Nachmittagssitzung.

[249] SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Herr Vorsitzender! Ich fahre fort mit der militärischen Tätigkeit der SA, dem letzten Satz auf Seite 62:

In der Tschechoslowakei bildete die SA die Hauptstütze für das Sudetenfreikorps. Im Oktober 1938, wenige Wochen nach der Münchener Krise, berichtete der OKW-Verbindungsoffizier beim Freikorps:

»Die Verpflegung war von der SA organisiert worden. Die sehr geringe Bewaffnung bestand aus österreichischen Karabinern, die von der österreichischen SA geliefert wurden... In hervorragend kameradschaftlicher und selbstloser Weise hatte sich die Oberste SA-Führung in materieller Beziehung des Freikorps angenommen. Die Ausrüstung und Verpflegung verbleibt in den Händen der NSDAP und der SA.«

Herr Vorsitzender! Ich füge, um den Gerichtshof zu erinnern, hinzu, daß sich in dem Anhang zu diesem Dokument eine Liste der Gefangenen, der von dem Freikorps gemachten Beute und der Zwischenfälle, die von ihm in einer sogenannten Friedenszeit veranlaßt wurden, befindet.

Die Unterstützung des Freikorps war, wie Jüttner selbst zugab, bestimmt in den »Grenzschutz« inbegriffen.

Die Verbrechen der SA hörten nicht mit dem Ausbruch des Krieges auf. Ich führe wieder den Zeugen Jüttner an:

»Zu Beginn des Polenfeldzuges führte die SA- Gruppe ›Sudeten‹ Kriegsgefangenentransporte in die Lager aus. Andere SA-Gruppen im Osten dürften für ähnliche Zwecke eingesetzt worden sein. Später hatte die SA-Führung und die SA als Organisation mit dieser Sache nichts mehr zu tun.«

Wenn Sie die Ihnen vorgelegten Beweise über die entsetzlichen Zustände, unter denen diese Gefangenen vom Osten in ihre Lager transportiert wurden, betrachten (1165-PS, US-244), können Sie sich dann damit zufriedengeben, daß die Bewachung von Transporten so harmlos war, wie sie sich den Anschein geben will?

Jüttner hat uns auch einen Bericht vom Juni 1941 überlassen, in welchem die Tätigkeit der SA während des Krieges geschildert wird. Auf den ihnen gemeinsamen Gebieten halfen ihre Mitglieder den Politischen Leitern bei ihren Erziehungs- und Volksaufklärungsaufgaben. 21 SA-Gruppen wurden zur Bewachung der Gefangenen herangezogen. Der Aufbau der SA-Gruppen in Danzig, Posen, Schlesien und den baltischen Provinzen wird folgendermaßen geschildert:

»Wie einst in der Kampfzeit, so war auch in diesen Gebieten die SA der Stoßtrupp der Partei... Der praktische SA-Dienst ist auch in diesen Gebieten auf die Stärkung der Wehrkraft [249] abgestellt. Es galt, dabei Minderwertigkeitsgefühle, die den Volksdeutschen aus der Zeit der polnischen Unterdrückung anhafteten, zu überwinden und die Form des äußeren Auftretens und der Haltung SA-mäßig zu gestalten.« (4011-PS, GB-596.)

Wie unheilschwanger wurden doch diese unschuldig klingenden Worte, wenn man an all das Beweismaterial darüber denkt, was sich in diesen östlichen und baltischen Provinzen zugetragen hat.

Die Verwaltung des Ghettos in Wilna war in der Hand der SA, und seine Insassen wurden durch SA-Wachen bewacht. Manche dieser Juden mußten angekettet in tiefen Gruben leben.

»Daraufhin warfen SA-Leute Ketten in die Grube, und der Sturmführer befahl den jüdischen Vorarbeitern... uns die Ketten anzulegen. Die Ketten wurden um meine Fußknöchel und ebenso rund um den Leib gelegt. Sie wogen je 2 kg, und wir waren nur imstande, kleine Schritte mit ihnen zu machen. Wir trugen diese Ketten für 6 Monate dauernd. Die SA sagte uns, daß jeder, der die Ketten ablege, gehängt werden würde.« (D-964, GB-597.)

Ihre Arbeit bestand in Ausräumung von Massengräbern:

»Wir haben insgesamt 80000 Leichen ausgegraben... Unter denen, die ich ausgrub, befand sich mein eigener Bruder.« (D-964, GB-597.)

In Wilna wurden Juden von SA-Wachen auch gezwungen, mit Zangen das Gold aus den Zähnen ihrer toten Brüder zu reißen, es in Benzin zu waschen und in 8-Kilo-Kisten zu verpacken, welche der leitende SA-Offizier selbst wegbrachte.

RA. BÖHM: Herr Präsident! Ich glaube, daß sich diese Ausführungen, die eben gemacht worden sind, auf ein Affidavit beziehen, D-964, das das Gericht vorzulegen, beziehungsweise vorlegen zu dürfen durch die Anklage, abgelehnt hat. Es ist das Affidavit GB-597. Nun ist diese ganze eidesstattliche Versicherung hier auf Seite 64 abgedruckt wiedergegeben, und der Inhalt der Ausführungen, wie sie eben gemacht worden sind, ist aus dieser eidesstattlichen Versicherung entnommen, die vorzulegen nicht genehmigt ist.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Herr Vorsitzender! Ich gehe nicht einig mit Herrn Dr. Böhm. Ich habe das Affidavit vor mir liegen, D-964 mit der Exhibit-Nummer GB-597. Paragraph 7 davon lautet:

»Unsere Arbeit bestand darin, Massengräber zu öffnen und Leichen herauszubefördern, um sie dann zu verbrennen.«


VORSITZENDER: Ja. Aber Sir David, Dr. Böhm sagte doch, daß das Affidavit zurückgewiesen wurde.

[250] SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Herr Vorsitzender! Nicht dieses Affidavit! Ich erinnere mich genau, es verlesen zu haben. Es hat eine Exhibit-Nummer. Ich habe für jedes Thema ein Affidavit herausgesucht, und dieses von Szloma Gol war das Affidavit, das ich im Zusammenhang mit Wilna ausgewählt habe.


VORSITZENDER: Herr Dr. Böhm! Mit welcher Begründung behaupten Sie, daß es zurückgewiesen wurde? Wenn es zurückgewiesen wurde, müssen Sie doch irgendeinen Grund haben, dies anzunehmen. Wo ist das Protokoll? Haben Sie es vor sich?


RA. BÖHM: Ich bin der Auffassung, daß diese eidesstattliche Versicherung zu den eidesstattlichen Versicherungen gehört, die das Gericht vorzulegen abgelehnt hat. Ich kann das im Moment nicht nachprüfen, aber ich will das gerne nach der Sitzung tun und mich davon überzeugen, ob das richtig ist. Ich glaube, daß dieses Affidavit zu den Affidavits gehört, die vorzulegen abgelehnt worden sind wegen des Abschlusses der Beweisaufnahme.


VORSITZENDER: Ist dies eines der elf Affidavits, die zurückgewiesen wurden?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, Herr Vorsitzender! Euer Lordschaft werden sich erinnern, daß ich ungefähr ein halbes Dutzend jüdischer Zeugen aus den baltischen Provinzen hatte, und der Gerichtshof sagte, daß ich drei davon rufen könne und daß sie für das Kreuzverhör Dr. Böhms verfügbar sein sollten. Der Aussteller dieses Affidavits, Szloma Gol, war einer von den dreien, die ich ausgewählt habe, und ich habe das Affidavit vorgelegt mit der Exhibit-Nummer GB-597.

Herr Vorsitzender! Ich kann mich daran erinnern und auch Oberst Griffith-Jones und Major Barrington, die mir damals behilflich waren, und die Tatsache, daß es eine Exhibit-Nummer hat, ist ein »prima facie«-Beweis dafür, daß der Gerichtshof es angenommen hat.


VORSITZENDER: Fahren Sie fort! Wenn Dr. Böhm beweisen kann, daß es zurückgewiesen wurde, wird es aus Ihrem Plädoyer gestrichen und nicht beachtet werden.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gut, Herr Vorsitzender!

Für das Ghetto von Schaulen, südlich von Riga, war die SA verantwortlich. 700 bis 800 Mann waren dort, erkennbar an ihren braunen Uniformen und Hakenkreuzarmbinden.

»Deshalb umzingelte die SA im August 1941 das ganze Ghetto, und viele von ihnen gingen in die Häuser und brachten Frauen, Kinder und alte Männer heraus, verfrachteten sie auf Lastwagen und fuhren sie weg. Ich habe dies alles persönlich gesehen. Es wurde ausschließlich von der SA ausge führt. Ich sah, wie sie Kinder bei den Haaren ergriffen [251] und sie auf die Lastwagen warfen. Ich sah nicht, was darnach geschah, aber ein Litauer erzählte mir später, daß sie 20 km weit gefahren und dann erschossen wurden. Er sagte, er habe gesehen, wie die SA diese Juden habe sich ausziehen lassen und sie dann mit automatischen Pistolen erschossen.« (D-969, GB-600.)

Die SA bewachte das Ghetto von Kaunas, wo 10500 Juden im Laufe der schrecklichen »Aktion« vom 28. Oktober 1941 erschossen wurden. (D-968, GB-599.) Ebenfalls bewachten sie die Arbeitslager Sakrau, Mechtal, Markstedt, Klettendorf, Langenbielau, Faulbrück, Reichenbach und Annaberg in Oberschlesien, wo Polen, Franzosen, Belgier, Holländer und Griechen als Sklaven arbeiteten und an schlechter Behandlung und Unterernährung starben, und wo »die SA... in den Methoden mit der SS in nichts zurücksteht.« (4071-PS, GB-603.)

An der Glaubwürdigkeit jener Juden, welche diese Jahre des Alpdrucks in den Ghettos und Arbeitslagern des Ostens durchlebt haben, kann kein Zweifel sein. Nicht nur werden immer wieder die von ihnen beschriebenen Verhältnisse durch andere Quellen und durch die eigenen Dokumente der Deutschen bestätigt, sondern es wird sogar die Identität eines von ihnen erwähnten SA-Mannes bekräftigt. Leib Kibart gab Ihnen den Namen des Kreiskommissars an, in dessen Hof die Juden aus dem Schaulener Ghetto von ihren SA-Wachmannschaften täglich beschimpft und geschlagen wurden. Er hat Ihnen gesagt, daß der Betreffende Gewecke hieß und daß er Mitglied der SA war. Wir sind im Besitz der Unterschrift Geweckes auf einen seiner eigenen Briefe vom 8. September 1941, in welchem er sich beklagt, daß die SS sich in seine Anordnungen für die »ordnungsmäßige Erfassung des jüdischen Vermögens« einmische. Der Briefkopf dieses Dokuments lautet: »Der Gebietskommissar in Schaulen«. (3661-PS, GB-601.) Die Bewachung war nicht die einzige Aufgabe, die der SA oblag. Sie bildete eigene Einsatzkommandos, und Einheiten der SA waren an dem blutigen Werk der Partisanenvernichtung beteiligt.

Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau spricht in einem Schreiben an den Angeklagten Frank von der Tätigkeit eines besonderen SA-Einsatzkommandos, welches zum Zwecke der Gewinnung von Arbeitern aus der Zivilbevölkerung gebildet worden war. (D-970, GB-602.)

Im Juni 1943 berichtete der Generalkommissar für Weißrußland:

»Auf Anordnung des Chefs der Bandenbekämpfung, SS-Obergruppenführer von dem Bach, haben auch Einheiten der Wehrmannschaften an dem Unternehmen teilgenommen. SA-Standartenführer Kunze hat die Wehrmannschaften geführt...« (R-135, US-289.)

[252] Die Aktion, von welcher der Generalkommissar sprach, war die schreckliche Aktion Cottbus, an welche Sie sich erinnern werden und von welcher der Generalkommissar berichtete:

»Die politische Auswirkung... auf die friedliche Bevölkerung ist infolge der vielen Erschießungen von Frauen und Kindern verheerend.« (R-135, US- 289.)

Die SA war im Generalgouvernement im Jahre 1941 aufgestellt worden. Im Dezember 1943 sagte der Angeklagte Frank:

»Als ich vor 21/2 Jahren den Auftrag zur Aufstellung der SA gab, leitete mich eine Überlegung, die mich heute nachdrücklicher denn je erfüllt. Es war mein Bestreben... daß eine eiserne Reserve an absolut unerschütterlichen Nationalsozialisten unter allen Umständen auch im Generalgouvernement vorhanden ist. Es ist ganz klar, daß diese eiserne Reserve ausgeprägten nationalsozialistischen Kämpfertums nur die SA sein kann... hier kann ich wirklich als SA-Kamerad mit meinen SA-Kameraden im Rahmen der SA das Völkische so pflegen, wie ich das im politischen Dasein des Raumes leider nicht kann, wo ich zahllos Rücksichten zu nehmen habe und ununterbrochen wie ein Raubtierbändiger im Raubtierkäfig die Peitsche in der Hand halten muß, um die Banditen in Zaum zu halten. Das ist ein Gesichtspunkt, den ein Gaulei ter im Reich niemals zu berücksichtigen braucht... Hier ist sie (die SA) zum erstenmal in einem neuen Raum mit neuen Methoden und Aufgaben eingesetzt, die aber gerade deshalb gelöst werden sollen, weil die SA hier das gleiche ist, was sie in der, Kampfzeit im Reich war.«

Unterdessen nahm zu Hause im Reich die SA

»an verschiedenen Aufgaben teil, welche vorher nur der SS, der Sipo und dem Heer anvertraut waren, z.B. Bewachung von KZ-Lagern, Bewachung von Kriegsgefangenenlagern, Aufsicht über Zwangsarbeiter in Deutschland und in den besetzten Gebieten. Diese Mitarbeit der SA wurde schon Mitte 1943 in Berlin von höheren Stellen geplant und bearbeitet.« (3232-PS, US-435.)

In der Steiermark wurde das Lager Frauenberg als ein Arbeitslager für Trunkenbolde und Arbeitsscheue eingerichtet. 300 Insassen arbeiteten in den benachbarten Steinbrüchen und im Straßenbau. SA-Leute bildeten die Wachmannschaft. (NO-034, GB-604). Kann man sich die Verhältnisse, in welchen diese Arbeitsscheuen und Delinquenten lebten – oder starben – ausmalen?

Gewalttätigkeit, Mord und Straßenherrschaft während der Kampfjahre, ungesetzliche Verhaftungen, unerlaubte Konzentrationslager, unglaublicher Sadismus während der Jahre des [253] Triumphes 1933 und 1934. Unbarmherzige Unterdrückung und brutale Verfolgung von Juden und Christen und jeglicher Opposition, gepaart mit kriegsangriffsmäßiger Ausbildung vom Jahre 1934 an bis Zum Kriegsausbruch. Und nachher mehr Konzentrationslager, mehr Sadismus, mehr Unterdrückung und Verfolgung – diesmal der angeblich rassenmäßig unterlegenen Völker, die sie besiegt hatten; und Gewalttätigkeit und Morde – aber nicht, wie in jenen fernen Tagen von 1933 von Einzelpersonen: Jetzt handelte es sich um ganze Völker. Nach diesem Muster geht es all die Jahre hindurch. Kann Ihre Entscheidung diese Männer freisprechen, damit sie wiederum die Völker Deutschlands und Europas terrorisieren?

Herr Vorsitzender! Ich halte es nicht für nötig, das Beweismaterial gegen die SS in allen Einzelheiten zu behandeln. Der Charakter dieser Organisation und die Betätigung ihrer Mitglieder sind Ihnen bereits zu gut bekannt. Die Buchstaben SS erscheinen in Verbindung mit fast jedem der großen und kleinen Verbrechen, von denen Sie nun im Laufe von fast zehn Monaten täglich gehört haben. Man kann alles, auch wenn es zu schwach ausgedrückt ist, mit den Worten ihres Führers Himmler zusammenfassen:

»Ich weiß, daß es manche Leute in Deutschland gibt, denen es schlecht wird, wenn sie diesen schwarzen Rock sehen: wir haben Verständnis dafür und erwarten nicht, daß wir von allzuvielen geliebt werden.« (1851-PS, US-440.)

Ich möchte daher nur über eine oder zwei besondere Fragen, die aufgetaucht sind und welche die Anklage als besonders wichtig erachtet, sprechen.

Die Geschichte der Entwicklung der SS kann in wenigen Worten geschildert werden. Ursprünglich zusammen mit der SA als ausgewählte Leibgarde für den Schutz Hitlers gegründet, bildete sie eine Privatarmee der Nazis und die Grundlage für das, was das wichtigste Werkzeug in der Verschwörung zur Entfesselung eines Angriffskrieges werden sollte. Ihr Wert als durchaus zuverlässiges »Werkzeug des Führers« erwies sich im Juni 1934, als sie in der blutigen Säuberung, welche mit dem Mord des SA-Führers Röhm verknüpft war, die Rolle des Henkers spielte. Ich zitiere:

»Es hat jeden geschaudert«, sagte Himmler später, »und doch war sich jeder klar darüber, daß er es das nächste Mal wieder tun würde, wenn es befohlen wird und wenn es notwendig ist.« (1919-PS, US-170.)

Die Willfährigkeit der SS, solches wieder zu tun, sollte sich in den folgenden Jahren millionenfach beweisen.

Bis zum Januar 1933 bestand die SS aus einer einheitlichen Gruppe. Es gab keine Sonderabteilungen, und abgesehen von ihrer gemeinsamen Rolle mit der SA und ihrer Sonderstellung als Hitlers [254] Leibgarde hatte sie keine Sonderaufgaben. Nach der Machtergreifung der Nazi-Partei jedoch und besonders nach 1934 vermehrte sich ihre Mitgliederzahl, und ihre Organisation dehnte sich aus und gewann an Umfang. Neue Einheiten wurden geschaffen, wie die SS-Totenkopf verbände, deren Aufgabe es war und blieb, die Konzentrationslager zu bewachen. Einzelne ausgewählte Einheiten wurden bewaffnet und wurden praktisch Himmlers Privatarmee, bekannt als SS-Verfügungstruppe. Gleichzeitig spezialisierten sich andere Gruppen in gewissen Funktionen; dieselben bildeten zwar keine getrennte Organisationen, wurden aber als Sondergliederungen bezeichnet, wie zum Beispiel der SD, der Nachrichtendienst der SS, der später so eng mit der Gestapo zusammenarbeiten sollte.

Obwohl es üblich wurde, die verschiedenen Gliederungen und Verbände der SS namentlich zu unterscheiden, so waren sie, was die Verwaltung und Befehlsgewalt anlangte, nur Teile der einen SS, standen alle unter dem Befehl des Reichsführer-SS und wurden sämtlich von den verschiedenen Hauptämtern der Reichsführung-SS verwaltet und kontrolliert.

Bei Kriegsausbruch wurde die Mehrzahl der Allgemeinen SS, die unbewaffnet gebliebene große Masse der SS-Mitglieder, zur Wehrmacht eingezogen. Neue Rekruten wurden zur Verfügungstruppe eingezogen, die ausgebaut wurde, um die Kampfdivisionen der SS zu bilden, die um 1940 als Waffen-SS bekannt wurden.

Aus dem Bericht des SS-Statistischen Amtes hat der Gerichtshof die Entwicklung bis zum 30. Juni 1944 ersehen. (D-878, GB-572). Die Gesamtmitgliederzahl belief sich damals auf 794941. Die Allgemeine SS – der ursprüngliche Kern der SS – hatte im Kriege an Bedeutung eingebüßt, weil mehr als die Hälfte ihrer 200000 Mitglieder zur Wehrmacht, zum Arbeitsdienst oder zu sonstigen Nazi-Sonderstellen eingezogen worden waren. Die übrigen 594000 gehörten zur Waffen-SS. Der Gerichtshof hat gesehen, daß 368000 Mann der Waffen-SS in Fronteinheiten dienten. Etwa 160000 Mann dienten in Genesungs-, Ausbildungs- und Reserveeinheiten. 26544 standen in anderen Einheiten und Ämtern, die dem Führungshauptamt der Reichsführung-SS unmittelbar untergeordnet waren; 39415 waren in den SS-Hauptämtern beschäftigt.

Es ist besonders bezeichnend, zu betrachten, wie sich diese 39415 Mann der Waffen-SS verteilten. Der Gerichtshof wird sehen, daß ich eine Gesamtaufstellung beigefügt habe. (D-878, GB-572.) Zeugen haben Ihnen erzählt, daß die Waffen-SS nichts mit Konzentrationslagern zu tun hatte. Aber nicht weniger als 24000 von ihnen waren im WVHA tätig, dem Amt, welches Verwaltung und Personal der Konzentrationslager organisiert hatte und für dieselben verantwortlich war. Diese Zahl 24000 umfaßte nicht die To tenkopf-SS, [255] welche die Bewachungsmannschaften stellte. Aus Waffen-SS-Männern setzten sich auch die verschiedenen völkermordenden Organisationen der Nazis zusammen, die im Rahmen und im Namen der SS handelten, das Rasse- und Siedlungshauptamt, das Amt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, das Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle, der persönliche Stab Himmlers, einschließlich Sievers' berüchtigtem Ahnenerbe.

Es wird von der Waffen-SS behauptet, daß sie in Wirklichkeit eine rein militärische Organisation war, deren Wesen sich von dem einer anderen Einheit der Wehrmacht nicht unterschied. Die Beweise ergeben, daß dies nicht der Fall war. Es ist wahr, daß die Waffen-SS die Kampfeinheit der SS war. Obwohl jedoch ihre Kampfformationen dem Oberbefehl der Wehrmacht für operative Zwecke unterstanden, blieben sie dennoch ein integrierender Bestandteil der SS. Tatsächlich bestimmte Hitlers Erlaß über die Aufgaben der SS im Mobilmachungsfalle, daß sie, wenn auch unter den Oberbefehl des Heeres gestellt, »politisch eine Gliederung der NSDAP bleibt« (647-PS, US-443). Während des ganzen Krieges blieben Nachwuchs, Ausbildung, Beförderungen, Verwaltung und Nachschub der Waffen-SS die Aufgaben der Obersten SS-Führung. Sie wurde durch das SS-Hauptamt ergänzt. Sie wurde organisiert, verwaltet und mit Nachschub versehen durch das Führungshauptamt, in welchem das Kommandoamt militärische Führungsaufgaben erledigte (2825-PS, US-441).

