sie den polnischen Korridor als »Entweihung« und die Wiedergewinnung früherer deutscher Gebiete von Polen als »Ehrensache« ansahen. Noch nie galt es als Verteidigung, daß ein [319] ***Räuber, vom Widerstand seines Opfers überrascht, einen Mord begehen mußte, um das Geld zu erlangen.

Über die wissentliche Beteiligung der Mitglieder der Gruppe Generalstab und des Oberkommandos an der Planung und dem Beginn des Angriffs selbst bestehen keine Meinungsverschiedenheiten. Brauchitsch hat die Entwicklung der Pläne und deren Weiterleitung an die Frontoberbefehlshaber zur Begutachtung geschildert. Wir wissen aus seinen eigenen Aussagen und Dokumenten aus jener Zeit, daß Blaskowitz, einer der Frontoberbefehlshaber, die Pläne für den Angriff im Juni erhalten und dann in Zusammenarbeit mit der Heeresgruppe und dem OKH vervollkommnet hat. Rundstedts Chef des Stabes erhielt die Pläne, und es unterliegt keinem Zweifel, daß alle anderen Oberbefehlshaber sie ebenfalls erhalten haben. Eine Woche vor dem Angriff trafen sich alle Mitglieder der Gruppe auf dem Obersalzberg zur Entgegennahme ihrer endgültigen Instruktionen.

Als der Krieg sich über andere Länder und schließlich über den ganzen europäischen Kontinent ausgebreitet hatte, wuchs die Wehrmacht, und zahlreiche weitere Heeresgruppen, Armeen, Luftflotten und Marinedienststellen wurden geschaffen, und die Mitgliederzahl der Gruppe vergrößerte sich dementsprechend. Alle drei Wehrmachtsteile beteiligten sich an dem Angriff auf Norwegen und Dänemark, der eine ausgezeichnete Demonstration »kombinierter Operationen« war und engste gemeinsame Planung und Zusammenarbeit der drei Wehrmachtsteile erforderte. Die dem Tribunal vorliegenden Dokumente zeigen, daß diese Operation ein Geisteskind der deutschen Admirale war; der Vorschlag stammte von Raeder und anderen Angehörigen der Marine in der Gruppe und wurde nach Einholung von Hitlers Zustimmung durch das OKW weiter entwickelt. Zahlreiche Mitglieder der Gruppe beteiligten sich an den Plänen hierfür und an deren Ausführung. Die Aussagen mehrerer Heeresbefehlshaber, daß sie vorher nichts von dem Angriff gewußt hätten, ist nicht erstaunlich, da das OKH und die Oberbefehlshaber des Heeres mit den Plänen für den viel größeren Angriff auf die Niederlande und Frankreich vollauf in Anspruch genommen waren. Nur einige wenige deutsche Divisionen wurden in Norwegen und Dänemark eingesetzt, und da es eine »kombinierte Operation« war, wurden die Pläne im OKW entwickelt und nicht im OKH.

Dr. Laternsers Entschuldigung für den Angriff auf Norwegen, die dahin geht, daß es eine Präventivmaßnahme gegen einen englischen Einfall gewesen sei, könnte bei oberflächlicher Betrachtung angenommen werden, wenn irgendein Beweis dafür vorhanden wäre, daß der Überfall auf Norwegen einem Notstand begegnen sollte; aber im Hinblick auf Dokumente ist dies ganz und gar [320] willkürlich und unglaubhaft; angesichts von Dokumenten, die zeigen, daß die Invasion Norwegens schon seit Oktober 1939 erörtert wurde, daß aktive Vorbereitungen bereits im Dezember begannen, daß Hitler am 14. März immer noch zögerte, den Befehl zum Angriff zu geben, da er immer noch eine »Begründung« suchte und daß während all der Wochen vor dem Angriff auf Norwegen Erörterungen innerhalb der Generalstabsgruppe stattgefunden haben, ob es nicht vorzuziehen wäre, die Westoffensive gegen Frankreich und die Niederlande vor dem Norwegenunternehmen einzuleiten, 1809-PS, GB-88, besonders die Eintragung vom 13. März 1940. Was den Hauptangriff im Westen anlangt, so ergibt sich aus den Aussagen der Zeugen für die Verteidigung, daß Hitler im Herbst 1939 angreifen wollte und daß Brauchitsch und andere Generale ihn überredeten, den Angriff bis zum Frühjahr 1940 aufzuschieben. Dieser Aufschub zeigt in der Tat, daß die Generale beträchtlichen Einfluß auf Hitler hatten, aber dürfte den späteren Angriff damit nicht entschuldigen. Mit Anbruch des Frühjahrs 1940 war Manstein zufolge »der Angriff im Westen, vom soldatischen Standpunkt aus gesehen, durchaus unvermeidlich«. Es findet sich kein Beweis dafür, daß auch nur ein einziger deutscher Befehlshaber gegen die schamlose und rücksichtslose Verletzung der Neutralität der Niederlande Protest erhoben oder sich ihr widersetzt hätte.

Die Erklärungen der Verteidigung zu den Verbrechen gegen den Frieden sind gezwungen und unwahrscheinlich und stehen auch im Widerspruch sowohl zu den dem Gerichtshof vorliegenden Dokumenten als auch zu den historischen Vorgängen der in Frage kommenden Jahre. Es ist auch nicht wahr, daß die militärischen Führer nur Marionetten ohne Einfluß auf Hitler oder den Lauf der Ereignisse gewesen wären. Natürlich gab es Meinungsverschiedenheiten nicht nur zwischen Hitler und der Wehrmacht, sondern auch innerhalb der Wehrmacht selbst. Wenn Hitler manchmal die Oberhand behielt, so hatte sie ein anderes Mal die Wehrmacht, sei es, daß es darum ging, die Offensive im Westen aufzuschieben oder den Angriff auf Dänemark und Norwegen zu beginnen. Trotz des Versuchs, das Gegenteil vorzutäuschen, war Hitler nicht so dumm, zur Handlung zu schreiten, ohne sich militärischen Rat zunutze zu machen. Man braucht nur Hitlers Anweisung vom 12. November 1940 an die militärischen Führer zu lesen, die er nach der erfolgreichen Beendigung der Westoffensive verfaßt hat und in der er sehr vorsichtig seine künftigen Pläne in Frankreich und eine eventuelle Offensive in Spanien erwägt: ob Madeira und die Azoren besetzt werden sollten, welche Hilfe den Italienern in Nordafrika geleistet werden sollte, was man in Griechenland und den Balkanländern erreichen könnte, was die Zukunft in Bezug auf die Sowjetunion bringen [321] könnte und ob die Invasion Englands im Frühjahr 1941 stattfinden solle. Hitler schloß mit den Worten:

»Berichten der Herren Oberbefehlshaber zu den in dieser Weisung vorgesehenen Maßnahmen sehe ich entgegen. Die Art der Durchführung, sowie die zeitliche Übereinstimmung der einzelnen Aktionen werde ich sodann befehlen.« (444-PS.)

Nein, die Führer der Wehrmacht waren keine Marionetten. Ebenso wie die Generale die Möglichkeit zum Wiederaufbau der Wehrmacht Hitler und den Nazis zu verdanken hatten, war Hitler andererseits für die Durchführung seiner Pläne tatsächlich vollkommen von den Generalen abhängig. Brauchitsch hat darauf hingewiesen daß »die Durchführung der Befehle, die dem Heer und den Heeresgruppen erteilt wurden, solche weitgehende Kenntnis von militärischen Angelegenheiten und solche Fähigkeiten und psychologisches Verständnis voraussetzten, daß nur eine geringe Anzahl von Männern tatsächlich in der Lage waren, diese Befehle durchzuführen«. Und es ist bemerkenswert, daß trotz einer in der Tat bestehenden natürlichen Spannung zwischen den höheren Offizieren und einem ehemaligen Gefreiten Hitler bis Juli des Jahres 1944 seine Oberbefehlshaber niemals außerhalb der Reihen des Heeres gesucht hat. Diese begehrte Würde wurde selbst während der letzten verzweifelten Monate nur von vier Außenseitern, Himmler selbst und drei anderen Offizieren der Waffen-SS, erreicht.

Die Wehrmacht, die sich wie ein Schwarm über den Kontinent von Europa ausgebreitet hat, ist auch nicht von widerstrebenden Männern geführt worden. Diese Angriffskriege wurden von Männern, die die Macht der Waffen anbeteten und die Hegemonie Deutschlands auszudehnen wünschten, entfacht und geführt. Letzten Endes ist dies der Grund, weshalb die Nazis und die Führer der Wehrmacht dem Dritten Reich in Einigkeit gedient haben. Ich darf die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs noch einmal auf die Denkschrift Admiral Frickes vom Juni 1940 lenken:

»Es ist allzu bekannt, als daß es noch weiter erwähnt werden müßte, daß die heutige Lage Deutschlands in der Enge der Deutschen Bucht und der durch eine Reihe von Staaten umgrenzten und beeinflußten Ostsee ein für die Zukunft Großdeutschlands unmöglicher Zustand ist...

Die Stärke Großdeutschlands sollte sich in den von ihm durch diesen Krieg gewonnenen strategischen Räumen so auswirken, daß die bisher in diesen Räumen lebenden Völker sich politisch, wirtschaftlich und militärisch in völliger Abhängigkeit von Deutschland fühlen und befinden. Wird es erreicht, durch die militärischen Maßnahmen der Besetzung im Kriege eine Raumerweiterung vorzunehmen in dem Umfange, auf den ich noch kommen werde, wird es weiter [322] erreicht, daß Frankreich in seiner Wehrkraft (Volkskörper, Bodenschätze, Industrie, Wehrmacht) so zerschlagen wird, daß ein Wiedererheben als ausgeschlossen bezeichnet werden muß, wird es weiterhin erreicht, daß die kleineren Staaten, wie Niederlande, Dänemark, Norwegen, in eine Abhängigkeit von uns gezwungen werden, die uns in jedem Falle und zu jeder Zeit eine erneute leichte Besetzung dieser Länder ermöglicht, dann ist praktisch dasselbe, psychologisch wesentlich mehr erreicht.

Die Lösung... erscheint daher... Zerschlagen Frankreichs, Besetzen Belgiens, eines Teiles Nord- und Ostfrankreichs, Bestehenlassen der Niederlande, Dänemarks und Norwegens in dem bezeichneten Sinne.« (C-41.)