Mitglieder der Waffen-SS waren der Gerichtsbarkeit des Hauptamts SS-Gericht unterworfen. Wie alle anderen SS-Formationen war die Waffen-SS Himmlers Gerichtsbarkeit als Reichsführer-SS unterworfen. (Reichsgesetzblatt 1939, Teil I, Seite 2107). In Theorie und Praxis war die Waffen-SS ein ebenso integrierender Bestandteil der SS-Organisation wie jeder andere Zweig der SS. Sie werden sich an die Aussagen erinnern, die von Rundstedt machte:

»Die sämtlichen SS-Truppenteile unterstanden nur Himmler. Ich hatte weder Disziplinarstrafgewalt noch Gerichtsstrafgewalt. Ich konnte auch keinen Urlaub erteilen und keine Auszeichnungen verleihen. Ich war lediglich auf die taktische Verwendung dieser Divisionen beschränkt, genauso wie wenn ich eine jugoslawische oder ungarische Division befehligt hätte.«

Das war in großen Umrissen die SS, dieser allmächtige »Staat im Staate«, wie General Detzel sie bezeichnet hat. Die Verteidigung versucht nunmehr, diese allumfassende Einheit der SS in verschiedene völlig getrennte, nur in der Person Himmlers vereinte Bestandteile aufzulösen. Er und drei oder vier seiner Untergebenen werden allein für die millionenfachen Verbrechen, welche verübt worden sind, verantwortlich gemacht. Diese Behauptung verletzt [256] jedoch die Wahrheit und widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Wir haben es in diesem Prozeß nicht mit der Ermordung von 10 Mann hier oder von 20 Mann dort zu tun. Diese Anklage richtet sich nicht nur gegen die Ermordung von Millionen, sondern gegen einen dämonischen Plan der Völkervernichtung, der geplanten Ausrottung ganzer Nationen, Völker und Rassen. Die SS war das auserwählte Werkzeug für diesen Plan, der den des Herodes noch übertraf. Dieser Plan konnte nur durch den Einsatz der gesamten SS, das heißt jedes einzelnen Zweiges, im Einvernehmen und in Zusammenarbeit mit allen anderen ausgeführt werden. Das im Laufe dieses Prozesses vorgebrachte Beweismaterial hat gezeigt, daß die Verbrechen der Nazi-Verschwörer nicht in improvisierter Weise durch sporadisch begangene verbrecherische Handlungen ausgeführt worden sein konnten. Sie waren sorgfältig geplant, vorbereitet und ausgeführt von der SS und anderen verbrecherischen Organisationen. Die SS-Männer waren für den verbrecherischen Plan besonders geeignet. Körperlich ausgebildet und ausgewählt, waren sie in politischer Hinsicht im Nazismus geschult und zu blindem Gehorsam gegenüber den Befehlen Hitlers, Himmlers und der übrigen Nazi-Führer verpflichtet. »Befehle müssen heilig sein« sagte Himmler (1919-PS). Die Mitgliedschaft war nicht nur während der ersten 16 Jahre des Bestandes der SS von 1925 an eine freiwillige: Sie war einer außerordentlich sorgfältigen Auswahl unterworfen, um das zu schaffen, was die SS, »aus bestem arischen Menschentum ausgesucht«, eine »Überschicht«, einen »Verband deutscher, nordischbestimmter Männer« nannte. SS-Männer mußten fanatische Nazis »arischer« Abstammung sein. (1992-PS, US-439; 647-PS, US-443; 2284-PS, US-438; 3429-PS, US-446; 2825-PS, US-441; 2768-PS, US-447; 2640-PS, US-323.)

Die Verteidigung hat besonders betont, daß im Laufe des Krieges die freiwillige Basis der Rekrutierung durch zwangsmäßige Einziehung ersetzt wurde. Der Zeuge Brill sagte aus, daß

»bis Kriegsende mehr Gezogene in der Waffen-SS waren als Freiwillige«.

Es dürfte für den Gerichtshof vielleicht nützlich sein, wenn ich mich ganz kurz mit der Aussage dieses Zeugen befasse. Zwar wird nicht bezweifelt, daß zu einer Zeit während des Krieges eine beträchtliche Zahl von Männern zur Waffen-SS eingezogen wurde; der von dem Zeugen Brill angegebene Zeitpunkt, in welchem diese Praxis begann und der Umfang, in welchem sie durchgeführt wurde, wurden jedoch beide bestritten.

Er hat Ihnen erzählt, daß die ersten 36000 zwischen Herbst 1939 und Frühling 1940 eingezogen wurden. Zu behaupten, daß diese 36000 zwangsweise zur SS eingezogen wurden, ist vorsätzlich irreführend. Als er von dem beauftragten Richter zu einer ähnlichen Aussage ins Kreuzverhör genommen wurde, gab er zu, daß jene [257] 36000 schon Mitglieder der Allgemeinen SS waren, der sie freiwillig beigetreten waren. Sie wurden nicht eingezogen: Sie wurden ganz einfach von einem Teil der SS zum anderen versetzt. Die von ihm angegebenen Zahlen der späteren Einziehungen waren folgende: Im Jahre 1942: 30000, im Jahre 1943: 100000 und im Jahre 1944: 210000, insgesamt also 340000. Selbst auf Grund dieser Zahlen ist seine Aussage, daß beim Ende des Krieges mehr Eingezogene als Freiwillige vorhanden waren, bei weitem nicht gerechtfertigt. Als Gesamtzahl der Waffen-SS gab er 910000 an – eine Zahl, die ihre Anfangsstärke im Jahre 1940 und alle darauffolgenden Verstärkungen – Freiwillige und Eingezogene – umfaßte. 340000 macht gerade ungefähr ein Drittel dieser Gesamtzahl aus.

Hinsichtlich des Datums, zu welchem zum erstenmal Zwangseinziehungen zur SS stattfanden, ist beträchtliches Beweismaterial zur Widerlegung dieses Zeugen vorhanden. Im Februar 1940 beauftragte Heß die Parteistellen, bei der freiwilligen Werbung für die SS mitzuhelfen. Die von ihm erlassenen Anordnungen enthielten keinerlei Andeutung über eine zwangsweise Einziehung (3245-PS, GB-267). Im April 1942 betonte eine Werbeschrift die freiwillige Grundlage der Waffen-SS mit folgenden Worten:

»Die Jugend des nationalsozialistischen Reiches weiß, daß sie sich selbst bemühen muß, um ihren Wehrdienst in der Waffen-SS ableisten zu können. Daß sich so viele junge Deutsche zur Waffen-SS melden, ist ein sprechendes Zeugnis für das Vertrauen, das von der heutigen jungen Generation gerade der Waffen-SS, ihrem Geist und vor allem ihrer Führung entgegengebracht wird.« (3429-PS, US-446.)

»Der Soldatenfreund«, ein Taschenjahrbuch für die deutsche Wehrmacht, veröffentlicht im Jahre 1943, dem Jahr, in welchem Brill Sie glauben machen will, daß 100000 Mann eingezogen wurden, ohne sich widersetzen zu können, beschreibt die Mitglieder der SS als hoffnungsvolle junge Männer, die »sich freiwillig zum Eintritt in die Waffen-SS gemeldet haben«.

Es heißt dort:

»Jeder hat sich mit dem ausführlichen Merkblatt für die Waffen-SS vertraut gemacht,... dessen wichtigste Punkte nachstehend veröffentlicht werden:

1. Der Dienst in der Waffen-SS gilt als Wehrdienst. Es werden nur Freiwillige eingestellt.« (2825-PS, US-441.)

Im April des gleichen Jahres befahl Himmler Kaltenbrunner aus Anlaß der Aufnahme von Sipo-Beam ten in die SS:

»Ich möchte noch einmal klar aussprechen: Ich wünsche nur dann eine Aufnahme, wenn der Mann sich... wirklich freiwillig meldet...« (2768-PS, US-447.)

[258] Und das Organisationsbuch für das Jahr 1943 erklärt, daß die Waffen-SS durch die Aufnahme von Freiwilligen es während der Kriegsdauer diesen Freiwilligen ermöglichte, an dem Kampf um die Entwicklung der nationalsozialistischen Idee mitzuwirken. (2640-PS, US-323.) Ich darf auch noch folgende Bemerkung zu Brills Aussage machen. Sie werden sich erinnern, daß ich Sie schon auf die Erklärungen hingewiesen habe, die dieser Zeuge über die Tätigkeit der SS-Division Leibstandarte machte; sie sind, wie ich ergebenst bemerken möchte, als Meineid zu betrachten. Angesichts seiner verdächtigen Aussage und des vorhandenen Gegenbeweismaterials bin ich der Ansicht, daß, was immer auch das Ausmaß des zwangsweisen Dienstes in der SS war, es doch viel geringer war und zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt begann, als er behauptet.

Was immer auch in dieser Angelegenheit wahr sein mag, wir behaupten, die Tatsache, daß eine Anzahl Leute zwangsmäßig eingezogen wurde, sollte und kann dieser Organisation nicht zur Verteidigung dienen. Die verbrecherischen Handlungen, die von der SS während des Krieges begangen wurden, sind so weit verbreitet, so andauernd und so umfangreich, daß Sie zu dem Schluß gezwungen sind, daß die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder, gleichgültig, ob sie zunächst freiwillig beigetreten sind oder nicht, bereitwillig die Tradition der SS übernahmen und selbst bereitwillig an ihrer verbrecherischen Tätigkeit teilnahmen. Darf ich nur einen kleinen Teil des Beweismaterials, aus dem dieser Schluß gezogen werden muß, umreißen.

Sie kennen bereits die Art und Weise der Erziehung und Ausbildung, die die SS-Männer erhielten, eine Ausbildung zum »Rassenkampf«, den Himmler ihnen »erbarmungslos« durchzuführen befahl. Rassentheorien, Geopolitik, Eugenik – dies war ihr Lehrplan. »Mein Kampf« war ihre Bibel. Ihre grundlegende Philosophie wurde von Himmler folgendermaßen ausgedrückt:

»Es muß selbstverständlich sein, daß aus diesem Orden, aus dieser rassischen Oberschicht des germanischen Volkes die zahlreichste Nachzucht hervorgeht. Wir müssen in 20 bis 30 Jahren wirklich die Führungsschicht für ganz Europa stellen können. Wenn die SS zusammen mit den Bauern... dann die Siedlung im Osten betreiben, großzügig, ohne jede Hemmung, ohne jedes Fragen nach irgendwelchem Althergebrachten, mit Schwung und revolutionärem Drang, dann werden wir in 20 Jahren die Volkstumsgrenze um 500 Kilometer nach Osten herausschieben.« (1919-PS, US-170.)

Die Propagierung solcher Ideen konnte nur dazu führen, daß die SS-Männer eine Weltanschauung in sich aufnahmen, in der Zerstörung, Versklavung und Degradierung »minderwertiger« Völker [259] als Ehrenpflicht galt. Gewissensbisse haben und konnten diese Männer nicht quälen. Der Gerichtshof wird sich an die Worte von dem Bach-Zelewskis erinnern, als er gefragt wurde, ob der Mord an 90000 Juden durch eine kleine Einsatzgruppe (zu der nebenbei die Waffen-SS die Mehrzahl der Mörder stellte) im Einklang mit der Nazi-Weltanschauung stand. Er sagte:

»Ich bin anderer Ansicht. Wenn man jahrelang predigt, jahrezehntelang predigt, daß die slawische Rasse eine Unterrasse ist, daß die Juden überhaupt keine Menschen sind, dann muß es zu einer solchen Explosion kommen. (Protokoll Band IV, Seite 549.)

Nicht nur SS-Generale, wie Bach-Zelewski und Ohlendorf selbst, waren von diesem Gift verseucht. Wir behaupten, daß es auch den gewöhnlichen SS-Mann, der die Morde beging, verseuchte und verseuchen mußte. Die von ihnen durchgeführte Ausrottung der Juden wurde als ein Ruhmesblatt unserer Geschichte« betrachtet (1919-PS, US-170).

Ruhm! Kaltblütiger Massenmord wird als Ruhm betrachtet!

Bedarf es weiterer Beweise, um den Menschentypus zu kennzeichnen, den diese scheußliche Erziehung hervorbrachte? Lange bevor sie der SS beigetreten waren, waren ihre Mitglieder mit Rassenhaß und Führer-Anbetung gesättigt. Die SS-Ausbildung war nur ein Lehrgang für Fortgeschrittene. Wenn sie in die SS eintraten, und zwar einerlei in welchen Teil, sahen sie die praktische Anwendung alles dessen, was sie schon vorher gelernt hatten! Überall, in jedem Amt, in jeder Einheit, war Mord der Beruf. Und wo immer gemordet werden mußte, waren es die Mitglieder der SS, die dafür eingesetzt wurden.

Das Ahnenerbe war eine Abteilung der SS. Seine Mitgliederliste enthält die Namen von über 100 Professoren und anderen gebildeten Männern – alles SS-Mitglieder, die sich auf den mörderischen Beruf Hunderter anderer SS-Mitglieder stützten, die sie mit den Menschenkörpern für ihre Experimente und mit den Exemplaren für ihre Sammlungen zu beliefern hatten – mit Körpern von Kommissaren, die lebend gefangengenommen und dann enthauptet werden sollten, vorsichtig, weil der »Kopf nicht verletzt werden darf«. Professor Hirth schrieb:

»In den jüdisch-bolschewistischen Kommissaren, die ein widerliches aber charakteristisches Untermenschentum verkörpern, haben wir die Möglichkeit, ein greifbares wissenschaftliches Dokument zu erwerben, indem wir uns ihre Schädel sichern.« (NO-085, GB-574.)

Das Amt für die Festigung deutschen Volkstums war ein Amt der SS; es war verantwortlich für das furchtbare Verbrechen des Völkermordes und für all das, was damit verbunden war. Das RSHA [260] und WVHA, die die Konzentrationslager kontrollierten und für sie verantwortlich waren, waren mit SS besetzt. Die Verbrechen der SS in den Konzentrationslagern brauchen nicht weiter erwähnt zu werden; es soll nur noch betont werden, daß die von der SS-Gerichtsbarkeit eingeleiteten Untersuchungen, über die der Zeuge Morgen aussagte, keine Untersuchungen von Massenmorden, sondern von Korruptionsfällen von SS-Beamten waren. Dieser Zeuge ist ebenfalls einer von denen, die ich bereits für unglaubwürdig erklärt habe. Wie kann man die Erzählung von einer Untersuchung der Morde durch Höß in Auschwitz durch einen SS-Richter für ernst nehmen, die durch das Vorrücken der Alliierten unterbrochen wurde? Was für eine weitere Untersuchung war denn noch nötig, wenn Morgen selbst alle Einzelheiten der Auschwitz-Morde im Jahre 1943 oder 1944 bekannt waren? Haben Sie etwa Zweifel, daß, falls die Alliierten den Krieg verloren hätten, Höß immer noch Massenmorde in jenem Konzentrationslager begehen würde und daß SS-Richter immer noch Korruption und vereinzelte Verbrechen untersuchen würden?

Die Einsatzkommandos bestanden hauptsächlich aus SS. Sie zeigen im kleinen die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Zweigen von Himmlers System und der Gesamtheit der SS. Die Einsatzgruppe »A« war folgenderweise zusammengesetzt:

Waffen-SS

34,4 Prozent,

SD

3,5 Prozent,

Kriminalpolizei

4,1 Prozent,

Gestapo

9,0 Prozent,

Hilfspolizei

8,8 Prozent,

Andere Polizei

13,4 Prozent.

(L-180, US-276.)


Die Vernichtung der Juden wurde durch die SS ausgeführt. Das Warschauer Ghetto ist nur eines dieser Beispiele. Deportation, Mord und Beraubung von Polen und anderen Leuten, die Gebiete bewohnten, welche für die Ansiedlung von Deutschen benötigt wurden, wurden von der SS ausgeführt. Sie werden sich des Globocznik-Berichtes erinnern, der Aktion, in welcher Tausende von Polen von ihren Wohnstätten vertrieben und 178 Millionen Reichsmark für das WVHA aufgebracht wurden und welche mit Globoczniks eigenen Worten

»auf Befehl« – des Reichsführer-SS – »erfolgte und nur die Anständigkeit und Sauberkeit sowie die Überwachung der hier eingesetzten SS-Männer konnte eine restlose Ablieferung gewährleisten.« (4024-PS, GB-550.)

Man wundert sich, daß er nicht hinzufügte »pecunia non olet« (Geld riecht nicht).

[261] Die Waffen-SS wurde die Vorhut für die Angriffskriege der Nazis, besonders bei dem Überfall auf die Sowjetunion, und versinnbildlichte die Tyrannei und das Blutbad, die der Nazi-Herrschaft eigen waren.

»Der Ruf des Schreckens und des Terrors, der uns bei den Kämpfen um Charkow vorausging, diese ausgezeichnete Waffe sollen Sie niemals schwach werden lassen, sondern sie immer wieder verstärken«

sagte Himmler im Jahre 1943 zu den Offizieren der drei SS-Divisionen in Charkow (1919-PS, US-170).

Der Waffen-SS gelang es, ihrem Ruf als Schreckenverbreiter andauernd neue Bedeutung zu verleihen. Zahlreiche Fälle der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Waffen-SS sind dem Gerichtshof unterbreitet worden. (1972-PS, US-471; 2997-PS, US-472; D-569, GB-277; 1061-PS, US-275.) Sie sind frisch in Ihrer Erinnerung und bedürfen keiner Wiederholung. Nur daran möchte ich den Gerichtshof erinnern, daß sich einige der schlimmsten Grausamkeiten in den Jahren 1943 und 1944 ereigneten, zu einer Zeit, als ein Teil der Waffen-SS aus Eingezogenen bestand.

Wie kann behauptet werden, daß die Mitglieder der SS und besonders der Waffen-SS lediglich Soldaten waren – Soldaten, die von diesen Verbrechen nichts wußten und an ihnen nicht teilnahmen? Wie kann gesagt werden, daß nicht sie es waren, deren Ziele verbrecherisch waren? Wo wir auch immer auf Nazi-Verbrechen stoßen, finden wir auch SS-Leute daran beteiligt. Immer wird gesagt, daß diese SS-Männer etwas Besonderes waren, Mitglieder des SD oder irgendeiner anderen besonderen Gliederung, Mitglieder der SS, die zu Spezial-Einheiten abkommandiert waren, wie zum Beispiel zu den Einsatzkommandos, Mitglieder der SS, die eigentlich überhaupt keine richtigen SS-Männer waren, sondern Doktoren der Polizei. Kann das wirklich so sein? Lassen Sie uns absehen von dem Beweismaterial über die Konzentrationslager, über die Einsatzkommandos, über die ungeheuren und brutalen Verbrechen gegen die Bevölkerung von Gebieten, in die sie eingedrungen waren, über die Massenausrottung von Juden in der Hälfte aller Länder Europas, über die zahllosen Fälle von Sadismus und einzelner Verbrechen, über zahllose andere Fälle von Mord im Kampfe und über jeden anderen Bruch der Gesetze der Kriegführung. Lassen wir außer Betracht die Beweise für alle diese Verbrechen, obwohl jedes einzelne von ihnen von verschiedenen SS-Männern in verschiedenen Städten und Dörfern überall im Großdeutschen Reich begangen wurde; ignorieren wir sie, obgleich sie nicht eine plötzliche Welle von Verbrechen darstellten, sondern [262] jahrelang Tag für Tag begangen wurden; gehen wir von der Tatsache ab, daß in beinahe keinem Fall eines Verbrechens, von dem wir hörten, andere als SS-Männer beteiligt waren. Lassen wir all dies, wenn Sie wollen, unberücksichtigt. Auch ohne dies ist der verbrecherische Charakter der SS vom Höchsten bis zum Niedrigsten schon durch die Niederschriften von drei Reden bewiesen, die Himmler vor Offizieren seiner SS-Einheiten gehalten hat. (1918-PS, US-304.)

Im April des Jahres 1941 sprach er zu allen Offizieren der SS-Division Leibstandarte. Im Oktober 1943 wandte er sich an seine Gruppenführer in Posen. Die Regimentskommandeure seiner drei SS-Divisionen hörten sich noch im gleichen Monat das an, was er in Charkow zu sagen hatte. Diese Reden wurden ihnen immer und immer wieder zitiert, und Sie kennen die Gesinnung, die in ihnen ausgedrückt war, und das Thema, das sie behandelten (1919-PS, US-170). Können Sie sich einen General Ihres eigenen Landes vorstellen, der zu den Offizieren einer Ihrer eigenen Divisionen über die Verschleppung von »Tausenden, Zehntausenden, ja Hunderttausenden« von Menschen in die Sklaverei und über die Erschießung von »Tausenden führender Polen« spricht. Können Sie sich einen britischen, amerikanischen, sowjetischen oder französischen Armee-Befehlshaber vorstellen, der seinen Generalen sagt:

»Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig... Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.« (1919-PS, US-170, S. 23.)

Oder der sagt:

»Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt ein jeder Parteigenosse, ›ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir‹. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die andern sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.« (1919-PS, US-170, S. 65.)

[263] Können Sie ihn sich vorstellen, wie er zu allen Kommandeuren einer seiner Divisionen sagt:

»Mit dem Antisemitismus ist es genau wie mit der Entlausung. Es ist keine Weltanschauungsfrage, daß man die Läuse entfernt. Das ist eine Reinlich keitsangelegenheit. Genauso ist der Antisemitismus für uns keine Weltanschauungsfrage gewesen, sondern eine Reinlichkeitsangelegenheit...« (1919-PS, US-170.)

Wenn Sie sich das vorstellen können, können Sie sich denken, was Sie von den Offizieren und den von ihnen befehligten Männern sagen würden? Ist es möglich, daß Offiziere und Mannschaften dieser Waffen-SS-Divisionen, zu denen man in dieser Art sprechen konnte, saubere, anständige und ehrbare Soldaten mit guter Gesinnung waren? Solche Männer, mögen sie nun aus Deutschland oder irgendeinem anderen Lande der Welt sein, würden diese Worte nicht dulden. Solche Reden sind im Laufe dieses Verfahrens sehr alltäglich geworden, aber sie werden ihre Bedeutung nie verlieren. Sie zeigen, daß jedes Mitglied dieser SS-Einheiten ein Prototyp seines SS-Führers war. Wenn dem nicht so wäre, dann hätte der Angeklagte Göring, nachdem er Mussolini von den Schrecken der deutschen Methoden bei der Bekämpfung der Partisanen erzählt hatte, nicht sagen können:

»Angehörige der Partei verrichten diese Aufgabe viel härter und besser... Auch die SS, die Garde der alten Parteikämpfer, die zum Führer persönliche Bindungen haben und eine Auslese darstellen, bestätigen diesen Grundsatz.« (D-729, GB-281.)