Trotz solcher Dokumente haben wir die Generale immer und immer wieder sagen hören, daß sie nicht darüber unterrichtet wurden, was vor sich ging und daß sie von diesen Ereignissen zum erstenmal durch den Rundfunk gehört hätten. Immer und immer wieder behaupteten sie, daß sie über gewisse Vorgänge vor ihrer Inhaftierung im Nürnberger Gefängnis niemals etwas gehört hätten. Militärische Persönlichkeiten wie auch viele andere in diesem Prozeß haben sich nicht gescheut, die Verantwortung für Dinge, die sie nicht bestreiten oder umgehen können, auf die Schultern von ein oder zwei Personen zu laden, die sie als Sonderlinge und nicht als Vertreter dieser Gruppe darzustellen versuchen. Die einzige Gemeinsamkeit bei diesen Sündenböcken ist die Tatsache, daß sie alle tot sind. Der tote Reichenau soll die Schuld mit den anderen Toten, die nicht mehr sprechen können – Hitler, Himmler, Dr. Rascher und den anderen – teilen. Eine solche Verteidigung ist verächtlich und vollkommen unglaubwürdig. Die Welt wird ihr niemals Glauben schenken.

Keine Gruppe von Männern hatte mehr Anteil an den Dingen, die in und um Deutschland während der Vorkriegsjahre vor sich gingen als die militärischen Führer. Sie sagen jetzt, sie hätten weder von diesen Dingen gewußt, noch wissen wollen, noch hätten sie von ihnen wissen müssen. Wenn diese Aussage der Wahrheit entspricht, dann sind diese Menschen durchaus einzig in ihrer Art, denn fast die ganze Welt hat irgend etwas von diesen Dingen gehört. Es ist eine der hervorstechendsten Seiten dieses Prozesses, daß an Stelle einer Reihe erstaunlicher Enthüllungen lediglich die hier zusammengetragenen Dokumente und die hierfür geopferte Arbeit zur Bestätigung dessen gedient haben, was bereits viele Jahre hindurch in der Welt bekannt war oder vermutet wurde. Ich kann nicht annehmen, daß jemand jemals den Standpunkt teilen wird, den die militärischen Führer hier, durch die Umstände gezwungen, vorgetragen haben, um sich von dem Schandfleck rein zu waschen, der zu groß ist, um ausgelöscht zu werden.

[323] Die Verbrechen gegen den Frieden, an denen der Generalstab und die Gruppe des OKW teilnahmen, haben zwangsläufig zu den darauffolgenden Kriegsverbrechen geführt. Ohne die Teilnahme dieser Gruppe an Verbrechen gegen den Frieden hätte es keine Kriegsverbrechen gegeben. Damit wird nicht das Thema gewechselt, sondern der unvermeidliche Kausalnexus veranlaßt uns, die Methoden zu betrachten, deren sich die Wehrmacht bei der Führung der von ihr begonnenen Kriege bediente.

Selbstverständlich behaupten wir nicht, daß die Hände jedes deutschen Soldaten in unschuldiges Blut getaucht wurden oder daß jeder deutsche Befehlshaber die Regeln des Krieges und die Gesetze des Anstandes mißachtet habe. Wohl aber behaupten wir, daß die Art und der Umfang der von den Spitzen der Wehrmacht angeordneten und danach in vielen Ländern Europas verübten Greuel eine bewußt in Rechnung gestellte Gleichgültigkeit dieser militärischen Führer gegenüber der Begehung von Verbrechen zeigen und beweisen.

Unbestrittene Tatsache ist, daß das Oberkommando der Wehrmacht auf Weisung seines Oberbefehlshabers Hitler verschiedene Befehle erlassen hat, die offenkundig den Regeln des Krieges widersprachen. Hierzu gehörten die Befehle über die Erschießung von Kommandos und politischen Kommissaren, die Befehle zur »Befriedung« der besetzten Gebiete der Sowjetunion mittels Verbreitung von Terror und andere. Die Verteidigung bestreitet die Tatsache der Erteilung solcher Befehle nicht, noch bestreitet sie deren verbrecherischen Charakter, noch kann sie ihn bestreiten. Vielmehr ist uns erzählt worden, daß die deutschen Befehlshaber anständige Soldaten gewesen seien, daß sie diese Befehle nicht gebilligt hatten, daß sie das stillschweigende Übereinkommen getroffen hätten, sie nicht zu befolgen und daß sie nicht zur Ausführung gekommen wären.

Lassen Sie uns nun diese Art der Verteidigung an Hand der Tatsachen im Falle des Kommandobefehls nachprüfen. Der ursprüngliche Befehl und die anderen einschlägigen Dokumente liegen vor. Im Oktober 1942 befahl Hitler, daß feindliche Kommandos bis auf den letzten Mann niedergemetzelt werden sollten; sogar wenn sie sich übergaben, sollten sie sofort erschossen werden, es sei denn, daß ein Verhör nötig wäre; in diesem Falle sollten sie nachher erschossen werden. Der Befehl war kein Verbrechensakt ohne einen Zweck; alliierte Kommandounternehmungen fügten dem deutschen Kriegseinsatz schweren Schaden zu, und Hitler glaubte, daß dieser Befehl abschreckend wirken würde.

Der Befehl wurde vom OKW erlassen und an alle drei Wehrmachtsteile – Heer, Marine und Luftwaffe – weitergeleitet. Es liegen mehr als genügend Beweise vor, daß er in weitgehendem Maße durchgegeben und innerhalb der Wehrmacht wohlbekannt [324] war. Rundstedt, der Oberbefehlshaber West, berichtet am 23. Juni 1944, daß »bis jetzt die Behandlung feindlicher Kommandogruppen« – dem, Hitler-Befehl entsprechend – »erfolgt ist«. Zwei Jahre später und unter anderen Umständen bekundete Rundstedt, daß er den Befehl »umgangen« und »sabotiert« habe und daß er nicht ausgeführt worden sei. Aber aus den Dokumenten wissen wir, daß er doch ausgeführt worden ist. Auf Grund dieses Befehls wurden britische und norwegische Kommandos 1942 und 1943 in Norwegen hingerichtet, amerikanische Kommandos wurden in Italien 1944 erschossen; alliierte Soldaten wurden 1945 in der Slowakei hingerichtet. Und nach Lage der Tatsachen muß dieser Befehl noch in anderen Fällen, von denen jetzt leider keine Spur mehr zeugt, ausgeführt worden sein.

Was bleibt im Lichte dieser Dokumente noch von der Verteidigung übrig? Im allergünstigsten Falle ist der Befehl wegen Mißbilligung durch einige höhere Offiziere nicht so häufig, wie es sonst der Fall gewesen wäre, befolgt worden. Aber diese Art der Verteidigung ist schlimmer als wertlos, sie ist schändlich.

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Tötung eines wehrlosen Kriegsgefangenen nicht allein eine Verletzung der Kriegsregeln darstellt. Sie ist Mord. Und Mord bleibt Mord, ob es sich nun um ein einziges oder fünfundfünfzigstes (dies ist nach den Dokumenten die Anzahl der niedergemetzelten Kommandos) oder Ohlendorfs neunzigtausendstes Opfer handelt. In diesem Prozeß hat sich Verbrechen auf Verbrechen gehäuft, bis wir in die Gefahr geraten waren, den Sinn für Proportionen zu verlieren. Wir haben derart viel von Massenausrottung gehört, daß wir nahe daran sind zu vergessen, daß bereits einfacher Mord ein Kapitalverbrechen ist und bleibt.

Die Gesetze aller Kulturvölker verlangen, daß jeder sein möglichstes tut, um jede Verquickung mit einem Mord, sei es nun als Mittäter, als Gehilfe oder als Mitverschwörer zu vermeiden. Und diese Forderungen können billigerweise auf die deutschen militärischen Führer angewendet werden. Vor diesem Gerichtshof haben sie viel auf ihre Überlieferungen hinsichtlich Ehre, Anstand, Tapferkeit und Ritterlichkeit gepocht.

Nach deutschem Militärrecht macht sich ein Untergebener strafbar, wenn er den Befehl eines Vorgesetzten befolgt, falls der Untergebene weiß, daß der Befehl die Begehung eines allgemeinen oder militärischen Verbrechens verlangt. Der Kommandobefehl erforderte die Begehung eines Mordes, und jeder deutsche Offizier, der mit dem Befehl zu tun hatte, wußte dies ganz genau.

Als Hitler den Erlaß dieses Befehls angeordnet hat, war es den Spitzen der Wehrmacht bekannt, daß damit die Begehung von Morden gefordert wurde. Die Verantwortlichkeit für die Lösung dieser Frage lag durchaus bei der in der Anklageschrift bezeichneten[325] Gruppe. Die Chefs der OKW, OKH, OKL und OKM hatten zu entscheiden, ob sie es ablehnen sollten, einen verbrecherischen Befehl zu erlassen oder aber, ob sie einen solchen den Oberbefehlshabern im Felde weiterleiten wollten. Die Frontbefehlshaber beim Heer, der Marine und der Luftwaffe hatten zu entscheiden, ob sie den Befehl ausführen oder die Ausführung verweigern sollten, oder ob sie ihn an ihre Untergebenen weitergeben sollten.

Man kann sich vorstellen, daß es viele Zusammenkünfte und Ferngespräche zwischen verschiedenen Angehörigen der Gruppe zur Besprechung dieser Angelegenheit gegeben hat. Es liegt kein Beweis dafür vor, daß auch nur ein einziges Mitglied der Gruppe offen protestiert oder seine Weigerung, den Befehl auszuführen, kundgegeben hat. Im allgemeinen war das Ergebnis, daß der Befehl einem großen Teil der Wehrmacht bekanntgegeben wurde. Dies brachte die untergeordneten Kommandeure in dieselbe Lage wie ihre Vorgesetzten. Es ist behauptet worden, einige Generale seien stillschweigend übereingekommen, den Befehl nicht auszuführen. Wenn das der Fall gewesen ist, so war dies ein armseliger und wertloser Kompromiß. Indem sie den Befehl mit »geheimen« oder »stillschweigenden« Vorbehalten weitergaben, dehnten die Oberbefehlshaber die Verantwortlichkeit nur aus und beraubten sich selbst jeder wirksamen Kontrolle über die Lage. Eine stillschweigende Übereinkunft, dem Befehl nicht zu gehorchen, kann keiner derartig weitläufigen Verbreitung unterliegen. Als unvermeidliches und durch die Dokumente bewiesenes Ergebnis ist die Durchführung des Befehls und die Ermordung unschuldiger Menschen Wirklichkeit geworden.