Wenn dem nicht so wäre, dann hätte der Angeklagte Hess nicht schreiben können:

»Die... Einheiten der Waffen-SS sind infolge ihrer intensiven nationalsozialistischen Schulung über Fragen der Rasse und des Volkstums für die besonderen in den besetzten Ostgebieten zu lösenden Aufgaben geeigneter als andere bewaffnete Verbände.« (3245-PS, GB-267, Seite 354.)

Wir wissen, daß Hitler der Waffen-SS als künftige Rolle die einer Staatspolizei zugedacht hatte, um den besetzten Gebieten die deutsche Autorität aufzuzwingen; einer Staatspolizei, welche sich niemals mit dem Proletariat und der Unterwelt verbrüdern würde. Das war die ihnen bestimmte Rolle, die die ganze Armee kannte, weil Sie auf Befehl des OKW die »weiteste Verbreitung« gefunden hatte. (D-665, GB-280.) Wir sind mit der Nazi-Staatspolizei zur Genüge bekannt, auch mit der Erziehung und Ausbildung der Waffen-SS und der praktischen Anwendung dieser Ausbildung während der Kriegsjahre, die sie für die ihnen bevorstehenden Aufgaben und die Art der Methoden, die sie anzuwenden hatte, [264] befähigen sollten. Aus diesen Männern, aus den Männern, die für die Überwachung und Terrorisierung Europas auserlesen und geschult waren, besteht die Organisation der SS, die wir Sie bitten, für verbrecherisch zu erklären.

Die hauptsächlichsten Erwägungen, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit hinsichtlich dieser drei Organisationen, des Korps der Politischen Leiter, der SA und der SS, lenken möchte, sind folgende: Diese Organisationen waren es, die den Apparat zur Durchführung der von diesen Angeklagten geplanten Verbrechen bildeten. Diese drei Organisationen waren nicht verschieden und getrennt voneinander, wie ihre Verteidiger es darstellen möchten. Es waren ihre Mitglieder, die gemeinsam den grundlegenden und gefährlichen Kern des Nationalsozialismus bildeten und noch bilden. Als getrennte Zweige der nationalsozialistischen Elite waren ihre Zwecke und Ziele die gleichen; sie arbeiteten und wirkten zusammen mit denselben Methoden, die allen erkennbar verbrecherisch waren. So war es von Anfang an und so blieb es bis zum Ende. Nichts kann dies deutlicher demonstrieren als der Beweis dafür, wie die Nationalsozialistische Partei und Regierung den Begriff von Recht und Ordnung erniedrigten und die Rechtsübung ihrer Gerichte verdarben, um sich selbst und ihre Anhänger in den verbrecherischen Bahnen, die sie verfolgten, zu schützen.

Kaum war die Nazi-Regierung zur Macht gekommen, als die Nazi-Minister, die Nazi-Polizei und Nazi-Justiz Gewalttaten und Morde verziehen, welche von der SA, der SS und der Gestapo verübt wurden. Und aus welchen Gründen: – Aus Gründen, welche damals die völlige Verrottung des Nationalsozialismus ganz Deutschland vor Augen führen mußten und welche dies heute der ganzen Welt zeigen.

»Da die Tat keinem unedlen Beweggrund entsprang« – ich zitiere – »vielmehr der Erreichung eines im höchsten Grade vaterländischen Zieles und zur Durchsetzung des nationalsozialistischen Staates diente, erscheint die Niederschlagung des Verfahrens... nicht unvereinbar mit einer geordneten Strafrechtspflege.« (D-923, GB-615.)

Das war die Auffassung des Staatsanwaltes des Landgerichts in Nürnberg gegenüber den SA-Männern, die einen Kommunisten zu Tode geprügelt hatten – geprügelt, bis seine Fußsohlen so geschwollen waren, daß... ich zitiere:

»Die Haut der Fußsohlen war von dem massenhaft darunter angesammelten Blut vorgewölbt, so daß sich beim Einschneiden nach Ablaufen des Blutes fast faustgroße Taschen ergaben.« (D-923, GB-615.)

In München hat der Innenminister ähnliche Gründe angegeben, um Verfahren gegen SS-Wachposten in Dachau niederzuschlagen, [265] die einen Gefangenen auf den Kopf geschlagen hatten, bis er starb. Zur Begründung wird ausgeführt, daß

»durch die Durchführung des Ermittlungsverfahrens dem Ansehen des nationalsozialistischen Staates großer Abbruch deswegen getan würde, weil diese Verfahren sich gegen Angehörige der SA und SS richten und somit die SA und SS, also Hauptträger des nationalsozialistischen Staates, unmittelbar betroffen würden.« (D-926, GB-568.)

Nazi-Richter stellten Verfahren gegen SA-Mitglieder in Übereinstimmung mit der Obersten Führung dieser Organisation ein, ich zitiere wieder:

»Die Tat und der Wille der SA-Männer war nur gerichtet auf das Wohl der nationalsozialistischen Bewegung. Das politische Moment und die Lauterkeit des Wollens steht somit außer Zweifel.« (D-936, GB-616.)

Wenn Richter, die noch nicht an diese neuen Rechtsbegriffe gewöhnt waren, Wachposten verurteilten, denen »es nicht nur darauf angekommen sei, Angaben zu erlangen«, sondern die »aus reiner Lust an Quälereien gehandelt« hatten (785-PS, US-733), dann wurden sie sofort aus der Partei ausgeschlossen; dem Staatsanwalt, der zufälligerweise selbst Mitglied der SA war, wurde nahegelegt, sein Amt niederzulegen, und der Gauleiter wies den höchsten Gerichtshof schriftlich an, für das erlassene Urteil einen Gnadenerweis ergehen zu lassen. (784-PS, US-732.)

Kann da noch ein Zweifel bestehen, daß Bewerber um die Mitgliedschaft dieser Organisationen nicht wußten, daß die Mitgliedschaft ihnen einen Freibrief für Mord verschaffte?

Diese Rechtsbegriffe waren auch nicht auf Gerichte des Staates und der Partei begrenzt. Das Militär konnte etwas so Reizvollem nicht widerstehen. 1939 billigte ein Militärgericht einem SS-Mann mildernde Umstände zu,

»weil er durch einen Unteroffizier durch Überreichung eines Gewehrs veranlaßt wurde, sich an Er schießung zu beteiligen. Durch zahlreiche Greueltaten der Polen gegen Volksdeutsche im Reizzustand gewesen. Als SS-Mann in besonderem Maße beim Anblick der Juden die deutschfeindliche Einstellung des Judentums empfunden, daher in jugendlichem Draufgängertum völlig unüberlegt gehandelt.« (D-421, GB-567.)

Diese SS-Soldaten wurden wegen »Totschlags« zu Gefängnis verurteilt, wozu der Heeresbefehlshaber seine Bestätigung verweigerte. Wegen »Totschlags« solcher Art, wie er nur Nationalsozialisten bekannt war, die, wie wir in diesem Gerichtssaal gesehen haben, eine [266] auffallende Empfindlichkeit gegen das Wort »Mord« zur Schau tragen. Folgendes nannten sie Totschlag:

»Beide haben etwa 50 Juden, die tagsüber zur Ausbesserung einer Brücke herangezogen waren, nach Beendigung der Arbeit abends in einer Synagoge zusammengetrieben und grundlos zusammengeschossen.« (D-421, GB-567.)

Ich möchte damit abschließen, daß ich Ihnen die Ansicht des Obersten Gerichtshofs ins Gedächtnis rufe – des höchsten Wächters nationalsozialistischer Ehre und Disziplin, dessen erhabener Amtsgewalt und Zuständigkeit die Angehörigen aller dieser Organisationen unterworfen waren. Über die Morde, die während der Demonstrationen von 1938 durch Hoheitsträger und Angehörige der SA und SS begangen waren und deren Untersuchung der Geheimen Staatspolizei und der Parteigerichtsbarkeit der Gauleiter und anderen politischen Leitern übertragen war, wurde nur befunden, daß

»in den Fällen, in denen Juden ohne Befehl... oder befehlswidrig... getötet wurden, unlautere Motive nicht festgestellt werden konnten«.

Der Zweck dieser Verfahren vor dem Parteigericht war es:

»diejenigen Parteigenossen zu decken, die aus anständiger nationalsozialistischer Haltung und Einsatzbereitschaft über das Ziel hinausgeschossen waren...« (3063-PS, US-332.)

In diesen wenigen Zeilen haben Sie das Geheimnis von all dem Tod und Leiden, dem Schrecken und der Tragödie, die diese Angeklagten und die Angehörigen jener Organisationen über die Welt gebracht haben. Hier sehen Sie, zu welchen Tiefen der Gemeinheit sie das menschliche Gewissen verdorben haben. Keine unlauteren Motive! Der Mord an Frauen und Kindern ist also »anständige, nationalsozialistische Haltung und Einsatzbereitschaft«. Das war also das nationalsozialistische Glaubensbekenntnis, das die Angehörigen dieser Organisationen mit Begeisterung annahmen, das Glaubensbekenntnis, das sie – kann jemand daran zweifeln – noch heute hochhalten und, wenn ihnen die Gelegenheit gegeben wäre, wieder zum Leben erwecken würden.

Was das Oberkommando und den Generalstab anbelangt, ist es nicht meine Absicht, mich so gründlich damit zu befassen, wie es meine Kollegen so erschöpfend tun werden. Trotzdem möchte ich feststellen, und zwar so klar und nachdrücklich, wie dies überhaupt gesagt werden kann, daß die Britische Delegation rückhaltlos der Forderung auf eine Verurteilung der unter diesem Namen angeklagten Gruppe zustimmt.

Die belasteten Personen haben sich an Kriegen beteiligt, von denen sie genau wußten, daß sie rechtswidrige Angriffskriege waren. Sie haben eine wesentliche Rolle bei den Taten gespielt, die in der Person ihrer unmittelbaren Täter unleugbar Kriegsverbrechen und [267] Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Trotzdem beteuern sie ihre Unschuld.

Unsere Anklage gegen sie basiert genau so unerschütterlich auf den Tatsachen dieses Prozesses wie auf den Lehren der Geschichte.

Sie haben Befehle ausgeführt, die nach dem eigenen Geständnis vieler von ihnen die Reste ihres Gewissens schwer belasteten. Sie wußten ganz genau, daß sie etwas Unrechtes taten, aber jetzt sagen sie: »Befehl ist Befehl.«

Jedem anständigen Menschen fällt es schwer, anderen das Fehlen sittlichen Mutes vorzuwerfen – er kennt seine eigenen Mängel in dieser Hinsicht nur zu gut. Aber dann kommt schließlich angesichts von Verbrechen, die offensichtlich Mord und Barbarei sind, ein Punkt, an dem eine höhere Pflicht ruft. Selbst Dr. Laternser gab dies zu. Sein Hinweis an den Zeugen Schreiber, daß er gegen die Vorschläge des Heeresstabs auf eine bakteriologische Kriegführung hätte protestieren sollen, klingt sonderbar im Munde eines Vertreters jener Männer, deren hauptsächlichste Verteidigung die Behauptung war, daß es unmöglich und zwecklos war zu protestieren. Welchen Unsinn – welch absoluten Unsinn – mußten Sie von diesen Angeklagten und ihren Generalen anhören, wenn ihr eigener Verteidiger, um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen in Zweifel zu ziehen, gerade diese Frage stellen mußte, die die Anklagebehörde sich seit dem ersten Tag dieses Prozesses gestellt hat. In fairer Berücksichtigung aller militärischen Tradition darf es doch nicht dahin kommen, daß sich Soldaten hinter dem Buchstaben eines Befehls verstecken, um sittlichen Problemen nicht ins Antlitz sehen und sie nicht, ob richtig oder falsch, als sittliche Probleme entscheiden zu müssen. Große Führer sind keine Marionetten, die willenlos und blind zu gehorchen haben. Ich brauche über die Geschichte unserer eigenen Soldatenpersönlichkeiten gar nicht hinauszugehen, um Beispiele zu finden – die Philosophie eines Montrose, die brütenden Gedanken eines Marschall Ney, das unruhige Herz eines Robert E. Lee im Jahre 1861. Zwei der größten Namen in Deutschlands Kriegsgeschichte kommen einem in den Sinn: von Clausewitz, der die preußische Armee verläßt, um in den Dienst der russischen zu treten; Yorck von Wartenberg, der sich für die Neutralität entscheidet – beide stellten, was sie für Europa und die Menschheit für notwendig hielten, über die Befehle des Augenblicks. Um wieviel klarer und offenkundiger war die Pflicht, als die Ausarbeitung, der Erlaß und die Ausführung des »Nacht-und-Nebel«-Befehls, des Kommando-Befehls, des Kommissar-Befehls, Hitlers Befehl, 50 Fliegeroffiziere zu ermorden, die Schändung eines jeden Ideals bedeutete, das jeder Soldat liebt und teuer hält; als – wie sie alle, die jemals an der Ostfront standen, mit ihren eigenen Augen sehen konnten – ihnen zugemutet wurde, [268] einem ausgeklügelten System der Massenvernichtung und äußersten Brutalität Hilfe und Mitarbeit zu leisten.

Gerade diese Menschen, die ihren Führer als kaltherzigen Mörder kannten, liefen jahrelang von einer Besprechung zur anderen, um zu seinen Füßen zu sitzen und seinen Worten zu lauschen. Sie stillten seinen Hunger nach Macht und Versklavung mit ihren besten beruflichen Fähigkeiten. Während die schutzlosen Völker im Osten, die Männer, Frauen und Kinder von Polen, aus der Sowjetunion und aus den baltischen Staaten mit kalter Überlegung abgeschlachtet oder in die Sklaverei verschleppt wurden, um den deutschen Lebensraum zu ermöglichen, sprachen diese Männer von Kriegsnotwendigkeiten. Als dann ihre eigenen Städte bombardiert und Deutsche getötet wurden, nannten sie es Mord. Erst im Juli 1944, als Hitlers Stern sich verdunkelte, erkannten drei Feldmarschälle und fünf Generaloberste endlich, daß er auch ihr eigenes Land mordete und griffen ein. Aber als dieser Stern noch siegreich emporstieg, hatten sie ihm zugejubelt und nur zu gern die blutrote Farbe der Wolken, aus denen er emporgestiegen war, übersehen.

Soviel zu den Tatsachen und deren Würdigung. Vielleicht ist es mir erlaubt, ein Wort zu den Bestimmungen des Statuts zu sagen. Der Gebrauch der beiden Worte »Gruppe« oder »Organisation« bedeutet sicher, daß die fragliche Gesamtheit entweder von den Nazis formell organisiert oder von der Anklage als Gruppe, die als wirkliche Realität bestand, herausgegriffen sein mag. Diese Gruppe war durch ihre besondere Kenntnis, die ihr bei so vielen Besprechungen gegeben wurde, vereinigt und durch die Weitergabe jener verbrecherischen Befehle freiwillig verbunden. Aus diesem Grunde fordern wir ihre Verurteilung.

Was die Reichsregierung anbelangt, so möchte ich lediglich klarstellen, daß die Britische Anklagebehörde nach wie vor ohne Zögern einen Schuldspruch erbittet. Darüber hinausmöchte ich nur zwei Feststellungen treffen.

Die Stellung jener bekannten Nazis, die 1933 dem Kabinett beitraten, ist in gewisser Weise in Frage gestellt worden. Wenn in diesem Kabinett wirklich jemand nicht gewußt hat, worauf er sich am 30. Januar 1933 einließ, so hat er jedenfalls im März einen recht deutlichen Eindruck davon erhalten, als die Juden angegriffen wurden. Seine Kenntnisse nahmen weiter zu im April, als das ganze Volk zum Boykott der Juden aufgeboten wurde und die amtliche Zahl von 20000 Verhafteten durch die deutsche Presse ging. Im Juni 1934 wußte er, daß man sich des Mordes als Werkzeug der Politik bediente. 1935 und 1936 war ihm klar, daß bei der Durchführung der Außenpolitik das Risiko eines Krieges in Kauf genommen wurde.

[269] Der andere Punkt, zu dem ich Stellung nehmen möchte, ist das von der Verteidigung entworfene Bild von Ministern, die sich in völliger Unwissenheit über die tatsächlichen Vorgänge befanden. Nach meiner Auffassung arbeitet keine Regierung in einer derartigen Weise. Ganz einerlei ob totalitär oder demokratisch, eine Regierung kann nur handeln, wenn sie sich mit menschlichen Wesen befaßt. Das Dasein menschlicher Wesen spielt sich aber nicht in wasserdichten Behältern ab; ihre unendlich vielfältigen Interessen sind vielmehr unlösbar miteinander verstrickt. Selbst der vollkommen autoritäre Minister muß – wie auch Dr. Kubuschok in seinem Plädoyer zuzugeben geneigt war – die Rückwirkung seiner Maßnahmen auf das Werk seiner Kollegen in Rechnung ziehen. Mit anderen Worten, er muß wissen, was vorgeht.

Und gerade weil die Leute aus dieser Gruppe wußten, was vorging, weil sie diese Regierung unterstützten und die höchsten Stellen und die reichste Belohnung vom Staat für sich selbst als Preis für ihre Unterstützung in Anspruch nahmen, darum fordern wir heute die Verurteilung dieser Organisation.

Ich bin bestrebt gewesen zu zeigen, wie sich der SD und die Gestapo in das ganze Schema des Nazi-Staates einfügte. Wie zu erwarten war, werden sie durch das von mir vorgelegte Beweismaterial in unzähligen Formen belastet. Ich beabsichtige nicht, mich weiter mit diesen Organisationen zu befassen, sondern möchte nur noch einmal den Antrag meiner Kollegen auf ihre Schuldigsprechung mit allem Nachdruck unterstützen.

Ich bin mir wohl bewußt, Herr Vorsitzender, daß eine der größten Schwierigkeiten und nicht die geringste der Gefahren dieses Prozesses darin Besteht, daß diejenigen von uns, welche tagaus tagein, neun Monate lang, in ihm tätig waren, mit Grauen übersättigt sind. Shakespeare versuchte, einen solchen Sättigungspunkt in den denkwürdigen Versen zu schildern:

»Verheerung, Mord wird so zur Sitte werden

Und so gemein das Furchtbarste,

Daß Mütter nur lächeln, wenn sie

Ihre zarten Kinder gevierteilt

Von des Kriegers Händen sehen

Die Fertigkeit in Greueln würgt das Mitleid...«

Nur wenn wir ein wenig von dem, was sich 40 Wochen lang vor uns täglich abgespielt hat, Abstand gewinnen, können wir erfassen, daß »innere Wut und schauriger Bürgerkrieg«, deren Folgen Marcus Antonius voraussah, im Vergleich zu den Tatsachen, welche wir zu erwägen haben, nur eine unbeträchtliche Bagatelle darstellen.

Es handelt sich nicht allein um die Menge der Greueltaten – obwohl diese Organisationen das Werkzeug für den Tod von 22 Millionen Menschen gewesen sind – es handelt sich um den Grad der[270] Grausamkeit, welcher die Gaskammern von Auschwitz oder die alltägliche Erschießung jüdischer Kinder hervorrief, und dies auf einem Erdteil, welcher den Anspruch erhebt, als zivilisiert zu gelten. Jede dieser Organisationen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem traurigen Geschäft des Mordes in seiner rohesten Form. Wer könnte daran zweifeln, daß das Reichskabinett von dem Gnadentod, der zur Erhaltung der physischen Hilfsquellen Deutschlands für den Krieg angewendet wurde, wußte? Es besteht kein Zweifel, daß das Oberkommando und der Generalstab diese Befehle, von denen Sie so viel gehört haben und welche letzten Endes nichts anderes als nackter Mord waren, weitergegeben haben; das Korps der Politischen Leiter nahm an der Ermordung von Juden und an der körperlichen Ruinierung von Sklavenarbeitern teil. Ich brauche die SS nur zu erwähnen, und sogleich denkt man unwillkürlich an die Verbrechen, ohne daß es eines Wortes von mir bedarf. SD und Gestapo stimmten diesen Verbrechen zu, halfen dabei und fanden Gründe dafür. Die SA bildete ihre baltischen Rekruten dazu aus, das SA-Niveau, welches im Ghetto von Kaunas oder der Grube in Wilna seine Früchte zeitigte, zu erreichen.

Der verstorbene Präsident Woodrow Wilson hat einmal gesagt:

»Es ist unerläßlich, daß die gegen Deutschland verbündeten Regierungen nicht den geringsten Zweifel darüber haben, mit wem sie es zu tun haben.«

Wenn Europa vom Nazi-Übel gesäubert werden soll, ist es unerläßlich, daß Sie und die Welt diese Organisationen als das erkennen, was sie sind.

Es war unsere unerfreuliche Aufgabe, Ihnen zu dieser Kenntnis zu verhelfen. Nachdem wir es getan haben, fragen wir uns manchmal, ob wir den Geruch des Todes je ganz loszuwerden vermögen. Wir sind aber entschlossen, unser Äußerstes zu tun, daß er aus Deutschland verschwinde, und daß der Geist, der ihn hervorrief, auf immer verbannt werde. Es mag vermessen erscheinen, wenn wir Juristen, die für sich nicht mehr in Anspruch nehmen, als die menschliche Gesellschaft zusammenzuhalten, über das, was wir an seiner Stelle sehen möchten, nachdenken oder auch nur davon träumen. Aber ich gebe Ihnen das Glaubensbekenntnis eines Juristen. Einige Dinge gehören sicherlich zum Allgemeingut der Menschheit: Duldung, Anstand, Güte. Weil wir der Überzeugung sind, daß diese Tugenden sich nicht ungestört entwickeln können, bevor nicht einmal reiner Tisch gemacht worden ist, bitten wir um die Verurteilung dieser Organisationen des Bösen.