General Dostler wurde vor Gericht gestellt, verurteilt und erschossen, weil er für die Durchführung des Kommandobefehls verantwortlich war. Für dasselbe Verbrechen steht jetzt General Falkenhorst vor Gericht und erwartet sein Todesurteil. Aber Falkenhorst und Dostler teilen sich in die Verantwortung für diese Morde mit jedem deutschen Oberbefehlshaber in der Heimat und im Felde, mit dessen Zustimmung dieser Befehl als legales Vorgehen der Wehrmacht anerkannt wurde und der an seiner Weitergabe beteiligt war.

Ich behaupte, daß allein auf Grund dieses Anklagepunktes die Gruppe Generalstab und Oberkommando der unmittelbaren, wirksamen und wissentlichen Teilnahme an der Begehung von Kriegsverbrechen überführt ist.

An der Ostfront zeitigte die rohe Gleichgültigkeit der deutschen Kriegsherren gegenüber Verletzungen des Kriegsrechts und gegenüber Massenleiden und Massensterben Ergebnisse, die genauso strafwürdig und, da sie in weit größerem Maßstabe vorkamen, weit furchtbarer waren. Seitens der Wehrmacht und anderer Stellen des [326] Dritten Reiches wurden im Osten Greueltaten von solch überwältigendem Umfang begangen, daß sie das Begriffsvermögen übersteigen. Warum geschahen all diese Dinge? Die Untersuchung wird, wie ich glaube, nicht nur Wahnsinn und Blutgier als Triebfedern zeigen. Im Gegenteil, in all dem ist Methode und Zweck zu finden. Diese Greueltaten waren das Ergebnis wohlüberlegter, vor oder während des Angriffs auf die Sowjetunion erteilter Befehle und Richtlinien, die ein zusammenhängendes, folgerichtiges Bild ergeben.

Es ist hier nicht am Platze, die Gründe zu erwägen, die Hitler im Herbst 1940 veranlaßt haben, einen Angriff auf die Sowjetunion ernstlich ins Auge zu fassen. Wir wissen aber, daß er von September 1940 an dauernd diese Möglichkeit mit den militärischen Führern besprochen hat und daß dieselben reichlich Gelegenheit hatten, ihre Ansichten Hitler zu unterbreiten. Wir wissen, daß die Meinungen der Generalität und Admiralität geteilt waren; keiner von ihnen schien allzuviel moralische Skrupel gehabt zu haben, aber einige hielten den Angriff für unnötig, und andere zweifelten daran, ob ein rascher Sieg möglich sei. Andere dagegen stimmten Hitlers Ansicht über die Auslösung des Angriffs bei. Es liegt keinerlei Beweis dafür vor, daß, als sich später Hitler nach Rücksprache mit der militärischen Führerschaft und unterstützt von einem Teil derselben zum Angriff entschloß, irgendein führender General diesen Entschluß entschieden bekämpft habe. Sie alle begannen den Krieg mit der äußersten Entschlossenheit, ihn zu einem siegreichen Abschluß zu bringen.

Welcher Art nun immer die Beweggründe des Angriffs gewesen sein mögen – ein Faktor wurde, nachdem die Entscheidung einmal gefallen war, zur lebenswichtigen Zielrichtung des Angriffs: Dies war, weite Gebiete der Sowjetunion zu besetzen und zum materiellen Nutzen Deutschlands auszubeuten. Um dies zu erreichen, war es wünschenswert, so rasch wie möglich und mit einem Mindestaufwand an Menschen und Material zu »befrieden« und jede Opposition zu zerschlagen, das sowjetische, politische System zu liquidieren und neue regionale politische Verwaltungen unter deutscher Kontrolle einzusetzen, sowie die Produktionskraft dieser Gebiete zu verbessern und zu vergrößern und dem Nutzen des Dritten Reiches dienstbar zu machen.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen.


[Pause von 10 Minuten.]


OBERST TAYLOR: Herr Präsident! Vor der Pause habe ich das Programm für die Ausbeutung und die Befriedung der besetzten Ostgebiete beschrieben.

Hitler hatte eine sehr genaue Vorstellung über die Art der Durchführung dieses Programms, und diese fand teilweise ihren [327] Ausdruck in der Reihe von Richtlinien und Befehlen, mit denen der Gerichtshof nunmehr vertraut ist. Einige dieser Befehle sollten unmittelbar durch die Wehrmacht, andere durch andere Organe des Reiches, aber in Zusammenarbeit und mit Unterstützung der Wehrmacht, ausgeführt werden.

Nach Rücksprache zwischen Hitler und Brauchitsch erteilte das OKW den Befehl vom 22. Juli 1941 für schnelle und wirtschaftliche »Befriedung« der besetzten Gebiete; darin wurden die Oberbefehlshaber angewiesen, für Sicherheit zu sorgen, und zwar nicht durch die Verurteilung der Schuldigen vor Gericht, sondern durch Verbreitung eines Terrors, »dessen bloße Existenz genügte, um jeden Widerstandswillen der Bevölkerung zu unterdrücken«. Zum selben Zweck erließ das OKW den Befehl vom 13. Mai 1941, der die Bestrafung von Vergehen feindlicher Zivilpersonen durch Kriegsgerichte aufhob und anordnete, daß die Truppe selbst durch »rücksichtsloses Vorgehen«, jene ins Extrem gesteigerten Methoden und durch »kollektive Gewaltmaßnahmen« gegen Ortschaften für Befriedung zu sorgen hatte. In Fortführung dieser ungeheuerlichen Politik wurde angeordnet, daß deutsche Truppen, die Übergriffe gegenüber sowjetischen Zivilpersonen begingen, in keiner Weise bestraft werden sollten, es sei denn, daß eine Bestrafung zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Sicherheit oder zur Vermeidung der Vergeudung von Lebensmitteln oder Material erforderlich werden sollte. Jeder Offizier an der Ostfront sei rasch und ausdrücklich anzuweisen, in Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen zu handeln. Der Ton des Befehls war auf eine Aufhetzung der Offiziere und Mannschaften zu erbärmlichstem Verhalten abgestimmt.

Aus diesen zwei Befehlen können wir die Grundelemente dieses empörenden Bildes entnehmen. Genauer gesagt, erwartete Hitler von seiten der Offiziere und Agenten der Sowjetunion und von seiten aller Juden einen besonders hartnäckigen Widerstand gegenüber seiner neuen Rußlandpolitik. Er entschied sich dahin, diese Elemente vollkommen auszurotten, da sie sonst ein ständiger Mittelpunkt des Widerstandes in den besetzten Gebieten bleiben würden.

Zur Unterstützung dieser Politik des Massenmordes gab das OKW Befehl, alle politischen Kommissare, die in Gefangenschaft geraten sollten, umzubringen. Dieser Befehl forderte, übereinstimmend mit dem Kommandobefehl, den Mord an wehrlosen Kriegsgefangenen. Auch in diesem Falle verhielten sich die militärischen Führer in eben derselben Weise. Nicht ein Oberbefehlshaber erhob offen. Widerspruch und erklärte, daß er sich weigere, den Befehl auszuführen. Einige Befehlshaber mögen sich geweigert haben, den Befehl an die Truppe weiterzuleiten, aber der Befehl wurde über die gesamte Ostfront verteilt und war dort wohlbekannt. Wie bei dem Kommandobefehl wird uns gesagt, er sei auf Grund stillschweigenden Übereinkommens der Befehlshaber nicht ausgeführt worden. [328] Als Beweis für diese Behauptung wird angeführt, daß besonders genannte Kommandeure oder sonstige Offiziere niemals persönlich von einem Fall gehört hätten, in dem ein gefangener Kommissar erschossen wurde. Wir können einige dieser Aussagen als wahr hinnehmen, aber es ist nichtsdestoweniger in Anbetracht der weiten Verbreitung des Befehls und der planmäßigen Verrohung des deutschen Soldaten durch derartige Befehle und Anordnungen, wie sie Reichenau und Manstein den ihnen unterstellten Truppen erteilten, vollkommen unglaubhaft, daß der Kommissarbefehl nicht in vielen Fällen befolgt wurde. Er muß ausgeführt worden sein.

Die Politik der Massenausrottung wurde durch den OKW-Befehl vom 16. September 1941 von den Kommissaren auf alle Kommunisten ausgedehnt. Durch diesen Befehl wurde angeordnet, daß alle Fälle von Widerstand gegen die Wehrmacht ohne Rücksicht auf die Umstände den Kommunisten zugeschrieben werden sollten und daß die »Todesstrafe« für 50 bis 100 Kommunisten allgemein als entsprechende Sühne für das Leben eines deutschen Soldaten angesehen werden solle.

Terrorisierung und Ausbeutung des russischen Landes und Ausrottung der unerwünschten Elemente konnten offensichtlich von der Wehrmacht allein nicht durchgeführt werden.

Viele andere Organisationen des Dritten Reiches hatten einen bedeutenden Anteil an diesem großangelegten furchtbaren Programm. Unter diesen anderen Organisationen waren vielleicht die schlimmsten die Sondergruppen Himmlers, die als Einsatzgruppen und Einsatzkommandos bekannt waren. Die Aufgabe dieser Einheiten bestand darin, bei der »Befriedung« mitzuwirken und für das neue politische Regime den Weg zu bahnen, indem sie den Widerstand beseitigen und insbesondere Kommunisten und Juden abschlachteten. Wir wissen sowohl aus Originalurkunden als auch aus dem Geständnis eines Führers einer dieser Einheiten, mit welch schrecklicher Genauigkeit sie ihren Auftrag zur Durchführung brachten.

Die Einsatzgruppen erhielten ihre besonderen Aufträge von Himmler. Wenn diese Aufträge sich den militärischen Unternehmungen einfügen oder sie zumindest nicht beeinträchtigen sollten, konnten diese Einheiten jedoch nicht ohne Verwaltung, Verpflegung, Verkehrsmittel und ohne genügend Kontrolle von seiten der Armee in Front und rückwärtigen Gebieten eroberter Länder einfach losgeschickt werden. Die Verteidigung hat keine Mühe gescheut, diese klare Tatsache zu verschleiern, aber jeder Soldat, ja jeder, der dieser Sache einen Augenblick Überlegung schenkt, muß sie als wahr anerkennen.

Und das geht klar aus den Dokumenten hervor. Der OKW-Erlaß für besondere Gebiete vom 13. März 1941 sah vor, daß Himmler [329] diese Einheiten in Operationsgebiete senden konnte, um dort »Sonderaufgaben für die Vorbereitung der politischen Verwaltung, Aufgaben, die sich aus dem unvermeidlichen Kampf zweier einander entgegengesetzter politischer Systeme ergeben«, auszuführen. Es wird darin sorgfältig dargetan, daß durch die Ausführung der Aufgaben Himmlers militärische Operationen nicht gestört werden durften und daß die Einheiten dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht des betreffenden Operationsgebietes unterstanden. Quartier und Verpflegung der Himmler-Einheiten sollten von der Wehrmacht gestellt werden. Es wurde angewiesen, daß weitere Einzelheiten vom OKH und Himmler gemeinsam festgelegt werden sollten. Brauchitsch hat bestätigt, daß in der Folge die Einzelheiten in einer Besprechung zwischen Heydrich und General Wagner vom OKH festgesetzt wurden, und Schellenberg, der das Übereinkommen entwarf, hat diesen Inhalt beschrieben.

Diese berüchtigte Bande von Mördern wurde, kurz gesagt, von der Wehrmacht mit Quartier versehen und verpflegt und wäre ohne die Unterstützung der Wehrmacht hilflos gewesen. Die Zeugenaussagen einiger deutscher Generale, daß diese Tötungen von Tausenden und aber Tausenden ohne ihr Mitwissen stattgefunden hätten, würden zum Lachen reizen, wäre nicht die Wahrheit derart düster und ekelerregend. Ein militärisches Gebiet, auch wenn es weit hinter der Front liegt, ist nicht eine Wüste, in der man ungestört kreuz und quer umherwandern kann. Es ist ein wahrhaftiger Irrgarten von rückwärtigen Dienststellen, Transporteinheiten, Munitionslagern, Verpflegungsämtern, Nachrichten-Dienststellen, Lazaretten, Treibstofflagern, Eisenbahnwachen und Kriegsgefangenenlagern, Flak-Batterien, Flugplätzen, Pioniereinheiten. Werkstatteinheiten, Kraftfahrparks und tausendundein anderer Truppen, die die Ausgangsstellungen und Verbindungswege eines im Felde stehenden Heeres zu versorgen hat. Das reibungslose Funktionieren dieses ausgedehnten und verwickelten Apparates ist für den Erfolg der Kampftruppe lebenswichtig. Das weiß auch der Feind und ist darauf bedacht, ihn zu stören und durch Sabotagegruppen, Agenten und Partisanen Auskünfte über ihn zu bekommen. Daher bewachen die Besatzungstruppen ihre Einrichtungen, patrouillieren auf Straßen und Eisenbahnlinien und legen Truppen in die Bevölkerungszentren. Durchreisende, gleichviel in welcher Uniform, werden angehalten, ausgefragt und aufgefordert, sich auszuweisen. Diese Etappentruppen kommen in enge Verbindung mit der Zivilbevölkerung und wissen, was unter ihr vorgeht. Militärpolizei und Abwehreinheiten versehen in diesem Gebiet Polizeidienst und berichten über die angetroffenen Zustände an übergeordnete Stäbe.

Außerdem hat ein Oberbefehlshaber im Felde ungern in größerem Umfang selbständige Einheiten in seinem Gebiet, die unter [330] Sonderbefehl von der Heimat aus stehen. Dies trifft besonders zu, wenn, wie in diesem Falle, die Einheiten als Untergebene Himmlers kamen, den die deutschen Generale angeblich für ihren Feind hielten, der bestrebt war, ihre Macht und Stellung an sich zu reißen. Die Vorstellung, daß Himmlers Ausrottungskommandos durch Rußland flitzen und dabei in großem Maßstab im geheimen und ohne Wissen der Wehrmacht Juden und Kommunisten ermordeten, ist völlig albern – es ist die verzweifelte Ausflucht von Männern, denen nichts anderes übrig bleibt, als die Unwahrheit zu sagen.

Betrachten wir noch einmal den Plan als Ganzes. Der größte Teil war in klarem Deutsch zu Papier gebracht, bevor der Angriff auf Rußland begonnen wurde: Terrorisiert die Bevölkerung, laßt Gewaltakte und Roheiten von seiten der deutschen Truppen ungesühnt, tötet die Kommissare, tötet 100 Kommunisten, wo immer sich ein Vorwand findet, schafft Platz für Himmlers Kommandos, die eingesetzt sind für »Aufgaben, die sich aus dem zwischen den beiden feindlichen politischen Systemen auszutragenden Kampf ergeben«, verpflegt sie und verschafft ihnen Quartier. Und das politische System, für das die Oberbefehlshaber kämpften, hatte bereits seit Jahren Kommunisten und Juden hingemordet und brüstete sich damit.

Die deutschen Generale waren nicht so dumm, diesen Plan nicht zu begreifen. Jedenfalls war er ihnen auch noch erklärt worden. Die Anweisung des OKW, durch die die Kriegsgerichte aufgehoben wurden, schloß mit einer Weisung an die militärischen Führer, ihre Rechtsberater von den mündlichen Mitteilungen zu unterrichten, in denen den Oberbefehlshabern die politischen Absichten des Oberkommandos erläutert worden sind. Bei oder vor dem Angriff belehrte der Angeklagte Rosenberg Keitel, Jodl, Warlimont, Brauchitsch und Raeder über seine »politische und historische Auffassung des Ostproblems«. Nach Aussagen Brauchitschs erklärte Hitler den ideologischen Charakter des Krieges allen seinen Oberbefehlshabern in einer Konferenz, die zur Zeit, als der Kommissarbefehl herauskam, abgehalten wurde. Die eidesstattlichen Erklärungen der Generale Röttiger, Rhode und Heusinger bestätigen den naheliegenden Schluß, daß der ganze Plan der »Befriedung« von allen deutschen militärischen Führern klar verstanden worden war.

Eine durch verbrecherische Befehle und Irrlehren demoralisierte und brutalisierte Armee wird sich in Fällen, in denen sie keine bestimmten Befehle hat, brutal benehmen. Ich habe zum Beispiel keinen schriftlichen Befehl gesehen, nach dem Sowjetgefangene, die marschunfähig waren, erschossen werden sollten. Ich bin bereit zu glauben, daß einige deutsche Generale die Gefangenen so gut behandelten, wie sie konnten. Doch ich finde auch die Klage des jungen deutschen Leutnants überzeugend, daß alle Anstrengungen, [331] die Ukraine zu befrieden und auszubeuten, zum Scheitern gebracht würden, weil »das Erschießen von Gefangenen, die nicht mehr weiterlaufen könnten, mitten in Dörfern und größeren Ortschaften und das Liegenlassen der Leichen Tatsachen sind, die die Bevölkerung nicht verstanden hat und die die schlimmsten Zerrbilder der Feindpropaganda bestätigten.«

Aus den gleichen Gründen wurde die Bekämpfung der Partisanen auf brutale Weise und unter ungeheuren Verlusten für die unschuldige Bevölkerung durchgeführt. Da die Divisionen der deutschen Armee von der Ostfront an die Westfront und umgekehrt verlegt wurden, breitete sich die Kampfesweise von einer Front zur anderen aus. Das Gemetzel von Cherson und Kowno spiegelte sich in dem Blutbad von Malmédy und Oradour wider. Die deutsche Armee war durch ihre Führung demoralisiert worden. Ich erinnere den Gerichtshof daran, daß ein hoher deutscher Militärrichter schon im Jahre 1939 einem SS-Offizier, der ohne jeden Grund 50 Juden in einer polnischen Synagoge erschossen hatte, »mildernde Umstände« zubilligte, weil er »als SS-Mann in besonderem Maße beim Anblick der Juden die deutschfeindliche Einstellung des Judentums empfunden, daher in jugendlichem Draufgängertum völlig unüberlegt gehandelt hatte.«

Man muß sich die Bemerkung des Obergruppenführers Bach-Zelewski vor diesem Gerichtshof ins Gedächtnis rufen, der ausführte, daß »eine solche Explosion unausbleiblich ist, wenn man durch Jahre und Jahrzehnte die Lehren predigt, daß die slawische Rasse minderwertig ist und die Juden überhaupt keine Menschen sind«.

Die Verteidigung auf diese Anklagen ist die gleiche wie in dem Fall des Kommandobefehls. Eine große Anzahl eidesstattlicher Versicherungen von einzelnen Oberbefehlshabern und ihnen unterstellten Offizieren sind vorgelegt worden, in denen sie ihren Abscheu über diese Befehle zum Ausdruck bringen und versichern, sie nicht ausgeführt zu haben. Wiederum hören wir von stillschweigenden Übereinkünften und dies sogar angesichts von Beweisen für das Gemetzel, das die Befehle hervorgerufen haben. Der Atem stockt einem, wenn man eine derartige Verteidigung, offensichtlich ohne Scham, vortragen hört.

Noch einmal sage ich, daß die Verantwortung eindeutig auf der in der Anklageschrift bezeichneten Gruppe lastet. Keitel, Jodl, Brauchitsch, Göring und ihre Kollegen, die im Brennpunkt des Geschehens standen, gaben diese niederträchtigen Befehle aus, deren verbrecherischen Charakter jedes Kind erkennen konnte. Kleist, Kluge, Rundstedt, Reichenau, Schobert, Manstein und andere Oberbefehlshaber gaben sie an die ihnen unterstellten Offiziere weiter. Geheime Verabredungen konnten die zwangsläufig folgenden Ergebnisse nicht verhindern.

[332] Ist es wirklich zuviel verlangt, daß die Oberbefehlshaber die Weitergabe dieser Befehle hätten verweigern sollen? Als Soldaten waren sie verpflichtet, ihrem Obersten Befehlshaber zu gehorchen, aber sogar ihr eigenes Gesetz besagt, daß jeder Soldat die Pflicht hat die Ausführung von Befehlen zu verweigern, deren verbrecherischer Charakter erkennbar ist. Das mag schwer sein für den gewöhnlichen Soldaten, den sein Leutnant mit vorgehaltener Pistole zur Ausführung seiner Befehle zwingen kann. Für den Oberbefehlshaber ist es viel leichter. Von ihm erwartet man, daß er gereift, gebildet, verantwortungsbewußt und darin geschult ist, ruhig und unbeugsam zu bleiben, wenn es hart auf hart geht. Nach ihrem eigenen Recht und ihrer eigenen Tradition – deren sich zu rühmen sie die Schamlosigkeit besitzen – waren die Führer verpflichtet, die Befehle zurückzuweisen. Ihr Versagen war die Ursache von Leid und Tod von Hunderttausenden, ihr Versagen hatte zahllose Morde und andere Gewaltakte zur unmittelbaren Folge; und sie sind die wirklichen Verbrecher, weit größere Verbrecher als die Soldaten, die sie auf die Bahn des Verbrechens führten.