Wenn solchen Tugenden eine Möglichkeit gegeben worden ist, auf dem Boden, den Sie gerodet haben, aufzublühen, dann ist ein [271] großer Schritt vorwärts getan; es wird ein Schritt auf dem Wege zur weltumfassenden Erkenntnis sein, daß:

»Blick und Ton, so glücklich wie ihr Tag,

Lachen der Freunde und friedlich liebevolle Herzen«

nicht das Vorrecht eines einzigen Landes sind. Sie sind das unveräußerliche Erbe der gesamten Menschheit.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich jetzt vertagen.


[Pause von 10 Minuten.]


MR. THOMAS J. DODD, ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Seit dem 20. November 1945 befindet sich dieser Internationale Militärgerichtshof in fast ununterbrochener Sitzung. Im Laufe dieser vielen Monate ist ein Verhandlungsprotokoll von über 15000 Seiten aufgenommen worden. Über 300000 eidesstattliche Erklärungen sind vorgelegt, ungefähr 3000 Dokumente unterbreitet und die Aussage von etwa 200 Zeugen gehört worden.

Diese große Masse von mündlichem und schriftlichem Beweismaterial, fast ausschließlich deutschen Ursprungs, hat zweifelsfrei ergeben, daß Verbrechen einer verbrecherischen Verschwörung, des Angriffskrieges, des Massenmordes, der Sklavenarbeit, der Rassen- und Religionsverfolgungen und der brutalen Mißhandlung von Millionen unschuldiger Menschen begangen worden sind. Die vier anklagenden Mächte haben die 22 in der Anklageschrift genannten Angeklagten angeklagt und als Einzelpersonen für diese schrecklichen Verbrechen haftbar gemacht.

In der Erkenntnis jedoch, daß die 22 angeklagten Einzelpersonen diese ungeheuren Verbrechen nicht allein begehen konnten, haben die vier anklagenden Mächte in der Anklageschrift die Nazi-Organisationen als die hauptsächlichen Werkzeuge, von welchen und durch welche diese Zuwiderhandlungen begangen worden sind, aufgeführt. Diese Organisationen – einige von den Nazis gegründet, andere von den Nazis verdorben – waren die Stellen, auf die sich die Angeklagten stützten und mit deren Hilfe sie zur Durchführung ihrer verbrecherischen Absichten am selbstzufriedenen deutschen Volke und an den besiegten Völkern Europas ihr Werk verrichteten.

Die genannten Organisationen zerfallen in zwei Klassen: In die erste Klasse fallen diejenigen, die besondere Schöpfungen der Nazis sind, die kein Gegenstück außerhalb des Nazi-Regimes haben und die keinem eigentlich legalen Zwecke dienten. Diese Gruppe umfaßt die Politischen Leiter, die SA und die SS. In die zweite Klasse fallen diejenigen, welche in der einen oder anderen Form schon vor der Nazi-Herrschaft bestanden, jedoch von den Nazis verdorben wurden. Diese Gruppe umfaßt das Reichskabinett, das Oberkommando und den Generalstab, sowie die Gestapo. Was diese zweite Klasse [272] angeht, so behaupten wir nicht, daß diese Einrichtungen von Hause aus verbrecherisch waren, sondern daß sie unter der Nazi-Herrschaft erst verbrecherisch wurden. Freilich wurde die Gestapo, gerade weil sie schon ihrer Natur nach eine geheime politische Polizei darstellte, am leichtesten verbrecherischen Zwecken zugeführt und wurde eines der wirkungsvollsten von allen verbrecherischen Werkzeugen der Nazis.

Es wäre ein Irrtum, die in der Anklageschrift aufgeführten Organisationen als einzelstehende, unabhängig arbeitende Personengruppen zu betrachten, deren jede besondere Aufgaben und Ziele verfolgte. Sie waren alle ein Teil, und zwar ein wesentlicher Teil des von Hitler geplanten und von seiner Clique zur unbeschränktesten Gewaltherrschaft moderner Zeiten vervollkommneten Polizeistaates. Jener Polizeistaat war der politische Frankenstein unserer Zeit, er brachte Schrecken und Furcht über Deutschland und verbreitete Grauen und Tod über die ganze Welt. Das Korps der Politischen Leiter der Nazi-Partei war sein Körper, das Reichskabinett sein Haupt, seine mächtigen Arme waren die Gestapo und die SA, und als er durch Europa marschierte, waren die Wehrmacht und SS seine Beine. Hitler und seine Horden waren es, welche dieses Ungeheuer eines Polizeistaates gründeten, das Schande über Deutschland und den Völkern Europas den Untergang brachte.

Ebenso irrig wäre es, den Aufbau dieses Polizeisystems als etwas Zufälliges oder sein Wachstum und seine Entwicklung als normale politische Erscheinungen zu betrachten, denn es war seit den ersten Tagen von den Verschwörern geplant worden. Die »alten Kämpfer« der Nazis strebten nach dem Despotismus. Im Anfange bauten sie die SA als eine private Bande starker Männer auf, um ihre politischen Gegner niederzuknüppeln und die Peitsche gegen die Juden zu schwingen. Sie errichteten die SS als die gefürchtete Garde des Führers und ihrer selbst. Als sie die Macht ergriffen, schafften sie den polizeilichen Schutz ab und ersetzten ihn durch polizeiliche Verfolgung, die die Aufgabe der Gestapo war. Sie tilgten jeden Schein einer freien Regierung aus und statteten sich im Reichskabinett mit unbeschränkter Vollmacht aus. Sie verdarben die edelsten Traditionen militärischer Ethik und ersetzten höhere militärische Führer durch »willige Werkzeuge«. Sie beseitigten alle anderen politischen Parteien und hielten das deutsche Volk durch eine politische Zwangsjacke in der Form des Korps der Politischen Leiter zusammen.

Beraubt man die Nazi-Verschwörer dieser Organisationen, so hätten sie niemals ihre verbrecherischen Absichten erreichen können. Ohne die SA hätten sie die Herrschaft über die Straße verloren; ohne die SS hätten sie kein Konzentrationslagersystem gehabt; ohne die Gestapo hätten sie über keine Mittel für ungesetzliche Verhaftungen und unbeschränkte Festhaltung verfügt; ohne [273] die Reichsregierung hätten sie keinen unterwürfigen Gesetzgebungskörper besessen; ohne die sklavisch ergebenen Offiziere hätten sie nicht heimlich ihre Angriffe planen und schließlich ihre Kriege führen können.

Die Bestimmungen des Statuts, welche den Gerichtshof ermächtigen, eine Gruppe oder Organisation für verbrecherisch zu erklären, sowie die Funktionen des Gerichtshofs nach diesen Bestimmungen sind in den rechtlichen Erwägungen und Denkschriften, welche die Hauptanklagevertreter früher dem Gerichtshof unterbreitet haben, behandelt worden. Damals hat Herr Justice Jackson auf die Anfrage des Gerichts die Gründe angegeben, welche es nach unserem Ermessen rechtfertigen, eine Gruppe oder eine Organisation für verbrecherisch zu erklären. (Protokoll Band VIII, Seite 387-415.)

Bevor wir nun das Beweismaterial zusammenfassen, empfiehlt es sich, diese Merkmale nochmals anzuführen:

  • 1. Es muß sich um eine »Gruppe« oder »Organisation« im Sinne des Artikels 9 des Statuts handeln, das heißt es muß sich um eine Anhäufung von Personen handeln, die in irgendeinem sichtbaren Verhältnis zueinander stehen und die ein gemeinsames allgemeines Ziel haben oder einen gemeinsamen Aktionsplan verfolgen.

  • 2. Die Mitgliedschaft in der Organisation muß grundsätzlich eine freiwillige gewesen sein, das heißt die Mitgliedschaft in der Organisation als Ganzes darf, abgesehen von vereinzelten Fällen, in welchen ein Zwang auf Einzelpersonen oder Gruppen von Einzelpersonen ausgeübt wurde, nicht auf gesetzlichem Zwang beruht haben.

  • 3. Sie muß unmittelbar und wirksam an der Ausführung der verbrecherischen Absichten der Verschwörung teilgenommen und Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der Anklageschrift begangen haben.

  • 4. Die verbrecherischen Ziele oder Methoden der Organisationen müssen derart gewesen sein, daß die Mitglieder im allgemeinen mit Fug und Recht als mit ihnen vertraut betrachtet werden können.

  • 5. Nach dem Statut muß die Anklagebehörde auch beweisen, daß wenigstens einer der hier anwesenden Angeklagten, der ein Mitglied der Organisation ist, einer Tat schuldig ist, auf Grund welcher die Organisation ebenfalls für verbrecherisch erklärt werden kann.

Dies sind die Merkmale des verbrecherischen Charakters, die mit Einverständnis der Amerikanischen Anklagebehörde jeder Organisation nachgewiesen werden müßten, ehe sie mit Recht als [274] verbrecherisch erklärt werden darf. Mein hervorragender Kollege Sir David Maxwell-Fyfe hat in seinem Plädoyer das Beweismaterial gegen die meisten Organisationen behandelt; die russischen und französischen Anklagevertreter werden ebenfalls besondere von diesen Gruppen begangene Verbrechen behandeln. Ich werde nicht über das Oberkommando sprechen, da dies den Gegenstand einer besonderen Erörterung durch ein Mitglied des amerikanischen Stabes bilden wird. Mit Zustimmung des Gerichtshofs werde ich mich mit der Prüfung befassen, ob die Anklage erfolgreich die Aufgabe durchgeführt hat, durch hinreichendes Beweismaterial darzutun, daß jede der erwähnten Organisationen verbrecherisch im Sinne aller genannten Merkmale ist.

Das Beweismaterial zeigt deutlich, daß die fünf in Frage stehenden Organisationen Gruppen oder Organisationen sind, wie wir diese Begriffe des Statuts auslegen – das heißt, jede ist eine Vereinigung von Personen, die in einem erkennbaren Verhältnis verbunden ist und ein gemeinsames allgemeines Ziel hat.

Daß das Korps der Politischen Leiter ein erkennbares Gebilde war, ein gemeinsames Ziel hatte und als Gruppe funktionierte, ist klar. Reiches Beweismaterial über Aufbau und Funktionen des Korps der Politischen Leiter der Partei findet sich in Nazi-Veröffentlichungen – dem Organisationsbuch der NSDAP (1893-PS, US-323), dem »Hoheitsträger«, der amtlichen Zeitschrift des Korps der Politischen Leiter (2660-PS, US-325), in der Karte des Korps der Politischen Leiter und in der Karte der Partei selbst (2833-PS, US-22). Diese etwa 600000 Mann starke Gruppe trug besondere Uniformen, war im Besitz besonderer Mitgliedskarten und erfreute sich zahlloser besonderer Vorrechte. (1893-PS, US-323.) Der Ausdruck »Politische Leiter« ist keineswegs von uns zu dem Zweck erfunden worden, um einer Anzahl einzelstehender Personen, welche gleichartige, aber unzusammenhängende Funktionen in der Partei ausübten, den Schein eines Zusammenhangs zu geben. Das Organisationsbuch der Partei selbst spricht von all diesen Parteifunktionären als von einer Einheit unter der Bezeichnung »Politische Leiter« (1893-PS, US-323). Dieses Buch zeigt die hierarchische Struktur, in der sie organisiert waren, und die Art, in welcher Befehle automatisch auf dem Dienstwege bis zur untersten Stelle gelangten und von allen Mitgliedern der Gruppe in die Tat umgesetzt wurden. Es zeigt ferner, welche Vollendung das Führerprinzip in der Tätigkeit dieses Korps erreichte. Alle Parteifunktionäre waren durch gleichartige Eide zu unbedingtem Gehorsam gegenüber dem Führer und allen von ihm eingesetzten Unterführern verpflichtet. Auf jeder Stufe der Hierarchie wurden regelmäßige und häufige Besprechungen abgehalten, und die höheren und niederen Funktionäre kamen regelmäßig zusammen, um politische Diskussionen abzuhalten. Das Korps der Politischen [275] Leiter bildete eine vollendete Pyramide, in welcher jeder Stein auf jeder Stufe zur Erhaltung des Gesamtbaues notwendig war. Es hatte einen einzigen, gemeinsamen Zweck – die Aufrechterhaltung der Organisation und der Ideologie der Nazi-Partei. (1893-PS, US-323.)

Die Anklageschrift bezeichnet die »Reichsregierung« als aus drei Klassen von Personen bestehend:

1.) Mitglieder des gewöhnlichen Kabinetts nach dem 30. Januar 1933; 2.) Mitglieder des Ministerrats für die Reichs Verteidigung; und 3.) Mitglieder des Geheimen Kabinettsrates. Diese drei Klassen bilden zusammen eine Gruppe von 48 Mitgliedern, die wir unter der Bezeichnung »Reichsregierung« verfolgen. Jede von ihnen bildet für sich ein erkennbares Gebilde, welches auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitete. Das gewöhnliche Kabinett einer jeden Regierung ist ein so deutliches Beispiel für eine Gruppe, wie man es überhaupt nur finden kann. In dieser Hinsicht unterschied sich das gewöhnliche Kabinett des Nazi-Reiches in keiner Weise von gleichartigen Einrichtungen in anderen Regierungen. Als Kabinett trat es in den ersten Tagen des Nazi-Regimes häufig zusammen (351-PS, US-389). Als später Sitzungen nicht mehr üblich waren, blieb es als Gruppe bestehen und erließ Verordnungen und Gesetze, die es im Umlaufverfahren allen seinen Mitgliedern zugehen ließ. (2999-PS, US-391.) Ein Beispiel dieses Verfahrens liegt dem Gerichtshof in Form einer Denkschrift des Angeklagten Frickan den Chef der Reichskanzlei vor (1701-PS, US-392). Denselben Zusammenhang und die gleiche geeinte Funktion finden wir in dem im Jahre 1939 gebildeten Ministerrat für die Reichsverteidigung. Ebenso wie das gewöhnliche Kabinett berieten seine Mitglieder bei wirklichen Zusammenkünften, wie es die Sitzungsprotokolle vom September, Oktober und November 1939 zeigen (2852-PS, US-395). Und genau wie das gewöhnliche Kabinett funktionierte es auch durch das Umlauf verfahren, wofür der Brief von Dr. Lammers vom 17. September 1939 an die Mitglieder des Ministerrats für die Reichs Verteidigung ein typisches Beispiel ist (1141-PS, US-393). Der Geheime Kabinettsrat, eine beratende Körperschaft für die Außenpolitik, bestand aus acht Mitgliedern und war ein erkennbar einheitlicher Zusammenschluß, wie sich aus dem Erlaß ergibt, durch den er geschaffen wurde (2031-PS, GB-217). Die Zusammenfassung dieser drei Klassen unter der einen Bezeichnung »Reichsregierung« ist nicht ein Versuch, zwischen drei verschiedenen und unabhängigen Einheiten eine künstliche Beziehung zu schaffen. Tatsächlich bildeten diese drei zusammengenommen ebenso eine Gruppe wie jede einzelne es war, denn der Ministerrat für die Reichsverteidigung und der Geheime Kabinettsrat waren eigentlich nur Ausschüsse des gewöhnlichen Kabinetts. Die Erlasse, durch die diese beiden Ausschüsse geschaffen wurden, zeigen, daß ihre Mitglieder sämtlich [276] Personen waren, welche im gewöhnlichen Kabinett saßen. Nicht nur in personeller Hinsicht, sondern auch, was die Tätigkeit, die Aufgaben und den Zweck angeht, waren das gewöhnliche Kabinett und seine Ausschüsse vereinheitlicht (2031-PS, GB-217; 2018-PS, GB-250). Mitglieder des gewöhnlichen Kabinetts, die nicht Mitglieder dieser Ausschüsse waren, nahmen trotzdem, wie dies die Sitzungsprotokolle zeigen (2862-PS, US-395), an den Sitzungen des Ministerrates teil und erhielten nach dem Umlauf verfahren Entwürfe der durch den Ministerrat vorbereiteten Verordnungen (1141-PS, US-393). Diese Gebilde – das Kabinett und die Ausschüsse, die von einigen seiner Mitglieder gebildet waren – hatte einen einzigen gemeinsamen Zweck, nämlich das Reich so zu regieren, daß die Pläne der Nazi-Verschwörer verwirklicht werden konnten. Die 1920 geschaffene SA ist eines der einfachsten Beispiele für den Typ einer Gruppe oder Vereinigung, wie er durch die Bestimmungen des Statuts gekennzeichnet ist. Sie war durch ein deutsches Gesetz zu einem Bestandteil der Partei erklärt, hatte eine eigene Rechtspersönlichkeit und war durch das Organisationsbuch der Nazi-Partei als gesonderte Einheit bezeichnet worden (1893-PS, US-323). Sie hatte eine nachweisbare Mitgliedschaft von 1500000 bis 2000000 Mann, welche durch gemeinsame Anschauungen verbunden waren, eine einheitliche und besondere Uniform trugen, gemeinsame Ziele und Zwecke hatten und eine gemeinsame Tätigkeit ausübten. Der allgemeine Zweck der SA, dem sich alle Mitglieder widmeten, war im Organisationsbuch der Partei als »Träger des nationalsozialistischen Wehrwillens« bezeichnet. Und nach dem gleichen Parteihandbuch mußte ein SA-Mitglied ausscheiden, sobald es nicht mehr mit den Ansichten der SA übereinstimmte oder nicht mehr in der Lage war, den ihm als Mitglied der SA auferlegten Pflichten in vollem Umfang nachzukommen (2354-PS, US-430).

Genau wie die SA war auch die SS zweifellos eine einheitliche Organisation. Durch ein deutsches Gesetz war sie als Bestandteil der Partei mit eigener Rechtspersönlichkeit errichtet worden. In dem Organisationsbuch der Partei wurde die SS als »eine zusammen verschworene Kampftruppe« bezeichnet, die durch weltanschauliche Eide gebunden war (2640-PS, US-323). Sie besaß eine eindeutig feststellbare Mitgliedschaft, die gegen Ende des Krieges auf ungefähr 600000 anstieg und aus Personen bestand, die den gleichen grundlegenden Maßstäben der rassischen Weltanschauung entsprachen. Trotz ihrer vielen Aufgaben und Tätigkeitsgebiete, ihrer zahlreichen Abteilungen, Ämter und Gliederungen (2640-PS, US-323), war sie eine feste einheitliche Organisation und nach Himmlers Tirade vor den Gruppenführern am 4. Oktober 1943: »Ein Block, ein Körper, eine Organisation« (1919-PS, US-170). Sie besaß natürlich ihre eigene Uniform und genoß besondere Vorrechte bei der Verfolgung der allgemeinen Ziele der Nazi-Verschwörer, die, [277] angefangen mit dem Schikanieren ihrer nächsten Nachbarn, über politische, rassische und religiöse Barbareien bis zu der Führung von Angriffskriegen und den gewalttätigsten und abscheulichsten Verbrechen gegen die Humanität reichten.

Seit den frühesten Tagen betrachteten die Nazis jenen Teil der Polizeitruppe, der »Gestapo« oder »Geheime Staatspolizei« genannt wurde, als eine Sondergruppe, als ein klar erkennbares Gebilde, das eine gemeinsame Aufgabe zu erfüllen hatte. Der Zweck des Göringschen Erlasses vom 26. April 1933 (2104-PS, Exhibit Gestapo-3), der die Gestapo in Preußen errichtete, war es gerade, in diesem Land eine gesonderte Formation einer politischen Staatspolizei zu schaffen, die getrennt von den anderen preußischen Polizeikräften als unabhängige Truppe ihre besondere Aufgabe hatte und auf die er sich vollkommen verlassen konnte. Die gleichen Beweggründe führten zur Schaffung ähnlich zu kennzeichnender Gruppen einer Geheimen Staatspolizei in anderen deutschen Ländern. Die Maßnahmen, durch welche diese Gruppen in eine einzige politische Geheimpolizei für das ganze Reich zusammengefaßt wurden, sind in den Erlassen und Gesetzen, die dem Gericht vorgetragen wurden, in allen Einzelheiten niedergelegt (Protokoll Band IV, Seite 258 ff.). Als im Jahre 1939 das RSHA geschaffen wurde, wurde die Gestapo nicht aufgelöst, sondern wurde eine besondere Abteilung dieses Zentralamtes, wie die graphische Darstellung des »RSHA«, die als Beweismittel vorgelegt wurde (L-219, US-479), und die Aussagen der Zeugen Ohlendorf und Schellenberg gezeigt haben (Band IV, Seite 344 ff., 415 ff.). Sie schätzten ohne weiteres die Zahl der Personen, die der Gestapo angehörten, auf 30000 bis 40000.

Während dieses Verfahrens wurden die Gestapo und der SD zusammen behandelt, und zwar deshalb, weil die verbrecherischen Handlungen, die jeder einzelnen Gruppe zur Last gelegt werden können, mehr oder weniger von beiden unterstützt wurden. Die Anklage klagt die Gestapo als eine getrennte und unabhängige verbrecherische Gruppe oder Organisation an. Die Anklageschrift erwähnt besonders den SD als Teil der SS, da er ursprünglich ein Teil der SS war und immer zum Unterschied von der Gestapo, die eine staatliche Organisation war, den Charakter einer Parteiorganisation beibehielt. Der SD hatte natürlich seine eigene Organisation, ein unabhängiges Zentralamt mit Außenstellen im ganzen Reich und in den besetzten Gebieten und mit Agenten überall im Ausland (4054-PS, US-921). Er hatte eine Mitgliederzahl von 3000 bis 4000 hauptberuflichen Angestellten, die von Tausenden ehrenhalber arbeitenden Agenten, bekannt als V-Männer, sowie aus Spionen in anderen Ländern unterstützt wurden (1536-PS, US-83). Wir beziehen die Leute, die ehrenhalber arbeiteten und nicht Mitglieder der SS waren, nicht ein; wir beziehen auch nicht – ich füge dies ein – [278] die Mitglieder der Abwehr ein, die gegen Ende des Krieges in den SD überführt wurden, außer, wenn diese Abwehrmitglieder auch zur SS gehörten.

Fragen wir uns, wo der allgegenwärtige SD-Mann zu finden ist, so ist diese Frage gar nicht schwer zu beantworten, obwohl manche Aussagen und Argumente für den Gerichtshof – wie wir fürchten – verwirrend gewesen sein mögen.

Bis 1939 war der SD-Mann immer im SD-Hauptamt des Reichsführers-SS zu finden oder in den verschiedenen Bezirksämtern des SD im Reich. Während dieser Zeit wurde der SD in den Karten und Plänen der SS-Organisation und in Erlassen und Verordnungen der Regierung wiederholt als eine Abteilung der SS gekennzeichnet.

Während dieser Zeit war der SD der politische Nachrichtendienst der SS, der Partei und des Staates und gab den Vollzugsabteilungen des Staates und der Partei, vor allem über die Gestapo, geheime politische Informationen.

Nach 1939 ist der SD-Mann in den Ämtern III und VI des RSHA zu finden, in den verschiedenen Bezirksämtern des SD innerhalb Deutschlands, in den besetzten Gebieten und in den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in Gebieten unmittelbar hinter der Front.

Bei den Erörterungen sind einige Unklarheiten über die Unterscheidungsmerkmale des RSHA, des WVHA, der Abteilung Eichmann und der Einsatzgruppen aufgetaucht. Das RSHA war eine Abteilung der SS, und sein Personal gehörte im großen und ganzen der SS an. Es war dem SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner unterstellt. Außer dem SD, der immer eine SS-Formation blieb, umfaßte es die Gestapo und die Reichskriminalpolizei, beides staatliche Behörden. Aus diesem Grund wurde das RSHA auch als Abteilung des Reichsinnenministers geführt.

Eine andere ausschließliche SS-Abteilung war das WVHA. Das WVHA stand unter der Führung von SS-Obergruppenführer Pohl, der mit der Verwaltung der Konzentrationslager und der Ausbeutung der Arbeitskraft ihrer Insassen beauftragt war.

Es gab keine Abteilung Eichmann als solche. Eichmann war nur der Chef derjenigen Abteilung der Gestapo, die mit Kirchen- und Judenangelegenheiten beauftragt war. Es war die Abteilung der Gestapo, die in erster Linie die Juden in Europa zusammenzutreiben und sie in Konzentrationslager zu bringen hatte. Diese Abteilung Eichmann, wie sie innerhalb der Gestapo genannt wurde, war nicht unabhängiger von der Gestapo als irgendeine andere Abteilung unter Müller.

Die Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD – wir halten es für sehr wichtig, daß man den vollen Namen für immer im Gedächtnis behält – waren die Dienststellen von Sicherheitspolizei [279] und SD, die im Felde hinter der Wehrmacht operierten. Sobald die polizeiliche Kontrolle in den neubesetzten Gebieten genügend eingerichtet war, wurden die beweglichen Einsatzgruppen ausgeschaltet, und sie wurden zu regionalen Dienststellen unter den Befehlshabern der Sicherheitspolizei und des SD in den besetzten Gebieten. Die Einsatzgruppen waren ein Teil des Amtes der Sicherheitspolizei und des SD, des RSHA, und als solche ein Teil der SS, eingeschränkt nur durch die Tatsache, daß einige der den Einsatzgruppen zugeteilten Personen nicht Mitglieder der SS waren.

Im Jahre 1939 wurden die Hauptämter des SD und der Gestapo im RSHA zusammengefaßt, der SD bewahrte jedoch dauernd seine Unabhängigkeit.

Die Anklage hat sicherlich die erforderlichen Beweise für den Gruppencharakter dieser Organisationen erbracht, und zwar nicht nur auf Grund der Normen, die sie sich selbst gesetzt hatte, sondern auch nach allen allgemeinen Regeln der Vernunft und Erfahrung.

Die Mitgliedschaft bei dem Führerkorps war unbestreitbar freiwillig. Niemand war gezwungen, der NSDAP beizutreten, noch viel weniger ein Führer der Nazi-Partei zu werden. Wir zweifeln nicht daran, daß viele dem Führerkorps aus geschäftlichen, sozialen oder sonstigen eigennützigen Gründen beitraten. Das sind die gewöhnlichen Beweggründe für billiges politisches Ansehen, aber sie kommen nicht einem gesetzlichen Zwang gleich.

Niemand wurde in das Reichskabinett eingezogen. Ja, einige seiner Mitglieder traten sogar zurück, als sie sich mit den Zielen und Absichten in Widerspruch sahen. Schlegelberger trat zurück wegen der Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der Richter; Schmidt trat zurück, weil er davon überzeugt war, daß Hitlers Weg zum Krieg führe; Eltz von Rübenach trat zurück wegen der gegen die christlichen Kirchen gerichteten Politik Hitlers. Ein Sitz im Kabinett mit den damit verbundenen Titeln und Glanz war der große Ehrgeiz der meisten Nazis. Der Wettbewerb um diese Stellen war scharf, und jede jetzige Bemühung, die Verbrecherisch-Erklärung dieser Gruppe unter dem Vorwand abweisen zu wollen, daß die Mitgliedschaft erzwungen war, ist lächerlich.

Die Mitgliedschaft in der SA war so frei von Zwang, daß das Partei-Organisationsbuch noch im Jahre 1943 SA-Männer aufforderte, aus der Organisation auszutreten, wenn sie der Meinung waren, nicht mehr mit den Zielen und der Weltanschauung übereinzustimmen oder nicht alle ihnen auferlegten Pflichten erfüllen zu können. Parteimitglieder wurden nicht in die SA gezwungen. Kontrolle und Disziplin, die der SA im Rahmen der Organisation auferlegt wurden, haben mit dem freiwilligen Charakter der Mitgliedschaft selbst nichts zu tun. Die willige Unterwerfung des [280] SA-Mannes unter die SA-Führung ist nicht das gleiche wie der zwangsweise und unfreiwillige Eintritt in die Organisation.

Bewerber für die SS waren nicht nur freiwillig, sie mußten außerdem den strengsten Anforderungen der Auslese entsprechen, wie es das SS-Soldaten-Handbuch deutlich zeigt und wie es auch aus Himmlers Brief aus dem Jahr 1943 an Kaltenbrunner hervorgeht, in dem er auf freier und freiwilliger Bewerbung um die Mitgliedschaft besteht. Die SS bezeichnete sich selbst als ein Elite- und Auslese-Korps, sie machte bekannt, daß sie sorgfältig jeden Bewerber abweise, der nicht ihren rassischen, biologischen und weltanschaulichen Anforderungen entspräche, und sie machte es jedermann klar, daß für die Mitgliedschaft außerordentliche Qualitäten erforderlich seien. So brüstete sich Himmler tatsächlich der Wehrmacht gegenüber:

»Wenn es mir glückt, in einer Organisation möglichst viele Menschen, die zu einem namhaften Teil Träger dieses erwünschten Blutes sind, aus dem deutschen Volk zu erfassen und unter soldatischen Gehorsam zu bringen, sie allmählich mit dieser Erkenntnis vom Wert des Bluts und von der ganzen Weltanschauung, die daraus entspringt, zu erfüllen, dann müßte es möglich sein, tatsächlich eine Ausleseorganisation zu schaffen, die jeder Belastung standhält.« (1992-A-PS.)

Die »Elite« mußte den Nachweis nordischer Abstammung erbringen, für Offiziersaspiranten bis zurück zum Jahre 1750 und für allgemeine Kandidaten bis zum Jahr 1800. Überdies wurden ungewöhnliche Anforderungen an Größe und besonderen Anzeichen der nordischen Erscheinung gestellt, und der politische und ideologische Hintergrund jedes »Elite«-Bewerbers wurde gründlich untersucht. Es ist in hohem Maße bezeichnend, daß wir Beweise dafür haben, daß man noch 1943 auf diesen rassischen und ideologischen Bedingungen bestand, ja sogar für die Waffen-SS. Man hat behauptet, daß die Organisation als Ganzes keine freiwillige war, weil im letzten verzweifelten Kriegsstadium einige Männer zur Waffen-SS eingezogen wurden. Diejenigen, die tatsächlich in die Divisionen der Waffen-SS hineingezwungen wurden, mögen in dem nachfolgenden Verfahren eine wirksame Verteidigung haben, aber wir halten daran fest, daß ein Zwang, der aus einem wahnsinnigen Bemühen geboren war, die Niederlage noch in den letzten Stunden des Krieges abzuwenden, an dem wesentlich freiwilligen Charakter der Mitgliedschaft im ganzen nichts ändert. Welchen Druck man immer zur Steigerung der Mitgliedschaft in dieser Organisation ausgeübt haben mag, sie war ursprünglich freiwillig und beruhte auf dem Ausleseprinzip und ist es auch geblieben.

[281] Der SD, als Teil der SS, bestand aus SS-Männern mit besonderen Qualifikationen. Die Taten dieser Organisation geben die beste Erklärung über die Natur dieser besonderen Qualifikationen, denn die Akten dieses Verfahrens strotzen von grauenhaften Geschichten ihrer Betätigung. Der SD-Mann war nichts anderes als ein Über-SS-Mann. Wenn die Mitgliedschaft der SS, wie wir behaupten, prinzipiell und grundsätzlich eine freiwillige war, so folgt daraus zwangsläufig, daß die Mitgliedschaft im SD ebenfalls freiwillig war.

Die Gestapo war jederzeit eine staatliche Organisation und ein Zweig der Regierung, den anderen Zweigen der Regierung in allen gewöhnlichen Punkten ähnlich. Bei der Betrachtung des freiwilligen Charakters ihrer Mitgliedschaft müssen alle anderen Erwägungen hinter der grundsätzlichen Feststellung, daß die Gestapo ein Organ des Staates war, zurücktreten. Wenn die Mitgliedschaft in der Gestapo zwangsmäßig war, dann muß es auch die Mitgliedschaft bei der Ordnungspolizei, der Sicherheitsabteilung und der Finanzabteilung gewesen sein. Es ist wahr, daß bei der Gründung der Gestapo nach der Machtergreifung viele Mitglieder aus dem früher existierenden politischen Polizeisystem der verschiedenen Länder in die Gestapo versetzt wurden. Aber sie waren gesetzlich nicht zum Beitritt verpflichtet. Der Gestapo-Affiant Losse hat gesagt, und ich zitiere aus seinem Affidavit:

»Im Falle der Weigerung hätten Sie damit rechnen müssen, aus der Beamtenschaft ohne Pension entlassen und damit brotlos zu werden.« (Affidavit Gestapo-30.)

Der Zeuge Schellenberg erklärte, daß neue Mitglieder der Gestapo auf freiwilliger Basis angenommen wurden. Jeder von ihnen konnte austreten und Beschäftigung in einem anderen Zweig des Staatsdienstes oder in einem vom Staatsdienst getrennten Beruf suchen. Wer Mitglied der Geheimen Staatspolizei werden wollte, bewarb sich für diese Stellung, genauso wie für jede andere Stelle im Staatsdienst. Der Zeuge Hoffmann hat vor der Kommission ausgesagt, daß er sich um eine Stellung in drei Zweigen des Staatsdienstes beworben hatte, wovon einer die Gestapo war. Die Gestapo nahm seine Bewerbung an, und auf diese Weise wurde er ein Mitglied dieser Organisation. Es gab nichts, was einen Gestapo-Beamten abhalten konnte, seine Stellung aufzugeben, wenn ihm Ziele, Tätigkeit und Methoden der Organisation zuwider wurden. Der Zeuge Tesmer sagte vor der Kommission aus, daß, wenn ein Beamter sich weigerte, einen verbrecherischen Befehl auszuführen, er wahrscheinlich von seiner Stellung entfernt worden wäre. Selbst nach Kriegsbeginn, als alle Staatsbeamten mehr oder weniger in ihren Stellungen festgenagelt waren, konnten Gestapo-Mitglieder ihr Amt niederlegen. Der Zeuge Tesmer selbst verließ die Gestapo während des Krieges, und der Zeuge Straub sagte aus, daß man auf die Gefahr hin, zur Front und aktivem Militärdienst geschickt [282] zu werden, seine Stellung in der Gestapo aufgeben konnte. Sicherlich kann man das nicht als Zwang im gesetzlichen Sinne bezeichnen. Die Opfer, denen sich Mitglieder der politischen Polizei bei einem Rücktritt gegenübersahen, wie zum Beispiel der Verlust des Dienstalters und der Pensionsberechtigung, mag für die, die in der Gestapo verblieben, entscheidend gewesen sein. Aber solche Beweggründe, die die weitere Mitgliedschaft in einer Organisation mit einem solch notorisch verbrecherischen Charakter rechtfertigten, können unter keinen Umständen als gesetzlicher Zwang ausgelegt werden. Es mag vielleicht einige besondere Fälle geben, wo Mitglieder der Geheimen Feldpolizei später von der Wehrmacht zur Gestapo versetzt wurden. In solchen Fällen haben diese Einzelpersonen vielleicht auf Grund der militärischen Befehle einen persönlichen Verteidigungsgrund hinsichtlich der von der Gestapo während der Zeit ihrer Mitgliedschaft begangenen Verbrechen. Aber solche Spezialfälle, welche in den nachfolgenden Verfahren noch zu beurteilen sind, können in keiner Weise den grundsätzlichen Charakter der Gestapo als einen besonderen Teil des Staatsdienstes beeinflussen, bei welchem hinsichtlich des Beitritts kein größerer Zwang ausgeübt wurde und hinsichtlich des Austritts keine größeren gesetzlichen Hindernisse, bestanden als bei irgendeiner anderen Abteilung des Staatsdienstes.

Man muß Charakter haben, um das Böse zu bekämpfen – das war immer so. Es mag nötig sein, Demütigungen zu ertragen und Opfer zu bringen, wenn es gilt, die bösen Angebote eines bösen Herrn abzulehnen. Aber der Verantwortlichkeit für die Verbrechen dieser Organisationen sollte man sich nicht durch die Anwendung eines trockenen, technischen oder bedeutungslosen Begriffs von Zwang entziehen können.

Seit der Gründung der Nazi-Partei im Jahre 1920 bis zum Kriegsende im Jahre 1945 wurden diese Organisationen von den Verschwörern zur Ausführung ihrer Pläne benutzt, und jede von ihnen beging eines oder mehrere jener im Artikel VI des Statuts beschriebenen Verbrechen und nahm an der allgemeinen Verschwörung teil. Das Korps der Politischen Leiter war die erste dieser Organisationen, die auf der Bühne erschien. Der nächste Schritt war die Schaffung einer halbmilitärischen Organisation im Jahre 1920, der SA, um der Partei mit Gewalt einen vorherrschenden Platz auf der politischen Bühne zu sichern. Aus dieser Gruppe wurde 1925 die auserlesenere und fanatischere SS gebildet, um die SA, während sie verboten war, zu ersetzen, und um dann gemeinsam mit dieser den Grundstein für die Revolution zu legen. Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 nahm die nächste Organisation, das Reichskabinett, ihren Platz in der Verschwörung ein. Nachdem sie die Regierung in der Hand hatten, beeilten sich die Verschwörer, jede mögliche Opposition zu unterdrücken und bildeten dazu die Gestapo und den [283] SD. Nachdem die innere Sicherheit garantiert war, verschafften sie sich dann zur Förderung ihrer Ausdehnungspläne das letzte ihrer Werkzeuge in Gestalt des Militärs.

Jede einzelne dieser Organisationen war zur erfolgreichen Durchführung der Verschwörung notwendig – das Korps der Politischen Leiter zur Führung und Kontrolle der Partei, durch welche die politische Macht ergriffen werden mußte; die SA und SS, um sich den politischen Gegnern mit Gewalt entgegenzustellen und nach 1933, um die Nazi-Kontrolle über Deutschland durch besondere gesetzliche Maßnahmen zu festigen; das Kabinett, um die notwendigen Gesetze auszuarbeiten und durchzuführen, die die Fortdauer des Regimes sicherstellen sollten; die Gestapo und der SD, um die innere Opposition aufzuspüren und zu unterdrücken und die servilen Militärs, um die Expansion des Regimes durch Angriffskriege zu ermöglichen.

Jede einzelne der Organisationen spielte während der ganzen Zeit innerhalb der Verschwörung eine notwendige und lebenswichtige Rolle. Das Programm des Nazi-Regimes kam von der Nazi-Partei. Wie Hitler im Jahre 1933 sagte:

»Nicht der Staat ist es, der uns die Befehle gibt, wir sind es, die dem Staate befehlen.« (2775-PS.)

Und später, 1938, fügte er hinzu:

»Der Nationalsozialismus... besitzt ganz Deutschland seit dem Tag, an dem ich als Reichskanzler vor fünf Jahren das Haus am Wilhelmsplatz verließ, und zwar restlos und ausschließlich... Die größte Sicherung dieser nationalsozialistischen Revolution liegt führungsmäßig nach innen und außen in der restlosen Erfassung des Reiches und all seiner Einrichtungen und Institutionen durch die Nationalsozialistische Partei.« (2715-PS.)

Das Korps der Politischen Leiter war es, das die Politik dieser Partei bestimmte. Es war das Korps der Politischen Leiter, das die Partei zusammenhielt. Es war das Korps der Politischen Leiter, das durch seine abgestufte Führerhierarchie bis hinab zum Blockleiter, der 40 Haushaltungen kontrollierte, die gesamte Bevölkerung in seinen Klauen hielt. Jedes in der Anklageschrift angeführte Verbrechen war ein Verbrechen, das ein von der Partei kontrolliertes Regime begangen hatte, und es war das Korps der Politischen Leiter, welches die Partei kontrollierte und sie zum Funktionieren brachte.

Während die Partei durch das Korps der Politischen Leiter dem Staat die Befehle gab, war das Reichskabinett der gesetzgebende, ausführende und verwaltende Repräsentant des Staates – das die Befehle in Gesetze umformte. Ebenso wie das Korps der Politischen [284] Leiter die Partei zum Funktionieren brachte, so brachte das Kabinett den Staat zum Funktionieren. Jedes von uns bewiesene Verbrechen war ein Verbrechen des Nazi-Staates, und das Reichskabinett war die höchste Stelle für die politische Kontrolle und Leitung innerhalb des Nazi-Staates.

Aber Politik und Gesetze allein genügen nicht. Sie müssen wirksam werden und zur Auswirkung kommen. Die vier anderen Organisationen waren die ausführenden Organe der Partei und des Staates. Wenn es darauf ankam, für die Durchführung der Gesetze zu sorgen, wirkliche und mögliche Gegner ausfindig zu machen, festzunehmen, einzusperren und auszumerzen, dann traten der SD, die Gestapo, die SS und die Maschinerie der Konzentrationslager in Tätigkeit. Die enge Verbindung zwischen dem SD und der Gestapo und die Wichtigkeit des ersteren bei der Auswahl von Nazi-Funktionären wird durch das Affidavit, das Karl Weiß für die Verteidigung abgegeben hat, enthüllt. Er gab an, daß alle Beamten der Politischen Polizei vom SD genau überprüft wurden, bevor sie in die Gestapo aufgenommen wurden. Und der SD verletzte das Wahlgeheimnis, indem er meldete, wie das Volk bei geheimen Wahlen stimmte. Als die Politik den Krieg verlangte, legten die halbmilitärischen Organisationen, wie die SA und die SS den Grundstein, und führende Militaristen arbeiteten die Pläne für eine machtvolle deutsche Wehrmacht aus. Als es sich darum handelte, die Ausrottung der Bevölkerung besetzter Gebiete, ihre Deportierung zur Sklavenarbeit und die Konfiszierung ihres Eigentums durchzuführen, mußten das OKW und die SS gemeinsame Operationen planen und in Zusammenarbeit mit der Gestapo in die Tat umsetzen. Die Partei plante, das Kabinett erließ die Gesetze, und die SS, SA, Gestapo und die militärischen Führer führten sie durch. Eine Aufzählung einiger der hauptsächlichsten in der Anklage behaupteten Verbrechen und ein Hinweis auf die Teilnahme der fünf Organisationen an der Begehung jedes Verbrechens werden veranschaulichen, auf welche Weise all dies geschehen ist.

Das grundlegende Programm für die Aggression kann in den 25 Punkten des Nazi-Parteiprogramms gefunden werden, das 1920 von Hitler proklamiert und für unabänderlich erklärt worden war. Es umfaßte die Forderung nach Vereinigung aller Deutschen in Großdeutschland, nach Aufhebung der Verträge von Versailles und St. Germain, nach Land und Kolonien und Aufstellung einer nationalen Wehrmacht. Wie das Parteihandbuch zeigt, war dieses Programm die Gesetzestafel, von welcher sich die Dogmen für jeden Politischen Leiter ableiteten. Alle Mitglieder des Korps der Politischen Leiter verpflichteten sich, diesen Geboten zu folgen und diese Lehren zu verbreiten.

[285] Schon im April 1933 beschloß die Reichsregierung die Schaffung des Reichsverteidigungsrates, eine Körperschaft von Mitgliedern der Reichsregierung, die die Nation auf den Krieg vorzubereiten hatte. Im Oktober 1933 erklärte die Reichsregierung den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und aus der Abrüstungskonferenz. Eineinhalb Jahre später, im März 1935, gründete sie von neuem die Wehrmacht und führte die allgemeine Wehrpflicht ein. Ihre Maßnahmen zur Planung des Krieges führten später im Mai 1935 zum Erlaß eines geheimen unveröffentlichten Reichsverteidigungsgesetzes, das die Ernennung eines Generalbevollmächtigten für die Kriegswirtschaft mit weitreichenden Vollmachten vorsah, und zu dem Beschluß, daß der Generalbevollmächtigte sofort schon im Frieden an die Arbeit gehen solle. Im Februar 1938, am Vorabend des Einfalls in Österreich, wurde zur Beratung Hitlers in außenpolitischen Fragen ein weiterer Ableger der Reichsregierung geschaffen, nämlich der Geheime Kabinettsrat. Und der Angeklagte von Neurath war es, der Präsident dieses Kabinettsrates, der es unternahm, diese Angriffshandlung durch diplomatische Schritte zu rechtfertigen und zu entschuldigen. Nachdem die Besitzergreifung durchgeführt war, war es die Reichsregierung, die den Anschluß von Österreich an das Reich vollzog.