Hitler brauchte die Oberbefehlshaber; er brauchte sie unter allen Umständen und wäre hilflos ohne sie gewesen. Sie hätten sich mit Buhe und Bestimmtheit an die Ehrbegriffe halten können, wie man es von jedem Soldaten, ja von jedem Mann erwartet. Und es war auch in den meisten Fällen nicht Furcht vor Hitler, die sie veranlaßt hätte, diese Begriffe zu verletzen. Sie waren durchaus bereit, Hitler zu widersprechen, wenn es sich um andere Dinge handelte, die sie für wichtiger hielten. Wegen einer Angelegenheit, die sie in ihrer Härte für geringfügig erachteten, wollten sie einen Bruch mit Hitler nicht auf sich nehmen. Sie hatten »wichtigere« Dinge zu tun, die Eroberung Europas, über die sie mit Hitler einer Ansicht waren.

Einige der militärischen Führer, wir wissen nicht wie viele, waren bereit, viel weiter zu gehen und Pate für die Nazi-Ideologie zu stehen. Reichenau und Manstein gaben ihren Namen und ihren Ruf in schamloser Weise dazu her, diese niederträchtigen Lehren zu verbreiten. Wir können nicht mehr alle Befehle ausfindig machen; wir wissen nicht, wie viele deutsche Oberbefehlshaber es gab, die man wie Manstein, der in salbungsvollen Worten seine Nazi-Lehren beteuert hat, ihren eigenen ekelhaften Manifesten gegenüberstellen könnte.

Zu Zwecken der Argumentation wollen wir annehmen, viele deutsche Oberbefehlshaber hätten das Gewebe jener Befehle und Doktrinen, die die Beweisaufnahme hier aus Licht gebracht hat, abgelehnt. Wer Schmutz anfaßt, kann nicht entschuldigt werden, weil er sich die Nase zuhält. Aus Gründen, die den deutschen militärischen Führern stichhaltig schienen, halfen sie an der Ausarbeitung jenes Gewebes mit. Gerade diese kaltberechnende Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen macht ihr Verhalten so [333] verächtlich. Wer von diesen Oberbefehlshabern reine Hände hat, trete vor und beweise es. Aber ich behaupte, daß die militärischen Führer als Gruppe ohne Zweifel überführt sind, unmittelbar, mit Nachdruck und wissentlich an zahlreichen und ausgedehnten Kriegsverbrechen und an den Verbrechen gegen die Humanität teilgenommen zu haben.

Keitel und Raeder, wie auch die anderen militärischen Angeklagten, stehen laut Artikel 9 und 10 des Londoner Abkommens über den Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher nicht nur als Einzelpersonen, sondern als Vertreter der deutschen militärischen Führung vor Gericht. Die militärischen Angeklagten haben ihre Verbrechen als militärische Führer Hand in Hand mit den andern begangen. Gerade in ihrer Eigenschaft als Vertreter der militärischen Führung sind sie hier auf der Anklagebank von großer Bedeutung.

Das Beweismaterial gegen diese Gruppe ist so vollständig und zwingend, daß ihre Verteidigungsversuche verzweifelt und unlogisch erscheinen müssen. Wenn man den berühmten deutschen Generalstab als eine Gruppe für seine Verbrechen zur Verantwortung ziehen will, so zerfällt er wie ein Kinderzusammensetzspiel, das man auf die Erde wirft, in 130 verschiedene Teile. Man erzählt uns, daß es so etwas nicht gäbe. Fordert man sie aber auf, ihre Ansichten über Hitler, den Angriffskrieg oder andere unangenehme Dinge darzulegen, so vereinigen sich die einzelnen Teile sofort und zauberhaft wieder zu einem Muster. In echt deutscher Disziplin hört man aus jedem Mund dieselben Worte. Wenn die Frage aufgeworfen wird, ob die Wehrmacht an der Ermordung der Juden teilgenommen hat, leugnen sie entrüstet, daß ihre Soldaten etwas Derartiges getan hätten; wenn es sich um die Erzwingung von Recht und Disziplin innerhalb der Wehrmacht handelt, hält man uns eidesstattliche Versicherungen entgegen, nach denen deutsche Soldaten, die Juden getötet haben, vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen wurden. Wenn man sie als Gruppe verantwortlich macht, schützen sie ihre Sonderstellung vor mit der Begründung, sie hätten nicht zurücktreten können und ihre Stellung daher unter Zwang innegehabt. Bei ihrem Versuch, den Beweis für ihre Mißbilligung der Politik Hitlers zu erbringen, brüsteten sie sich damit, daß vielen unter ihnen, die ihre Gegnerschaft zum Ausdruck gebracht hätten, der Rücktritt erlaubt oder nahegelegt worden sei. Besonders schamlos ist der Mangel an Folgerichtigkeit, wenn sie sich auf ihren Gehorsamseid als Soldaten berufen. Klagt man sie an, daß sie Angriffskriege gegen benachbarte Länder entfesselt hätten, so berufen sie sich zu ihrer Verteidigung auf ihren Eid. Beschuldigt man sie der Verbrechen, die während des Krieges begangen wurden, so rechnen sie es sich als Verdienst an, die Ausführung verbrecherischer Befehle verweigert zu haben. Und es wird nun die Sachlage so dargestellt, als ob der Soldat, der in Friedenszeiten durch seinen [334] Eid streng gebunden war, einem meineidigen Staatsoberhaupt ohne Rücksicht auf die Folgen blinden Gehorsam zu leisten, leichtfertig und heimlich den Gehorsam verweigern konnte, als sich sein Land im Kriegszustand befand und Gehorsam eigentlich viel notwendiger war. Auf diese Weise sollen Vorwurf und Verantwortung für die Ermordung der Kommandotrupps und der Kommissare auf die Schultern anderer abgewälzt werden.

Betrachten wir noch einmal die militärischen Führer, deren Handlungen wir gerade einer Prüfung unterzogen haben. In mehr als einem Sinne bilden sie eine Gruppe. Sie sind mehr als eine Gruppe; sie sind eine Klasse, beinahe eine Kaste. Sie repräsentieren eine Gedankenrichtung und eine Lebensanschauung. Sie sind im Besitze bestimmter geistiger Eigenschaften, die die übrige Welt seit vielen Jahrzehnten bemerkt und kritisiert hat, und sie sind seit Jahrhunderten in ihnen verwurzelt. Sie waren ein geschichtlicher Machtfaktor, und man hat noch immer mit ihnen zu rechnen. Und sie sind stolz darauf.

Um sich den Folgen ihrer Handlungen zu entziehen, leugnen diese Männer alles dies jetzt ab. Aber gerade durch ihr Leugnen tritt die Wahrheit zutage. Ihr Gruppengeist und die Einheitlichkeit ihrer Anschauungen und ihrer Ziele sind so tief verwurzelt, daß dies, ob sie wollen oder nicht, in ihren Worten zum Ausdruck kommt.

Lesen Sie ihre Zeugenaussagen – sie sprechen von sich selber immer als »wir« oder »wir alten Soldaten« – und sie sprechen fortgesetzt von »unserer« Haltung in dieser oder jener Sache. Rundstedts Aussage ist voll von solchen Ausdrücken, aus der sich die gruppenmäßige Haltung der deutschen militärischen Führung gegenüber zahlreichen Fragen ergibt. Manstein sagte »wir Soldaten mißtrauten allen Parteien... Wir betrachten uns als Treuhänder der deutschen Einheit... Das nationalsozialistische Ziel der Schaffung eines Einheitsstaates entsprach unserer Einstellung, nicht aber die nationalsozialistischen Methoden.«

Worin bestehen die charakteristischen Merkmale der deutschen militärischen Führer? Denjenigen, die sich mit Geschichte befassen, sind sie seit langer Zeit vertraut. Bücher sind von ihnen selbst und über sie geschrieben worden und sie offenbaren sich in den Dokumenten und Zeugenaussagen vor diesem Gerichtshof.

Sie verfolgten aufmerksam Deutschlands Innenpolitik, aber gemäß ihrer Tradition und eignen Politik vermeiden sie es, sich mit Parteien oder innerpolitischen Strömungen zu identifizieren. Das ist die einzig wahre Note in dem alten Lied, das man so oft vor diesem Gerichtshof gehört hat, »wir waren Soldaten und nicht Politiker«. Sie fühlten sich über Politiker und Politik erhaben. Sie kümmerten sich nur um das, was sie für die tieferen, ewigen [335] Interessen Deutschlands als Nation hielten. Wie Manstein es ausdrückt: »Wir Soldaten mißtrauen allen Parteien, weil jede Partei in Deutschland ihre eignen Interessen über die Interessen Deutschlands stellte. Wir alle betrachten uns in dieser Beziehung als Treuhänder der deutschen Einheit...«

Die deutschen militärischen Führer haben ein tiefgehendes Interesse an Außenpolitik und Diplomatie. Jeder intelligente Berufsoffizier muß es haben. Die Schulung erfolgt, die Aufrüstung wird betrieben, und die Pläne werden entwickelt unter Berücksichtigung dessen, was über die militärischen Stärken und die Absichten der anderen Länder bekannt ist. Kein Offizier in der Welt war sich dessen mehr bewußt als der deutsche. Keiner studierte die Vorgänge des internationalen Geschehens sorgfältiger oder mit solch kalter Berechnung. Ihr Mentor war Clausewitz, der den Krieg als Werkzeug der Politik bezeichnet hat.

Die deutschen militärischen Führer wollten, daß Deutschland, frei von politischen Schwankungen, eine Regierung besitze, die die deutschen Hilfsquellen für die Wehrmacht mobilisiere und der deutschen Öffentlichkeit den Geist und die Ziele des Militarismus einpräge. Das meinte Rundstedt, wenn er sagte: »Die nationalsozialistischen Ideen, die gut waren, waren gewöhnlich solche, die aus den alten preußischen Zeiten übernommen waren und die wir schon ohne Nationalsozialisten gekannt hatten.« Das ist es, was Manstein unter deutscher »Einheit« verstand.

Die deutschen militärischen Führer glauben an den Krieg. Sie betrachten ihn als einen Teil des normalen, erfüllten Lebens. Manstein bekundete als Zeuge, daß sie »Kriegsruhm« selbstverständlich als etwas Großes betrachteten. Die »wohlerwogene Ansicht« des OKW im Jahre 1938 ließ sich wie folgt vernehmen: »Trotz aller Versuche, den Krieg zu ächten, bleibt er ein Naturgesetz, das sich eindämmen, aber nicht beseitigen läßt und der Erhaltung von Volk und Staat oder der Sicherung seiner geschichtlichen Zukunft dient. Dieser hohe sittliche Zweck gibt dem Kriege sein totales Gepräge und seine ethische Berechtigung.«

Diese Wesenszüge der deutschen militärischen Führer sind tief verwurzelt und bleibend. Sie waren schlecht für die Welt und schlecht für Deutschland. Ihre Philosophie ist so verdorben, daß sie einen verlorenen Krieg und ein besiegtes und am Boden liegendes Deutschland als glänzende Gelegenheit betrachten, den gleichen schrecklichen Zyklus wieder zu beginnen. Ihre Einstellung kommt nirgends besser zum Ausdruck als in einer Rede, die General Beck im Jahre 1935 vor der deutschen Kriegsakademie gehalten hat. Der aus jungen Offizieren bestehenden Zuhörerschaft wurde gesagt, daß »die Todesstunde unserer alten, ruhmreichen Armee« im Jahre 1919 »zur Geburtsstunde der jungen Reichswehr wurde« und [336] daß die deutsche Armee aus dem ersten Weltkrieg »mit dem Lorbeer der Unsterblichkeit gekrönt« zurückkehrte. An späterer Stelle wurde ihnen gesagt: »Wenn die militärischen Führer Klugheit und Mut bewiesen hätten, werde der Verlust eines Krieges ›durch den Stolz auf eine ehrenvolle Niederlage geadelt‹.« Zum Schluß werden sie daran erinnert, daß Deutschland eine »militärisch gesinnte Nation« sei und werden ermahnt »der Verpflichtung, die sie dem Manne schulden, der die deutsche Wehrmacht neugeschaffen und wieder stark gemacht hat« eingedenk zu sein.

Im Jahre 1935 war Hitler dieser Mann, in früheren Jahren waren es andere. Die deutschen Militaristen werden sich mit jeder Einzelperson oder mit jeder Regierung verbünden, die eine günstige Aussicht für tatkräftige Unterstützung ihrer militärischen Unternehmungen bietet. Männer, die im Kriege einen Lebensberuf sehen, lernen nichts aus der Erfahrung eines verlorenen Krieges.

Ich habe dieses Bild der deutschen militärischen Führer nicht als ein bisher unbekanntes entworfen, sondern weil wir so vertraut mit ihm sind, daß wir Gefahr laufen, es zu übersehen. Wir dürfen uns nicht auf Kosten viel wichtigerer Dinge, die allgemein bekannt sind, ausschließlich mit der Feinheit einer Tabelle oder den Einzelheiten einer militärischen Organisation beschäftigen. Seit langem kennt die ganze Welt die deutsche militärische Führerschaft, sie hat genügend unter ihr gelitten. Ihre Eigenschaften und ihr Verhalten sind bekannt und berüchtigt. Soll nun der Welt weisgemacht werden, daß eine solche Gruppe nicht existiert hat? Will man ihr sagen, daß über die deutschen Kriegsherren nicht zu Gericht gesessen werden könne, weil sie eine Handvoll Wehrpflichtiger waren? Wir mußten uns nur aus dem Grunde ernstlich mit solchen Einwänden befassen, weil es keine anderen gibt.

Die Tatsache, daß der Fall gegen die deutschen Militaristen ganz klar liegt, macht ihn deshalb nicht weniger wichtig. Wir ringen hier mit etwas Großem, Bösem und Beständigem; etwas, das nicht erst im Jahre 1933 oder gar 1921 geboren wurde, etwas, das viel älter ist als alle hier Anwesenden, etwas, das viel wichtiger ist als irgendeiner der hier anwesenden Angeklagten, etwas, das noch nicht tot ist und das weder mit einem Gewehr noch mit einem Henkerstrick getötet werden kann.

Neun Monate lang war dieser Gerichtssaal eine Welt von Gaskammern, von Bergen von Leichen, von Lampenschirmen aus Menschenhaut, von eingeschrumpften Schädeln, von Kälteexperimenten und von Bankstahlkammern, gefüllt mit Goldzähnen. Es ist unerläßlich für das Weltgewissen, daß alle an diesen Ungeheuerlichkeiten Beteiligten zur Rechenschaft gezogen werden; aber diese Beweisstücke, grausig wie sie auch sein mögen, bilden nicht den Kern dieses Prozesses. Durch das Schütteln der vergifteten Frucht[337] vom Baume wird nur sehr wenig erreicht werden. Es ist viel schwieriger, den Baum mit der Wurzel auszureißen, aber nur das wird auf die Dauer von Nutzen sein.

Der Baum, der diese Frucht trug, ist der deutsche Militarismus. Militarismus ist sowohl der Kern der Nazi-Partei wie der Kern der Wehrmacht selbst. Militarismus ist nicht der Beruf der Waffenträger. Militarismus ist in den »militärisch gesinnten Nationen« verkörpert, deren Führer Eroberung durch Waffengewalt predigen und zur Anwendung bringen und am Krieg als Selbstzweck Gefallen finden. Militarismus führt ganz unvermeidlich zu zynischer und gemeiner Mißachtung der Rechte anderer und der Grundlagen der Zivilisation. Militarismus zerstört den moralischen Charakter der Nation, die ihn zur Anwendung bringt und unterminiert, da er nur mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden kann, den Charakter der Nationen, die gezwungen sind, ihn zu bekämpfen.

Der Urquell des deutschen Militarismus war seit Jahren jene Gruppe der professionellen militärischen Führer, die der Welt als der »deutsche Generalstab« bekannt wurden. Dies ist der Grund, warum die Bloßstellung und die Entehrung dieser Gruppe durch die Erklärung zur verbrecherischen Organisation weit wichtiger ist als das Schicksal der Einzelpersonen in Uniform – auf der Anklagebank oder anderer Einzelmitglieder dieser Gruppe. Keitel und Raeder, Rundstedt, Kesselring und Manstein haben ihr Pulver verschossen. Sie werden nie wieder die Legionen der Wehrmacht anführen.

Was im Augenblick tatsächlich auf dem Spiel steht, ist nicht das Leben dieser einzelnen Männer, sondern der künftige Einfluß des deutschen Generalstabs innerhalb Deutschlands und infolgedessen auf das Leben der Völker aller Länder. Aus diesem Grunde wurde in Yalta erklärt:

»Es ist unser unbeugsamer Entschluß, den deutschen Militarismus und Nazismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, daß Deutschland nie wieder imstande sein wird, den Frieden der Welt zu stören. Wir sind entschlossen, alle deutschen Streitkräfte zu entwaffnen und aufzulösen; den deutschen Generalstab, dem es wiederholt gelungen ist, den deutschen Militarismus wieder zu erwecken, für alle Zeiten zu zerbrechen.«

Die ersten Schritte zur Wiedererweckung des deutschen Militarismus sind bereits hier in diesem Gerichtssaal getan worden. Der deutsche Generalstab hatte seit dem Frühjahr 1945 reichlich Zeit zum Nachdenken, und er weiß recht wohl, was hier auf dem Spiele steht. Die deutschen Militaristen wissen, daß ihre künftige Stärke davon abhängt, den Glauben des deutschen Volkes an ihre militärischen Fähigkeiten wieder zu erwecken und daß sie sich selbst von[338] den Grausamkeiten lossagen, die sie im Dienste des Dritten Reiches begangen haben. Warum ist die Wehrmacht geschlagen worden? Manstein sagt, Hitler habe sich zuviel in militärische Angelegenheiten eingemischt. Und wie steht es mit den Greueltaten? Die Wehrmacht hat keine begangen. Hitlers verbrecherische Befehle wurden von den Generalen beiseite geschoben und unberücksichtigt gelassen. Jegliche Greueltaten, die vorkamen, wurden von anderen Männern begangen, wie zum Beispiel Himmler, und von anderen Stellen, wie zum Beispiel der SS. Hätten die Generale nicht Schritte ergreifen können, um Deutschlands Verwicklung in einen Krieg und seine wahrscheinliche Zerstörung zu verhindern? Nein; die Generale waren durch ihren Treueid an den Führer des Staates gebunden. Hat nicht ein SS-General ausgesagt, daß die Feldmarschälle viele der Ausschreitungen und Grausamkeiten hätten verhindern können? Die Reaktion war Überlegenheit und Verachtung. »Ich halte es für eine Unverschämtheit, wenn ein SS-Mann so etwas über einen Feldmarschall sagt«, sagte Rundstedt. Die Dokumente und die Zeugenaussagen beweisen, daß dies durchsichtige Erfindungen sind. Aber hier sind die ersten Keime der Mythen und Legenden, die die deutschen Militaristen in den Köpfen der Deutschen zu verbreiten versuchen werden. Diese Lügen müssen gebrandmarkt und als das gekennzeichnet werden, was sie wirklich sind, solange das Beweismaterial noch frisch ist.

Dies ist in unseren eigenen Ländern genauso wichtig wie hier in Deutschland. Der Militarismus hat in Deutschland viel stärker und hartnäckiger geblüht als anderswo, aber er ist eine Pflanze, die keine nationalen Grenzen kennt, sie wächst überall. Er erhebt seine Stimme, um zu erklären, daß der Krieg zwischen Ost und West, Links oder Rechts oder zwischen Weiß und Gelb unvermeidlich sei. Er flüstert, daß neuerfundene Waffen so fürchterlich sind, daß sie angewandt werden sollten, ehe andere Länder zuvorkämen. Er läßt die ganze Welt im Schatten des Todes wandeln.

Der deutsche Militarismus wird, wenn er wieder kommt, nicht unbedingt unter der Ägide des Nazismus auftreten. Die deutschen Militaristen werden sich mit jedem Mann oder mit jeder Partei verbünden, die ihnen eine Wiedergeburt der deutschen bewaffneten Macht verspricht. Sie werden sorgfältig und kalt kalkulieren. Sie werden sich nicht von fanatischen Ideen oder abstoßenden Methoden abhalten lassen; sie werden Verbrechen in Kauf nehmen, um das Ziel zu erreichen: die deutsche Macht und den deutschen Terror. Wir haben dies schon einmal erlebt.

Die Wahrheit liegt in den Akten vor uns ausgebreitet, und wir haben lediglich diese Wahrheit offen zur Darstellung zu bringen. Die deutschen Militaristen haben sich mit Hitler verbündet und mit ihm das Dritte Reich geschaffen; mit ihm haben sie bewußt eine Welt errichtet, in der Macht alles bedeutete; mit ihm haben [339] sie die Welt in einen Krieg gestürzt und Schrecken und Zerstörung über den europäischen Kontinent verbreitet. Sie haben der ganzen Menschheit einen Schlag versetzt, einen Schlag, so wild und bösartig, daß das Bewußtsein der Welt noch für viele Jahre aus dem Gleichgewicht sein wird. Das war kein Krieg, das war Verbrechen. Das war nicht Soldatentum, das war Barbarei.

Das mußte einmal ausgesprochen werden. Wir können hier nicht die Geschichte korrigieren, aber wir können danach trachten, daß sie wahrheitsgemäß geschrieben wird.

M. AUGUSTE CHAMPETIER DE RIBES, HAUPTANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Herr Präsident! Meine Herren Richter! Wir haben Sie gebeten, die verantwortlichen Leiter des Dramas, welches die Welt in ein Blutbad stürzte, zu verurteilen. Wenn wir Sie heute ersuchen, die Organisationen für verbrecherisch zu erklären, die die Werkzeuge für die Pläne dieser Leiter waren, so erbitten wir von Ihrer Gerechtigkeit die moralische Verurteilung eines zusammenhängenden Systems, das die Zivilisation der schwersten Gefahr aussetzte, die diese jemals seit dem Zusammenbruch der römischen Welt gekannt hatte.

Und wir legen ebensoviel Wert auf das Urteil, welches wir heute beantragen, wie auf das, welches wir gestern forderten.

Denn, wenn wir es für nötig halten, daß die Schuldigen bestraft werden, so denken wir, daß es nicht weniger heilbringend ist, den Machthabern von heute und von morgen die imperativen Forderungen einer Moral feierlich in Erinnerung zu rufen, ohne die weder Ordnung noch Friede auf der Welt herrschen können.

Wer begreift tatsächlich nicht, daß in unserer Zeit, da der Wahnsinn der Menschen die reichen Fortschritte von Wissenschaft und Technik in den Dienst des Todeswerkes stellte, und da – wie ein Philosoph sagte: »Unsere Zivilisation hat sich für den Selbstmord ausgerüstet« – die Probleme, die der angstvollen Welt gestellt werden, vor allem moralische Probleme sind.

»Die Menschheit«, so sagte unser großer Bergson, »stöhnt halb erdrückt unter dem Gewicht der Fortschritte, die sie erreicht hat. Der größer gewordene Körper erwartet eine größer gewordene Seele, und die Mechanik verlangt nach einer Mystik.«

Welche Mystik Bergson hier meinte, wissen wir. Es war jene, die in der Blütezeit der griechisch-römischen Kultur, als Cato der Ältere, der Weiseste unter den Weisen, in seiner Volkswirtschaftslehre schrieb: »Man muß seine alten Rinder und seine alten Sklaven rechtzeitig zu verkaufen wissen«, jene beiden weltumstürzenden Begriffe schuf, den Begriff der Person und den der menschlichen Brüderlichkeit.

Die Person, das heißt das vergeistigte Individuum, nicht nur der einzelne Mensch, die bloße Nummer in der politischen Ordnung, [340] das Räderwerk auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern der vollständige Mensch, Körper und Geist, fleischgewordener Geist allerdings, vor allem aber doch Geist, für dessen Entfaltung die Gesellschaft geschaffen wurde, der soziale Mensch, der seine volle Entwicklung nur in der brüderlichen Gemeinschaft mit seinem Nächsten findet; der Mensch, dem seine Sendung eine Würde verleiht, die ihn mit Recht jedem Versuch der Knechtung und Aneignung entgehen läßt.

Diese Mystik ist es, die auf politischem Gebiet alle geschriebenen oder überlieferten Verfassungen aller zivilisierten Nationen inspiriert hat, seitdem Großbritannien, die Mutter der Demokratien, jedem freien Menschen durch die Bestimmungen der Magna Charta und der Habeas-Corpus-Akte garantierte, daß er »weder festgenommen noch in Haft gesetzt« würde, »es sei denn durch ein von seinesgleichen in gesetzlicher Form gefälltes Urteil«.

Sie inspirierte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776: »Wir halten es für offenbar, daß alle Menschen vom Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet worden sind.« Sie inspirierte die französische Erklärung von 1791: »Die Vertreter des französischen Volkes, welche die Nationalversammlung bilden, haben in Anbetracht dessen, daß Unwissenheit, Vergessen oder Mißachtung der Menschenrechte die einzigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Korruption der Regierungen sind, in einer feierlichen Erklärung beschlossen, die natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Rechte des Menschen festzulegen. Folglich erkennt und erklärt die Nationalversammlung im Beisein und unter dem Schutz des höchsten Wesens die folgenden Menschen- und Bürgerrechte.«

Inspiriert der Begriff der erhabenen Würde der menschlichen Person nicht auch die Verfassung der Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken, die in ihrem X. Kapitel verkündet: »Die grundlegenden Rechte und Pflichten der Bürger der USSR... ohne Unterschied von Nationalität und Rasse.«

Und beginnt nicht schließlich auch die Satzung der Vereinten Nationen, die am 26. Juni 1945 in San Franzisco von 51 Nationen unterschrieben wurde, mit dieser feierlichen Erklärung: »Wir Völker der Vereinten Nationen, entschlossen, die zukünftigen Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal im Lauf eines Menschenlebens der Menschheit unsagbare Leiden verursacht hat, bekunden unseren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person, an die Gleichberechtigung der Männer und Frauen, sowie der großen und kleinen Nationen.«

Diese Mystik konnten einige unter uns soweit verweltlichen, wie sie wollten. Wir alle erkennen doch an, daß sie der wesentliche Beitrag des Christentums in der Welt ist und daß sie im Lauf der [341] Jahrhunderte, sich langsam ausdehnend, die Fundamente der Weltzivilisation gelegt hat.

Gegen diese Mystik hat Hitler mitten im 20. Jahrhundert eine heftige Reaktion versucht, indem er ihr seine barbarische Rassenideologie und seine primitive nur von biologischen Gesetzen beherrschte Auffassung des Lebens in der Gesellschaft entgegenstellte.

Denn er ging nicht nur darauf aus, Deutschlands militärische Vorherrschaft in Europa zu errichten, sondern er strebte auch danach, der Welt seine »Kultur« aufzuzwingen, die alle moralischen und intellektuellen Grundlagen umstürzt, auf denen die zivilisierte Welt seit der christlichen Ära beruht.

Die biologischen Gesetze, die das Tierreich beherrschen, sollten seiner Ansicht nach ebenfalls der menschlichen Gesellschaft auferlegt werden, und zwar zunächst die Gesetze der natürlichen Auswahl und des Kampfes ums Dasein.

Von diesem Moment an kann von der Autonomie der menschlichen Person nicht mehr die Rede sein. Wie die Ameise in einem Ameisenhaufen, so existiert auch das Individuum nur durch und für das Kollektiv. Der Staat ist nicht für die Person geschaffen, sondern die Person für den Staat.

Von nun an kann weder von Mitleid noch von Nächstenliebe die Rede sein. Das Christentum, Religion der Degenerierten und Kranken, wird durch eine neue Religion ersetzt, die als Recht nur das Recht des Stärkeren, und als Pflicht nur die Pflicht zu herrschen anerkennt.

Diese animalische Auffassung des menschlichen Lebens, diese »Kultur«, diese Religion, ist nicht das Werk eines Philosophen, der eine neue Theorie auf dem Gebiet der geistigen Spekulation entwickelt, sondern das Werk eines Realisten, der sie in die Praxis umsetzt.

Auf innerpolitischem Gebiet befiehlt sie die Säuberung des deutschen Volkes von Elementen, die es anstecken, und die Verbesserung der Rasse der blonden Arier. Folglich werden die Juden verjagt oder ausgerottet. Die Anomalen, die Kranken, die Schwachen werden vernichtet oder zum mindesten sterilisiert. Eine Jugend, welche man frühzeitig ihrer Familie entreißt, wird vom Staat dazu herangebildet, »die Welt erzittern zu lassen«. Ich will, sagte Hitler zu Rauschning, ich will in ihren Augen das Leuchten sehen, das man in den Augen eines wilden Tieres sieht! Dazu verleumdet er noch das wilde Tier, das wohl tötet, weil es Hunger oder Angst hat oder weil es brünstig ist, das jedoch den Sadismus der raffinierten Foltern nicht kennt.

Hitler wendet diese Lebensauffassung auf die internationalen Beziehungen an:

»Ein stärkeres Geschlecht«, schreibt er, »wird die Schwachen verjagen, da der Drang zum Leben in seiner letzten [342] Form alle lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität der einzelnen immer wieder zerbrechen wird, um an seine Stelle die Humanität der Natur treten zu lassen, die die Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu schenken.« (»Mein Kampf«, Seite 135 der französischen Ausgabe.)

Und wir wissen, welche Verbrechen im Namen dieser neuen Religion begangen wurden, wieviele Tote die Verwirklichung dieser angeblichen Lehre vom Leben gekostet hat: Konzentrationslager, Gaskammern und Krematorien, Einspritzungen von Krankheitserregern, Sterilisationen, Vivisektionen an Kriegsgefangenen und Deportierten, Versklavung der Völker, die man für assimilierbar hielt, und vor allem die methodische Ausrottung aller, die man für minderwertig erklärt, und, um alles zu sagen, das »Genocidium«, all dies ist das ungeheuerliche Resultat der Hitlerschen Ideologie.

Herr de Menthon hatte recht, als er sagte, daß die Sünde wider den Geist das Grundlaster des Nationalsozialismus und die Quelle aller in seinem Namen verübten Verbrechen ist. Und war Louis Veuillot nicht visionär begabt, als er 1871 schrieb: »Deutschland, Deutschland, das vom Himmel so reich beschenkt wurde. Wenn du wieder ein Phantom des Kaisers erscheinen siehst, das nicht das Schwert hält zum Schutz der Gerechtigkeit und zur Verteidigung des alten Rechts, sondern das sich als Kaiser des Volkes und als Schwert des neuen Rechts bezeichnet... dann ist die Stunde der großen Sühne gekommen.«

Wir haben dargetan, wer die Hauptschuldigen an den Verbrechen des Nationalsozialismus waren. Um aber ihren teuflischen Plan für die Weltherrschaft nicht nur über Gebiete, sondern auch über die Gewissen der Menschen verwirklichen zu können, brauchten sie Mitarbeiter, von der gleichen Mystik erfüllt und in derselben Disziplin erzogen, und deshalb haben die Chefs, die »Führer«, nach und nach dieses komplizierte, zusammenhängende System von Führung, Zwang und Kontrolle, welches die Gesamtheit der Organisationen des Staates und der Nationalsozialistischen Partei bildet, ausgedacht und verwirklicht.

Man brauchte leitende Organismen, von denen dem »Führerprinzip« gemäß die Befehle und allgemeinen Richtlinien ausgingen, und diese Organe sind das Reichskabinett und das Führerkorps der Nazi-Partei.

Man brauchte Werkzeuge der Kontrolle, der Propaganda, der Polizei und der Exekutive, und dies sind die Gestapo, die SA, der SD und die SS.

Schließlich mußte die Wehrmacht im Dienste der Parteipolitik stehen, und dies war das Werk des Generalstabs und des Oberkommandos, aus denen alle nicht hinreichend nazifizierten Elemente entfernt worden waren.

[343] Daß die Mitglieder dieser Organisationen, dieser Gruppen oder dieser Dienste mehr oder weniger Fanatiker des Regimes waren, ist möglich, und der Gerichtshof erinnert sich an den im Lauf des Verhörs Ribbentrop aufgestellten Scheinunterschied zwischen »reinen Nazis« und solchen, die es nur zur Hälfte waren. Alle aber hatten zumindest die Lehre angenommen und die materiellen Vorteile, die ihnen das Regime reichlich zukommen ließ. Sind diejenigen, die einen inneren Vorbehalt gemacht haben, deswegen weniger verächtlich und weniger schuldig?

Daß alle diese Organisationen, diese Gruppen und diese Dienste mit allen Mitteln zur Errichtung einer universellen Herrschaft beigetragen haben, ist im Laufe der Verhandlungen in reichem Maße bewiesen worden.

Haben die Verteidiger der Organisationen nicht dauernd ins Verhör der einzelnen Angeklagten eingegriffen, und waren nicht alle diese Angeklagten unter verschiedenen Titeln Mitglieder einer oder oft mehrerer dieser Organisationen, so daß die enge Zusammenarbeit der kollektiven Organisationen mit den Männern, die sich hier auf der Anklagebank befinden, unwiderlegbar festgestellt ist?

Ich werde mich davor hüten, nach diesen so umfassenden Verhandlungen, nach den Plädoyers meiner hervorragenden Kollegen von der Amerikanischen und Britischen Anklagebehörde noch einmal an die zahllosen Greueltaten zu erinnern, an welchen die in der Anklageschrift aufgezählten Gruppen oder Organisationen teilgenommen haben, indem sie sie anordneten, ausführten oder gestatteten.

Ich möchte nur kurz auf zwei Argumente antworten, denen die Verteidiger, und zwar besonders die Anwälte der Gestapo, des SD und des Oberkommandos die größte Bedeutung beizulegen scheinen.

Es ist möglich, so sagen sie zunächst, daß in der Hitze des unerbittlich gewordenen Kampfes, im Zuge des total gewordenen Krieges Mißbräuche vorgekommen sind, aber immer hat es sich dabei nur um Einzelverbrechen gehandelt, die nur jene Personen verantwortlich machten, die sie begingen, nicht aber die Kollektive, die solche Verbrechen verurteilten.

Dichte Scheidewände – dies ist das zweite Argument der Verteidigung – trennten die verschiedenen Organisationen des Reiches voneinander. Daher muß die Tätigkeit einer jeden Organisation für sich geprüft werden, und diese Prüfung läßt bei keiner einzigen eine verbrecherische Absicht oder Betätigung entdecken.

Erstes Argument: Um festzustellen, ob eine Organisation verbrecherisch ist, muß man, so sagt die Verteidigung, die wesentlichen Prinzipe ihres Aufbaus prüfen. Nun sind diese keineswegs verbrecherisch. Die Verbrechen, wenn solche vielleicht begangen wurden, [344] können daher nur einzelnen Personen angelastet werden und lassen nicht den Schluß zu, daß das Kollektiv verbrecherisch sei.

So wird behauptet, daß die Gestapo nach dem Wortlaut ihres Statuts eine Staatspolizei war, die wie die Polizei aller zivilisierten Staaten den Auftrag hatte, am Werk der Gerechtigkeit mitzuarbeiten und die Gesamtheit gegen Individuen zu schützen, die deren Sicherheit gefährden konnten. Es ist möglich, daß sie mitunter von oben Befehle erhalten und ausgeführt hat, die ihrer Hauptaufgabe, der Gewährung von Schutz, nicht direkt entsprachen, wie zum Beispiel die Massenverhaftung der Juden, die Ausrottung der sowjetrussischen Kriegsgefangenen, die Ermordung der entwichenen und wieder festgenommenen Kriegsgefangenen. Doch hatten diese gelegentlichen Betätigungen nichts mit ihren statutenmäßigen Kompetenzen zu tun. Sie konnten den wesentlichen Charakter der Organisation, der nichts Verbrecherisches an sich hatte, nicht verändern.

So ist der SD – sagen weiter die Verteidiger – seinem Statut nach einfach ein Nachrichtendienst und ein Dienst zur Erforschung der öffentlichen Meinung, eine Art Gallup-Institut, im Grunde genommen harmlos. Es ist ja möglich, daß Mitglieder des SD gelegentlich mit der Gestapo an dem Werk der Unterdrückung mitgearbeitet haben. Zwar findet man SD-Mitglieder an zahlreichen leitenden Stellen, wo sie eine anfechtbare Tätigkeit ausübten, doch dabei handelten sie nicht als Beamte des SD und konnten diese Organisation, deren Charakter als Institution nichts Verbrecherisches anhaftete, nicht kompromittieren.

So war – sagt die Verteidigung – das Oberkommando seiner Bestimmung nach mit der Verteidigung des Reiches beauftragt, und nur mit dieser Verteidigung. Es beschäftigte sich nicht mit Politik und hatte mit der Polizei nichts zu tun. Es ist möglich, daß es manchmal über seine Aufgabe hinausgegangen ist. Zwar hat es den Befehl unterschrieben, laut dessen Mitglieder des Widerstandes ins Unbekannte verschickt und die Soldaten der Kommandos und entwichene Kriegsgefangene zur Liquidierung der Polizei übergeben werden sollten, was der militärischen Ehre widersprach, doch handelte es in diesen Fällen nur als einfache Weiterleitungsstelle der Befehle Hitlers oder Himmlers. Diese außerhalb seiner Zuständigkeit stehende gelegentliche Betätigung konnte an seinem wesentlichen Charakter, der nichts Verbrecherisches an sich hatte, nichts ändern.

So bemüht sich stets die Verteidigung zwischen dem verfassungsmäßigen Charakter der Organisation, von dem sie bewiesen zu haben glaubt, daß er nichts Verbrecherisches an sich hatte, und der praktischen Betätigung der Gruppe zu unterscheiden, welche, wie sie selbst zugibt, vielleicht kritisiert werden könnte. Eine derartige Unterscheidung ließe sich in einem demokratischen [345] Regime verstehen, in dem bereits bestehende Einrichtungen der Willkür der Regierung eine Schranke setzen und wo die Selbständigkeit der Person und die Freiheit des Bürgers gegen den Mißbrauch der Gewalt geschützt werden, aber sie ist im Hitler-Regime undenkbar.

Kümmerte sich Best, der Theoretiker der Polizei, etwa um Grundsätze, als er schrieb, daß die Handlungen der Polizei vom Feinde bedingt seien?

Befolgt der Erlaß vom 28. Februar 1933 irgendeinen Grundsatz, wenn er den allmächtigen Staat befugt, alle vom Gesetz aufgerichteten Schranken zu ignorieren?

Unterschied Hitler zwischen dem Grundsatz und der Praxis, als er in der Besprechung vom 23. Mai 1939, zu der die Mitglieder des Oberkommandos in der Reichskanzlei versammelt waren, erklärte:

»Es darf nicht der Grundsatz gelten, sich durch Anpassung an die Umstände einer Lösung der Probleme zu entziehen. Es heißt vielmehr, die Umstände den Forderungen anzupassen.

... es handelt sich nicht mehr um Recht oder Unrecht, sondern um Sein oder Nichtsein von 80 Millionen Menschen.« (L-79.)

In Wahrheit kennt das Hitler-Regime keine bestehenden Einrichtungen, keine Gesetzlichkeit, keine Grenzen der Willkür und keine Einschränkung der Macht. Es gibt kein anderes Prinzip als das »Führerprinzip«, keine andere Gesetzlichkeit als die Laune des Führers, dessen Befehle von oben bis unten auf der Stufenleiter ohne Widerstand unbedingt befolgt werden müssen.

Die Auffassung von einer behaupteten Institution, die bei der Errichtung der Kollektivorganisationen geherrscht und ihnen einen bestimmten Charakter verliehen haben soll, ist nichts als eine »a posteriori«-Konstruktion durch den Einfallsreichtum der Verteidigung.

Maßgebend ist allein die wirkliche Tätigkeit der kollektiven Organisationen, und wir haben im Laufe der Verhandlungen den Beweis erbracht, daß diese verbrecherisch war.

Ferner sucht die Verteidigung einen Entlastungsgrund für die kollektiven Organisationen in der Tatsache, daß die Mitglieder der Gestapo, der SS oder des SD, welche verbrecherische Taten begangen haben, nicht im Namen ihrer ursprünglichen Organisation gehandelt haben, sondern vorübergehend von ihnen abgetrennt waren.

Ist dies nicht im Gegenteil gerade ein Beweis dafür, daß diese Gruppen in der allgemeinen Organisation des nationalsozialistischen Systems die Rolle von Reservoiren und Ausbildungsschulen [346] spielten, aus denen sich die Führer zur Verwirklichung ihrer Herrschaftspläne die Täter holten, die für die ihnen anvertrauten verbrecherischen Aufgaben vollkommen vorbereitet waren. Und bildet die Tatsache, daß Hitler seine Mittäter oft mit der Würde der Ehrenmitgliedschaft einer dieser Organisationen ausgezeichnet hat, nicht einen weiteren Beweis für die Bedeutung, die er jedem Zeichen der Rechtgläubigkeit beimaß, die die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen dieser Gruppen zum Ausdruck brachte.

Somit – welchen Standpunkt wir auch einnehmen mögen – kann das erste Argument der Verteidigung nicht aufrechterhalten werden.

VORSITZENDER: Ich glaube, Sie werden Ihre Ansprache vor der Pause nicht beenden können. Wäre es nicht besser, jetzt eine Pause einzuschalten?


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 22, S. 309-348.
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