Sechs Monate später schuf die Reichsregierung durch ein weiteres geheimes und nie veröffentlichtes Gesetz ein Dreierkollegium von Bevollmächtigten, deren Aufgabe es war, jederzeit vollständige Pläne und fertige Anordnungen für einen plötzlichen und ohne Kriegserklärung zu beginnenden Krieg bereitzuhalten. Durch Gesetze der Reichsregierung wurde im November 1938 die Einverleibung des Sudetenlandes in das Reich, und im März 1939 die Einverleibung des Memellandes ins Reich beschlossen. Der Gerichtshof wird sich an die dramatische Sitzung des Reichsverteidigungsrates vom Juni 1939 erinnern, in deren Verlauf die Vorbereitungen für den kommenden Krieg abgeschlossen und ins einzelne gehende Pläne gebilligt wurden, wie zum Beispiel der Einsatz von Kriegsgefangenen und Konzentrationslagerhäftlingen in der Kriegsproduktion, die Arbeitspflicht für Frauen während des Krieges und die Beschaffung von Hunderttausenden von Arbeitern aus dem Protektorat, die in Baracken zusammengepfercht werden sollten.

Im August 1939, am Vorabend des Angriffs auf Polen, wurde der Ministerrat für die Reichsverteidigung als dritter Ableger der Reichsregierung aus Kabinettsmitgliedern gebildet, um als engerer Arbeitsausschuß die gesetzgebende und vollziehende Gewalt während des Krieges auszuüben. Danach war es eher dieser Ableger der Reichsregierung und nicht die eigentliche Reichsregierung selbst, der die meisten gesetzgeberischen Maßnahmen für die Kriegführung beschloß, immerhin jedoch mit Wissen und unter Mitwirkung aller Mitglieder der eigentlichen Reichsregierung.

[286] Während die Reichsregierung auf diese Weise den rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen für den Angriffskrieg vorbereitete, waren die anderen Organisationen eifrig dabei, entsprechende Vorbereitungen zu demselben Zweck zu treffen. Eine aggressive, militaristische Einstellung des Volkes und die Schaffung einer machtvollen Armee waren wesentlich für die Vorbereitung des Krieges. Die SA widmete sich mit großem Eifer der Erreichung dieser Ziele, indem sie im Jahre 1933 zunächst einen scharfen Propagandafeldzug führte, bei dem sie Kolonien, Lebensraum und die Aufhebung des Vertrags von Versailles forderte, in dem sie Deutschlands Nachbarn fälschlicherweise Angriffsabsichten unterschob und überall die nunmehr zur Genüge bekannten Beruhigungsparolen der Partei verbreitete. Fast zur gleichen Zeit organisierte sie ein Programm für die Ausbildung der deutschen Jugend in der Technik der modernen Kriegführung, anfänglich unter größter Geheimhaltung, schließlich aber, als sie sich genügend vorbereitet und vor jeder Einmischung von außen sicher fühlte, in aller Öffentlichkeit. Aber die SA beschränkte sich nicht nur auf reine Vorbereitungsarbeit. Als die erste Angriffshandlung – und zwar die gegen Österreich – erfolgte, marschierten Einheiten der SA durch die Straßen von Wien und besetzten die wichtigsten Regierungsgebäude, und in den Plänen für die Übernahme des Sudetenlandes bildete die SA einen Teil des Freikorps Henlein und lieferte diesem Verpflegung und Ausrüstung.

Die Tätigkeit der SS ähnelte derjenigen der SA und ging sogar noch darüber hinaus. Ebenso wie die SA diente sie in den Jahren vor 1933 als halbmilitärische Organisation. Ebenso wie die SA nahm sie am Angriff gegen Österreich und an der Verschwörung zur Unterminierung der Tschechoslowakei durch das Freikorps Henlein teil. Die Rolle, die sie dabei spielte, unterscheidet sich von derjenigen der SA nur dadurch, daß die ihre die wichtigere war. Ihre regulären Kampftruppen marschierten gemeinsam mit der Wehrmacht in das Sudetenland und in Böhmen-Mähren ein und beteiligten sich in gleicher Weise bei dem Einfall in Polen. Eine ihrer wichtigsten Dienststellen, die Volksdeutsche Mittelstelle, war ein Mittelpunkt für die Tätigkeit der Fünften Kolonne. Der SD des Reichsführer-SS unterhielt ein Spionagenetz, das über die ganze Welt reichte, und seine Agenten spionierten schon in den Vereinigten Staaten, bevor Deutschland Amerika den Krieg erklärt hatte. Der größte Verband innerhalb der SS, die Waffen-SS, war einzig und allein für die Führung des Krieges geschaffen und ausgebildet worden und war als SS-Armee an allen Phasen des Krieges im Osten wie im Westen beteiligt. Die schändliche Liste ihrer im Kriege verübten Greueltaten bedarf keiner weiteren Erörterung. Die Gestapo und der SD waren in gleicher Weise an der Begehung von Verbrechen gegen den Frieden beteiligt. Gerade der Zwischenfall, der als Vorwand für den Angriff auf Polen diente und damit [287] den ganzen Krieg auslöste, war ein Werk der Gestapo und des SD. Ich meine damit den gestellten polnischen Angriff auf den Radiosender Gleiwitz, bei dem Konzentrationslagerhäftlinge in polnische Uniform gesteckt, ermordet und zum Beweis eines polnischen Überfalls zurückgelassen wurden, in der Absicht, Hitler damit eine Rechtfertigung für seinen Angriff auf Polen zu geben.

Selbstverständlich hat die Clique der Berufsmilitärs alle Angriffshandlungen, angefangen von der Militarisierung des Rheinlandes im Jahre 1936 bis zum Angriff auf Sowjetrußland im Jahre 1941, geplant und an ihnen teilgenommen.

Zur Führung dieser Angriffskriege war Deutschland nur durch Einsatz von Millionen von Sklavenarbeitern imstande, und die Durchführung dieses Sklavenarbeitsprogramms wiederum war nur möglich durch die Unterstützung von seiten dieser Organisationen. Sauckel war der Sklavenmeister. Aber er brauchte eine Million Parteischergen, um seine erbarmungslosen Befehle durchzusetzen. Auf seine Anordnung trieben die SS, die Gestapo und der SD die fremden Leibeigenen mittels Betrug und Menschenraub unter herzzerreißender Trennung von Familien, mittels Brandstiftung, Folterung und Mord ins Reich hinein. Das Korps der Politischen Leiter bildete gemeinsam mit der NS-Arbeitsfront und den Betriebsführern die Aufnahmeorganisation Sauckels für diese unglücklichen Menschen. Mitglieder des Führerkorps der Reichsleitung und der Gauleitungen halfen bei der Gestellung von Unterkunft, Verpflegung und Bewachung dieser bedauernswerten Menschen und ließen ihnen weniger Fürsorge und anständige Behandlung zuteil werden, als primitive Menschen oft ihrem Vieh angedeihen lassen. Auf Befehl von Speer und Sauckel verfrachteten die Gauleiter in ihrer Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissare die Sklaven unter den empörendsten Transportbedingungen aus den Ankunftslagern in die Rüstungswerke, wo sie wie angepflockte Tiere unmenschlicher und entwürdigender Behandlung unterworfen und durch Arbeit zu Tode geschunden wurden. Ärztliche Fürsorge, ja sogar die einfachsten ärztlichen Hilfen wurden ihnen verweigert. Nicht einmal in einigermaßen anständigen Scheunen waren sie untergebracht, sondern mußten ihr Dasein unter Bedingungen fristen, die unter denen eines guten Stalles lagen. Mit einer Roheit, die beim Halten gewöhnlicher Haustiere unbekannt ist, wurden an die Gauleiter, Kreisleiter und ihre Mitarbeiter Richtlinien für die Einleitung von Frühgeburten bei Arbeiterinnen verteilt. Bewacht wurden sie von der Gestapo und dem SD, und die Zellen der Konzentrationslager standen für jeden bereit, der sich gegen die grausame Behandlung auflehnte. Auf Veranlassung von Speer setzten die Gauleiter Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit ein, und Rosenbergs Trabanten in den Ostgebieten schleppten, angespornt durch die Sauckelschen Forderungen, neue Millionen in die Sklaverei. Die Wehrmacht preßte [288] Tausende zu militärischen Befestigungsarbeiten und in die Rüstungsindustrie, und Keitel führte Hitlers Befehle aus, durch die brave kriegsgefangene Soldaten an die Maschinen der Kriegsindustrie gezwungen wurden. Auf der Suche nach kriegsgefangenen Sklaven für seine Luftrüstungsindustrie machte der unersättliche Göring neue Vorschläge für die Durchführung früherer Weisungen und verletzte dadurch anerkannte Grundsätze des Kriegsrechts; und sein Gehilfe Milch betrachtete den zwangsweisen Einsatz russischer Kriegsgefangener an deutschen Flakgeschützen als eine erheiternde Episode in dem bedrückenden Wahnsinn dieser Zeit. Der Degradierung folgte die Verworfenheit, und das Endziel in den Arbeitsbetrieben der Konzentrationslager unter der Herrschaft der SS war der Tod. Dies alles konnte natürlich nur mit der Billigung der höchsten Regierungsstellen vor sich gehen, da der Ablauf dieses entsetzlichen Programms neue Probleme für ganz Deutschland zur Folge hatte.

So mußten die Sklaven mitten unter der deutschen Bevölkerung leben und leiden, indem Tausende von ihnen auf Gedeih und Verderb an Haushaltungen oder auch an große und kleine Industriebetriebe abgestellt wurden. In letzter Stunde sah sich sogar die Nazi-Regierung unter dem Druck der sich aus der Kriegslage ergebenden harten Notwendigkeit und einzig und allein zur Steigerung der Kriegsproduktion gezwungen, eine Milderung in der rohen Behandlung der in ihrer Hand befindlichen Sklaven anzuordnen. Die große Bedeutung dieser Anordnung kann nicht überschätzt werden. Denn nach ihren eigenen Worten war Grausamkeit die offizielle Politik, die das deutsche Volk gegenüber den Sklavenarbeitern verfolgte. Sie ist eine vernichtende Belastung der ganzen deutschen Nation. Sie ist nach unserer Ansicht eines der wichtigsten Beweisstücke in diesem Prozeß. Man ist empört, wenn man sich klar macht, daß sie von der Reichskanzlei und vom Reichssicherheitshauptamt ausging – beides hohe Regierungsstellen; sie ging in schriftlicher Form an alle Politischen Leiter bis hinunter zu den Ortsgruppenleitern und mündlich bis in die breitesten Schichten des deutschen Volkes.

Die Flut der gegen das jüdische Volk begangenen Verbrechen ist zu groß, als daß der menschliche Verstand sie fassen könnte. Unsere ganze Lebenserfahrung, unser Denken sträubt sich dagegen. Wir schaudern angesichts eines einzigen bestialischen Mordes, wir schrecken vor ein paar abstoßenden Verbrechen zurück, aber wenn wir den Greueltaten als Massenerscheinung gegenüberstehen, suchen wir vergeblich nach einer angemessenen Reaktion. Sechs Millionen Morde können wir einfach nicht fassen. Im gewöhnlichen Leben ist es gut so; aber für die Würdigung des Beweisergebnisses in diesem Prozeß ist dies eine Erschwerung für alle Beteiligten, mit Ausnahme der Schuldigen. Immerhin, gewisse Tatsachen Kennen wir genau [289] und begreifen sie auch. Sie alle sind vor diesem Gerichtshof bewiesen worden. Wir wissen, daß die angeklagten Organisationen sämtlich für die gegen das jüdische Volk begangenen ungeheuerlichen Verbrechen mitverantwortlich sind. Wir wissen, wie die bösen Geister des Nazi-Planes es verstanden haben, ein Volk mit Haß zu nähren. Zuerst ließen sie- das Führerkorps – leichthin in das Parteiprogramm den Satz aufnehmen, daß nur ein Rassegenosse Reichsbürger sein könne. Auf diese Weise legten sie den Grund zu der Hauptvoraussetzung, kraft deren man die Juden in Deutschland ihrer Menschenrechte beraubte. Dann begann das gleiche Führerkorps damit, einen Verleumdungsfeldzug gegen das jüdische Volk zu führen. Jeder Fehlschlag, alle Sorgen, jede Enttäuschung, alle Befürchtungen wurden den Juden in die Schuhe geschoben. Unter der Führung verschiedener Politischer Leiter entstanden im ganzen Reich judenfeindliche Ausschüsse. Mit Gauleiter Streicher an der Spitze begingen Parteimitglieder offene Gewalttätigkeiten gegen Juden und deren Eigentum, indem sie hier in Nürnberg die Synagoge zerstörten. Dann kamen die widerwärtigen Vorgänge in der Nacht zum 10. November 1938, geschürt von dem Parteipropagandaleiter Goebbels und öffentlich durch das Führerkorps und die SA unterstützt. Um die Freveltat mit Hohn zu krönen, setzten die Nazis ein oberstes Parteigericht zur Untersuchung der Gewaltakte ein, und obwohl dieses feststellte, daß die Gauleiter die Instruktionen für die Ausführung dieser Pogrome telephonisch an ihre Unterführer durchgegeben hatten, erkannte es, daß die Leute, die bei den Judenmorden ohne Befehl oder befehlswidrig gehandelt hatten, »innerlich überzeugt waren, ihrem Führer und ihrer Partei einen Dienst geleistet zu haben«. Unter dem Deckmantel dieser gerichtlichen Heuchelei wurde auch nicht ein einziger der Beteiligten aus der Partei ausgeschlossen.

Während die Haßwelle die ganzen Jahre hindurch fortlief, wurden alle möglichen Sondergesetze erlassen, um die Bewegungsfreiheit der Juden einzuschränken, um sie arm zu machen und zu entwürdigen. Eine große Anzahl dieser gesetzgeberischen Ungeheuerlichkeiten, sämtlich Schöpfungen der Reichsregierung, liegen als Beweismaterial bei den Akten. In steigendem Tempo schritten die Nazis zu immer neuen Grausamkeiten und erreichten nach einer in sich widerspruchsvollen Politik, die die Auswanderung der Juden und gleichzeitig ihre Einsperrung in deutschen Konzentrationslagern verlangte, den Gipfelpunkt der Gemeinheit in einem Vorschlag der Reichsregierung, demzufolge sogar Halbjuden sterilisiert werden sollten. In einer kalten Mischung von Sadismus und Sünde überprüfte die Reichsregierung die Art und Weise, in der die Halbjuden behandelt werden sollten, und dann wurden die Vorschläge der Reichsregierung Hitler zur endgültigen Entscheidung vorgelegt. Die SA gehörte zu den ersten, die mit nackter Gewalt und Roheit [290] gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland vorging. Der Zeuge Severing hat vor dem Gerichtshof im Zeugenstand bekundet, daß die SA vom Jahre 1921 ab die Juden systematisch terrorisierte. Diese Straßenrowdies fanden dann, nachdem sie ihre Orgien gegen ihre gewöhnlichen politischen Gegner nahezu vollendet hatten, neue Ziele für ihre Prügel und Peitschen und neue Ventile für ihre perversen Neigungen. Jeder Jude war Freiwild, und die Jagd auf Juden war das ganze Jahr hindurch auf. Sie drangen in Privatwohnungen ein und mißhandelten jüdische Bewohner, ohne auch nur einen Vorwand oder einen Grund anzugeben. Rohe Gewalt ging Hand in Hand mit einem ununterbrochenen Strom verleumderischer judenfeindlicher Propaganda.

Unterdrückung, Verfolgung, Verächtlichmachung und Brutalität von seiten des Führerkorps, der Reichsregierung und der SA waren nur der Beginn des furchtbaren Schicksals, das die Nazis den Juden bereiteten. Damit war der Weg für die unheilvolle Tätigkeit der Gestapo geebnet, als diese auf der Bildfläche erschien. Jetzt traten diese Geheimpolizisten mit ihren unheimlichen Methoden auf den Plan. Zitternde Juden wurden mitten in der Nacht aus ihren Betten gezerrt und ohne den Schatten einer Beschuldigung in Konzentrationslager verschickt, und oft wachten ihre Familien auf, um festzustellen, daß ihre Angehörigen fehlten. Auf diese Weise verschwanden Tausende von Juden, ohne daß man je wieder etwas von ihnen sah oder hörte, und kreuz und quer in Europa suchen heute Überlebende der Familien mit wundem Herzen nach ihren Spuren und nach Auskunft über das Schicksal, das sie ereilt hat. So traurig wie es ist: die einzige Antwort auf fast all dies Suchen findet sich in den Akten dieses Gerichtshofs, in den erbeuteten Dokumenten der SS, des SD und der Gestapo, in den Totenregistern der Gaskammern, den Massengräbern und Krematorien.

Damals hatten die Nazis bereits große Teile Europas in ihrer Gewalt. Von den ersten blutigen Erfolgen berauscht und aufgeblasen von verfrühtem Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit, den Kontinent beherrschen zu können, machten sie aus dem Schicksal der Juden in Deutschland keinen Hehl mehr, sondern verkündeten ihren Untergang. Die Juden sollten aus Europa verschwinden, nicht auf dem Wege der Auswanderung, nicht durch Massenumsiedlung, sondern durch Ausrottung. Es war Göring, der Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei und des SD mit der Ausarbeitung einer »Gesamtlösung« der Judenfrage in den vom Reich besetzten Gebieten beauftragte. Und es war Heydrich, der als Chef der Sicherheitspolizei und des SD auf Görings Befehl die Gestapo anwies, alle Juden zu töten, die nicht als Sklavenarbeiter eingesetzt werden konnten. Gestapoleute begaben sich unter der Führung von Eichmann in die besetzten Gebiete und brachten es mit Hilfe der an Ort und Stelle befindlichen Offiziere der Sicherheitspolizei und des[291] SD fertig, praktisch alle Juden Europas in Konzentrationslager und Vernichtungslager zu treiben.

Mit unverminderter Wut gingen die Nazis nun von Görings »Gesamtlösung« zu Himmlers »Endlösung« über. Das war der letzte Auftrag, und niemand anderer als Himmler, das Haupt der SS, konnte diese teuflische Mission erfüllen. In seine besudelten Hände und die der SS legte man die Aufgabe der restlosen Vernichtung der Juden. Er widmete sich seiner Aufgabe mit Hingabe. Seine SS-Männer, die sich im Ghetto von Warschau und bei der Austreibung der Juden aus Galizien ganz besonders bewährt hatten, waren nun die richtigen Leute für die verfeinerte Technik der Vernichtungsanlagen. Auf Hitlers Befehl an Himmler setzte der SS-Schlächter Höß die größte Mordanlage, die die Geschichte jemals erlebt hat, in Betrieb. Zweitausend Menschen auf einmal gingen in seinen modernen Schlachthäusern zugrunde. Überall im deutschbesetzten Europa vergasten SS-Anlagen nach dem Modell Höß-Auschwitz mit großer Geschwindigkeit lebendige Juden und beseitigten die Leichen in Öfen, die allen modernen Anforderungen des Massenbetriebs entsprachen. Auf diese Weise ermöglichte es die SS Himmler, in seiner Posener Rede zu erklären:

»Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes... Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte...« (1919-PS.)

Herr Vorsitzender! Ich darf bei dieser Gelegenheit bemerken, daß das Zitat auf Seite 29 des Textes nicht korrekt ist und abgeändert werden sollte. Das soeben von mir verlesene ist korrekt.

Als der Krieg in Europa zu Ende ging, erschauderte die Welt ungläubig vor der Tatsache dieses Verbrechens, eines Verbrechens, das man nie völlig begreifen, völlig erklären, niemals angemessen vergelten kann. Langsam gewöhnt sich die Menschheit daran, diese Verbrechen traurig und nüchtern hinzunehmen. Aber das war nicht das Ende; denn die Nazis hatten durch ihre Propagandakanäle ihr Gift gegen Rasse und Religion fast überall hin nach Europa und in einen großen Teil der Welt geleitet. Es genügt nicht, Mittel-Europa moralisch wieder gesund zu machen, das Gift aus den Verleumdungsgruben der Nazis ist in viele Quellen menschlicher Begeisterung und schöpferischer Kraft gesickert, und die Gewässer sind verseucht mit den Keimen des Hasses, des Frömmlertums und der Unduldsamkeit. Generationen geistiger und moralischer Gesundung werden notwendig sein, um die Nazi-Pest auszutilgen. So überdauert das Verbrechen die Verbrecher... diese Angeklagten und diese Organisationen.

[292] Der Übergang von der Mißhandlung politischer Gegner, rassischer und religiöser Gruppen zum Mißbrauch und zur Tötung von Kriegsgefangenen unter Verletzung des Kriegsrechts war für die Mitglieder der angeklagten Organisationen nicht schwer. Diese Verstöße waren das Ergebnis der Ziele des Angriffskrieges, für den die Reichsregierung die unmittelbare Verantwortung trägt. Die Geschichte von der Mißhandlung braver Soldaten, die sich ergeben hatten, ist diesem Gerichtshof zu wohlbekannt, um an dieser Stelle einer eingehenden Erörterung zu bedürfen. Aber es lohnt sich doch, sich die Tatsache ins Gedächtnis zurückzurufen, daß die Reichsleiter Goebbels und Bormann als Sprecher des Führerkorps der Nazi-Partei diejenigen waren, die das Lynchen alliierter Flieger durch die deutsche Bevölkerung einführten. Diese barbarische Politik wurde vom Führerkorps der Nazi-Partei durchgeführt, während gleichzeitig militärische Einheiten der SS auf allen Schlachtfeldern in sadistischer Weise Kriesgefangene umbrachten. Die Gestapo und der SD waren in erster Linie mit der Ausführung des barbarischen Hitler-Befehls vom 18. Oktober 1942 und seiner späteren Zusätze beauftragt, der die verfahrenslose Hinrichtung alliierter Kommandotruppen und Fallschirmjäger anordnete. Auch wollen wir nicht vergessen, daß während des ganzen Krieges die Gestapo die Kriegsgefangenenlager nach Juden und solchen Leuten absuchte, die sich zum kommunistischen Glauben bekannten und die dann mit kalter Überlegung ermordet wurden. Der Gerichtshof wird sich des in den späteren Stadien des Prozesses vorgelegten Dokuments erinnern, das sich mit der Überprüfung von Kriegsgefangenenlagern befaßte und welches überzeugend bewiesen hat, daß die örtlichen Gestapo-Stellen in München, Regensburg, Fürth und Nürnberg sich damit befaßten, die Kriegsgefangenenlager in Bayern daraufhin zu prüfen, welche Klassen von Kriegsgefangenen zur Liquidierung durch SS-Wachen nach Dachau zu senden seien, und daß diese Gestapo-Stellen vom Oberkommando kritisiert wurden, weil sie diese Prüfung nicht so gründlich, wie es das Oberkommando wünschte, vorgenommen hatten. Ich möchte darauf hinweisen, daß gerade dieses Verbrechen von der Verteidigung der hier angeklagten Organisationen sorgfältig außer acht gelassen worden ist. Es ist aber einer der klarsten Fälle vorsätzlichen Mordes von Kriegsgefangenen unter Verletzung des bestehenden Völkerrechts. Es ist ein positiver Beweis völliger Barbarei der verantwortlichen Organisationen bezüglich der Behandlung von Kriegsgefangenen. Es ist Dokument R-178, Exhibit US-910. Der berüchtigte »Kugel«-Befehl, demzufolge die Gestapo wiedergefangene kriegsgefangene Offiziere zwecks Erschießung durch SS-Wachen in das Konzentrationslager Mauthausen sandte, ist ein weiterer Beweis für den verbrecherischen Charakter dieser Organisationen.

[293] Die Nazis waren sich immer darüber klar, daß die christliche Kirche ein unüberwindliches Hindernis für ihre üblen Absichten darstellte, aber mit der ihnen eigenen Gerissenheit gingen sie gegen die Kirche zunächst unter dem Deckmantel unerläßlicher Notstandsgesetzgebung vor, die von der Reichsregierung erlassen wurden und die das Fundament zur späteren Ermächtigungsgesetzgebung legten, durch welche die herkömmliche Betätigung der Kirche allen Arten von Beschränkungen unterworfen wurde. Dies war der erste und entscheidende Schritt, und als dieser einmal getan war, war das Schicksal der christlichen Kirche besiegelt, es bedurfte nur einer gewissen Zeit und der Entwicklung der Verhältnisse zu seiner Erfüllung. Von der ganzen damaligen Reichsregierung, die fast ausschließlich aus Männern bestand, die sich als Christen bezeichneten, stand nur einer, Baron Eltz von Rübenach, für seinen Glauben ein. Die Absicht der Regierungserlasse war so deutlich, daß er, ohne zu zögern, die Behauptung aufstellte, daß Nazismus und Christentum für ewig unvereinbar seien. Aber an Stelle des einen Eltz von Rübenach gab es viele, die das Nazi-Treiben willig mitmachten. Für ein undefinierbares politisches Gebräu verleugneten sie ihren Glauben und gaben der politischen Führung die erste Waffe gegen die Geistlichkeit in die Hand. Ein großer Teil der moralischen Entartung dieser Zeit, die bisher noch keine Erklärung gefunden hat, hat ihre Wurzel zweifellos in diesen ersten Maßnahmen. Von diesen Anfängen datiert das schnelle Schwinden des kirchlichen Einflusses. Das wollten die Nazis gerade. In ihrer politischen Weltanschauung war kein Platz für Cäsar und für Gott zugleich. Schirach und Rosenberg als Reichsleiter und als Mitglieder des Führerkorps hämmerten gemeinsam mit zahllosen Gehilfen auf alle geistigen Kräfte ein – niemals in einem Frontalangriff, sondern immer von der Flanke her, während die Meute des Führerkorps den Klerus systematisch verleumdete und die geheiligten religiösen Bräuche ständig untergrub. Bald ging man vom antiklerikalen Feldzug zur Einziehung von Kirchengütern über, und in späteren Jahren kam es zur offenen Unterdrückung religiöser Erziehung und sogar der einfachen religiösen Handlungen. Über die wahre Einstellung gegenüber der christlichen Kirche kann kein Zweifel bestehen, denn sie kommt deutlich in dem ausgebauten Spitzelsystem zum Ausdruck, das die Gestapo und der SD gegen die Geistlichen einführte. Mitglieder dieser beiden Organisationen wurden für diese armselige Aufgabe sorgfältig in verlogenem Verhalten geschult, das darauf hinzielte, um später nach dem Kriege als Grundlage für die völlige Abschaffung der christlichen Kirche in Deutschland zu dienen. Lügen, Fälschungen und Fallstricke gehörten zu den wichtigsten Methoden für die Errichtung dieses künstlichen Beweisgebäudes. Die Gestapo gab sich nicht damit zufrieden, Kirchenorganisationen zu zerschlagen und kirchlichen [294] Gruppen ihre gesellschaftlichen Zusammenkünfte zu verbieten oder sich nur ihrer Aufgabe der Beschaffung falscher Zeugnisse zu widmen; sie verhaftete außerdem massenweise Mitglieder der Geistlichkeit, nahm sie in Schutzhaft und brachte sie schließlich ins Konzentrationslager. Man konnte nicht erwarten, daß sich die SS von der Ausführung eines solchen durch und durch bösen Programms fernhielt. Obwohl sie alle Hände voll mit ihren Untaten in ganz Europa zu tun hatte, fand sie doch noch Zeit, Kirchenbesitz und Klöster auf ihre eigene Verantwortung hin zu konfiszieren und ließ Hunderte von katholischen Priestern im Konzentrationslager Dachau auf grausame Weise ermorden.

So bildeten Christen und zahllose Juden eine Gemeinschaft des Leidens, und so kann es geschehen, daß durch eine seltsame Verkettung der Umstände die Nazis, die beide vernichten wollten, eine Grundlage für den Anfang einer Verständigung gelegt haben, die aufs beste gedeihen kann, weil sie das Schlimmste überlebt hat.

Die Hauptwaffe im Arsenal der Nazi-Tyrannei war das Konzentrationslager. Der SA gebührt das unrühmliche Verdienst, zuerst solche Lager eingerichtet und unterhalten zu haben, wohin sie diejenigen schickte, die sie rechtswidrig verhaftet hatte. Sogar SA-Versammlungslokale wurden zur Einsperrung mutmaßlicher Gegner verwandt, die dort von SA-Leuten geschlagen und mißhandelt wurden. Die SA stellte während der ersten Monate des Nazi-Regimes die Wachmannschaft für die staatlichen Konzentrationslager und brachte dort ihre brutale Technik zur Anwendung, die sie sich beim Betrieb ihrer eigenen illegalen Lager angeeignet hatte. Zwar wurde die gesetzliche Grundlage für die Schutzhaft schon durch die dem Reichspräsidenten abgerungene Verordnung zum Schutz des Staates vom Jahre 1933 gebildet, durch die die Bestimmungen der Weimarer Verfassung über die Grundrechte des deutschen Volkes aufgehoben wurden, aber die Reichsregierung war schnell mit einer Gesetzgebung bei der Hand, durch die die Einsperrung politischer Gegner und anderer unerwünschter Elemente durch das System der Konzentrationslager erleichtert wurde. Mitglieder der Reichsregierung zeigten ein solches Interesse an der Einrichtung dieser Lager, daß Frick, Rosenberg und Funk während ihrer dienstlichen Zugehörigkeit zu diesem Gremium die Lager besichtigten. Und der Haushaltsplan der Reichsregierung sah für die SS und die Verwaltung und Aufrechterhaltung der Konzentrationslager den Betrag von 125 Millionen Reichsmark vor. Um das deutsche Volk unter seine Herrschaft zu bekommen, stellte man das Konzentrationslagersystem dem Führerkorps zur Verfügung, das diese Lager als Sammelplatz für Tausende von Juden benutzte, die während des Pogroms vom November 1938 unter der Ägide des Führerkorps festgenommen worden waren. Wie die eidesstattliche Versicherung des Verteidigungszeugen Karl Weiß [295] zeigt, übten die Gauleiter häufig einen Druck auf die Gestapo aus, um ihre politischen Feinde ins Konzentrationslager zu bringen oder um ihre rechtzeitige Freilassung zu verhindern.

Die mit ihnen zusammenarbeitenden Militärs hatten an dem System der Konzentrationslager ein ausgesprochenes Interesse; sowjetische Kriegsgefangene kamen ins Konzentrationslager, um in den Rüstungswerken des Reiches zu arbeiten, und Offiziere des OKW arbeiteten zusammen mit der Gestapo die Pläne aus, um wiedereingefangene Sowjetgefangene ins Konzentrationslager Mauthausen zu bringen, wo sie für den ehrenhaften Versuch, denen zu entkommen, die sie gefangengenommen hatten, umgebracht wurden.

Die Gestapo und die SS waren jedoch die beiden Organisationen, die am unmittelbarsten an dem Konzentrationslagersystem beteiligt und darin verwickelt waren. Anfänglich standen die Konzentrationslager unter der politischen Leitung der Gestapo, und diese gab die Befehle für die an den Insassen zu vollziehenden Strafen. Die Verordnung von 1936 bestimmte, daß die Gestapo die Konzentrationslager zu verwalten habe, aber die SS war es, die aus ihren Totenkopfverbänden die Bewachungsmannschaften stellte und schließlich für die ganze innere Verwaltung der Lager zuständig wurde. Die Gestapo blieb die alleinige Behörde im Nazi-Staat, die die Vollmacht hatte, politische Gefangene ins Konzentrationslager zu schicken. Allerdings verband sich der SD mit der Gestapo bei der Verschickung von Polen, die sich nicht zur Germanisierung eigneten. Die Gestapo schickte Tausende und aber Tausende von Menschen zur Zwangsarbeit in die Konzentrationslager und transportierte Millionen von Menschen zur Ausrottung in die Vernichtungszentralen.

Die Grausamkeiten, die die SS in den Konzentrationslagern beging, genügen für sich allein, um die SS als verbrecherische Organisation zu verurteilen. Der Zeuge Höß hat bekundet, daß gegen Ende des Krieges annähernd 35000 Mitglieder der Waffen-SS zur Bewachung der Konzentrationslager eingesetzt waren.

In dem unvergeßlichen Geständnis, das er in diesem Gerichtssaal ablegte, erklärte er, daß allein in Auschwitz in der Zeit, in der er Kommandant war, die SS zweieinhalb Millionen Männer, Frauen und Kinder durch Vergasen und Verbrennen umgebracht hat, daß eine weitere halbe Million an Hunger und Krankheit zugrunde ging und daß unter denen, die ermordet wurden, sich 20000 Sowjetkriegsgefangene befanden. Wenn die SS bettlägerige Patienten nicht ermordete, so zog sie sie zu Arbeiten heran, die sie in ihren Betten ausführen konnten. Sie erteilte den Befehl, daß gefangene Frauen von anderen Gefangenen geschlagen werden mußten, und ermordeten, verstümmelten und folterten in ihrer hemmungslosen [296] Grausamkeit die Insassen der Konzentrationslager durch die Ausführung sogenannter medizinischer Experimente, die aber in Wirklichkeit nichts anderes waren als reiner Sadismus.

Die Konzentrationslager waren das Kernstück im System der Nazi-Tyrannei. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern waren furchtbar, weil die Nazis die Macht der Angst brauchten, um ihre Macht über das gewöhnliche Volk zu sichern. Hinter jedem Nazi-Gesetz und jeder Nazi-Verordnung stand das Gespenst des Konzentrationslagers. Die Stellen, die diese Lager schufen, unterhielten, leiteten und gebrauchten, sind die in der Anklageschrift bezeichneten Organisationen.

Außer den Verbrechen des Angriffskrieges, der Verfolgung der Juden, der Zwangsarbeit, der Verfolgung der Kirche, und abgesehen von den Konzentrationslagern, die bereits behandelt worden sind, beteiligten sich die angeklagten Organisationen an vielen anderen Verbrechen, um die Verschwörung zu unterstützen. Das Führerkorps betätigte sich an der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung, und die SA unternahm die ersten unmittelbaren Aktionen gegen die Gewerkschaftler. Der Einsatzstab Rosenberg, ein Teil des Führerkorps, raubte überall zusammen mit der Gestapo und dem SD die Kunstschätze Europas.

Die SS führte das niederträchtige Germanisierungsprogramm durch, wodurch Bürger der besetzten Gebiete von Haus und Hof vertrieben wurden, um Platz für Volksdeutsche zu machen. Die Gestapo und Offiziere des OKW ersannen und führten den teuflischen »Nacht-und-Nebel«-Erlaß aus, auf Grund dessen unglückliche Zivilbewohner der besetzten Gebiete auf Nimmerwiedersehen im Reich verschwanden. Auf diese Weise kam in einem Verbrechen, dessen nur die Nazis fähig waren, die fürchterliche Angst der Verwandten und Freunde zum willkürlichen Mord hinzu.

Man kann die verbrecherische Tätigkeit dieser Organisationen nicht besser beleuchten als durch die Mördertätigkeit der Einsatzgruppen, der Sicherheitspolizei und des SD, die zum erstenmal im September 1938 vom SD in Voraussicht des Einfalls in die Tschechoslowakei aufgestellt wurden. Ihre Führer wurden dem SD und der Gestapo entnommen, während Mitglieder der Waffen-SS die Mannschaft bildeten. Sie vereinigten Abschlachtungen und Plünderungen mit militärischen Operationen, und die Berichte über ihre Tätigkeit gingen über die Reichsverteidigungskommissare an die Politischen Leiter. Sogar die SA nahm an diesen schakalartigen Expeditionen zur Bekämpfung der Partisanen im Osten teil.

Als die deutschen Armeen in die Tschechoslowakei und Polen, in Dänemark und Norwegen einfielen, folgten die Einsatzbanditen, um jeden Widerstand niederzuschlagen, die Bevölkerung zu terrorisieren und Volksgruppen auszurotten. Diese Terrorspeziali sten taten [297] ihre Arbeit so gut, daß vor dem Angriff auf die Sowjetunion vier neue Einheiten aufgestellt wurden, von denen eine von dem berüchtigten Chef des SD, Ohlendorf, befehligt wurde, der in diesem Gerichtssaal über die unglaubliche Brutalität, mit der er seine Taten vollbrachte und über die empörenden Einzelheiten der Operationen, die gemeinschaftlich mit militärischen Einheiten ausgeführt wurden, ausgesagt hat. An seine Zeugenaussage wird man sich wegen ihrer nüchternen Rechnungslegung über die kaltblütigen Morde, Versklavung und Plünderung erinnern, und vor allem wegen des furchtbaren Planes zur Ausrottung von Männern. Frauen und Kindern der jüdischen Rasse. Nicht leicht wird die Menschheit die widerwärtige Erzählung der Ermordung von Frauen und kleinen Kindern in fahrbaren Gaswagen noch die abgebrühten Mörder vergessen, denen sich der Magen bei dem entsetzlichen Anblick umdrehte, wenn sie die Türen der Todeswagen an den Beerdigungsstätten öffneten. Das waren die gleichen Männer, die am Rande von Panzerabwehrgräben saßen, die Zigarette im Mund und in aller Ruhe ihre nackten Opfer mit ihren Maschinenpistolen ins Genick schossen, die gleichen Menschen, die nach ihren eigenen Leichenlisten über zwei Millionen Männer, Frauen und Kinder gemordet haben. Das waren die Männer des SD.

Das Organisationsdiagramm der Sicherheitspolizei und des SD, welches dem Gerichtshof vorliegt, wurde vom SD-Beamten Schellenberg, dem Chef vom Amt VI des RSHA, und vom SD-Beamten Ohlendorf, dem Chef vom Amt III des RSHA, aufgestellt und als richtig anerkannt. Dieses Diagramm, Beweisstück US-493, zeigt, daß diese Einsatzgruppen ein integrierender Bestandteil der Sicherheitspolizei und des SD unter dem Oberbefehl des Angeklagten Kaltenbrunner waren, und nicht, wie hier behauptet wurde, unabhängige Organisationen, die Himmler unmittelbar unterstanden. Die Offiziere dieser Gruppen stammten aus der Gestapo und dem SD und zum geringeren Teil aus der Kriminalpolizei. Wie aus dem Diagramm hervorgeht, erhielten sie ihre Befehle von den verschiedenen Ämtern des RSHA, das heißt vom Amt III oder VI, wenn es sich um SD-Angelegenheiten handelte, und vom Amt IV, wenn es sich um Gestapo-Angelegenheiten handelte. Sie richteten ihre Berichte an diese Ämter, und diese Ämter verfertigten endgültige Berichte, welche an höhere Polizeibeamte und Reichsverteidigungskommissare verteilt wurden; einige Beispiele hiervon sind im Laufe dieses Verfahrens vorgelegt worden.

Ich weiche vielleicht etwas von meinem Thema ab, wenn ich mich mit den Argumenten der Verteidiger der Organisationen befasse, aber sie sind interessant genug, denn der Verteidiger der Gestapo hat behauptet, daß die Gestapo für die in den besetzten Gebieten begangenen Verbrechen irrtümlicherweise beschuldigt worden sei und daß die SS dieselben begangen hätte. Der Verteidiger der SS [298] hat hier erklärt, daß die SS irrtümlicherweise beschuldigt worden ist, und daß der SD verantwortlich sei. Der Verteidiger des SD hat erklärt, daß der SD irrtümlicherweise beschuldigt worden ist und daß in Wirklichkeit die Gestapo schuldig sei. Der Verteidiger der SS hat erklärt, daß die Gestapo ebenfalls die gefürchtete schwarze Uniform trug und daß infolgedessen Gestapo-Leute häufig irrtümlicherweise für SS-Leute gehalten wurden. Der Verteidiger der SS hat die Gestapo für die Verwaltung der Konzentrationslager verantwortlich gemacht, und der Verteidiger der Gestapo hat die SS beschuldigt. Tatsächlich waren alle diese ausführenden Organe an diesen ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Humanität beteiligt.

Eine seltsame Erscheinung in diesem Prozeß ist es, daß die Verteidiger der betreffenden Organisationen nicht den Versuch gemacht haben, diese Verbrechen zu leugnen, sondern lediglich die Verantwortung für deren Begehung anderen zuzuschieben. Die Offiziere unter den Angeklagten machen die Politischen Leiter für den Beginn der Angriffskriege verantwortlich; die Gestapo die Soldaten für die Ermordung entkommener Kriegsgefangener; die SA schiebt die Verantwortung für die Morde in den Konzentrationslagern der Gestapo zu, und die Gestapo macht das Führerkorps für die judenfeindlichen Ausschreitungen verantwortlich; die SS macht die Regierung für das System der Konzentrationslager verantwortlich, und die Regierung schiebt der SS die Verantwortung für die Ausrottungen im Osten zu.

Es ist eine feststehende Tatsache, daß alle diese Organisationen insofern geeint waren, als sie das verbrecherische Programm Nazi-Deutschlands ausführten. Sie sind alle schuldig. Da sie einander ergänzten, ist es unnötig, zum Zwecke einer genauen Beweisführung die Grenzen ihrer teuflischen Eigenarten zu bestimmen. Als die Reichsregierung die Verordnung zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat erließ, verband sie diese Organisationen miteinander unlöslich, im Guten und im Bösen. Als die Mitglieder dieser Organisation Hitler einen gewissenlosen Treueid schwuren, verbanden sie sich für alle Zeiten mit ihm, seinen Taten und seiner Schuld.

Alle Mitglieder der Reichsregierung hatten volle Kenntnis der Funktionen und Tätigkeit der Regierung. Sie führten ihre Arbeit gemeinsam aus. Sie kamen als Körperschaft zusammen. Sie besprachen als Gruppe vorgeschlagene Maßnahmen und traten als Regierung auf. Manchmal traten sie als Reichsregierung, manchmal als Reichsverteidigungsrat zusammen. Aber in jedem Falle besprachen sie gemeinsam Gesetzesvorschläge und setzten Gesetze in Kraft, welche den Machenschaften der Hauptverschwörer den Anschein der Rechtmäßigkeit verliehen. Wenn aus keiner anderen Quelle, so mußten die Mitglieder der Regierung in jedem Jahr [299] des Nazi-Regimes schon aus dem Reichsbudget in sehr weitgehendem Maße von allem, was in Deutschland vorging, Kenntnis gehabt haben. Sie wußten vom System der Konzentrationslager, da sie ja das Geld für deren Erhaltung genehmigten und weil ihre Minister Konzentrationslager inspizierten. Sie wußten von den Plänen zu den Angriffskriegen, weil sie die gesetzliche Grundlage für eine Kriegswirtschaft schufen.

Sie wußten von der Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen in Wehrindustrien, weil sie – wie aus dem Beweismaterial hervorgeht – dies sogar vor Kriegsausbruch geplant hatten. Sie bereiteten den politischen Grundriß für das ganze Angriffs- und Ausdehnungsprogramm vor. Planung erheischt Beratung, und Beratung vermittelt Kenntnis.

Jeder Angehörige der SA, der lesen konnte, hatte volle Kenntnis von den Zielen und Absichten der SA. Die Wochenschrift »Der SA-Mann« und die Monatsschrift »Der SA-Leiter« erklärten immer wieder den Zweck, die Absichten, die Aufgaben und die Methoden der SA. In jeder Nummer dieser Veröffentlichungen werden die Pflichten und die Tätigkeit der SA im Straßenkampf, in der Beschimpfung politischer Gegner und in Züchtigung von Juden dargelegt. Der halbmilitärische Charakter der Organisation war augenfällig. Die SA nahm an Wahlversammlungen, am Plan zum Reichstagsbrand, an antisemitischen Pogromen und Boykottaktionen teil. Ihre Tätigkeit war weit verzweigt und wohlbekannt, ihr verbrecherisches Treiben offensichtlich und berüchtigt. Ein großer Teil ihrer Niedertracht war der ganzen Welt bekannt. Dr. Wilhelm Högner, der bayerische Ministerpräsident, hat in einer eidesstattlichen Erklärung ausgesagt:

»Die groben Ausschreitungen der SA und SS im Dienste der NSDAP vollzogen sich derart vor aller Öffentlichkeit, daß die gesamte Bevölkerung darüber unterrichtet war. Jeder, der zu diesen Organisationen als Mitglied ging, war über derartige Ausschreitungen unterrichtet.« (Dokument D-930.)

Das hat Dr. Högner gesagt. Die Politischen Leiter hatten Nachrichten- und Propagandaaufgaben. Sie waren die Organe zur Verbreitung der Nazi-Ideologie und die politischen Detektive, welche die Rückwirkungen auf das Volk überwachten. Für sie war Wissen ein Doppelkreislauf. Sie kannten den Plan und seine Ausführung, und sie erfuhren seine Resultate. Ein typisches Beispiel findet sich in dem Befehl zum Lynchen alliierter Flieger. Dieser Befehl mußte über das Korps der Politischen Leiter weitergegeben wer den, um die untergeordneten Stellen, welche mit der Durchführung der Lynchaktion beauftragt waren, zu erreichen. Sie paßten auf, daß der Befehl ausgeführt wurde und verfaßten Berichte über seine Wirksamkeit. Kein Geheimnis innerhalb einer Nazi-Zelle oder[300] einem Block blieb ihnen unbekannt. Die Einstellung der Skala am Rundfunkempfänger, der Gesichtsausdruck der Mißbilligung, die unverletzbaren Geheimnisse zwischen Geistlichem und Beichtkind, das uralte Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Sohn, ja sogar die Heiligkeit der Ehe, dies alles war ihr Geschäftskapital. Die Kenntnis selbst war ihr Geschäft.

Jedes Mitglied der SS schwor Hitler Gehorsam bis zum Tode, und jedes Mitglied der SS war erfüllt von dem wahren Geist der hitlerischen Weltanschauung. Im Jahre 1936 erklärte Himmler, als er die SS als eine antibolschewistische Kampforganisation beschrieb, öffentlich:

»Wir werden dafür sorgen, daß niemals mehr in Deutschland, dem Herzen Europas, von innen oder durch Emissäre von außen her die jüdisch-bolschewistische Revolution des Untermenschen entfacht werden kann« (1851-PS).

Kann man daran zweifeln, daß die SS-Männer den Sinn dieser Worte nicht verstanden? Oder etwa den Sinn von Himmlers Bekenntnis:

»Ich weiß, daß es manche Leute in Deutschland gibt, denen es schlecht wird, wenn sie diesen schwarzen Rock sehen« (1851-PS).

Er erklärte dann weiter, daß er nicht erwarte, daß er und seine SS-Männer von zu vielen geliebt würden (1851-PS).

Wir erkennen, daß die Übelkeit, die nach seiner Erklärung die Menschen befiel, wenn sie die schwarzen Röcke sahen, die Krankheit der Furcht war – der Furcht vor den brutalen Methoden der SS, den Morden, die sie auf der Straße begingen und den Prügeln, die sie in den Konzentrationslagern verabfolgten. Jedermann wußte, daß die Morde des 30. Juni 1934 von SS-Männern im schwarzen Rock ausgeführt worden waren. Sogar von Manstein von der Wehrmacht hat hier im Zeugenstand bekundet, daß seine Soldaten die üble SS derart fürchteten, daß sie Angst hatten, die Massenmorde der SS im Osten zu melden. Das Wissen, das nötig war, um die SS-Organisation zusammenzuhalten, war das Wissen eines Angehörigen des Totenkopfbataillons um Greueltaten im Konzentrationslager, eines Angehörigen eines Partisanenbekämpfungsverbandes um die Morde, Entführungen und Plünderungen, die hinter der kämpfenden Front stattfanden, eines Angehörigen der SS-Panzerdivisionen um die Ermordung von Kriegsgefangenen oder eines Angehörigen des SS-Sanitätskorps um die grausamen Experimente an menschlichen Lebewesen. Diese Kenntnis wurde durch häufige Änderungen ihrer Dienstobliegenheiten vermittelt. Die Totenkopfbataillone, welche zunächst mit der Bewachung von KZ-Häftlingen beauftragt waren, wurden zur kämpfenden Front [301] versetzt; andererseits wurden während des Krieges die Kampftruppen, die Waffen-SS, zur Bewachung von Konzentrationslagern und zur Durchführung von Ausrottungen in Vernichtungslagern verwendet. Die Buchstaben SS wurden allgemein als das Symbol einer unheimlichen und grausamen Organisation bekannt.

Die Ziele der Gestapo waren gesetzlich festgelegt und immer wieder in halbamtlichen Veröffentlichungen, wie dem »Völkischen Beobachter«, dem »Archiv«, der Zeitschrift für die »Deutsche Polizei« und Bests »Handbuch der Deutschen Polizei«, erörtert. Jedes Mitglied wußte, daß die Gestapo, die von Göring gegründete und von Himmler ausgebaute besondere Polizeitruppe war, welche mögliche Gegner der Gewaltherrschaft niederschlagen sollte. Jedes Mitglied wußte, daß die Gestapo außerhalb des Gesetzes handelte, daß die Gestapo eigenmächtig verhaften und auf Grund unabhängiger Entscheidungen einsperren konnte. Jedes Mitglied wußte, daß die Gestapo die Dienststelle war, welche die Konzentrationslager mit politischen Gegnern füllte. Jedermann wußte, daß die Gestapo für die besondere Aufgabe geschaffen war, die Opfer der Nazi-Unterdrückung, die Juden, die Kommunisten und die Kirchen zu verfolgen. Alle, die Vernehmungen durchführten, mußten wissen, daß sie das Recht hatten, bei Vernehmungen Folterungen anzuwenden. Es konnte keine Geheimnisse über die verbrecherischen Ziele der Gestapo oder über die verbrecherischen Methoden geben, mit denen dieses Hauptorgan des Terrors seine Aufgabe durchführte. Und daß sie ein Werkzeug des Terrors war, war nicht allein ihren Mitgliedern bekannt, das war vielmehr in ganz Deutschland und Europa und in jedem Lande der Erde bekannt, wo der bloße Name »Gestapo« die Losung für Terror und Angst wurde.

Deshalb bitten wir den Gerichtshof, mit gesundem Menschenverstand und Wirklichkeitssinn an die Beurteilung der Organisationen heranzugehen und sie als das zu betrachten, was sie wirklich sind, die bösartigsten und schlimmsten von allen Erfindungen der Nazis. Gewiß werden sie der Verurteilung für die Unzahl ihrer Verbrechen nicht wegen der unwahren und fadenscheinigen Entschuldigung mit einem Nichtwissen in ihren eigenen Reihen entgehen. Noch viele, viele Jahre, nachdem sich dieser Saal geleert haben wird, und noch Jahrhunderte nach unserem gegenwärtigen Erkenntnisvermögen werden Worte, wie Nazi, Führerkorps der Nazi-Partei, SA, SD, SS und Gestapo an erster Stelle der Schreckensliste der Menschheit stehen.

Über 300000 Mitglieder dieser Organisationen kamen entweder persönlich oder in eidesstattlichen Versicherungen zu Wort. Es gibt zwar eine Vorschrift im Statut, daß ein Mitglied jeder Organisation auf der Anklagebank sitzen muß, welches einer Straftat schuldig ist, in das die Organisation verwickelt ist, deren Mitglied es ist. [302] Dadurch soll sichergestellt werden, daß jemand vor diesem Gerichtshof steht, der für die Organisation sprechen kann. Die große Anzahl von Zeugen, die vor der Kommission und dem Gerichtshof erschienen, hat jedoch diesen Schutz der Organisationen durch das Statut tatsächlich überflüssig gemacht.

Das Ausmaß des verbrecherischen Charakters einer jeden Organisation ist keineswegs auf diejenigen Taten beschränkt, die die hier anwesenden Einzelangeklagten, die gleichzeitig Angehörige der Organisation waren, begangen haben. Es genügt unseres Erachtens vielmehr vollständig zur Erfüllung der Vorschriften des Statuts, wenn das einzeln angeklagte Mitglied irgendeines Verbrechens schuldig ist, das im Zusammenhang mit seiner Stellung als Angehöriger der Organisation steht. In jedem Falle ergibt sich der verbrecherische Charakter der genannten Organisationen aus Beweisen, welche die besonderen verbrecherischen Handlungen der Angeklagten bei weitem übersteigen. Der Begriff Mitgliedschaft, wie er in diesem Zusammenhang in der Anklageschrift gebraucht wird, darf keinesfalls in technischem Sinne verstanden werden. Ebensogut hätte das Wort Vertreter verwendet werden können, da die Bestimmung des Statuts sicherstellen wollte, daß für jede der genannten Organisationen ein Angeklagter als Wortführer oder sonst als Vertreter auftreten sollte.

Von den 22 Einzelangeklagten waren 17 Mitglieder des Reichskabinetts. Jeder dieser Angeklagten hat in größerem oder kleinerem Umfang an den Sitzungen des Reichskabinetts, des Geheimen Kabinettsrates und des Reichsverteidigungsrates teilgenommen. Alle von ihnen haben mitberaten, mitgewirkt und an der Verkündung von Gesetzen teilgenommen, die zur Anzettelung von Angriffskriegen und zur Begehung diskriminierender Handlungen gegen Rasseminderheiten geführt haben. Das verbrecherische Wesen jedes dieser Angeklagten ist zum Teil durch seine Mitwirkung in der obersten gesetzgebenden Körperschaft des Nazi-Systems, dem Reichskabinett, bestimmt.

Zehn von den Angeklagten waren Mitglieder des Korps der Politischen Leiter. Die Taten der Gauleiter von Schirach und Streicher sind bezeichnend für den verbrecherischen Charakter aller dieser Angeklagten in ihrer Eigenschaft als Führer der Nazi-Partei.

Gerade in seiner Stellung als Gauleiter von Franken führte Streicher seinen Giftfeldzug gegen die Juden, und in seiner Stellung als Gauleiter von Wien hat Schirach die Sklavenarbeiter ausgebeutet.

Neun der Angeklagten waren Angehörige der SS. Man braucht wohl kaum über den SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner als Vertreter dieser Organisation hinauszugehen. Hier haben Sie einen Angeklagten, der das mächtigste Amt der gesamten SS, das Reichssicherheitshauptamt, leitete. Über seine Tätigkeit bei der Leitung [303] dieser Organisation brauchen wir uns nicht weiter auszulassen. Die Schande, die er auf sich geladen hat, besudelt alle.

Acht von den Angeklagten waren Angehörige der SA, über die Göring im Jahre 1923, ganz am Anfang des Kampfes der Nazis um die Macht, den Befehl übernommen hatte. Göring war es, der die SA beim Münchener Putsch führte, und er war es auch, der die SA aufbaute und zu einer Kampfgruppe von Straßenrowdies machte.

Göring und Kaltenbrunner waren Angehörige der Gestapo. Göring, der Begründer der Gestapo, prahlte damit, daß jede abgeschossene Gestapo-Kugel seine eigene Kugel sei und daß er für die Handlungen der Gestapo die volle Verantwortung übernähme und auch keine Sorge habe, dies zu tun. Als Chef des Reichssicherheitshauptamtes hatte Kaltenbrunner die unmittelbare Verantwortung für die Gestapo. Der Gerichtshof hat Befehle zur Überstellung in Konzentrationslager gesehen, die seine Unterschrift im Faksimile oder in Schreibmaschinenschrift trugen; er hat Beweise dafür überprüft, daß Hinrichtungsbefehle in Konzentrationslagern in Kaltenbrunners Namen erlassen waren; er hat auch viele verbrecherische Befehle eingesehen, die Kaltenbrunner als Chef der Sicherheitspolizei und des SD an die örtlichen Gestapo-Dienststellen gegeben hatte.

Der enge Zusammenhang der Angeklagten mit den Organisationen ergibt sich weiterhin daraus, daß die meisten Angeklagten Angehörige von mehr als einer der genannten Organisationen waren. Frank, Frick, Göring und Bormann waren Angehörige von vier Organisationen.

Die Kabinettsmitglieder Ribbentrop und Neurath waren SS-Generale. Die SA-Generale Rosenberg und Schirach waren Kabinettsmitglieder. Die Gauleiter Sauckel und Streicher waren SA-Generale. Feldmarschall Keitel und Admiral Dönitz waren Kabinettsmitglieder. Die volle Bedeutung dieser Verschmelzung tritt bei der gemeinen Ermordung des französischen Generals Mesny an den Tag. Dieser Mord wurde von SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner als Leiter der Gestapo und des SD und von SS-Obergruppenführer Ribbentrop als Mitglied des Reichskabinetts geplant und geleitet. Kaltenbrunner übernahm die technische Ausführung des Mordes und Ribbentrop die Ausarbeitung des Täuschungsplanes.

Der Verteidiger der Gestapo hat in seinem Plädoyer geltend gemacht, daß der Mord von der Reichskriminalpolizei begangen worden sei und nicht von der Gestapo, da damals Panzinger, der die Einzelheiten ausgearbeitet hatte, die Stelle Nebes als Chef des Amtes V des RSHA übernommen hatte. Ich möchte den Gerichtshof jedoch daran erinnern, daß nicht die Spur eines Beweises dafür vorliegt, daß Panzinger den Posten eines Abteilungschefs in der Gestapo, den er jahrelang innehatte und der für Sonderaktionen [304] und Ermordungen verantwortlich war, jemals aufgegeben hat. Der Mord an General Mesny war jedenfalls eine politische Aktion, ein politischer Mord und eine Angelegenheit, die zur Zuständigkeit der Gestapo und nicht der Kriminalpolizei gehörte, wie aus ihrem eigenen Organisationsplan hervorgeht.

Ich möchte übrigens noch dazu bemerken, daß, wenn später einmal der Versuch gemacht werden sollte, diese schändliche Tat als Vergeltungsmaßnahme zu kennzeichnen, ich den Gerichtshof daran erinnern möchte, daß nach der Konvention von 1929, die auch Deutschland damals unterschrieben hatte und deren Mitglied es viele Jahre lang geblieben war, Vergeltungsmaßnahmen gegen Kriegsgefangene ausdrücklich verboten sind.

Das ganze grausige Trauerspiel, angefangen mit dem vorgetäuschten Abtransport Mesnys aus dem Offiziersgefangenenlager Königstein bis zu der frevelhaften Feierlichkeit bei der Beisetzung seiner Asche mit militärischen Ehren in Dresden, erforderte das Einverständnis und Mittäterschaft des Reichskabinetts, der Militärs, der SS, des SD und der Gestapo. Im gesamten Verlauf dieser so überaus tragischen und schmutzigen Angelegenheit tritt die ganze Heuchelei des Nazismus besonders stark in Erscheinung. Das war Mord mit reiner Weste, Täuschung auf Bestellung, aufgemacht mit allen Formalitäten des Auswärtigen Amtes, schimmernd im eisigen Glanz von Kaltenbrunners SD und Gestapo und unterstützt und gefördert von dem nach außen hin soliden Gerüst des Berufsheeres.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch kurz hinzufügen, daß die Verteidiger der angeklagten Organisationen viel Zeit darauf verwandt haben, die Rechtsgrundsätze, die sich aus dem Statut ergeben, zu erörtern; ja sie haben in vielen Fällen sogar versucht, noch über das Statut hinauszugehen. Sie haben geltend gemacht, daß das in dem Statut vorgesehene Verfahren auf eine Kollektiv-Bestrafung hinausläuft, daß die Idee, eine Organisation für verbrecherisch zu erklären, einzigartig im Recht sei und daß der Grundsatz »nulla poena sine lege« durch unser Verfahren verletzt würde.

Ich werde mich nicht noch einmal mit den rechtlichen Argumenten zu diesem Thema befassen, da Justice Jackson sie in seiner Rede im Februar erschöpfend dargelegt hat. Aber ich möchte dem Gerichtshof gegenüber noch einmal betonen, daß wir keine Kollektiv-Verurteilung von Einzelpersonen anstreben. Wir suchen eines zu erreichen, und nur eines: Daß diese Organisationen, welche zusammen Deutschland zu einem Polizeistaat gemacht und diese Verbrechen begangen haben, in der Geschichte als das gekennzeichnet werden, was sie waren, als das, was sie wert sind – Organisationen, deren Ziele, Zwecke und Tätigkeiten grundsätzlich verbrecherisch waren und die offen alle Grundsätze der Anständigkeit und des Rechts aller Kulturvölker verletzten.

[305] Nun behauptet die Verteidigung, daß, wenn Sie diese Organisationen als verbrecherisch erklären, ihre Mitglieder zu Märtyrern werden. Ich behaupte demgegenüber, daß, wenn Sie die Organisationen entlasten, die Mitglieder, die Hitler und Himmler unbedingte Treue schworen und die Millionen von Menschen in Konzentrationslager brachten und Abertausende im Namen jener Organisationen mißhandelten, verhungern ließen und ermordeten, sagen werden: »Wir sind gerechtfertigt. Was Hitler und Himmler uns sagten, war wahr. Diese Organisationen, denen wir bedingungslos gehorchten, waren nicht verbrecherisch und wir dürfen für unsere Zugehörigkeit zu ihnen nicht getadelt werden.« In Ihrem Freispruch dieser Organisationen würden sie eine Rechtfertigung für die schrecklichen Verbrechen und somit neue Gründe finden, um das deutsche Volk zu überzeugen, daß nichts Unrechtes getan wurde. Es würde ihnen die schreckliche Möglichkeit gegeben werden, diese Organisationen in der einen oder anderen Form wieder zum Leben zu erwecken, um die zivilisierte Welt wieder mit den schrecklichen Folgen der Tätigkeit verbrecherischer Gruppen heimzusuchen. Im Zusammenhang mit einigen Bemerkungen, die ich über die Aufruhrakte (sedition act) vom Jahre 1940 ins Protokoll verlesen habe, möchte ich erklären, daß ich diese Aufruhrakte der Vereinigten Staaten nur deswegen zitiert habe, um zu zeigen, daß der Begriff einer Kriminalität von Organisationen dem angloamerikanischen Recht nicht fremd ist.

Nach der Aufruhrakte hat selbstverständlich jeder Angeklagte die Möglichkeit, vor Gericht die Anschuldigung zu bestreiten, daß die Organisation, deren Mitgliedschaft ihm zur Last gelegt wird, eine verbrecherische sei. Dies soll aber meiner Ansicht nach nicht heißen, daß – von hier nicht in Frage kommenden verfassungsrechtlichen Voraussetzungen abgesehen – der Kongreß der Vereinigten Staaten nicht etwa wie in diesem Statut bestimmen könnte, daß der verbrecherische Charakter der Organisation zunächst in einem allgemeinen Verfahren gerichtlich zu prüfen ist, wobei allen Mitgliedern die Gelegenheit gegeben wird, persönlich zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen und ihre persönliche Verteidigung den folgenden Prozessen vorbehalten wird, in welchen sie alle Anschuldigungen mit Ausnahme derjenigen des verbrecherischen Charakters der Organisation bestreiten könnten. Was wir hier anstreben, ist nicht eine Verurteilung der einzelnen Mitglieder dieser Organisationen. Es ist vielleicht gut, hier noch einmal darauf hinzuweisen, daß die verbrecherische Eigenschaft des einzelnen nicht der Gegenstand dieses Gerichtsverfahrens ist. Es handelt sich hier nur darum, ob der Gerichtshof diese Organisationen als verbrecherisch oder als nicht verbrecherisch erklären soll.

[306] Schließlich, Herr Vorsitzender, schafft uns gerade die Anonymität des Verbrechens, die die Nazis durch Verwendung dieser Organisationen schaffen wollten, bis zum Ende dieses Verfahrens Plagen. Auch nach Abschluß dieses Verfahrens wird die gleiche Anonymität der Organisationen den alliierten Mächten viel Mühe bereiten, wenn sie versuchen werden, die Verantwortlichen für diese entsetzlichen Untaten zur Strecke zu bringen. Es ist eine ernüchternde Tatsache, daß die große Mehrzahl der Verbrechen, die im Namen dieser Organisationen begangen worden sind, straflos bleiben muß. Aber keinesfalls darf der Nazismus durch diese Hintertür entschlüpfen, die er sich selbst offengelassen hat; keinesfalls darf er in geheimen und nicht angezeigten Organisationsgebilden weiterleben, um einen neuen Überfall auf die Zivilisation vorzubereiten. Dadurch, daß diese Organisationen für verbrecherisch erklärt werden, wird dieser Gerichtshof nicht nur an das deutsche Volk, sondern an die Völker der ganzen Welt eine Warnung aussprechen. Die Menschheit soll wissen: Verbrechen bleiben nicht straflos, weil sie im Namen einer politischen Partei oder eines Staates begangen worden sind, über Verbrechen wird nicht hinweggesehen, weil sie zu umfangreich sind; Verbrecher werden nicht straflos davonkommen, weil ihrer zu viele sind.

Am 28. Februar 1946 hat hier in diesem Gerichtssaal der Hauptanklagevertreter für die Vereinigten Staaten von Amerika, Herr Justice Robert H. Jackson, vor diesem Gerichtshof eine Erklärung über den verbrecherischen Charakter der Organisationen abgegeben. Diese Erklärung gibt die Einstellung der Vereinigten Staaten in diesem Verfahren zu den Organisationen wieder. Ich kann nichts Besseres tun, als den Gerichtshof daran zu erinnern. Ich zitiere aus den Ausführungen, die Herr Justice Jackson aus diesem Anlaß gemacht hat:

»Wenn man vorbeugende Gerechtigkeit üben will mit der Aussicht, die Wiederholung dieser Verbre chen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu verhüten, so wäre es eine größere Katastrophe, diese Organisationen freizusprechen, als es der Freispruch aller 22 hier angeklagten Einzelpersonen sein würde. Die Macht dieser Angeklagten, Unheil anzurichten, ist vorbei; die der Organisationen bleibt bestehen. Wenn diese Organisationen hier entlastet würden, würde das deutsche Volk den Schluß daraus ziehen, daß sie nichts Unrechtes getan haben; es würde dann ein leichtes sein, das deutsche Volk in wiedererrichteten Organisationen unter neuem Namen, aber mit dem alten Programm zusammenzufassen.

Will man eine vergeltende Gerechtigkeit üben, so könnte man diese Organisationen nur freisprechen, wenn man [307] gleichzeitig den Schluß zieht, daß unter dem Nazi-Regime keine Verbrechen verübt worden sind. Denn die Patenschaft dieser Organisationen für jedes Nazi-Ziel und ihr Zusammenschluß zur Durchführung aller Maßnahmen, die der Erreichung dieser Ziele dienten, steht außer jedem Zweifel. Werden diese Organisationen nicht nach den Bestimmungen des Statuts verurteilt, so könnte das nur bedeuten, daß solche Ziele und Mittel der Nazis nicht als verbrecherisch angesehen werden können und daß das Statut des Gerichtshofs, wenn es sie so beurteilt, nichts wert ist.«


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen.

[Das Gericht vertagt sich bis

30. August 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 22, S. 249-309.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon