Vormittagssitzung.

[520] GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Die Angeklagten Heß und von Papen sind abwesend.

DR. SERVATIUS: Herr Präsident! Meine Herren Richter! Ich habe gestern von den einzelnen Kriegsverbrechen gesprochen und komme nun zu der Tätigkeit des Einsatzstabes Rosenberg. Es ist auf Seite 39 des schriftlichen Exemplars.

Die Tätigkeit des Einsatzstabes Rosenberg war keine parteiamtliche Angelegenheit. Wie bereits von dem Verteidiger des Angeklagten Rosenberg ausgeführt wurde, handelt es sich um einen Befehl Hitlers, mit dem der Angeklagte Rosenberg einen persönlichen Auftrag erhielt und nicht eine Stelle der Partei. Dies ergibt sich aus Dokument 136-PS, das ist ein Schreiben Hitlers vom 29. Januar 1940, und aus Führererlaß vom 1. März 1942, Dokument 149-PS. Es wird bestätigt durch die Aussagen, die vor der Kommission gemacht worden sind von den Zeugen Dr. Müller und von Graf von Rödern. Im gleichen Sinne lautet ein Affidavit des Zeugen Künzler, 58 a, das angibt, daß den Dienststellen des Reichsschatzmeisters bekannt gewesen sei, daß ein rein persönlicher Auftrag Rosenbergs vorgelegen habe.

Tatsächlich war der Einsatzstab Rosenberg auch keine Parteiorganisation. Die Mitglieder waren Wissenschaftler und Fachleute, die mit der Partei nichts zu tun hatten, zum Teil Ausländer. Alle waren auf Grund der Notdienstverpflichtung herangezogen. Der Einsatzleiter in Paris war kein Politischer Leiter.

Durch eine eigene Uniform war die Sonderstellung außerhalb der Partei auch äußerlich erkennbar.

Die Anklagebehörde hat aus der Finanzierung des Einsatzstabes Rosenberg durch den Reichsschatzmeister der Partei auf die Beteiligung der Politischen Leiter geschlossen. Aus Dokument 145-PS ergibt sich aber, daß dies nur eine Bevorschussung war und die Kosten das Ministerium Rosenberg als staatliche Dienststelle zu tragen hatte. Dies hat der Zeuge Künzler, ein leitender Beamter der Reichsfinanzverwaltung der Partei, mit Affidavit 58 a bestätigt; in gleicher Weise hat der Zeuge Dr. Müller, der Referent für Vermögensangelegenheiten, vor der Kommission ausgesagt (Protokoll Seite 1614).

Zum Nachweis der unmittelbaren Beteiligung der Politischen Leiter hat die Anklage sodann auf Dokument 071-PS Bezug genommen, wonach die endgültige Regelung der vom Einsatzstab [520] Rosenberg durchgeführten Beschlagnahme durch die Gauleiter erfolgen soll. Das Dokument bezieht sich aber, wie aus seiner Einleitung hervorgeht, auf die im Reichsgebiet vorzunehmenden Beschlagnahmungen »bei weltanschaulichen Gegnern«; es steht im Zusammenhang mit Dokument 072-PS, das lediglich einen Vorschlag in Verbindung mit der Kirchenfrage enthält. Dieser Vorschlag ging nicht dahin, daß die Gauleiter Sachen beschlagnahmen sollten; sie sollten vielmehr diese bis zur vorgeschriebenen Erfassung durch andere Stellen betreuen, um Zerstörungen zu vermeiden.

Auf Plünderungen im Ausland können sich die Dokumente nicht beziehen, da es dort keine Gauleitungen gab, an die diese Weisungen gerichtet sind.

Abschließend wird darauf hingewiesen, daß über die endgültige Bestimmung der Kulturgüter keine Anordnungen getroffen waren. Der vor der Kommission vernommene Zeuge Müller und der Zeuge Künzler erklären, daß die Sachen zum Gegenstand der Friedensverhandlungen gemacht werden sollten.

Abseits liegt noch die von der Anklage erwähnte Möbelaktion, durch die unter anderem die Einrichtungen von 70000 Haushaltungen aus Frankreich abtransportiert wurden. Es war dies eine Aktion des Ostministeriums, das diese durch seine eigenen Leute durchführen ließ (Dokument L-188).

Was die Kriegsgefangenen betrifft, so ist bereits von anderen Verteidigern die Rechtslage klargelegt worden, wonach die Politischen Leiter nicht mit ihnen befaßt waren.

Es ist hier den Politischen Leitern aber von der Anklage das Dokument 656-PS, US-339 vorgehalten worden. Es ist eine Anordnung des OKW aus dem Jahre 1944; dort wird mit Rücksicht auf die durch die Aufforderung der feindlichen Propaganda an die Kriegsgefangenen zu Gewaltmaßnahmen den Wachmannschaften das Recht zur Gegenwehr gegeben. In Fällen äußerster Not ist Waffenanwendung zulässig. Die Politischen Leiter stehen mit der Anordnung und ihrer Ausführung in keiner Verbindung.

Zur Frage der ausländischen Arbeiter habe ich als Verteidiger Sauckels eingehend Stellung genommen.

Über die tatsächlichen Zustände hat der Zeuge Hupfauer am 11. Juli 1946 vor der Kommission und am 31. Juli 1946 vor dem Tribunal ausgesagt. Ich beziehe mich weiter auf die Affidavits 55 a bis d und das Affidavit 55, das 15000 eidesstattliche Erklärungen zusammenfaßt; sie geben ein sicheres Bild von den allgemeinen Lebens- und Arbeitsverhältnissen dieser ausländischen Arbeiter. Alles spricht gegen eine systematische Vernachlässigung und Mißhandlung oder eine allgemeine Billigung von Verhältnissen, wie sie behauptet worden sind.

[521] Eine besondere Stellungnahme ist erforderlich zu Dokument EC-68. Dies ist eine Anordnung der Lan desbauernschaft Baden vom 6. März 1941 über die Behandlung polnischer Landarbeiter. Es ist eine Einzelmaßnahme und stammt aus der Zeit vor der einheitlichen Regelung des Arbeitseinsatzes. Sie rührt nicht von einer Parteistelle her, denn die Landesbauernschaft ist eine selbständige Berufsorganisation außerhalb der Parteiformationen. Die Anordnung selbst ist durch die späteren Regelungen für alle ausländischen Arbeiter aufgehoben worden.

Auf Grund der Beweisaufnahme steht aber fest, daß diese Anordnung in der Praxis mit Zustimmung der Politischen Leiter nicht durchgeführt wurde. Es wird hierzu Bezug genommen auf die Aussagen mehrerer Politischer Leiter aus dem Gau Baden, die in Affidavit 68 zusammengefaßt sind. Ich verweise weiter auf die Aussage des Zeugen Mohr – Landesbauernschaft Bayern –, der vor der Kommission am 3. Juli 1946 vernommen wurde, weiter auf die Aussagen des Gauleiters Wahl am 15. Juli 1946 für den Gau Schwaben und des Ortsgruppenleiters Wegscheider für das Allgäu vor der Kommission und dem Tribunal am 16. Juli beziehungsweise 31. Juli 1946.

Was die Schwangerschaftsunterbrechung bei ausländischen Arbeiterinnen betrifft, so ergibt sich aus den »Vertraulichen Informationen der Parteikanzlei« vom 9. Dezember 1943, daß ein Eingriff nur auf ausdrücklichen Wunsch vorgenommen wurde. Die dem Dokument angefügte Aufstellung zeigt auch, daß ein Eingriff die Ausnahme bildete (Affidavit Haller, 56a).

Als letztes Kriegsverbrechen, das die Politischen Leiter besonders belastet, kommt der Vorwurf der Lynchjustiz an notgelandeten Fliegern.

Es handelt sich hier nicht darum, ob die Angriffe der Flieger auf die Zivilbevölkerung zulässig waren, und ob die Empörung der Bevölkerung berechtigt war, sondern darum, daß eine Tötung solcher Flieger ohne vorausgegangenes Urteil durch die Bevölkerung zugelassen wurde. Es ist zu klären,...


VORSITZENDER: Dr. Servatius! Sie gehen von den ausländischen Arbeitern zu einem anderen Thema Ihrer Rede über. Der Gerichtshof möchte gerne wissen, wie Sie Ihren Fall hinsichtlich der Behandlung der ausländischen Arbeiter durch die Politischen Leiter ansehen und ob Sie behaupten, daß sie nicht mit Einsatz und Kontrolle der im Zuge des Zwangsarbeiterprogrammes nach Deutschland gebrachten ausländischen Arbeiter zu tun hatten.


DR. SERVATIUS: Ich bestreite, daß sie an der Hereinholung, der Erfassung der Arbeiter beteiligt waren. Sie hatten nur die Pflicht der Beaufsichtigung bezüglich der Betreuung, und ich behaupte, daß sie dieser Betreuungspflicht nachgekommen sind.


[522] VORSITZENDER: Sie geben also zu, daß sie die Aufgabe der Überwachung der Arbeiter übernommen hatten?


DR. SERVATIUS: Jawohl. Es sind ja hier in dem Falle Sauckel eine Reihe Gauleiter gehört worden, die alle bestätigt haben, daß sie die Bevollmächtigten waren für den Arbeitseinsatz und die Betreuung durchgeführt haben. Das ist im Falle Sauckel eingehend ausgeführt worden.

Ich höre gerade, daß ich die Frage nicht richtig verstanden hätte. Es handelt sich um die Bewachung. Herr Präsident! Hätte meine Stellungnahme zur Bewachung der ausländischen Arbeiter gehört?


VORSITZENDER: Die Worte, die ich gebrauchte, haben gelautet, ob Sie behaupten, sie hätten nichts mit Einsatz und Kontrolle der im Zuge des Zwangsarbeitsprogrammes nach Deutschland gebrachten ausländischen Arbeiter zu tun gehabt.


DR. SERVATIUS: Dann habe ich, Herr Präsident, richtig verstanden, meine Antwort kann so bleiben, wie ich sie gegeben habe.


VORSITZENDER: Sie sind dann also damit einverstanden, daß, obwohl, wie Sie sagen, sie nicht an der Hereinholung der Arbeiter – ich glaube, das waren die Worte, die Sie gebraucht haben – oder an der Erfassung von Arbeitern nach Deutschland teilgenommen hätten, sie dennoch bei der Überwachung und Kontrolle der Arbeiter behilflich gewesen seien.


DR. SERVATIUS: Jawohl, und sie hatten die Oberaufsicht als Bevollmächtigte für den Arbeitseinsatz. Sie mußten also kontrollieren, ob die Arbeitsfront und die Betriebsführer ihren Betreuungspflichten nachkamen; sie hatten selbst keine unmittelbare Verantwortung, nur eine zusätzliche Betreuungspflicht als Organe Sauckels, der auf diese Weise kontrollieren wollte, ob seine Anordnungen erfüllt wurden.


VORSITZENDER: Und behaupten Sie, sie hätten nicht gewußt, daß die Arbeiter nicht freiwillig gekommen waren?


DR. SERVATIUS: Das bestreite ich nicht, daß sie auf Grund einer Verpflichtung kamen. Ich gebe zu, daß die Gauleiter wissen mußten und gewußt haben, daß die Mehrzahl der Arbeiter auf Grund einer Dienstverpflichtung kam.


VORSITZENDER: Danke sehr. Wir sind jetzt auf Seite 44 unten.


DR. SERVATIUS: Ich war bei der Frage der Lynchjustiz.


VORSITZENDER: Seite 44 im Englischen.


DR. SERVATIUS: Seite 44 war ich. Ich habe gesagt, es ist zu klären, ob solche Kriegsverbrechen daraufhin von den Politischen Leitern allgemein geduldet und begünstigt wurden.

[523] Von der Anklage sind fünf Dokumente hierzu vorgelegt worden. Zunächst eine Anordnung vom 13. März 1940 des Stellvertreters des Führers in der Partei, Heß, Dokument 062-PS, US-646. Es betrifft eine geheime Anordnung über das Verhalten der Bevölkerung gegenüber gelandeten Flugzeugen und Fallschirmjägern, es enthält bezüglich der letzteren die Anweisung, sie festzunehmen oder »unschädlich« zu machen.

Zum Verständnis des heute zweifelhaften Wortes muß davon ausgegangen werden, daß es sich hier um feindliche Soldaten handelt, die mit einem Kampfauftrag abgesetzt werden; ihre Festnahme ist für die Zivilbevölkerung kaum möglich, und der Ausdruck muß daher so verstanden werden, daß andere Maßnahmen zur Sicherung getroffen werden, um Schaden zu verhüten.

Wesentlich für die Auslegung ist, daß im Jahre 1940 die Luftlage so war, daß tatsächlich mit solchen Vorgängen nur theoretisch gerechnet werden konnte, es war eine Vorsichtsmaßnahme, die nach dem Schreiben selbst den französischen Anordnungen folgte.

Die in dem Dokument geforderte besondere Ge heimhaltungsmaßnahme erklärt sich vielleicht daraus, daß überhaupt die Zivilbevölkerung eine Anordnung erhielt, die sie zu Kombattanten machen konnte.

Tatsächlich sind aus jener Zeit keine Vorfälle bekanntgeworden über eine Verletzung des Völkerrechts gegenüber Fliegern.

Gegen eine solche Maßnahme spricht auch deutlich die »Vertrauliche Information der Parteikanzlei« vom 4. Dezember 1942 (PL-94). Dort wird ein Vorgehen gegen Flieger, wie es in Japan erfolgt war, ausdrücklich abgelehnt.

Anders sind die späteren Dokumente zu beurteilen, die offen das Kriegsverbrechen begünstigen und dazu anreizen.

Die Prüfung der Dokumente geht hier dahin festzustellen, wieweit die Politischen Leiter im allgemeinen Kenntnis hatten oder beteiligt waren.

Die Anordnung Himmlers vom 10. August 1943, Dokument R-110, US-333, richtet sich an die Höheren SS- und Polizeiführer. Es waren danach die »zuständigen Gauleiter« zu unterrichten; zuständig aber waren nur diejenigen, die staatliche Funktionen hatten, also die Reichsverteidigungskommissare und Reichsstatthalter. Eine aktive Tätigkeit auf dem politischen Sektor zu entfalten, war daher nicht damit verbunden.

Für eine solche Aufforderung wäre die Parteikanz lei zuständig gewesen. Daraus ist zu folgern, daß nicht alle Gauleiter unterrichtet wurden und auf keinen Fall die Kreisleiter und die nachgeordneten Parteistellen. Ich verweise auf die Aussage des Zeugen Hoffmann in seiner Vernehmung vom 2. Juli 1946.

[524] Dementsprechend haben auch die anderen Gauleiter bestätigt, daß sie von den Anordnungen Himmlers an die polizeilichen Dienststellen nur in ihrer Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissare Kenntnis erhielten.

Das Rundschreiben Bormanns vom 30. Mai 1944 (Dokument Nummer 057-PS) war bestimmt, alle Politischen Leiter zu unterrichten, das Lynchen von Fliegern zu dulden; dies stellt die Folge des Presseartikels von Goebbels vom Tage vorher dar.


VORSITZENDER: Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Ihre Argumentation richtig verstanden habe. Sagen Sie, daß im Dokument 110 der Begriff der zuständigen Gauleiter nicht alle Gauleiter einschließe?


DR. SERVATIUS: Jawohl, nur diejenigen, die Reichskommissare waren. Sie bekamen von den Polizeistellen die Nachricht als staatliche Dienststelle, während die übrigen Gauleiter, die nicht die staatlichen Positionen hatten – und es gab eine ganze Reihe –, nicht unterrichtet waren. Und die weitere Folge ist, daß ein Gauleiter in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar nicht seine politischen untergeordneten Stellen unterrichtete, daß also der Kreisleiter hier doch keine Nachricht bekam.


VORSITZENDER: Sagen Sie also, daß die Gauleiter die Kontrolle über ihren Gau verloren hätten, wenn sie nicht zu Reichskommissaren oder Reichsstatthaltern ernannt worden wären?


DR. SERVATIUS: Die Dienststellen waren getrennt, und die Dienstanweisungen gingen nur zu den Kreisleitern weiter, wenn es sich um Parteianweisungen handelte, so daß also hier im vorgeschriebenen Dienstweg jedenfalls kein...


VORSITZENDER: Das ist keine Antwort auf meine Frage. Ich fragte Sie, ob Sie sagen, daß die Gauleiter die Autorität in ihrem Gau verloren hätten?


DR. SERVATIUS: Nein, das will ich nicht sagen. Ich will nur sagen, daß im gewöhnlichen Dienstweg nicht diese Anordnung weitergegeben worden ist, und ich habe auch Zeugen dafür angegeben, daß tatsächlich die Kreisleiter von dieser Anordnung keine Kenntnis bekommen haben. Anders ist es mit den nächsten Anordnungen gekommen. Sie haben später Kenntnis bekommen können und sollten sie bekommen, aber nicht bei dieser Anordnung Himmlers.


VORSITZENDER: Fahren Sie fort.

DR. SERVATIUS: Es ist das nächste Schreiben. Das Rundschreiben Bormanns vom 30. Mai 1944 (Dokument 057-PS) war bestimmt, alle Politischen Leiter zu unterrichten, das Lynchen von Fliegern zu dulden; dies stellt die Folge des Presseartikels von [525] Goebbels vom Tage vorher dar, in dem dieser sich unmittelbar an die Bevölkerung wandte.

Für die Verteidigung ist es wesentlich festzustellen, wie die Politischen Leiter hierbei mitgearbeitet haben und ob diese Kriegsverbrechen überall begangen worden sind unter dem allgemeinen Wohlwollen und der Billigung der Politischen Leiter.

Es dürfte das Gegenteil festgestellt sein. Die drei vor der Kommission vernommenen Gauleiter haben übereinstimmend bekundet, daß sie die Auswirkungen des Rundschreibens erkannt und es entgegen den Anordnungen nicht an die Kreisleiter weitergeleitet haben, so Zeuge Hoffmann, der Zeuge Kaufmann und der Zeuge Wahl, das sind die drei Gauleiter.

Das gleiche haben die Gauleiter von Mecklenburg, Weser-Ems und Tirol bekundet. Das sind die Affidavits 61 e, h und g.

Daß in anderen Gauen ebenso verfahren wurde, ergibt sich zwingend aus der Tatsache, daß die meisten der Kreisleiter von dem Bormann-Erlaß keine Kenntnis hatten; soweit sie den Erlaß bekamen, ließen sie ihn in ihrem Kreis nicht zur Auswirkung kommen und gaben ihn wegen seiner Gefährlichkeit nicht weiter; dazu folgende Zeugen: Der Zeuge Meyer-Wendeborn für den Kreis Oldenburg; der Zeuge Kühl, Kreisleiter in Ost-Hannover; Zeuge Biedermann, Gau Thüringen; der Zeuge Brückmann, Kreisleiter von Hessen-Nassau; der Zeuge Naumann, Kreisleiter in Sachsen; der Zeuge Eber, Gau Westmark; der Zeuge Haus Kreisleiter in Wetzlar.

Zu den Zeugen, die die Nichtweitergabe der Anordnung bestätigen, gehört der erwähnte Zeuge Hoffmann; in seinem Gau ist am 25. Februar 1945, also neun Monate später, eine Durchsage über die Zulässigkeit des Lynchens erfolgt. Bemerkenswert für die Politischen Leiter ist an diesem Vorgang, daß der Zeuge solange gezögert hat, im Sinne von Bormann und Himmler zu handeln. In seiner Vernehmung vor der Kommission hat der Zeuge gesagt, daß er seinen Entwurf zurückgezogen habe und die Durchsage ohne sein Wissen erfolgt sei. Tatsächlich wurde im Gau nicht darnach gehandelt. Beweis: Affidavit Scholtis.

Zu den gesamten Aussagen der Gau- und Kreisleiter ist zu bemerken, daß nur wenige Zeugen vernommen wurden und daß nur wenige eidesstattliche Erklärungen aus der Fülle des vorhandenen Materials herausgegriffen werden konnten.

Es dürfte aber feststehen, daß im allgemeinen die Politischen Leiter dem verbrecherischen Vorschlag nicht folgten. Trotz der Verbitterung, Verzweiflung und Not über die Vernichtung vieler Menschenleben wurde die Verletzung des Kriegsrechtes verhindert.

In Affidavit 61 sind rund 11000 Einzelerklärungen zusammengefaßt, diese Erklärungen bezeugen nicht nur eine passive [526] Ablehnung dieser gefährlichen Methode, sondern bestätigen in vielen Fällen das positive Eingreifen zum Schutz der Flieger gegenüber der erregten Bevölkerung.

Den Politischen Leitern ist schließlich durch die Anklage noch vorgeworfen worden, sie hätten durch die Auslandsorganisation der NSDAP als Fünfte Kolonne im Ausland gearbeitet. Ein Beweis hierfür hat sich weder während der Vernehmung vor dem Tribunal anläßlich der Behandlung des Falles Heß noch während der Kommissionsvernehmung ergeben. Die Auslandsorganisation diente lediglich dem Zusammenschluß der reichsdeutschen Parteimitglieder im Auslande und sollte bei ihnen das Verständnis für das Deutschtum aufrechterhalten. Den Mitgliedern der Auslandsorganisation war ausdrücklich verboten, unter den Einwohnern ihres Gastlandes für die nationalsozialistische Idee Propaganda zu machen und mit politischen Gruppen des Auslands, auch wenn sie nationalsozialistische oder faschistische Ideen vertraten, zusammenzuarbeiten (Dokumente PL-57, 58, 59). Aus diesem Grunde war ihnen auch die Zusammenarbeit mit dem Amerikadeutschen Bund verboten; dieses Verbot wurde auch streng beachtet. Beweis: Die Vernehmung des Zeugen von Rödern.

Auf Grund der Erfahrungen, die gerade die Auslandsdeutschen im ersten Weltkriege gemacht hatten, waren sie, wie der Zeuge von Rödern erklärt hat, gegen jede Expansionspolitik. Sie hatten kein anderes Ziel, als daß der Friede mit allen Mitteln aufrechterhalten wird. Aus diesem Grunde kamen sie auch für eine Tätigkeit als Fünfte Kolonne nicht in Betracht. Den Mitgliedern der Auslandsorganisation war jede Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst durch ihren Leiter Bohle verboten. Wenn einzelne Angehörige der Auslandsorganisation dieses Verbot übertreten haben, so taten sie dies nicht im Auftrage der Auslandsorganisation, sondern entgegen deren ausdrücklichen Anweisungen. Dies ergibt sich daraus, daß die betreffenden ausländischen Staaten – zum Beispiel England – die Auslandsorganisation trotz derartiger Vorfälle nicht verboten haben; vielmehr wurde der legale Charakter der Auslandsorganisation durch die ausländischen Staaten wiederholt ausdrücklich anerkannt. Daß die Auslandsorganisation keine Tätigkeit als Fünfte Kolonne ausübte, geht auch schließlich daraus hervor, daß sie bis zum Schluß in neutralen Ländern fortbestand, also noch zu einer Zeit, als es diesen Staaten keine diplomatischen Schwierigkeiten mehr bereitet hätte, wenn sie sie verboten hätten.

Ich habe zu den einzelnen Punkten der Vorwürfe Stellung genommen; es ist nun die Frage, welches das Gesamtbild ist, das sich ergibt. Es ist zu prüfen, ob die untersuchten Fälle Einzelvorkommnisse waren oder ob sie durch ein gemeinsames Band zusammengehalten werden und damit den verbrecherischen Charakter der Politischen Leiter zeigen.

[527] Die Anklagebehörde hat darauf hingewiesen, daß sie besonders umfangreiches Beweismaterial vorgelegt habe. Man muß zugeben, daß auf Grund der Besetzung von ganz Deutschland und der Tätigkeit der Behörden auch der letzte Winkel durchsucht und das Beweismaterial herbeigeschafft worden ist. Aber gerade darum überrascht das Material bei genauer Durchsuchung durch seine Spärlichkeit, es zeigt sich, daß das Feld des Antrags der Anklage nicht gedeckt ist.

Nicht ein Beweis von Stücken, sondern nur eine Systematik kann überzeugen, daß Vorfälle, die sich in einem Gebiet zu einer Zeit einmal ereignet haben, notwendigerweise in allen anderen Gebieten laufend vorgekommen sind.

Die einzelnen Vorgänge könnten erst durch die »Verschwörung« zu einem System zusammengefaßt werden, das den verbrecherischen Charakter dartut. Aber gerade die Verschwörung soll erst durch die nicht zusammenhängenden Tatsachen erwiesen werden.

Den Dokumenten der Anklage stehen die Aussagen der Zeugen der Verteidigung gegenüber.

Die Anklagebehörde hat gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugen vorgebracht, daß sie alle Zeugen in eigener Sache seien.

Es ist ihnen vorgehalten worden, daß sie noch bis zum Schluß im Amt geblieben seien.

Wollte man diesen Überlegungen folgen, so war die vom Statut gewährte Möglichkeit des rechtlichen Gehörs der Mitglieder inhaltslos. Die Zeugen treten gerade nicht in eigener Sache auf, sondern als Zeugen mit allgemeiner Kenntnis der Vorgänge und Verhältnisse, die nur durch die Mitglieder der Organisation selbst aufgeklärt werden können. Ihre Glaubwürdigkeit muß sich aus der Gleichmäßigkeit vieler Aussagen ergeben.

Man kann ein Zeugnis nicht allgemein zurückweisen, wenn der ausgesprochene Zweck des Verfahrens ist, Beweise über solche Punkte in späteren Verfahren auszuschließen. Dort würde jeder einzelne für die Richtigkeit seiner Aussage Zeugen beibringen können, aber zu spät. Wenn ein Zeugnis unglaubwürdig sein soll, so muß dies im einzelnen Fall bewiesen werden; ein solcher Beweis kann aber nicht dadurch geführt werden, daß man einen Zeugen Schlüsse ziehen läßt, die er mangels Überblicks und Kenntnis nicht richtig ziehen kann.

Es sind nur wenige Zeugen vor der Kommission und dem Tribunal gehört worden.

Die Aussagen von Einzelzeugen hat zur Festlegung des verbrecherischen Charakters einer Organisation keine zwingende Kraft. Der Zeuge kann über die Gesamtverhältnisse, die zur Bekundung stehen, meist wenig bekunden. Seine Aussagen bleiben auch bei umfassenderer Kenntnis der Dinge Bruchstücke.

[528] Erst eine zusammenfassende Erhebung kann Klärung bringen. Die Anklagebehörde hatte hierzu in den Lagern gute Gelegenheit. Daß die Prüfung aller Inhaftierten erfolgt ist, zeigen die Einzelprozesse die als Ergebnis dieser Prüfung durchgeführt worden sind. Aber das Verbrechen als allgemeine Erscheinung konnte nicht festgestellt werden.

Die Verteidigung hat ihrerseits alles Zeugenmaterial, das ihr zugänglich war, durch eine Art Enquete erfaßt. Im Verfahren vor dem Tribunal sind Enqueten grundsätzlich zugelassen worden in der Form von Regierungsberichten. Zum Nachweis von generellen Vorkommnissen erscheinen sie auch nicht entbehrlich.

Die Schwächen der Enquete sind bekannt; ihre Hauptgefahr liegt in der Auswahl der Zeugen. Im vorliegenden Fall steht jedoch der Kreis der Zeugen durch die Lagerinsassen fest. Die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen von zirka 58 000 Personen sind keine Auswahl aus den Lagern, sondern eine Zusammenfassung.


VORSITZENDER: Fahren Sie fort.


DR. SERVATIUS: Die zweite Schwierigkeit der Enquete besteht in der Unmöglichkeit der Nachprüfung der Angaben durch den Fernstehenden wegen ihres Umfangs. Gerade diese Nachprüfung ist aber unter den obwaltenden Umständen gesichert; die Verhältnisse aller Zeugen aus den Lagern sind genau bekannt und durch Ermittlungen bestätigt. Die Angaben der Zeugen können jederzeit nachgeprüft werden. Daß eine solche Prüfung möglich ist, zeigt die Einrichtung der Entnazifizierungskammern.

Wenn man den Beweiswert der Zeugenaussagen und der Affidavits in Bausch und Bogen verneint, ohne den wirklichen Wert geprüft zu haben, so kann dieses Verfahren zu keinem richtigen Ergebnis führen.

Mißt man den Zeugenaussagen auch nur eine gewisse Beweiskraft zu, so ist das einheitliche Bild zerstört, das die Anklagebehörde ihrem Antrag zugrunde gelegt hat.

Eine andere Frage ist die, ob durch die Verantwortlichkeit aller Politischen Leiter auf Grund ihrer Stellung oder auf Grund von Kenntnis und Billigung eine Gemeinschaftshaftung entstehen kann.

Die praktische Frage ist die, ob ein Kreisleiter auf dem Lande durch die Vorkommnisse in einer Ortsgruppe der Großstadt mitbetroffen wird und ob jemand, der 1930 Politischer Leiter war, durch Ereignisse miterfaßt wird, die im Kriege vorgekommen sind. Die Frage ist, ob ein Blockleiter in Mitleidenschaft gezogen wird durch den Umstand, daß auf Grund geheimer Anordnung Menschen durch Gnadentod beseitigt wurden.

Es liegt auf der Hand, daß hier Unterschiede zu machen sind.

Zunächst ein Unterschied in zeitlicher Richtung.

[529] Die die Einzelhandlungen erst verbindende Verschwörung ist nach den Ausführungen des Anklagevertreters der Sowjetunion nicht vor dem Jahre 1935 mit Sicherheit nachzuweisen. Nach der Anlage A zur Anklage gegen die Organisation wird die Reichsregierung erst für eine Verschwörung nach dem Jahre 1934 verantwortlich gemacht. Von den Dokumenten, die gegen die Politischen Leiter vorgelegt worden sind, bezieht sich nur ein einziges auf das Jahr 1933, es ist 374-PS. Es betrifft einen örtlichen Judenboykott.

Alle anderen Dokumente behandeln Vorgänge ab 1938. Die Mehrzahl der Dokumente betrifft erst die Kriegszeit.

Bei der Feststellung der belastenden Zeit kann nicht ein Einzelfall ausschlaggebend sein, sondern nur Vorgänge, die zu ihrer Zeit einen allgemeinen Charakter trugen.

Wenn die Anklagebehörde ihren Antrag für die ganze Zeit des Bestehens der Partei aufrechterhält, so glaube ich, daß dies nicht haltbar ist.

Man kann auch dem Gedanken nicht folgen, daß ehrenamtliche Blockleiter in gleichem Maße verantwortlich seien wie ein Reichsleiter oder Gauleiter. Es muß ein Unterschied auf Grund der Stellung gemacht werden.

Ein Gauleiter hat andere Einblicksmöglichkeiten, und seine Kenntnis und Erfahrung ist umfangreicher als die eines Ortsgruppenleiters. Der hauptberuflich tätige Politische Leiter muß anders beurteilt werden als der, der ehrenamtlich tätig ist.

Nur der Nachweis einer gemeinsamen Verschwörung würde sie gleichstellen. Aber gerade diese Verschwörung muß erst nachgewiesen werden.

Wenn man die Belastungsdokumente durchgeht, so zeigt sich deutlich die Verschiedenartigkeit der Verantwortung. Es gibt Anordnungen, die in der Spitze gegeben werden, von denen jedoch nur ein engster Kreis Kenntnis erlangt; es gibt Anordnungen, die zur allgemeinen Kenntnis der Politischen Leiter kommen sollen, die aber im Befehlsapparat nicht weitergegeben werden; es gibt Anordnungen, die in einem Teil des Reichsgebietes selbständig getroffen werden, von denen in anderen Gauen nichts bekannt ist. Es gibt Maßnahmen, die von obersten Politischen Leitern durchgeführt werden, die ihnen aber auf Grund besonderer staatlicher Stellung übertragen sind und daher mit dem Parteiapparat nicht in Verbindung kommen.

Den Unterschied der Stellung hat auch die Anklagebehörde bei ihrem Antrag gegen die Politischen Leiter berücksichtigt und dementsprechend die Mitglieder der Ortsgruppenstäbe sowie die Helfer der Zellen- und Blockleiter aus dem Verfahren herausgelassen.

[530] Diesem Gedanken folgend ist darüber hinaus der Grad der Verantwortlichkeit der übrigen Gruppen zu prüfen:

Der Umstand, daß die Zellen- und Blockleiter noch im Verfahren einbegriffen sind, während die ihnen gleich oder höher gestellten Mitglieder des Stabes der Ortsgruppen nicht mehr erfaßt sind, beruht darauf, daß sie im Organisationsbuch als »Hoheitsträger« bezeichnet worden sind.

Die Bedeutung des Organisationsbuches wird von der Anklagebehörde verkannt. Das Buch war ein theoretisches Werk, das von dem eigenen Referenten des Reichsorganisationsleiters Ley als solches bezeichnet wurde.

Die Bezeichnung »Hoheitsträger« wurde den Zellen- und Blockleitern aus rein konstruktiven Gründen beigelegt, weil sie sich in eine gebietliche Einteilung dann einreihen ließen. Diese Konstruktion führt dazu, daß ein Blockleiter als wichtiger Hoheitsträger erscheint, während ein Reichsleiter diese Eigenschaft nicht hat; dafür steht der Blockleiter mit dem Führer selbst als Hoheitsträger des Reiches in einer Kategorie; ich verweise auf Affidavit Hederich, Nummer 27, Affidavit Schmidt, Nummer 25 und Affidavit Förtsch, Nummer 26. Es sind dies Zeugen, die in der Organisation als Organisationsleiter tätig waren.

Dementsprechend sind in dem 1940 erschienenen Buch des Oberbereichsleiters Dr. Lingg mit dem Titel »Verwaltung der NSDAP« die Zellen- und Blockleiter auch nicht als Hoheitsträger aufgeführt. Die Bezeichnung Hoheitsträger geht nur herab bis zu dem Ortsgruppenleiter. (Dokument PL-1.)

In gleicher Weise nimmt eine Verfügung der Parteikanzlei vom 8. Oktober 1937 die Zellen- und Blockleiter nicht unter die Hoheitsträger auf (Dokument Nummer 2). Dort sind nur vier Hoheitsgebiete genannt, die bei der Ortsgruppe enden.

Es schließt sich an an eine Bekanntmachung Hitlers vom 23. April 1941 (Dokument PL-4) über die Befugnis, nach Fliegerangriffen Schadensstellen zu betreten. Dort sind die Zellen- und Blockleiter eben falls nicht unter die Hoheitsträger aufgenommen.

Auch die Zeitschrift »Der Hoheitsträger«, die von der Anklage als Dokument 2660-PS zum Beweis des besonderen Charakters der Zellen- und Blockleiter vorgelegt worden ist, zeigt, daß die Zusendung des Hefts nur bis zum Ortsgruppenleiter erfolgte (Dokument PL-25).


VORSITZENDER: Einen Augenblick, Dr. Servatius, sind Ihre Seiten in der deutschen Ausgabe dieselben wie in der englischen?


DR. SERVATIUS: Ich habe sie nicht kontrollieren können, es müssen dieselben sein, ich bin jetzt auf Seite 54.


VORSITZENDER: Ich möchte, daß Sie für einen Augenblick auf Seite 53 zurückblättern. Ich habe Ihre Argumentation auf Seite 53 [531] unten nicht verstanden. In der englischen Ausgabe steht folgendes: »Die Bezeichnung ›Hoheitsträger‹ wurde den Zellen- und Blockleitern aus rein konstruktiven Gründen beigelegt.«

Ich weiß nicht, was hier das Wort »konstruktiv« bedeuten soll – und dann heißt es: »... weil sie sich in eine gebietliche Einteilung dann einreihen ließen. Diese Konstruktion führte dazu, daß ein Blockleiter als wichtiger Hoheitsträger erscheint, während ein Reichsführer diese Eigenschaft nicht hat.«

Was meinen Sie mit »Reichsführer«, ist es dasselbe wie »Reichsleiter«?


DR. SERVATIUS: Reichsleiter? Es muß Reichsleiter heißen.


VORSITZENDER: Dann auf der nächsten Seite, Seite 54, dritter Absatz, fahren Sie fort: »In gleicher Weise nimmt eine Verfügung der Parteikanzlei vom 8. Oktober 1937 die Zellen- und Blockleiter nicht unter die Hoheitsträger auf (Dokument PL-2). Dort sind nur vier Hoheitsgebiete genannt, die bei der Ortsgruppe, den Ortsgruppenleitern enden.«

Das bedeutet doch, daß die Reichsleiter Hoheitsträger waren, nicht wahr?


DR. SERVATIUS: Nein. Auf der Reichsebene gibt es nur einen Hoheitsträger, das ist Adolf Hitler selbst als Führer, während die Reichsleiter keine Hoheitsträger sind, da sie selbst kein Gebiet haben. Das hat der Führer, Hitler, verlangt, und so ist es konstruktiv aufgebaut: Das Reich, der Führer, dann kommen Gauleiter, Kreisleiter, Ortsgruppenleiter und endet dort, und es gibt kein »Reich« in dem Buch für Block- und Zellenleiter.


VORSITZENDER: Ich verstehe.


DR. SERVATIUS: Ich fahre fort im letzten Absatz:

Sodann erging noch am 7. Dezember 1943 eine Anordnung der Parteikanzlei, in der die Block- und Zellenleiter nicht zu den Hoheitsträgern gerechnet wurden (Dokument PL-24).

Aber nicht nur der Form, sondern auch der Tätigkeit nach waren die Zellen- und Blockleiter keine mit besonderen Vorrechten und Hoheitsbefugnissen ausgestatteten Personen; ihre Tätigkeit ist von den vor dem Tribunal vernommenen Zeugen geschildert worden; sie bestand in praktischer Hilfe. Diese Politischen Leiter waren tätig für die Verwaltung der Partei oder während des Krieges in immer steigendem Maße in sozialer Arbeit zur Linderung der Not nach Luftangriffen; hinzu kam praktische Hilfe bei Umsiedlungen und Schadensverhütung bei Luftalarm. Es war eine aufopfernde und anstrengende Tätigkeit, die von diesen Personen verlangt wurde.

Besonders hervorgehoben waren diese Politischen Leiter in ihrer Stellung nicht. Aufschlußreich ist das Dokument PL-9, eine Anlage [532] zur Bekanntgabe des Stellvertreters des Führers vom 12. Juli 1940. Daraus ergibt sich, daß im Gegensatz zu dem eigentlichen Hoheitsträger die politische Zuverlässigkeit der Block- und Zellenleiter noch geprüft werden mußte, wenn sie sich um ein Ehestandsdarlehen oder sonstige Beihilfen bewarben.

Daß solche Leute nicht generell zum Spitzeldienst geeignet angesehen werden können, ist sicher.

Es ergibt sich auch, daß sie keine politischen Führungsaufgaben hatten; es waren meist einfache Leute, die hierzu weder Zeit noch Kenntnisse hatten. Die Tatsache, daß aus einer höheren Bildungsschicht einzelne Personen zum Blockleiter bestimmt wurden, zeigt ebenfalls, daß nicht ihre politischen Fähigkeiten hier eingesetzt werden sollten.

Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang das eben erwähnte Dokument PL-24 über »Führungshinweise der Parteikanzlei«. Diese »Führungshinweise« werden, so heißt es in dem Dokument, »zur schnellen politischen Unterrichtung der Hoheitsträger (also Gau-, Kreis- und Ortsgruppenleiter) und zur Unterstützung ihrer Führungsarbeit herausgegeben«. Zur Unterrichtung der Unterführer der Gliederungen und angeschlossenen Verbände sollen die Hoheitsträger jeweils in ihrem Hoheitsgebiet (Gau, Kreis, Ortsgruppe) die Führungshinweise den betreffenden Gliederungs- und Verbändeführern zur Kenntnis geben.

Die Block- und Zellenleiter waren also weder als regelmäßige Empfänger der Führungshinweise vorgesehen noch durften die Ortsgruppenleiter sie ihnen zur Kenntnis geben. Das beweist, daß die Zellen- und Blockleiter von der politischen Unterrichtung, die durch die Führungshinweise erreicht werden sollte, ausgeschlossen waren und daß sie keine oder doch nur so geringe Führungsaufgaben hatten, daß man es nicht für nötig hielt, sie durch die Führungshinweise hierin zu unterstützen.

Auch die Tatsache, daß insbesondere im Kriege die Zellen- und Blockleiter zu ihrem Amt einfach bestimmt wurden, spricht gegen die politische Bedeutung ihrer Position.

Der vielfach während des Krieges gemachte Versuch, die Annahme eines solchen Amtes abzulehnen, zeigt gleichzeitig einen starken Druck der Partei zur Amtsübernahme, aber andererseits hat sich ergeben, daß die Ablehnung nicht erfolgte, weil man die Aufgaben, die zu erfüllen waren, für verbrecherisch hielt. Die Mühe- und Arbeitsleistung neben der starken Berufstätigkeit im Kriege waren der Beweggrund für die Ablehnung.

Es ist ein auf Grund des Organisationsbuches entstandener Irrtum der Anklage, wenn man annimmt, ein Zellen- oder Blockleiter habe Befehls- oder Disziplinarbefugnisse besessen oder er habe [533] polizeiähnliche Befugnisse gehabt. Vergleiche »Parteiamtliche Informationen«, Dokument Nummer 29. Es trifft auch nicht zu, daß er das Recht gehabt habe, SA, SS oder die Hitler-Jugend zu seiner Unterstützung heranzuziehen. Die Beweisaufnahme vor der Kommission hat dies klargestellt. Ich verweise auf die Vernehmung der Zeugen Hirth, Engelbert, Schneider und Kühn. Weitere eidesstattliche Versicherungen bestätigen dies. Alles entspricht den parteiamtlichen Anordnungen: Das sind die Dokumente Nummer 26 und 27.

Auf Grund seiner tatsächlichen Stellung konnte ein Zellen- oder Blockleiter keine Kenntnis von Vorgängen haben, die nach der Anklage verbrecherisch sind; auch ist eine allgemeine Betätigung in dieser Hinsicht nicht nachgewiesen.

Die Kenntnis eines einfachen Politischen Leiters war nicht größer als die jedes Parteigenossen. Ich verweise auf Dokument PL-47. Seine Verpflichtung zur Unterstützung von Partei und Staat war nicht größer als die jedes Beamten; das ist das Dokument PL-37. Daß es Einzelhandlungen von Politischen Leitern gegeben hat, die stark belasten, weiß jeder, der in Deutschland gelebt hat. Aber ebenso weiß er, daß es sich nicht um ein typisches Verhalten der Mehrheit aller Blockleiter handelte.

Auch vom zeitlichen Gesichtspunkt aus bedarf diese Gruppe besonderer Beachtung. Bis zum 1. Dezember 1933 war jeder Parteigenosse allein gegenüber der Partei verpflichtet, der Aufforderung zur Übernahme eines Parteiamtes Folge zu leisten. Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933 (1395-PS) wurde diese bisher privatrechtliche Verpflichtung zur Mitarbeit zu einer gesetzlichen Verpflichtung gegenüber dem Staate. In Paragraph 5 dieses Gesetzes wurde für den Fall der Verletzung dieser Verpflichtung auch Haft und Arrest angedroht, also Strafen, die nach deutschem Recht nur bei Verstößen gegen gesetzliche Anordnungen verhängt werden können.

Durch Paragraph 1, Absatz 1 der Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Einheit von Staat und Partei erhielt die Satzung der NSDAP einen öffentlich-rechtlichen Charakter. Damit erhielt auch Paragraph 4, Absatz 2 b der Satzung öffentlich-rechtlichen Charakter, der die Grundlage für die bisher privatrechtliche Verpflichtung zur Übernahme eines Parteiamtes bildete.

Daß seit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 1. Dezember 1933 die Verpflichtung, ein Parteiamt zu übernehmen, eine gesetzliche Verpflichtung war, ergibt sich argumentum e contrario auch daraus, daß in Paragraph 20 des Reichsarbeitsdienstgesetzes vom 26. Juni 1935 (1389-PS) ausdrücklich erklärt wurde, daß die Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes die Übernahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Parteidienst ablehnen können. Es hätte einer besonderen gesetzlichen Bestimmung über die Befreiung der Angehörigen des [534] Arbeitsdienstes nicht bedurft, wenn die Verpflichtung zur Mitarbeit in der Partei nicht eine gesetzliche Verpflichtung gewesen wäre.

Die Verpflichtung zur Mitarbeit wirkte sich in der Praxis sogar als Zwang aus:

Wer sich weigerte, der Heranziehung zur Amtsübernahme Folge zu leisten, wäre ohne Zweifel durch das Parteigericht aus der Partei ausgeschlossen worden; das sind die Dokumente PL-63, 64 und Nummer 8. Der Ausschluß von der Partei wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Verlust der Existenz mit allen seinen Folgen; das Dokument PL-65. Außerdem mußte der Parteigenosse, der sich weigerte, ein Amt zu übernehmen, damit rechnen, sogar mit einer Freiheitsstrafe bestraft zu werden, Dokument PL-63. Der Zwang, ein Amt in der Partei zu übernehmen, war damit zugleich ein physischer Zwang.

Wer vor der Machtübernahme in der Partei arbeitete, tat dies wohl aus idealen Gründen. Wer nach der Machtergreifung ein Amt übertragen erhielt, nahm dies wohl in den meisten Fällen ohne Begeisterung an, zumal er, wie die Beweisaufnahme gezeigt hat, Lasten und Unannehmlichkeiten damit auf sich nahm, ohne aber gleichzeitig damit Vorteile zu haben. Ohne Zweifel aber haben so ziemlich ausnahmslos alle diejenigen, die nach Kriegsbeginn Amtsträger wurden, das Parteiamt nur auf Grund der bestehenden Verpflichtungen übernommen. Die Leute, die nicht zur Wehrmacht einberufen worden waren, waren entweder körperlich gebrechlich oder beruflich derartig überlastet, daß sie keine Zeit und keine Neigung zur Übernahme eines Amtes in der Partei hatten. Daraus erklärt sich, daß die Anordnungen des Führers und der Parteikanzlei, in denen die Parteidienststellen angewiesen wurden, die Parteigenossen zur Mitarbeit heranzuziehen, immer rigoroser wurden und sogar die Aufforderung enthielten, mit dem Parteigerichtsverfahren vorzugehen, falls sich jemand weigert, in der Partei mitzuarbeiten. Das sind die Dokumente Nummer 61 und 62. Während des Krieges stand der gesetzliche und physische Zwang zur Mitarbeit in der Partei nicht nur auf dem Papier; vielmehr wurde von dieser Möglichkeit tatsächlich in weitestem Umfange Gebrauch gemacht. Beweis ist das Dokument Nummer 8.

Man kann daher davon ausgehen, daß, wenn jemand während des Krieges Amtsträger und Politischer Leiter wurde, dies regelmäßig das Ergebnis der gesetzlichen Anordnungen und der Drohungen von Parteigerichtsverfahren war. Dies sind praktisch alle während des Krieges ernannten Block- und Zellenleiter und die Angehörigen der Ortsgruppenstäbe.

Die Anklagebehörde hat dem entgegengehalten, daß dieser Zwang zur Mitarbeit in der Partei lediglich eine Folge des freiwilligen Eintritts in die Partei war. Dies würde dazu führen, daß [535] die Mitgliedschaft in der Partei bereits bestraft würde. Man kann aber auch nicht, wie dies ebenfalls geschehen ist, so argumentieren, daß man erklärt, die betreffenden Parteimitglieder hätten den Zwang zur Mitarbeit in der Partei von sich abwenden können; sie hätten rechtzeitig einen Posten bei einer angeschlossenen Organisation, zum Beispiel der NSV übernehmen sollen. Die Abwegigkeit dieser Ansicht zeigt sich darin, daß damit die Mitarbeit in der Partei überhaupt empfohlen wird, nur an anderer Stelle.

Bei den Beamten kam noch als weiterer Zwang hinzu der Druck, der durch die vorgesetzten Dienststellen und Ministerien ausgeübt wurde; das sind die Dokumente Nummer 67 bis 70.

Diese Erlasse waren die Handhabe, um die Beamten auch zu zwingen, in der Partei mitzuarbeiten. Wenn ein Beamter sich weigerte, dieser Aufforderung nachzukommen, dann mußte er damit rechnen, daß dies für ihn üble Folgen haben würde; er mußte befürchten, daß von seiner vorgesetzten Behörde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet würde, das zum Verlust seiner Existenz und damit zur Brotlosigkeit der ganzen Familie führen konnte.

Wollte er dieser Gefahr ausweichen, indem er vorher aus der Partei austrat, so verlor er ebenfalls seine Existenz (Dokument PL-71). Die Beamten befanden sich daher in einer besonderen Zwangslage.

Im Hinblick auf diese Umstände kann man diesen Personenkreis nicht als einen im wesentlichen freiwilligen Zusammenschluß ansehen.

Auch die Aufgaben der Zellen- und Blockleiter waren nach den Zeiten verschieden und damit die Bedeutung der Stellung.

Wer vor der Machtergreifung im Jahre 1933 Zellen- und Blockleiter war, ist sicher politisch rühriger gewesen als derjenige, der dieses Amt übernahm, als lediglich noch praktische Funktionen zu erfüllen waren.

Während des Krieges traten Personen an die gleiche Stelle, die infolge ihres Alters oder Berufs keinen Kriegsdienst leisteten und als Aushilfe herangezogen wurden. Es liegt auf der Hand, daß diese Personen keine Elitetruppen der Partei waren, die bestimmt waren, Angst und Schrecken zu verbreiten und die sich als kleine Cäsaren aufführten.

Nimmt man den Unterschied der Lage zwischen Stadt und Land hinzu, so kann man nicht zu dem Ergebnis kommen, daß diese 1200000 Personen, die die Gruppe umfaßt, im wesentlichen verbrecherisch waren.

Die Anklagebehörde hat die Angehörigen des Stabes der Ortsgruppen aus dem Verfahren ausgeschieden.

[536] Der Gesichtspunkt ist wohl, daß sie als ehrenamtliche Gehilfen der Ortsgruppe eine weniger beachtliche Stellung hatten.

Es ist zu prüfen, ob aus dem gleichen Gesichtspunkt auch die Mitglieder der Kreis- und Gaustäbe herausgelassen werden können.

Die Verbindung mit den maßgebenden Hoheitsträgern belastet sie mit einem größeren Verdacht.

Es ist zu untersuchen, wie diese Verbindung beschaffen war.

In den Stäben bestanden als politische Führungsämter des Stabsamts das Propagandaamt, Schulungsamt, Organisationsamt und das Personalamt. Sie waren von hauptamtlichen bezahlten Kräften besetzt.

Ein weiteres Mitglied beim Stabe war der Kassenleiter; dieser war jedoch dem Hoheitsträger nicht unterstellt, sondern dem Reichsschatzmeister (Dokument PL-73).

Von der Reichsfinanzverwaltung der Partei war ein selbständiges Rechnungs- und Kontrollwesen geschaffen, das rein bürokratisch arbeitete und unpolitisch war. Es umfaßt etwa 70000 Politische Leiter.

Neben den politischen Ämtern standen die beratenden Politischen Leiter. Es waren dies folgende vier Kategorien:

Ein Vertreter der Gliederungen von Frauenschaft, NS-Dozentenbund und NS-Studentenbund; eine Vertretung der Wohlfahrtsverbände, NSV und Kriegsopferversorgung; die Leiter der Berufsorganisationen für Lehrer, Beamte, Ärzte und Rechtswahrer, und die Vertreter der Fachämter: Arbeitsfront, Handel und Gewerbe, Agrarpolitik und andere.

Um einen äußeren Eindruck von der Größe dieser Dienststellen zu bekommen, wird darauf hingewiesen, daß sie meist kein eigenes Personal hatten und häufig keine eigenen Diensträume. Manchmal waren sie nicht am Sitz des Stabes selbst, sondern räumlich entfernt.

Die praktische Zusammenarbeit mit Gau- und Kreisleitung war häufig gering. Eine Reihe von eidesstattlichen Erklärungen bestätigt, daß die Dienststellen von den Hoheitsträgern kaum besucht wurden (das Affidavit PL-39) oder daß sie zu einer Mitarbeit nicht herangezogen wurden (die Affidavits 48 bis 50).

Während des Krieges wurden dann auch einige bereits als überflüssig aufgelöst, so 1942 das Rechtsamt und 1943 das Amt für Beamte.

Die Aufgabe der Ämter war in erster Linie fachlicher Art, diese Amtsträger erhielten deshalb ihre Arbeitsweisungen nicht von dem Hoheitsträger, sondern von der fachlich vorgesetzten Dienststelle (Dokument PL-72). Bezüglich der Tätigkeit dieser Stabsmitglieder sind von der Anklagebehörde keine Beschuldigungen unmittelbar erfolgt.

[537] Es sind Ärzte belastet im Zusammenhang mit Gnadentod und KZ-Greueln. Aber es sind dies nicht Ärzte des Amtes für Volksgesundheit.

Es sind Vereinbarungen des Reichsjustizministers mit Himmler und Goebbels über Sonderstrafrecht und Vernichtung durch Arbeit erwähnt worden; die Kreis-und Gaurechtsämter stehen damit nicht im Zusammenhang.

Sicher haben diese Ämter in den Stäben die nationalsozialistische Weltanschauung vertreten, denn das war ihre Aufgabe; aber hier kommt es darauf an, inwieweit die Politischen Leiter außerhalb ihrer fachlichen Tätigkeit an einer Verschwörung zum Zwecke des Angriffskrieges oder zur Begehung von Kriegsverbrechen beteiligt sind.

Auf Grund einer allgemeinen Vermutung, daß sie irgendwelche Kenntnis hätten haben können, kann man sie nicht für verbrecherisch erklären. Es besteht hier zunächst die wichtige Pflicht der Aufklärung, die nicht auf ein später tätig werdendes Gericht verlagert werden darf.

Der Spruch des Tribunals bedeutet zu zwei Drittel die Verurteilung der Betroffenen; es ist zu befürchten, daß die nachher tätigen Gerichte auf Grund der Vermutung der allgemeinen Schuld die spezielle Schuld des einzelnen allzu leicht unterstellen.

Bei der Beurteilung der Fachämter ist zu bedenken, daß es sich dabei um etwa 140000 Personen handelt, die ehrenamtlich tätig waren.


VORSITZENDER: Welchen Beweis haben Sie für diese Behauptung, daß 140 000 Personen ehrenamtlich tätig waren?


DR. SERVATIUS: Es handelt sich um die Mitglieder in den technischen Abteilungen, die sich bei den einzelnen Stäben der Gaue und Kreise befinden und wie sie auch bei der Ortsgruppe sind. Bei den Ortsgruppen hat die Anklage diese Personen herausgelassen bei dem Verfahren, und ich will hier darlegen, daß diese Personen in den höheren Stäben ebenfalls ehrenamtliche Fachleute waren, die nicht an den Verbrechen gegen den Frieden und überhaupt nicht an den Kriegsverbrechen beteiligt sind. Sie unterstanden nicht dem Gauleiter, sondern bekamen ihre Anweisungen direkt von ihren Fachvertretern, die ihnen vorgesetzt waren. Ihre Tätigkeit scheint wohl sehr stark auf dem Gebiet...


VORSITZENDER: Dr. Servatius! Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Welchen Beweis haben Sie für die Behauptung... und ich möchte noch eine andere Frage stellen: Was verstehen Sie unter »ehrenamtlicher« Tätigkeit?


DR. SERVATIUS: Unter »ehrenamtlich« meine ich diejenigen, die nicht bezahlt wurden für ihre Tätigkeit. Ehrenamtlich heißt ohne Bezahlung.


[538] VORSITZENDER: Sie sagen, sie waren technische Fachleute.


DR. SERVATIUS: Ja, sie kamen jeweils aus ihren Verbänden; Juristen, Ärzte und Lehrer hatten ihre Vertretung, oder es waren die Vertreter der Fürsorgeverbände oder der Arbeitsfront, jeder ein Fachmann für sein Gebiet, der beratend zugezogen wurde auf ehrenamtlicher Grundlage.


VORSITZENDER: Ich frage Sie noch einmal, Dr. Servatius, was ist der Beweis dafür, daß es sich um 140 000 Mann handelt?


DR. SERVATIUS: Diese Zahl ist sorgfältig berechnet auf Grund des Organisationsbuches. Ich kann es im einzelnen später nachreichen. Es würde jetzt zu weit führen, und ich bin auch im Moment nicht in der Lage, die Berechnung hier vorzuführen. Ich habe bei jedem Thema angegeben, wie viele Menschen etwa betroffen sind, damit man einen Überblick bekommt.


VORSITZENDER: Fahren Sie fort.


DR. SERVATIUS: Es bleibt die Gruppe der eigentlichen »Hoheitsträger« zu prüfen, die den Kern der Partei ausmachten. Ihre Sonderstellung und ihre politischen Befugnisse heben sie aus den anderen Politischen Leitern heraus. Aber ihre Stellung ist ganz verschiedenartig.

Während der Ortsgruppenleiter mit seinem Hoheitsrecht auf den Kreis seiner Ortsgruppe beschränkt ist, greift die Befugnis der »Höheren Parteiführer« über den Rahmen der Partei hinaus in die Rechte derjenigen ein, die nicht zur Partei gehören.

Nur die Kreis- und Gauleiter haben das Recht zur »Politischen Beurteilung« Außenstehender und entscheiden damit über deren Schicksal; gleichzeitig nehmen sie hierdurch weitgehend Einnuß auf das Leben der Gesamtheit.

Die Entscheidung, die sie treffen, steht in ihrem eigenen Ermessen; dieses ist das Kennzeichen ihrer Selbstverantwortlichkeit. Der Ortsgruppenleiter wird lediglich aufgefordert, Unterlagen für die Beurteilung zu geben; er ist nur ein ausführendes Organ und ein unselbständiger Mann.

Äußerlich ist der Unterschied dadurch gekennzeichnet, daß der Ortsgruppenleiter nur ehrenamtlich tätig ist, also ohne Bezahlung. Er ist durch seinen Beruf gehindert, sich in wirklich umfassender Weise um alle Vorgänge zu kümmern. So war es zumal im Kriege, der mit seinen Nöten alle Gedanken und Kräfte auf die eigenen Schmerzen lenkte.

Die 70000 Ortsgruppenleiter waren Kleinbürger, die vorher nicht politisch tätig waren und denen die Erfahrung auf diesem gefahrvollen Gebiete fehlte. Die meisten Ortsgruppen waren auf dem Lande, wo die ländliche Arbeit mit dem hergebrachten Leben [539] weiter ging. Die Aussage des Zeugen Wegscheider vor dem Tribunal hat davon ein treffendes Bild gegeben.

Die Stellung des Ortsgruppenleiters wird besonders klar, wenn man seine Verantwortung mit der der »Höheren Parteiführer« vergleicht, die von Hitler unmittelbar ernannt wurden.

Infolge der Verbindung mit der Obersten Führung ist die Wahrscheinlichkeit der besseren Kenntnis bei den »Höheren Parteiführern« größer.

Das Verfahren hat gezeigt, daß die Ressorttrennung und die künstliche Auseinanderreißung von Verwaltung und Polizei eine wichtige Rolle gespielt hat. Aber infolge der Verbindung vieler Funktionen und auf Grund der Tatsachen, daß viele Fäden in einer Hand zusammenliefen, konnten zum mindesten die »Höheren Parteiführer« erkennen, wenn in den kritischen Punkten etwas nicht richtig war.

Die Frage ist, ob ein Gau- und Kreisleiter sich dabei beruhigen darf, daß bei ihm alles in Ordnung sei und daß der verdächtige Vorgang sich außerhalb seines Gebietes oder Ressorts abspielt.

Man muß dies verneinen. Er muß sich die Kenntnis verschaffen eben mit Rücksicht auf sein Hoheitsrecht; denn er hat anderen weitgehend die Möglichkeit genommen, sich um die Dinge zu kümmern. Er hat das Recht und damit auch die Pflicht, von Amts wegen tätig zu sein. Er ist der alleinige Politiker geworden und muß darum auch Politik treiben.

Tatsächlich haben die Gau- und Kreisleiter, die vernommen wurden, sich auch um die Vorgänge gekümmert. Sie haben dem Abtransport der Juden nachgespürt, sie haben sich bemüht, in die KZ-Lager zu kommen, und sie haben die Verhältnisse der ausländischen Arbeiter überprüft. Sie haben Bedenken vorgebracht und Vorstellungen erhoben.

Haben sie damit ihre Pflicht erfüllt?

Man muß hier der Frage der Verantwortungsteilung nachgehen. Es ist nicht möglich, daß sich alle um alles kümmern. Die untersten Stellen haben praktische Sorgen örtlicher Art und können nicht mit den Sorgen der obersten Stellen befaßt werden. Nicht jede Erschütterung kann auf den ganzen Apparat übertragen werden.

Diese Trennung wird man gerade im diktatorischen Staat dem Kreisleiter zugute halten müssen, der einzelne Vorkommnisse dem Gauleiter weitergibt; aber er muß sich auch um das Ergebnis seiner Vorstellungen kümmern und daraus die Folgerungen ziehen.

In verstärktem Maße gilt dies für den Gauleiter im Verhältnis zu seiner vorgesetzten Stelle. Es gibt eine Grenze, wo die sittlichen Grundsätze berührt werden und nicht die Routine des Tages in Frage steht. Wenn man an die Schranken Himmlers kam, mußte [540] man da vorwärts gehen, ohne Rücksicht auf das, was geschehen würde?

Mehrfach ist auf diese Frage schon eine Antwort versucht worden. Muß man ein Handeln verlangen, sofort und kompromißlos? Heißt es »alles oder gar nichts«?

Kann man das Reifen der Dinge abwarten, oder heißt es »jetzt oder nie«?

Muß man Fehler und Verdienst abwägen, und kann man auf Besserung hoffen?

Genügt es, wenn man mißbilligt oder Schlimmeres dadurch verhindern will, daß man auf seinem Posten bleibt? Oder macht man sich mitschuldig, wenn man bleibt und den äußeren Schein aufrechterhält?

Ist der gerechtfertigt, der »immer strebend sich bemüht«? Muß er den Kampf aufnehmen gegen die Widerstände, auch wenn das eigene Leben nutzlos aufs Spiel gesetzt zu sein scheint, oder soll er dulden und sich in das Schicksal ergeben?

»Sein oder Nichtsein, das ist die Frage.«

Eine Antwort wird sich nicht finden lassen, ohne die rechtlichen Grundlagen der Schuld genau zu untersuchen: die Kenntnis und Billigung und das schuldhafte Unterlassen.

Wenn der verbrecherische Charakter der Gruppe festgestellt werden soll, so müssen gerade diese Fragen zuerst entschieden werden.

Eine solche Untersuchung kann nur für den Einzelfall erfolgen. Sie ist praktisch möglich bei einer Gruppe von 2000 Kreisleitern und Gauleitern. Diese Personen sind bekannt, ihre Handlungen haben sich in der Öffentlichkeit abgespielt und sind unschwer aufzuklären.

Es bleibt noch die Gruppe der Reichsleiter. Für diese gelten die gleichen Gesichtspunkte wie für die Gauleiter.

Zu ihnen gehört nicht Himmler, der nur den Rang eines Reichsleiters hatte (Dokument PL-59 a).

Die Stellung der Reichsleiter ist aber daneben für die gesamten Politischen Leiter prozessual von Bedeutung; unter ihnen befinden sich die Hauptangeklagten, in Verbindung mit deren Handlungen nach Artikel 9 des Statuts allein die Verurteilung der Gruppe erfolgen kann.

Im Trial-Brief sind hier nur aufgeführt Rosenberg und Bormann. Erst die Anlage B der Ergänzung zum Trial-Brief hat vier weitere Reichsleiter hinzugefügt und dabei die Gauleiter Sauckel und Streicher eingeschlossen.

Frick hatte auch nur den Rang eines Reichsleiters, was der unmittelbaren Einbeziehung seiner Handlungen entgegensteht.

[541] Bei den übrigen Hauptangeklagten ist zu untersuchen, ob sie die ihnen zur Last gelegten Handlungen als Politische Leiter begangen haben oder in anderer Eigenschaft.

Die Anklage hat die rechtliche Bedeutung dieser Unterscheidung dadurch anerkannt, daß sie in der Zusammenfassung des Trial-Briefes lediglich auf die Taten Rosenbergs und Bormanns Bezug genommen hat, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Politische Leiter vorgeworfen werden (Trial-Brief, Seite 75).

Von diesem Merkmal kann man auch nicht abgehen. Die Bestimmung des Artikels 9 des Statuts ist keine rein formale Prozeßvoraussetzung. Ihre Bedeutung ist die sachliche Abgrenzung des Umfangs der verbrecherischen Gruppen.

Die Gruppe soll nicht von der Anklage willkürlich und Schrankenlos gebildet werden, sondern es muß zwischen ihr und der Tat eines Hauptangeklagten eine Verbindung vorhanden sein. Dies ist nur möglich, wenn ein Hauptangeklagter innerhalb des Korps der Politischen Leiter gehandelt hat.

Die Verbindung ist auch da nicht gegeben, wo die Wirkung der Handlung eines Hauptangeklagten nicht alle Schichten der Politischen Leiter ergreift; dies ist zu bedenken bei Beurteilung der unteren Stufen.

Die Verbindung fehlt bei den Hauptangeklagten, die von der Anklage erst nachträglich mit den Politischen Leitern in Verbindung gebracht worden sind, bis auf Heß.

Bei Rosenberg liegen die Handlungen, die ihm vor geworfen werden, im wesentlichen auf dem staatlichen Sektor, wo er als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete tätig war.

Die Handlungen Bormanns als Chef der Parteikanzlei ab 1941 sind für die Beurteilung der Politischen Leiter in erster Linie maßgebend. Infolge der Abwesenheit dieses Hauptangeklagten ist es aber bedenklich, die Verurteilung der Gruppe auf seine Taten abzustellen, da die genauere Untersuchung der Vorgänge fehlt. Es müßte für die wichtigsten Vorwürfe aufgeklärt werden, ob Bormann als Chef der Parteikanzlei oder als Sekretär des Führers außerhalb des Parteiapparates gehandelt hat oder überhaupt eigenmächtig entgegen allen Weisungen (Dokument 53).

Bemerkenswert ist, daß Heß, der Vorgesetzte Bormanns, im ursprünglichen Trial-Brief nicht mit aufgeführt ist, obwohl er bis 1941 Stellvertreter des Führers in der Partei war. Vermutlich war die Anklage damals der Ansicht, daß ihm keine Handlungen in Verbindung mit dem Korps der Politischen Leiter vorgeworfen werden könnten, aus denen sich der verbrecherische Charakter ergäbe. Es ist dies ein bedeutsamer Gesichtspunkt für die Gesamtbeurteilung der Gruppe in zeitlicher Hinsicht.

[542] Die Handlungen der Gauleiter Sauckel und Streicher können für die Gesamtheit der Politischen Leiter nicht maßgebend sein. Als Gauleiter konnten sie nur in ihrem Gebiet wirken. Die Handlungen, die ihnen im Verfahren vorgeworfen wurden, haben sie außerhalb ihrer Funktion als Politische Leiter vorgenommen, nämlich als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz oder als Zeitungsverleger.

Ich will noch zwei rechtliche Gesichtspunkte anführen, die für die Urteilsfindung von Bedeutung sein können. Der eine Gedanke ist die Rückwirkung des Urteils. Ich will sie nicht als rechtlich unzulässig angreifen, da das Statut sie angeordnet hat. Aber da das Urteil im Ermessen des Tribunals steht, kann hier der Billigkeit Rechnung getragen werden.

Die Rückwirkung in einem Einzelverfahren läßt sich damit begründen, daß der Täter gewarnt war und erkennen mußte. Anders ist es bei der großen Zahl der kleinen Politischen Leiter, die nur mittelbar über ihre Führer für eine Verschwörung verantwortlich gemacht werden. Der zweite Gesichtspunkt ist der Mangel des rechtlichen Gehörs.

In diesem Verfahren vor dem Tribunal wird eine Vorentscheidung getroffen, die für jedes Mitglied der Organisation entscheidend ist. Darum war jedem das Recht gegeben, das rechtliche Gehör zu beantragen. Nur verhältnismäßig wenige haben von diesem Recht Gebrauch gemacht.

Man muß annehmen, daß viele von ihrem Recht keine Kenntnis erhalten haben oder keine Möglichkeit hatten, ihre Anträge an das Gericht gelangen zu lassen.

Nur aus etwa einem Drittel der Lager der englischen und amerikanischen Zone liegen Anträge vor; aus der französischen Zone nur aus zwei Lagern.

Es ist aber besonders auf einige überhaupt nicht erfaßte geschlossene Gebiete hinzuweisen:

Keinerlei Anträge liegen aus Österreich vor, und dort konnte auch kein Besuch von Lagern durchgeführt werden. Die Genehmigung der militärischen Dienststellen wurde erteilt, aber die Zustimmung des Kontrollrates blieb aus. Dies ist beachtlich, da hier besondere Verhältnisse vorliegen, die die Mitglieder möglicherweise entlasten könnten; eine abgesonderte Behandlung und Beurteilung, insbesondere in zeitlicher Hinsicht, ist naheliegend.

Auch aus der Sowjetzone liegen keine Anträge vor, obwohl die amtliche Bekanntmachung erfolgt sein soll. Ich selbst hatte erst vor kurzem die Möglichkeit, zwei Lager zu besuchen. Die dort Internierten erklärten, daß sie von ihrem Recht auf Gehör nichts wußten; nicht alle wollten Anträge stellen.

[543] Die Verteidigung war daher für diese Gebiete in einem gewissen Beweisnotstand. Für diese Zonen wurden einige Politische Leiter gehört, die in britischen oder amerikanischen Lagern erreichbar waren. Wenn man auf diese Weise ein gewisses Bild erhält, so hat die Beweisaufnahme vor der Kommission aber gezeigt, daß Aussagen vorliegen können, die für die Verteidigung beachtlich sind.

So hat ein Kreisleiter des Westens aussagen können, daß der Bau des Westwalls dort von den defensiven Absichten Hitlers überzeugt habe. Ein Kreisleiter des Nordens wies auf den Flottenvertrag mit England hin, der bei der Küstenbevölkerung in besonderem Maße als Zeichen des Friedenswillens gewertet wurde. Weitere Zeugen haben aus der Konfessionszugehörigkeit der Politischen Leiter ihres Bezirks beachtliche Gründe vorgebracht.

Die wirkliche Bedeutung der Beschränkung könnte erst nach der Anhörung beurteilt werden, so daß jetzt ein Urteil hierüber noch nicht zulässig ist.

Die Frage ist aber auch von erheblicher prozessualer Bedeutung:

Das Statut hat die Möglichkeit des Gehörs gewährt. Jede Formvorschrift hat ihren tieferen Sinn und ihre grundsätzliche Bedeutung. Hier ist das rechtliche Gehör als demokratisches Prinzip hochgehalten gegenüber abgelehnten Polizeimethoden. Dieses Prinzip ist durch die Signatarmächte gemeinsam herausgestellt, und das Tribunal muß seine Einhaltung überwachen. Es handelt sich um einen unverzichtbaren Einwand, den ich hiermit ausdrücklich geltend mache.


VORSITZENDER: Herr Biddle will genau wissen, was Sie eigentlich mit diesen beiden letzten Sätzen sagen wollen?


DR. SERVATIUS: Ich habe nicht gehört, was Sie sagten.


VORSITZENDER: Herr Biddle möchte gern wissen, was Sie mit den beiden letzten Sätzen meinen: »Hier ist das rechtliche Gehör als demokratisches Prinzip hochgehalten gegenüber abgelehnten Polizeimethoden. Dieses Prinzip ist durch die Signatarmächte gemeinsam herausgestellt, und das Tribunal muß seine Einhaltung überwachen. Es handelt sich um einen unverzichtbaren Einwand, den ich hiermit ausdrücklich geltend mache.« Was soll das überhaupt heißen?


DR. SERVATIUS: Daß ich nicht darauf verzichten kann, diesen Einwand geltend zu machen, nämlich, daß das Gehör für ganze Gebiete nicht gewährt worden ist, nämlich für Österreich und für die Sowjetzone, und daß es ein Einwand ist, auf den ich nicht verzichten kann, sondern der von Amts wegen zu berücksichtigen ist.


VORSITZENDER: Fahren Sie fort.


DR. SERVATIUS: Der Hinweis auf diese verschiedenartige Praxis in der Handhabung des Artikels 9 des Statuts erscheint noch [544] aus einem anderen Gesichtspunkt nötig. Es ist für die Gefahr einer verschie denen Auslegung und Anwendung eines Spruchs des Tribunals gegen die Organisationen.

Neben der Feststellung des durch das Urteil erfaßten Personenkreises müßte darum eine Klarstellung der nachzuweisenden Schuldelemente für die nachfolgenden Einzelverfahren festgelegt werden.

Auch die Höhe einer Strafe ist ungewiß.

Der im Gesetz Nummer 10 des Kontrollrats festgelegte Strafrahmen, der bis zur Todesstrafe reicht, bietet keine Rechtsgarantie, wenn die Höhe der Strafe dem freien Ermessen der späteren Gerichte der verschiedenen Nationen überlassen wird. Aus dem Spruch des Gerichts kann neues Unheil entstehen.

Gerade hier muß das Tribunal dem Zweck, den es mit seinem Urteil verfolgt, Geltung verschaffen. Eine Bestrafung darf nicht zur Rache werden können. Es darf das Maß der Sühne nicht von dem Gedanken beherrscht werden können, daß den Millionen Opfern auch notwendigerweise Millionen Schuldige entsprechen müßten, die zu sühnen hätten.

Ist der Grundgedanke des Urteils die Abschreckung, so ist folgendes zu beachten:

Es ist niemand vor diesem Tribunal aufgetreten, der sich vor die Verbrechen gestellt hätte, die den Gegenstand dieses Prozesses bilden. Alle, die hier aufgetreten sind, sind von diesen Verbrechen abgerückt. Niemand hat erklärt, daß die Ausrottung der Juden notwendig gewesen sei oder daß ein Angriffskrieg ein erstrebenswertes Ziel sei und daß auf die Verfolgung der Kirchen und die KZ-Greuel nicht könne verzichtet werden.

Erst wenn dies erfolgt wäre, dann wäre es ein Prozeß, der um eine Weltanschauung geführt würde, die zu beseitigen wäre.

Es fehlt darum auch der typische Vertreter der Weltanschauung, der erklärt hätte: Es stehen Millionen hinter mir, oder »Ich kann nicht anders, Gott helfe mir!«

Es ist ein anderes Ziel, für das gekämpft worden ist, das die Millionen in Bewegung gesetzt hat. Es war nicht die Welt der Verbrechen, sondern der goldene Schein des Sozialismus. Die Masse sah nach der Zeit der Not das Wunder des Aufstiegs und das stärkte ihren Glauben. Sie ist bereit, erneut zu glauben.

Das Fundament dieses Glaubens ist die Gerechtigkeit dieses Urteils gegen die Organisationen, in das die ganze Bevölkerung hineingezogen wird.

Dieses Urteil soll die Epoche eines neuen Völkerrechts eröffnen und die am Kriege Schuldigen bestrafen. Es ist nur berechtigt, wenn das alte Recht von der Bühne der Geschichte abtritt, wonach [545] das gesamte Volk durch Friedensverträge mit Annexionen und Kontributionen bestraft wird, ohne Rücksicht auf seine Schuld.

Heute droht die zwei- und dreifache Bestrafung durch Friedensvertrag, Gesetz Nummer 10 des Kontrollrates und Entnazifizierungsgesetz.

Noch ist Kriegszustand, und dieser Prozeß wurde als die Fortsetzung der Kriegsanstrengungen bezeichnet.

Aber Friede tut not, und »hört der Krieg im Kriege nicht schon auf, woher soll dann Frieden kommen?«


VORSITZENDER: Dr. Servatius! Der Gerichtshof bemerkt mit Genugtuung, daß Sie sich an die angegebene Zeit gehalten haben, und der Gerichtshof hofft, daß dies bei allen Verteidigern für die Organisationen der Fall sein wird. Sie haben Ihr Plädoyer in einem halben Tag gehalten, aber einige der anderen Plädoyers, die zur Übersetzung vorgelegt wurden, scheinen viel länger zu sein als Ihre Rede. Der Gerichtshof läßt den anderen Verteidigern durch mich zur Kenntnis bringen, daß sie ihr Plädoyer auch in einem halben Tag zu halten haben.

Wir werden jetzt eine Pause einschalten.


[Pause von 10 Minuten.]


VORSITZENDER: Ich rufe Dr. Merkel.

DR. MERKEL: Herr Präsident, meine Herren Richter!

In dem Verfahren gegen die Einzelangeklagten standen Taten einzelner zur Erörterung. In dem Verfahren gegen die Organisationen geht es um die Frage, ob in das Rechtsleben der Welt ein neuer Grundsatz eingeführt werden soll. Das Verfahren gegen die Gestapo erhält seine Bedeutung durch die Auffassung der Anklage, daß die Gestapo das wichtigste Machtinstrument des Hitler-Regimes gewesen sei.

Wenn ich die Gestapo verteidigen soll, so weiß ich, daß ein furchtbarer Ruf mit diesem Namen verbunden ist, ja, daß Grauen und Schrecken von ihm ausgehen und daß eine Welle des Hasses ihm entgegenschlägt.

Mein Wort werde ich führen, unbekümmert um Tagesmeinungen, weil ich hoffe, die tatsächlichen und rechtlichen Unterlagen vortragen zu können, die das Hohe Gericht in die Lage versetzen:

  • 1. zu prüfen, ob durch eine Aburteilung der Organisationen eine die Menschheit weiterführende Rechtsentwicklung eingeleitet wird,

  • 2. die Wahrheit über die Gestapo zu ermitteln und damit

  • 3. Unschuldige unter den ehemaligen Gestapo-Angehörigen unglücklichem Schicksal zu entwinden.

[546] Die beiden ersten Aufgaben fordern die Beantwortung einer Frage, die eine Vorfrage für das gesamte Gestapo-Problem darstellt.

Unter den Aussprüchen der Anklage hat mich wenig mehr erschüttert als das Urteil des britischen Hauptanklägers: die Deutschen seien nach sechsjähriger Nazi-Herrschaft durch das Ersetzen der christlichen Sittenlehre durch den Götzendienst am Führer und durch den Blutkult ein verdorbenes Volk geworden. Wenn dies Urteil zutreffen sollte, so ist an dem Ergebnis außer dem genannten noch ein anderes außerordentliches Moment beteiligt gewesen, – ein Moment von derart außerordentlichem Charakter, daß die Geschichtsschreibung es kaum kennt: Das Dämonische, das Dämonische an Hitler und die dämonische Infiltration seines Regimes und der von ihm geschaffenen und verwendeten Institutionen.

Inwiefern Hitler dämonisch war, das veranschaulicht das von meinem Kollegen Dr. Dix bereits angeführte Wort Goethes in »Dichtung und Wahrheit«: Ich zitiere:

»... eine ungeheure Kraft geht von ihnen« – den dämonischen Menschen – »aus... Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie... die Masse wird von ihnen angezogen... und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare, aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra deum, nisi deus ipse.«

(Niemand vermag etwas gegen Gott außer Gott selbst.)

Wie das Dämonische in der großen Welt gewirkt hat, ist Ihnen an einigen Fällen der Einzelangeklagten wohl ersichtlich geworden. An der Gestapo werden Sie sehen, wie eine Staatsinstitution von einer dämonischen Staatsführung vielfach mißbraucht wurde. Hier, bei der Erörterung der Vorfrage, entsteht noch ein anderes Interesse, das Interesse an der juristischen Bedeutung des Dämonischen für diesen Prozeß. Zur Befriedigung dieses Interesses führt ein zweites kurzes Goethewort:

»Das Dämonische bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht.«

Nach diesem Urteil besteht das Entscheidende darin, daß zwei Mächte die Weltgeschichte bestimmen, »deren Widerstreit« – wie im Einklang mit Goethe Herr Jackson sagte – »viel von der Geschichte der Menschheit ausmacht«: die moralische Weltordnung und das Dämonische. Der juristische Wert des Urteils für unseren Zusammenhang ergibt sich aus folgender Überlegung:

Die moralische Weltordnung wurde dargestellt durch die überkommenen Ordnungen. Hitler bedeutete demgegenüber die diesen Ordnungen, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende [547] Macht. In diesem Prozeß gilt es, die Reste der dämonischen Macht auszulöschen. Darf und soll dies rechtlich erfolgen nach den eigenen überkommenen Grundsätzen der siegreichen moralischen Weltordnung, oder darf es nach anderen Methoden geschehen?

Hier haben wir die erste juristische Alternative des Prozesses klar vor uns, und zwar unter der größten der möglichen Perspektiven, das heißt im Hinblick auf den Gegensatz zwischen der moralischen Weltordnung und dem Dämonischen.

Einander widerstreitende Gesichtspunkte beherrschen die bisherige Weise, die Dinge zu sehen. Das Statut einerseits hat sich für die überkommenen eigenen Grundsätze der moralischen Weltordnung entschieden. Es will die Vertreter des Dämonischen, die angeklagten Einzelpersonen und Organisationen in geordnetem Verfahren, mit geordneter Anklage, mit bestellten Verteidigern und durch einen ordentlichen Gerichtsspruch abgeurteilt wissen. Andererseits ist das »Gesetz des Statuts« selbst nach den Worten Herrn Jacksons »ein neues Gesetz« mit Grundsätzen, die uralten überkommenen Rechtsanschauungen widersprechen. Als Beispiele nenne ich die Annahme einer Kollektivschuld und die Einführung von Gesetzen mit rückwirkender Kraft.

Damit ist ersichtlich, daß oberste Gedanken, die den Prozeß regieren, einander widerstreiten. Unser aller Aufgabe besteht darin, dies zu erkennen und sodann darin, durch gemeinsame Anstrengungen von Anklage, Verteidigung und Gericht zu einer »concordantia discordantium« zu gelangen, zu einem Ausgleich der widerstreitenden Meinungen.

Mein Hauptwort als Verteidiger der Gestapo hat dabei der Frage zu gelten, wie die Bestimmung des Statuts zu verstehen ist, wonach das Gericht in dem Prozeß gegen Göring, Kaltenbrunner oder Frick erklären kann, daß die Gestapo eine verbrecherische Organisation war.

Wiederum muß ich hier auf den Grundgedanken zurückkommen. Bestimmen zwei Mächte die Weltgeschichte, die moralische Weltordnung und das Dämonische, so muß, soll die Welt geläutert werden, die moralische Weltordnung den Sieg davontragen. Ist aber die moralische Weltordnung ermächtigt, den Kampf gegen ihren Gegner mit Ausnahmeregeln zu führen, die von Grundsätzen der moralischen Weltordnung selbst abweichen? Um der Reinheit ihres Wesens und um der Reinheit ihres Sieges willen darf sie nur mit ihrem eigenen kategorischen Imperativ fechten, ganz kompromißlos. So haben die Gegner Hitlers in den sechs Jahren des Krieges gefochten, von den Prinzipien der Atlantik-Charta aus. Sollten sie als erklärte Vertreter der moralischen Weltordnung nun, nach dem Ende des Kampfes der Waffen, das Ende des Gesamtkampfes gegen das Dämonische mit solchen Ausnahmeregeln führen [548] dürfen? Das wäre unmöglich. Würde doch damit der Eindruck entstehen, daß die Siegermächte gerade auf ethischem Gebiete kein ausreichendes Vertrauen hegen in das Zentrum ihres eigenen Seins.

Im Sinne der kommenden Generationen würde als Niederschlag der Satz sich bilden: »Recht ist, was dem Sieger nützt.« Das erbarmungslose »vae victis!« wäre auf den Thron erhoben, während die Sieger gerade betont haben, wegen der Gerechtigkeit und für die Gerechtigkeit in die Schranken getreten zu sein.

Mit dem Imperativ »Gerechtigkeit« haben die Signatarmächte den Gerichtshof ins Leben gerufen, indem sie in den Paragraphen 1 des Statuts die Worte schrieben:

»Es soll ein internationaler Militärgerichtshof... zwecks gerechter Aburteilung... gebildet werden...«

Sie haben dem Imperativ »Gerechtigkeit« Nachdruck verliehen durch die Überschritt zum Teil IV des Statuts mit dem Wortlaut »Vorschriften für ein gerechtes Verfahren«. Und sie haben dann noch die Vorsicht walten lassen, die Vorschriften der Paragraphen 9 und 10 zu bloßen Kann-Vorschriften zu machen.

Daß die Sieger den Wunsch hatten, Organisationen von dem Rufe der Gestapo für verbrecherisch erklärt zu sehen, wer verstünde das nicht! Aber sie haben sich gehütet, die Paragraphen 9 und 10 zu Muß-Vorschriften zu machen. Damit ist »Gerechtigkeit« zum obersten Orientierungspunkt des Gerichts geworden. In seinen Grenzen ist daher die Kann-Vorschrift der Paragraphen 9 und 10 zu handhaben, wie wenn die Gesamtbestimmung folgenden Wortlaut hätte: »Erachtet das Gericht es als gerecht, so kann es die Organisationen für verbrecherisch erklären.« So hängt von dem Begriff »Gerechtigkeit« die ganze Entscheidung ab.

»Gerechtigkeit« nun ist in der höchsten Spitze eine Eigenschaft Gottes. »Gott ist gerecht,« – dieser Satz ist in unser Bewußtsein eingegangen in dem Sinne, daß Gott nur den wirklich Schuldigen zur Rechenschaft zieht, entsprechend dem Jesajas-Wort: »Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen.«

Damit ist das Prinzip aller Überlegungen gesichert, mit denen die Organisationen und ihre Mitglieder behandelt werden müssen.

Im Kern geht es um zwei Dinge: um die Mitglieder der Organisationen, die mit ihren Angehörigen mindestens 15 Millionen Menschen ausmachen. Sodann aber steht zur Entscheidung, daß durch das Urteil nicht »jener sonderbare, aber ungeheure Spruch« entsprechend sich bewähre: »Niemand vermag etwas gegen die moralische Weltordnung als die moralische Weltordnung selbst.«

Hieraus ergibt sich für mein Plädoyer die Folgerung:

Die durch das Statut an die Anklage, die Verteidigung und an den Gerichtshof gestellte Frage, ob Ausnahmeregeln zulässig sind, [549] ob vor allem die Organisationen als kollektivschuldfähig erachtet, ob Gesetze mit rückwirkender Kraft angewendet werden können, ist grundsätzlich verneinend zu beantworten.

Die Gegenfrage, ob die Welt künftig vom Boden des Individualsystems aus vor Dämonkatastrophen bewahrt werden kann und ob nicht die Hitler-Katastrophe das Gegenteil bewiesen habe, beantworte ich dahin: die Bewahrung der Welt vor solchen Katastrophen ist keine Frage eines Systems, sondern eine Frage entschlossener Männer, die sicher in der moralischen Weltordnung ruhen.

Die Bedeutung und die Folgen der von der Anklage beantragten Kriminellerklärung der Organisationen sind von ungeheurer Tragweite. Grund genug, daß der Verteidiger mit aller Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit und nach jeder Richtung untersuchen muß, ob die Grundlagen vorhanden sind, die im Sinne der Gerechtigkeit der moralischen Weltordnung eine so folgenschwere Anklage tragen können.

Hier sei mit allem Nachdruck als erstes und wichtigstes Ergebnis meiner Prüfung festgestellt: eine Gemeinschaft kann nicht für schuldig erklärt werden. Denn kriminelle Schuld bedeutet die Verwirklichung eines strafbaren Tatbestandes nicht nur nach der objektiven, sondern auch nach der subjektiven Seite. Mit anderen Worten: ein Verbrechen kann nur schuldhaft, und zwar nur vorsätzlich begangen werden; von Vorsatz kann aber nach natürlichen Begriffen nur beim Einzelindividuum, niemals bei einer Gesamtheit gesprochen werden. Und wenn unter Hinweis auf ausländische Gesetze davon gesprochen wird, so ist es letzten Endes eine Verwechslung mit dem auf ein bestimmtes Ziel gerichteten übereinstimmenden Willen mehrerer Einzelpersonen.

Doch liegt das Problem der Kollektivschuld wesentlich tiefer. Der Gedanke, die Kollektivschuld abzulehnen, reicht in älteste Zeiten. Er ist aus alttestamentlicher Quelle geflossen, er hat sich im Wege über den Hellenismus und das Christentum über die ganze Erde verbreitet und ist so das strafrechtliche Ethos der gesamten moralischen Weltordnung geworden. Im Römischen Recht ist der Satz klar ausgesprochen: Societas delinquere non potest. Die Neuzeit hat den Gedanken der Individualschuld bewahrt.

Noch am 20. Februar 1946 sagte der Papst in seiner Rundfunkansprache, es sei ein Irrtum zu behaupten, daß man einen Menschen schon deshalb als schuldig und verantwortlich behandeln könne, weil er einer bestimmten Gemeinschaft angehört, ohne daß man sich die Mühe gebe, im einzelnen Falle zu untersuchen, ob der Betreffende durch sein Handeln oder Unterlassen sich persönlich schuldig gemacht habe; das bedeute einen Eingriff in die Rechte Gottes.

[550] Im gleichen Sinn verbietet die Haager Landkriegsordnung von 1907 in Artikel 50 ausdrücklich die Verhängung von Strafkontributionen wegen Verhandlungen einzelner, für welche die Bevölkerung nicht als mitverantwortlich angesehen werden kann.

Schließlich würde der ehemalige Staatssekretär K. H. Frank zum Tode verurteilt und hingerichtet, unter anderem deshalb, weil er das Dorf Lidice hat ausrotten lassen wegen des Verhaltens einzelner Dorfbewohner. Man rechnete ihm also die Tatsache, daß er eine Kollektivschuld der Dorfgemeinde angenommen und eine Kollektivstrafe über das Dorf verhängt habe, als Verbrechen an. Danach kann es auch in unserem Falle nicht Rechtens sein, eine ganze Organisation als Gesamtheit wegen der Verbrechen einzelner kollektiv zu bestrafen.

Mit diesen kurzen Hinweisen glaube ich, dargetan zu haben, daß der Boden der Anklage gegen die Organisationen nicht fest fundiert ist. Einig gehe ich mit den rechtlichen Ausführungen Herrn Jacksons hier nur soweit, als er seine Rechtsbetrachtung abschließt mit der Erklärung, es sei »völlig unerträglich, aus einem solchen Denken im Buchstaben des Gesetzes eine persönliche Straffreiheit abzulehnen«. Die persönliche Straffreiheit der einzelnen Angehörigen einer Organisation hinsichtlich der Straftaten, die innerhalb der Organisation begangen worden sind, kann aus der Ablehnung einer Kollektivschuld nicht hergeleitet, eher kann die Straffälligkeit des einzelnen für die von ihm begangenen Straftaten stärker unterstrichen werden.

Die Rechtsgrundlage, auf der der ganze Prozeß gegen die hier angeklagten Einzelmenschen und Organisationen beruht, ist das von den Vereinten Nationen geschaffene Statut. Die Verteidigung hat bereits Gelegenheit genommen, Bedenken gegen das Statut zu äußern. Darauf beziehe ich mich.

Nur einen Gesichtspunkt will ich nochmals herausstellen. Wenn im Falle der Kriminellerklärung einer Organisation die früheren Angehörigen wegen ihrer bloßen Mitgliedschaft bestraft werden sollen, dann müssen sie für etwas büßen, was zur Zeit der Handlung für sie gesetzlich erlaubt war. Das Statut stellt also Normen auf, die mit rückwirkender Kraft in Erscheinung treten. Der Rechtsgrundsatz aber, der Gesetze mit rückwirkender Kraft verbietet, ist festgegründeter Rechtsbesitz aller Kulturstaaten.

Demgemäß hat auch die französische verfassunggebende Versammlung am 14. März 1946 beschlossen, der Verfassung der Französischen Republik als Präambel eine Neufassung der »Erklärung der Menschenrechte« voranzustellen. Diese Erklärung lautet in Artikel 10:

»Niemand kann verurteilt oder bestraft werden, es sei denn kraft eines vor der Tat erlassenen und veröffentlichten Gesetzes.«

[551] Solch allgemeiner internationaler Rechtsauffassung entsprechend hat denn auch die amerikanische Militärregierung in Deutschland durch das Gesetz Nummer 1 in Artikel 4 angeordnet:

»Anklage darf nur erhoben, Urteile dürfen nur verhängt und Strafen vollstreckt werden, falls die Tat zur Zeit ihrer Begehung ausdrücklich gesetzlich für strafbar erklärt war.«

Das gleiche Gesetz verbietet die Anwendung der Analogie oder angeblich gesunden Volksempfindens. Ja, die amerikanische Militärregierung betrachtet den erwähnten Grundsatz als so wichtig, daß sie seine Verletzung mit der Todesstrafe ahndet.

Schließlich sei mir in diesem Zusammenhang gestattet, auch noch den Artikel 43 des Haager Abkommens vom Jahre 1899 anzuführen, wonach die Vereinigten Staaten von Amerika sowie England und Frankreich den anderen Staaten und auch Deutschland gegenüber die Verpflichtung übernommen, haben bei der Besetzung eines fremden Landes, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, die Gesetze dieses Landes zu beachten.

Die Vereinten Nationen haben als Ziel dieses Prozesses angekündigt, die Gerechtigkeit und die Achtung vor dem Völkerrecht wiederherzustellen und damit dem Weltfrieden zu dienen. Sie haben sich zu den fundamentalen Menschenrechten und den anerkannten Grundregeln des Völkerrechtes bekannt. Die Abstempelung zum Verbrecher für früher legale politische Überzeugung könnte aber geeignet sein, als Einschränkung dieses Bekenntnisses angesehen zu werden und das Vertrauen in die fundamentalen Menschenrechte zu erschüttern. Als Präzedenzfall könnte ein solches Urteil für die Idee der Gerechtigkeit und der persönlichen Freiheit verheerende Folgen haben.

Meine bisherigen Ausführungen betrafen die Zulässigkeit der Anklage gegen alle Organisationen. Für die Gestapo kommen noch zwei besondere Umstände hinzu.

Die Gestapo war eine staatliche Einrichtung, eine Mehrzahl staatlicher Behörden. Eine Behörde verfolgt im Gegensatz zu einem Verein oder einer sonstigen privaten Organisation nicht selbstgewählte, sondern staatlich befohlene Zwecke, nicht mit eigenen, sondern mit staatlichen Mitteln. Sie erfüllt ihre Funktion im Rahmen der gesamten staatlichen Tätigkeit, ihre Handlungen und Maßnahmen sind staatliche Verwaltungsakte. Bei einer staatlichen Behörde kann man nicht von der Unterwerfung unter einen Gemeinschaftswillen der Behörde sprechen und nicht von einem gewissermaßen vertraglichen Zusammenschluß zu einem gemeinsamen Zweck. Damit entfällt hier die Voraussetzung des Begriffes einer Organisation oder Gruppe und der Mitgliedschaft im Sinne des Statuts. Können schon private Organisationen nicht als schuld- und straffähig angesehen werden, dann staatliche Behörden und [552] Verwaltungsstellen erst recht nicht. Nur der Staat selbst dürfte, wenn das überhaupt geschehen könnte, für seine Einrichtungen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, niemals die Einrichtung selbst.

Die Institution der Polizei, auch der Politischen Polizei, gehört zu den inneren Angelegenheiten eines Staates. Ein anerkannter internationaler Rechtssatz aber verbietet die Einmischung eines Staates in die legalen inneren Angelegenheiten eines fremden Landes. Und so bestehen auch nach dieser Richtung gegen die Gestapo-Anklage Bedenken, auf die hinzuweisen ich für meine Verteidigerpflicht halte.

Schließlich ist noch eine weitere Frage zu prüfen: Wenn die Gestapo für verbrecherisch erklärt werden soll, müßte einer der Hauptangeklagten ja Beamter der Gestapo gewesen sein. War aber einer der Hauptangeklagten je ein Beamter und damit ein Angehöriger der Gestapo? Daß diese Prozeßvoraussetzung gegeben ist, erscheint sehr zweifelhaft, denn Göring war als preußischer Ministerpräsident Vorgesetzter der preußischen Geheimen Staatspolizei und konnte ihr Befehle geben, aber er gehörte ihr nicht an. Seine Stellung als »Chef der Geheimen Staatspolizei« erledigte sich im übrigen mit der Einsetzung des Chefs der Deutschen Polizei und mit der Verreichlichung der preußischen Geheimen Staatspolizei in den Jahren 1936 und 1937. Frick war als Reichsinnenminister der für die Polizei zuständige Ressortminister, aber er gehörte niemals einer bestimmten Polizeisparte als Beamter an. Kaltenbrunner schließlich hat ausgesagt, daß er bei seiner Einsetzung als Chef der Sicherheitspolizei und des SD nicht zum Chef der Gestapo bestellt worden sei. Er war auch tatsächlich nicht was Heydrich seit 1934 gewesen war – der Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes. Auch haushaltsrechtlich zählte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD nicht zum Haushalt der Geheimen Staatspolizei, sondern wurde im Haushalt des Reichsministeriums des Innern geführt.

Für den Fall, daß Anklage und Verurteilung der Gestapo gleichwohl für zulässig erachtet werden sollten, wende ich mich nunmehr der Frage zu, ob auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für ihre Kriminellerklärung gegeben sind. Es ist mit andern Worten zu untersuchen: war die Gestapo als Gesamtheit im Sinne des Statuts eine verbrecherische Organisation oder Gruppe? Zur Prüfung dieser Frage werde ich den im Beschluß des Hohen Gerichts vom 13. März 1946 niedergelegten, als beweiserheblich bezeichneten Voraussetzungen folgen.

Bevor ich aber auf diese Frage eingehe, muß ich auf einen allgemeinen Irrtum hinweisen, der die Art und den Umfang der Tätigkeit der Gestapo betrifft. Im deutschen Volk und vielleicht noch mehr im Ausland war man gewohnt, alles, was an polizeilichen Maßnahmen, an Terrorakten, Freiheitsberaubungen und[553] Tötungen geschah, sofern es nur irgendwie polizeilichen Anstrich hatte, der Gestapo zuzuschreiben. Sie ist der Prügelknabe für alle Untaten in Deutschland und den besetzten Gebieten geworden und soll auch heute die Verantwortung für alles Schlimme tragen. Und doch ist nichts falscher als das. Der Irrtum rührt daher, daß die ganze Polizei, gleich ob Kriminalpolizei, Wehrmachtspolizei, Politische Polizei oder SD, ohne Unterscheidung der Sparten als Gestapo angesehen wurde. Wenn Heydrich auf dem Deutschen Polizeitag 1941 sagte:

»Geheime Staatspolizei, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst sind umwoben vom raunenden und flüsternden Geheimnis des politischen Kriminalromans«, so bezeichnet das die fast legendäre Atmosphäre, von der vor allem die Gestapo bis auf den heutigen Tag umgeben ist. Es entsprach offenbar der Taktik Heydrichs, die Gestapo in der Meinung der Menschen im Inland und im Ausland als Instrument des Schreckens erscheinen zu lassen, Furcht und Grauen vor ihr zu verbreiten, um dadurch Furcht vor der Begehung staatsfeindlicher Umtriebe zu erzeugen.

Daß die Gestapo zu Unrecht vieler Verbrechen bezichtigt wurde, mag durch einige Beispiele bewiesen werden. Eines der schändlichsten Einzelverbrechen während des Krieges war die Ermordung des französischen Generals de Boisse1 Ende 1944 oder Anfang 1945. Die Französische Anklage legt sie auf Grund der Dokumente 4048 bis 4052-PS der Gestapo zur Last. Nach 4050-PS war jedoch der mit der Durchführung des Planes beauftragte Panzinger damals Leiter des Amtes V des RSHA, also des Reichskriminalpolizeiamtes. Der in 4052-PS genannte Schulze gehörte ebenfalls dem Reichskriminalpolizeiamt an. 4048-PS war nach dem Aktenzeichen V gleichfalls vom Reichskriminalpolizeiamt, also dem Amt V des RSHA. Das Amt IV des RSHA – Gestapo-Amt – war also nicht beteiligt, sondern nur das Reichskriminalpolizeiamt, in welchem sich die Abteilung der Fahndung nach Kriegsgefangenen befand. Himmler, dem als Chef des Ersatzheeres auch das Kriegsgefangenenwesen unterstand, hat sich nun unmittelbar mit Panzinger in dieser Sache in Verbindung gesetzt; das Amt IV hatte in keinem Stadium Kenntnis dieses Vorganges. Ob Kaltenbrunner etwas wußte, hat dieser klarzustellen.

Diese Tatsachen sind durch das Affidavit Gestapo- 88 erwiesen.

Auch in dem von der Russischen Anklage vorgelegten Bericht über die Aburteilung der Teilnehmer an deutschen Kriegsverbrechen in der Stadt Krassnodar (USSR-55) wird ohne weitere Begründung die Verübung dieser furchtbaren Verbrechen der Gestapo zur Last gelegt. In Wirklichkeit handelte es sich hier um[554] die Tätigkeit eines Einsatzkommandos, nicht aber der Gestapo. Vergleiche Affidavit Gestapo-45.

Ich darf auch auf die Aussagen der Zeugen Dr. Knochen und Franz Straub hinweisen. Durch sie wird bewiesen, daß wie überall so auch in Belgien und Frankreich der Gestapo vielfach Verbrechen zu Unrecht zur Last gelegt wurden.

Durch mehrere Zeugen – Dr. Knochen, Straub, Kaltenbrunner – steht außerdem fest, daß häufig in den besetzten Gebieten und im Heimatgebiet Schwindler und sonstige dunkle Elemente auftraten, die sich fälschlich als Gestapo-Beamte ausgaben. Himmler selbst verlangte die Einlieferung solcher falscher Gestapo-Beamter in die Konzentrationslager – siehe Exhibit Gestapo-34 und Affidavit Gestapo-68.

Wie angedeutet, war der oberste Befehlshaber der Sipo, Heydrich, an der falschen Meinung über die Gestapo nicht ganz unbeteiligt. So förderte er bewußt das Gerücht, daß die Gestapo alles politisch Verdächtige wisse, weil sie die Bevölkerung bespitzele. Daß letzteres nicht richtig sein konnte, beweist die Tatsache, daß die etwa 15 000 bis 16 000 in Betracht kommenden Gestapo-Beamten, hätten sie sich auch der Überwachung und Bespitzelung des Volkes unterziehen sollen, dazu bei weitem nicht ausgereicht hätten – siehe Aussage Dr. Best.

Was Gestapo-Angehörige tatsächlich verbrochen haben, soll mit keinem Wort entschuldigt werden. Allein ebenso sicher ist, daß viel geschehen ist, wofür die Gestapo-Beamten nicht verantwortlich sind, und daß nur landläufig nicht geprüft und unterschieden wurde, ob bestimmte Taten oder Untaten von den Angehörigen der Gestapo oder der Kripo, der SS oder des SD oder auch von einheimischen Verbrechern ausgeführt wurden. Mag es im Interesse der Verbrechensbekämpfung für richtig erachtet werden, bei einer strafgerichtlichen Verurteilung eine sogenannte Wahlfeststellung hinsichtlich der Tat in dem Sinn zu treffen, daß Bestrafung einzutreten habe, gleich ob die festgestellte Tat unter das oder jenes Strafgesetz falle, so kann niemals eine solche Wahlfeststellung hinsichtlich der Person des Täters getroffen werden. Anders ausgedrückt: es wäre nicht gerecht, der Gestapo eine Tat zuzurechnen, wenn die Täterschaft ihrer Angehörigen nicht einwandfrei feststeht.

Wie schon vorgetragen, ist die Gestapo kein Zusammenschluß von Personen im sprachtechnischen Sinne und wohl auch im Sinne des Statuts. Auch ihre Verfassung, ihre Ziele und Aufgaben und die von ihr angewandten Methoden können von Haus aus nicht als verbrecherisch bezeichnet werden.

Die Stellung der Politischen Polizei, ihre besonderen Aufgaben und die von ihr zu treffenden Maßnahmen erforderten selbstverständlich eine auf diese Zwecke ausgerichtete eigentümliche Organisationsform. Ich halte in diesem Zusammenhang eine zwar[555] gedrängte, aber doch umfassende Darstellung des organisatorischen Aufbaues und der personellen Gliederung der Gestapo für um so wichtiger, als das Gericht in seinen Beschlüssen vom 14. Januar und 13. März 1946 zu erkennen gegeben hat, daß es der Aufklärung dieser Frage unter Umständen entscheidende Bedeutung beimißt.

Euer Lordschaft! Um das Gericht mit den Darstellungen des organisatorischen Aufbaues und der personellen Gliederung der Gestapo nicht zu ermüden, verlese ich die folgenden neun Seiten nicht, sondern bitte um deren Kenntnisnahme. Dabei lenke ich die besondere Aufmerksamkeit des Gerichts auf die Seiten 20 bis 24. Sie handeln von dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Verwaltungs- und Vollzugsbeamten, ferner von dem technischen Personal und Angestellten, den Notdienstverpflichteten und von den geschlossen in die Gestapo überführten Personengruppen, wie Geheime Feldpolizei, Zollgrenzschutz, militärische Abwehr und angeschlossene Verbände.

In der Entwicklung der deutschen Politischen Polizei 1933 bis zum Kriegsende lassen sich in organisatorischer Hinsicht drei Zeitabschnitte feststellen:

1. Die Zeit von der sogenannten Machtergreifung bis zur Ernennung Himmlers zum Chef der Deutschen Polizei, das ist bis zum Juni 1936. Ich verweise hierzu auf Dokument 2073-PS, Exhibit Gestapo-12. Das Charakteristische dieser nicht überall gleichmäßig abgelaufenen Entwicklungsperiode war die aus der politischen Selbständigkeit der einzelnen Länder des Deutschen Reiches resultierende Polizeihoheit dieser Länder. Diese Dezentralisation wurde allerdings insofern teilweise aufgehoben, als Himmler nach und nach im Jahre 1933 und Anfang 1934 politischer Polizeikommandeur in allen Ländern des Deutschen Reiches mit Ausnahme Preußens wurde.

Im Frühjahr 1934 wurde Himmler auch zum Stellvertretenden Chef der preußischen Geheimen Staatspolizei ernannt, womit die Einflußnahme Himmlers auf die Geheime Staatspolizei sämtlicher Länder des Deutschen Reiches erreicht war. Haushaltmäßig stand die Geheime Staatspolizei bis zum Juni 1936 auf dem Etat der Länder.

2. Die zweite Periode wird eingeleitet mit der am 17. Juni 1936 verkündeten Ernennung Himmlers zum Chef der Deutschen Polizei. Einige Tage später erfolgte die Ernennung des SS-Gruppenführers Heydrich zum Chef der Sicherheitspolizei, die die Geheime Staatspolizei und die Kriminalpolizei umfaßte, während General der Polizei Daluege zum Chef der Ordnungspolizei ernannt wurde, in welcher Schutzpolizei, Gendarmerie und Gemeindepolizei zusammengefaßt waren. Hiermit war die sogenannte Verreichlichung der deutschen Polizei verwirklicht.

Die Zentralinstanz der Geheimen Staatspolizei für das gesamte Reichsgebiet war das Geheime Staatspolizeiamt Berlin, dem sämtliche Dienststellen der Geheimen Staatspolizei im Reich unterstellt waren. Diese nachgeordneten Dienststellen waren Geheime Staatspolizeileitstellen an den Sitzen der Länderregierungen, im übrigen Geheime Staatspolizeistellen bei fast allen Regierungspräsidenten oder gleichgeordneten Verwaltungsinstanzen Preußens und der Länder.

3. Mit der am 27. September 1939 verkündeten Schaffung des Reichssicherheitshauptamtes wird die dritte und letzte Periode eingeleitet. Der Chef der Sicherheitspolizei, Heydrich, verwirklichte mit der Zusammenfassung von Parteiorganisationen und staatlichen Polizeibehörden, also heterogenen Elementen, in dem RSHA einen langgehegten Plan, und es ist richtig, daß es für einen Außenstehenden völlig unmöglich war zu unterscheiden, ob Heydrich im Einzelfall als Chef einer staatlichen Behörde oder als Chef einer Parteidienststelle tätig wurde.

Das Reichssicherheitshauptamt umfaßte in seiner weitesten Ausgestaltung folgende Ämter:

  • Amt I: Personal (staatliche Behörde)

  • Amt II: Verwaltung (staatliche Behörde)

  • [556] Amt III: SD-Inland (Parteiorganisation)

  • Amt IV: Geheime Staatspolizei (staatliche Behörde)

  • Amt V: Reichskriminalpolizei (staatliche Behörde)

  • Amt VI: SD-Ausland (Parteiorganisation) wozu im Jahre 1944 noch der militärische Nachrichtendienst kam

  • Amt VII: SD-Wissenschaftliche Auswertung (Parteiorganisation)

  • Amt N: Technische Nachrichtenverbindungen (staatliche Behörde).

Das Reichssicherheitshauptamt war somit keine einheitliche Behörde, sondern nur die Sammelbezeichnung für verschiedenartige Dienststellen, die in Ihrer rechtlichen Struktur nicht verändert wurden. Die einzelnen Teile des RSHA blieben, was sie vorher gewesen waren, nämlich:

a) soweit die einzelnen Ämter aus dem Reichsinnenministerium stammten, wie Amt I: Personal, und Amt II: Verwaltung, blieben sie eine Unterabteilung dieses Ministeriums;

b) die Ämter IV und V, also das Geheime Staatspolizeiamt und das Reichskriminalpolizeiamt, blieben nach wie vor diese Behörden;

c) die aus dem ehemaligen SD-Hauptamt stammenden Teile, die Ämter III, VI, VII blieben nach wie vor eine Organisation der SS und der Partei.

Auch haben die Aufgaben ihren staatlichen oder parteimäßigen Charakter nicht geändert. Nicht das RSHA als solches war ein Hauptamt der SS, sondern nur die aus dem ehemaligen SD-Hauptamt gebildeten Teile desselben.

Das Amt IV des RSHA, also das Geheime Staatspolizeiamt, dessen Chef der SS-Gruppenführer Heinrich Müller war, wurde in seinem geschäftsmäßigen Aufbau in der Zelt von 1839 bis 1945 einige Male umgegliedert und umfaßte Ende 1944 folgende Sachgebiete:

  • IV A 1 Links- und Rechtsopposition

  • IV A 2 Sabotagebekämpfung

  • IV A 3 Spionageabwehr

  • IV A 4 Juden, Kirchen

  • IV A 5 Sonderaufträge

  • IV A 6 Schutzhaft

  • IV B 1 Besetzte Westgebiete

  • IV B 2 Besetzte Ostgebiete

  • IV B 3 Besetzte Südostgebiete

  • IV B 4 Paß- und Ausweiswesen

  • IV B a A Grundsatzfragen des Einsatzes ausländischer Arbeiter

  • IV G Zollgrenzschutz, Grenzinspektionen.

In dem organisatorischen Aufbau der nachgeordneten Dienststellen, also der Geheimen Staatspolizei-Leitstellen bei den Länderregierungen und den wichtigsten Provinzen Preußens sowie den Geheimen Staatspolizeistellen ändert sich gegenüber dem Zustand vor 1939 im großen und ganzen nichts Wesentliches.

Von der hiermit dargestellten Organisation der Gestapo sind zu unterscheiden die für den Kriegsfall zusammengestellten sicherheitspolizeilichen Einsatzgruppen und Einsatzkommandos. In ihnen hat der Begriff der »Sicherheitspolizei«, der im Frieden nur in den Titeln des Chefs der Sicherheitspolizei und der Inspekteure der Sicherheitspolizei erschienen war, eine Verkörperung erhalten, die sich von den Sparten der Gestapo und der Kripo, aus denen ein Teil des Personals entnommen wurde, dem Wesen nach unterschied.

Bei dem Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD in den besetzten Gebieten ist zu unterscheiden zwischen

  • a) dem Einsatz der Sipo und des SD im Truppenverband, also in Einsatzgruppen und Einsatzkommandos mit Unterstellung unter die Wehrmacht und

  • b) dem Einsatz nach Einrichtung einer Militär- beziehungsweise Zivilverwaltung. Die stationären Dienststellen waren dem Höheren SS- und Polizeiführer unterstellt, die den ihnen nachgeordneten Befehlshabern der Sipo und des SD weitestgehende Befehle zu erteilen in der Lage waren. Nachgeordnet waren SS- und Polizeiführer, denen die Kommandeure der Sipo und des SD unterstellt waren. In vielen Fällen schalteten sich in die Befehlsgebung maßgeblich die Reichskommissare ein, zum Beispiel Terboven in Norwegen, Bürkel in Lothringen. Es muß auch darauf verwiesen werden, daß die Höheren SS- und Polizeiführer vielfach direkt an Himmler berichteten und von diesem unter Umgehung des Chefs der Sipo und des SD Befehle einholten.

[557] Die Dienststellen der Sipo und des SD in den besetzten Gebieten waren in Anlehnung an die Ämter III beziehungsweise VI (SD), IV (Geheime Staatspolizei) und V (Kriminalpolizei) gegliedert, doch war sowohl die personelle Besetzung wie auch das Tätigwerden der einzelnen Abteilungen einer Dienststelle den kriegsbedingten Schwierigkeiten unterworfen. So wurden Angehörige der nichtangeklagten Kriminalpolizei mit staatspolizeilichen Aufgaben befaßt und umgekehrt Angehörige der Gestapo mit rein kriminalpolizeilichen Aufgaben. Die aus dem Mangel an Fachkräften heraus entstandene Notwendigkeit, vom Jahre 1942 ab in immer stärkerem Umfang Angehörige der Geheimen Feldpolizei der Wehrmacht als sogenannte Notdienstverpflichtete in die Dienste der Sicherheitspolizei zu übernehmen, obwohl sie so gut wie keine polizeilichen Fachkenntnisse mitbrachten – außerdem Notdienstverpflichtete aus dem Reiche und Angestellte aus dem betreffenden Lande –, muß hier erwähnt werden, um die Tätigkeit der Sicherheitspolizei in den besetzten Gebieten gerecht würdigen zu können.

Diese gedrängte Übersicht über den organisatorischen Aufbau vermittelt erst im Zusammenhang mit einer Darstellung der personellen Struktur die für das Urteil maßgebenden Grundlagen. Nach der Art ihrer Ausbildung und Verwendung lassen sich folgende Personengruppen im Personal der Gestapo ermitteln:

1. Die Verwaltungsbeamten.

Sie waren keine Polizeibeamten im Sinne des deutschen Polizeibeamtengesetzes.

Paragraph 1 dieses Gesetzes, Exhibit Gestapo-9, besagt, daß das Gesetz für die Vollzugsbeamten der Schutzpolizei, Kriminalpolizei, der Gendarmerie und der Geheimen Staatspolizei gilt. Die Verwaltungsbeamten der vorgenannten Polizeizweige hatten weder eine kriminal- oder schutzpolizeiliche Ausbildung noch wurden sie – auch nicht ausnahmsweise – im Vollzugsdienst verwendet. Sie waren auch nicht Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft. Ihre Ausbildung und ihre Tätigkeit als Verwaltungsbeamte umfaßte: Personalangelegenheiten, Wirtschaftsangelegenheiten, wie Haushaltsplan, Unterkunft, Bekleidung, Kassen-und Rechnungswesen und dergleichen. Auch im auswärtigen Einsatz hatten die Verwaltungsbeamten keine anderen Aufgaben. Sie waren das, was in der Wehrmacht, und zwar sowohl bei den Front- wie bei den Einsatzdienststellen die Intendanten und Zahlmeister waren. Die Zahl der Verwaltungsbeamten betrug Ende 1944 etwa 3000 und machte ungefähr 10 Prozent des regelmäßigen Personalbestandes der Gestapo aus. Zum Beweis vorstehender Tatsachen beziehe ich mich auf die als Exhibit Gestapo-17, 18, 19, 20, 31, 34 vorgelegten Affidavits und die Aussagen der Zeugen Oldach, Albath, Tesmer, Hoffmann und Best vor der Kommission beziehungsweise dem Gericht.

2. Die zweite Personengruppe bildeten die Beamten des Vollzugsdienstes, die Ende 1944 zahlenmäßig etwa 40 bis 45 Prozent des regelmäßigen Personalbestandes der Gestapo ausmachten. Sie gliederten sich in:

Beamte des höheren Dienstes: vom Regierungs- und Kriminalrat an,

Beamte des gehobenen Dienstes: vom Kriminalinspektor an,

Beamte des mittleren Dienstes: vom Kriminalassistenten an.

Die Verwendung der Exekutivbeamten erfolgte zunächst in den eigentlichen politisch-polizeilichen Referaten, wie ich sie bei der Darstellung der Organisation des Amtes IV des RSHA angegeben habe.

Zur Exekutive der Gestapo zählte auch die sogenannte Abwehrpolizei. Diese, früher die Abteilung III des Geheimen Staatspolizeiamtes, später IV A 3 des Amtes IV des RSHA, hatte die Aufgabe der kriminalpolizeilichen Aufdeckung und Aufklärung aller Landesverratsverbrechen.

Im Affidavit Gestapo-89 wird die Zahl der Angehörigen der Abwehrpolizei auf 2000 bis 3000 geschätzt.

3. Ebenfalls zur Exekutive der Gestapo zählt die Grenzpolizei. Die Aufgaben und personellen Verhältnisse der Grenzpolizei sind durch die Aussagen beziehungsweise Affidavits der Zeugen Best und Goppelt (Affidavit Nummer 22) und Exhibit Gestapo-18 klargelegt. Die ungefähre Kopfstärke dürfte die Zahl von 3000 erreichen, die in der Gesamtzahl der Exekutivbeamten einbegriffen ist.

4. Zur Gestapo gehören ferner die Angestellten und Lohnempfänger, die – einschließlich der von den Arbeitsämtern zur Arbeit bei der Gestapo Verpflichteten – den sogenannten Notdienstverpflichteten, etwa 13500 Köpfe zählten und somit fast die Zahl der Exekutivbeamten erreichten.

[558] 5. Die Gestapo besaß weiterhin einen Spezialdienst in dem nachrichtentechnischen Personal mit rund 500 Angehörigen, die für die Anlage, Instandhaltung und Bedienung der Telephon- und Telegraphenanlagen zu sorgen hatten.

6. Wenn ich oben von dem »regelmäßigen« Personalstand der Gestapo gesprochen habe, so gehörten die Personengruppen, auf die ich nunmehr zu sprechen komme, zwar formell der Gestapo an, doch war ihre Eingliederung in die Gestapo während der zweiten Hälfte des Krieges unter Umständen vor sich gegangen, die auch nicht den geringsten Zweifel an der Unfreiwilligkeit der Zugehörigkeit zur Gestapo aufkommen lassen können, worüber noch in anderem Zusammenhang zu sprechen sein wird.

a) Unter Berücksichtigung der zeitlichen Reihenfolge muß ich zunächst die erwähnten »Notdienstverpflichteten« nennen. Wie der Zeuge Krichbaum ausgeführt hat, wurden vom Jahr 1942 ab von der Geheimen Feldpolizei der Wehrmacht zunächst in Frankreich 23 Gruppen, dann in Belgien 8, in Dänemark und Serbien je 1 und im Osten 18 Gruppen, also insgesamt 51 Gruppen mit mindestens 5500 Mann auf Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht geschlossen aus der Wehrmacht entlassen und als sogenannte »Notdienstverpflichtete« bei der Sicherheitspolizei in den besetzten Gebieten verwendet. Die Notdienstverpflichteten wurden bei der Sicherheitspolizei in allen Sparten, also bei Gestapo, SD und der nicht angeklagten Kriminalpolizei verwendet.

b) Die militärische Abwehrorganisation im Oberkommando der Wehrmacht wurde im Frühjahr 1944 auf Befehl Hitlers in die Sicherheitspolizei beziehungsweise den SD überführt, und zwar wurde die defensive Abwehr dem Amt IV, also der Geheimen Staatspolizei, angegliedert, während die übrigen Teile unter der Bezeichnung »Amt Mil« im RSHA ein eigenes Amt bildeten. Die Zahl der insgesamt Überführten belief sich auf etwa 4000 bis 5000. Wie viele davon im Rahmen der defensiven Abwehr, also im Amt IV, verwendet wurden, hat sich nicht eindeutig ermitteln lassen, dürfte aber auch nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein.

Gleichzeitig wurden die bis dahin der militärischen Abwehr unterstellten Auslandsbrief-Prüfstellen und Auslandstelegramm-Prüfstellen in die Sicherheitspolizei überführt. Hier handelt es sich um etwa 7500 Personen, die auf Grund eines Befehls in ein Unterstellungsverhältnis bei der Sicherheitspolizei traten (Affidavit Gestapo-36 und Exhibit Gestapo-19).

c) Als letzte Personengruppe wurde vom Herbst 1944 ab, also in der letzten Phase des Krieges, ein Teil des Zollgrenzschutzes in die Geheime Staatspolizei eingegliedert, der bis dahin ein Teil der Reichsfinanzverwaltung gewesen war. Weder in der Organisation noch in den Aufgaben des Zollgrenzschutzes trat nach der Eingliederung eine Änderung ein. Die Kopfstärke der in die Gestapo eingegliederten Teile betrug nach dem Affidavit Gestapo-31 etwa 45000 Mann.

Ich fahre fort auf Seite 24 oben:

Der eben geschilderte staatliche Organismus der Politischen Polizei stand als staatlicher Verwaltungszweig außerhalb des Aufbaues der NSDAP und ihrer Organisationen. Die Gestapo wurde nicht beherrscht von der Partei; im Gegenteil, ihre Selbständigkeit innerhalb des Staates und außerhalb des Parteiaufbaues sollte dazu dienen, gerade Verfehlungen der Parteiangehörigen mit staatlichen Mitteln entgegenzutreten. Wenn Himmler als Reichsführer-SS seit 1933 in allen Ländern und später im Reich der politische Polizeichef wurde, so waren die Landespolizeibehörden hierauf ohne Einfluß. Es änderte auch im wesentlichen zunächst nichts an ihrer Tätigkeit. Die Politischen Polizeien der deutschen Länder sind bei ihrer Neubildung im Jahre 1933 im wesentlichen mit Beamten der bisherigen Polizeibehörden besetzt worden; nicht einmal die leitenden Beamten waren überall Parteileute. Auch später wurden diese von früher übernommenen Beamten nicht durch Parteimitglieder ersetzt. Nur [559] in geringem Umfange und fast nur als Angestellte und Lohnempfänger für technische Dienste, wie Kraftfahrer, Fernschreiber, Amtsgehilfen und so weiter, wurden Leute aus der Partei, der SS und der SA übernommen.

Der Losgelöstheit von der Partei und ihren Gliederungen scheint nun die sogenannte Angleichung der Gestapo an die SS zu widersprechen. Diese Angleichung bedeutete nur eine dem Namen nach bestehende Anschließung an die SS. Der Grund dieser Angleichung war folgender:

In der Gestapo war das Berufsbeamtentum eingeführt und aufrechterhalten. Die Beamten waren aber zum Teil wegen ihrer politischen oder unpolitischen Vergangenheit von der Partei nicht besonders geachtet. Um nun ihre Autorität bei Ausführung ihrer Dienstpflichten und gerade auch gegen Nationalsozialisten zu stärken, sollten sie in Uniform auftreten, wie der Zeuge Dr. Best, der sich als »Motor« der Angleichung bezeichnet hat, aussagte. Mit der Angleichung wurden die Gestapo-Beamten – wie übrigens auch die Kriminalpolizei-Beamten, die ebenfalls angeglichen werden sollten – zwar formell unter der SD-Formation der SS geführt, blieben aber allein ihren behördlichen Dienstvorgesetzten unterstellt und machten keinen SS- oder SD-Dienst mit. Die Angleichung wurde zudem nur langsam und in geringem Umfange durchgeführt. Bei Kriegsausbruch 1939 waren von etwa 20 000 Angehörigen der Gestapo und der Kripo nur rund 3000 angeglichen. Bezeichnend ist, daß Himmler das Auftreten der Gestapo in SS-Uniform durchaus nicht gerne sah, wie sich aus US-447 ergibt.

Während des Krieges mußten auch Nichtangeglichene bei bestimmten Einsätzen ebenfalls die SS-Uniform tragen, ohne jedoch Angehörige der SS zu sein. Im übrigen hat die SS die Polizei nicht kontrolliert oder sonstwie Einfluß auf ihre Tätigkeit genommen; nur in der Person Himmlers bestand zwischen beiden Personalunion in der Führung.

Zu dieser Darstellung verweise ich auf den Zeugen Dr. Best.

Mit dem SD, der bekanntlich eine reine Parteiorganisation war, hatte die Gestapo als Ganzes ebenfalls nichts zu tun. Nur in der Person des Chefs der Sipo und des SD – Heydrich, später Kaltenbrunner – bestand eine Personalunion, die aber eine zufällige war und weder einen organisatorischen noch funktionellen Zusammenhang bedeutete. Der SD war mit der Gestapo keinesfalls zu einem Polizeisystem zusammengeschlossen. Der SD hatte die Gestapo in ihren Aufgaben nicht zu unterstützen, er hatte überhaupt keine polizeilichen Aufgaben.

Die Beamten der Gestapo fühlten sich durchaus nicht als Angehörige einer einheitlichen Organisation mit der SS und dem SD. [560] Jeder in den drei Institutionen wußte, daß er einer selbständigen Einrichtung mit selbständigen Zwecken angehörte.

War so die Gestapo mit der Partei keinesfalls organisch oder auch nur dienstlich verbunden, so war sie andererseits als Staatsbehörde nicht aus dem allgemeinen staatlichen Verwaltungsaufbau herausgelöst, vielmehr bestanden in allen Ebenen Verzahnungen mit der allgemeinen und inneren Verwaltung. Die höheren Verwaltungsbehörden: die Innenminister der Länder, die Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten waren zur Empfangnahme von Berichten und zu Weisungen berechtigt. Die Beweiserhebung ließ sogar ersehen, daß der größere Teil aller staatspolizeilichen Handlungen von den Kreis- und Ortspolizeibehörden und der Gendarmerie durchgeführt wurde. Gerade diese Tatsachen geben einen Hinweis, wie schwer und bedenklich es ist, die Gestapo als staatliche Einrichtung anzuklagen. Denn, konsequent gedacht, müßten ja auch die Beamten der genannten Verwaltungsbehörden, soweit sie staatspolizeilich tätig wurden, mit der Gestapo unter Anklage gestellt werden.

Kann man aus diesen Gründen bei der Gestapo von einem Zusammenschluß von Personen, also von einer Mitgliedschaft im Sinne der Anklage, nicht sprechen, so war noch weniger das Erfordernis der Freiwilligkeit erfüllt. Keiner der vernommenen Zeugen konnte in irgendeiner Form diese Unterstellung der Anklage rechtfertigen, vielmehr mußten sämtliche Zeugen bekunden, daß die Zugehörigkeit zur Gestapo grundsätzlich nicht auf freiwilliger Grundlage beruhte. Die Einstellung der Beamten bei der Gestapo erfolgte zu einem großen Teil in der Weise, daß sie von ihren bisherigen Behörden zu den Behörden der Gestapo versetzt wurden. Dem Versetzungsbefehl mußten sie Folge leisten, sie waren nach Beamtenrecht dazu verpflichtet. Die Folge einer Weigerung wären ohne weiteres schwere dienstliche Nachteile, wahrscheinlich der Verlust der Stellung gewesen; und wäre die Weigerung gar damit begründet worden, daß der Beamte mit der Tätigkeit der Gestapo aus Gewissengründen nicht einverstanden sei, so wäre er – wie übrigens jeder andere Beamte im gleichen Fall – in einem Dienststrafverfahren oder sogar in einem ordentlichen Strafverfahren belangt worden und hätte seine Stellung und seine wohlerworbenen Rechte verloren und wäre außerdem noch in ein Konzentrationslager eingeliefert worden. Der Beamtennachwuchs bei der Gestapo war in der Weise geregelt, daß nach dem Polizeibeamtengesetz 90 Prozent aus den ehemaligen Schutzpolizeibeamten, die Kriminalbeamte werden wollten, und nur 10 Prozent aus freien Berufen angenommen werden durften. Die Anwärter aus der Schutzpolizei konnten sich aber für die Gestapo oder Kripo nicht frei entscheiden, wurden vielmehr von der »Vormerkstelle der Polizei« in Potsdam der Gestapo oder der Kripo nach Bedarf und auch gegen ihren[561] Willen zugewiesen. Es handelte sich hierbei übrigens um Schutzpolizeibeamte mit 8 bis 12 Dienstjahren, also um alte Polizeibeamte, die schon vor 1933 im Polizeidienst gestanden haben.

Das Loskommen der Beamten von der Gestapo war, abgesehen von den allgemeinen Ausscheidungsgründen wie Tod, Krankheit, Entlassung auf Grund von Verfehlungen, fast unmöglich. Im Kriege galt die Gestapo wie die ganze Polizei als »im Einsatz« befindlich und stand unter dem Militärstrafrecht, so daß ein Ausscheiden ganz unmöglich war. Selbst die Meldung zum militärischen Frontdienst war verboten.

Die gleichen Grundsätze für die Aufnahme und Verabschiedung galten auch für die der Gestapo unterstellten Institutionen, wie Grenzpolizei, militärische Abwehr, Zollgrenzschutz; nicht zu vergessen die zahlreichen »Notdienstverpflichteten« während des Krieges, die zeitweise fast die Hälfte des Personalbestandes ausmachten. Aus diesen Ausführungen, die sich auf die Aussagen und eidesstattlichen Versicherungen vor allem der Zeugen Best, Knochen und Hoffmann stützen, ergibt sich folgendes: Die Gestapo war eine Vielzahl von staatlichen Behörden. Bei einer Behörde aber kann man nicht von Mitgliedern der Behörde wie von Mitgliedern einer privaten Organisation sprechen. Daher gab es auch keine Mitgliedschaft in der Gestapo und noch viel weniger eine freiwillige; es gab nur eine öffentlich-rechtliche Beamtenstellung.

Auch die Frage, ob Ziel und Aufgaben der Gestapo verbrecherisch waren, muß verneint werden. Ziel der Gestapo wie jeder politischen Polizei war der Schutz des Volkes und des Staates vor staatsfeindlichen Angriffen gegen seinen Bestand und seine unbeschwerte Entwicklung. Dementsprechend ist die Aufgabe der Gestapo in Paragraph 1 des Gesetzes vom 10. Februar 1936 – Exhibit Gestapo-7 – wie folgt umrissen. Ich zitiere:

»Die Geheime Staatspolizei hat die Aufgabe, alle staatsgefährlichen Bestrebungen zu erforschen und zu bekämpfen, das Ergebnis der Erhebungen zu sammeln und auszuwerten, die Staatsregierung zu unterrichten und die übrigen Behörden über für sie wichtige Feststellungen auf dem laufenden zu halten und mit Anregungen zu versehen.«

Diese Aufgaben der Gestapo waren inhaltlich die gleichen wie die der Politischen Polizei vor 1933 und wie die jeder anderen Politischen Polizei in fremden Ländern. Was unter staatsfeindlichen Bestrebungen zu verstehen ist, richtet sich nach der jeweiligen politischen Struktur eines Staates. Ein Wechsel in der politischen Führung kann die frühere Tätigkeit einer Politischen Polizei, die sich gegen andere als staatsfeindlich angesehene Kräfte richtete, nicht nachträglich rechtswidrig machen. Die Tätigkeit der Gestapo war durch gesetzliche Vorschriften staatlich geregelt. Ihre Aufgaben [562] bestanden in erster Linie und hauptsächlich in der Aufklärung politisch strafbarer Handlungen nach den allgemeinen Strafgesetzen, wobei die Beamten der Gestapo als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft tätig wurden; ferner in der Verhütung solcher Handlungen durch vorbeugende Maßnahmen.

Nun werden freilich die Methoden der Gestapo ihr nach dreifacher Richtung schwer zum Vorwurf gemacht, ja als Verbrechen angerechnet. Die eine Methode betrifft die Schutzhaft und Verschickung in die Konzentrationslager. Ich weiß: wenn ich diese Namen nur ausspreche, geht es wie ein kalter Grabeshauch von ihnen aus. Immerhin, auch die Schutzhaftverhängung war durch genaue Vorschriften geregelt. Die Schutzhaft, die zudem keine spezifisch deutsche oder spezifisch nationalsozialistische Erfindung war, ist in mehreren Urteilen des Reichsgerichts und des preußischen Oberverwaltungsgerichts, also verfassungsmäßiger Gerichte, als legal anerkannt worden.

Eine zweite Methode, die der sogenannten verschärften Vernehmung, muß freilich, gelinde gesagt, zu schweren Bedenken Anlaß geben. Diese Methode wurde jedoch – siehe besonders Zeuge Dr. Best – selten angewandt, und zwar nur auf Anordnung der obersten Stellen und niemals zur Erpressung eines Geständnisses. Auch diese Methode, von der im Zusammenhang der Besprechung der einzelnen Verbrechen noch weiter die Rede sein wird, war gesetzlich geregelt, und zwar auch noch während des Krieges, vergleiche Exhibit Gestapo-60.

Schließlich macht die Anklage der Gestapo noch den besonderen Vorwurf, daß sie nicht an das Gesetz gebunden gewesen sei, vielmehr nach freier Willkür gehandelt habe. Darauf ist zu sagen: wenn in zwei Gesetzen – über den Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes – angeordnet ist, der Chef der Deutschen Polizei könne auch außerhalb der sonst hierfür geltenden Gesetze Maßnahmen treffen, so sollte damit nicht die polizeiliche Willkür statuiert sein; es handelte sich vielmehr um eine typisch gesetzliche Übertragung der Befugnis, Polizeirecht zu setzen. Als Maßnahmen im Sinne dieser Gesetze waren nicht Einzelhandlungen gemeint, sondern Anordnungen allgemeiner Art, die erlassen werden konnten, auch wenn in den angeschlossenen Ländern noch keine Gesetze dafür bestanden, die aber dann, weil vom Staatsoberhaupt die Ermächtigung dafür erteilt war, für die Bevölkerung und die Vollzugskräfte der Polizei bindend waren. Daran war unbedingt festgehalten, daß keine Einzelhandlung nach Willkür ausgeführt werden dürfe, sondern daß für alle Vollzugshandlungen genaue Vorschriften gelten und beachtet werden sollten – Zeuge Dr. Best.

Die Gestapo-Beamten konnten – wenigstens vor dem Kriege – gar nicht auf den Gedanken kommen, daß ihnen vom Ausland [563] willkürliches Handeln vorgeworfen würde. Die nicht nur für die Angehörigen der Gestapo, sondern für die ganze Welt offenliegenden gesetzlich umgrenzten Aufgaben und Methoden können nicht von einer Welt als verbrecherisch empfunden worden sein, welche die hierfür allein verantwortliche deutsche Reichsregierung nicht nur formell anerkannte, sondern ihrer Anerkennung auch gegenüber dem deutschen Volk wiederholt sichtbaren Ausdruck verlieh.

Hätte das Ausland an den Zielen der Gestapo Anstoß genommen, dann wäre es auch nicht denkbar gewesen, daß zahlreiche ausländische Polizeien in unmittelbarer, nicht durch die Diplomatie vermittelter, enger Zusammenarbeit mit der deutschen Gestapo standen und ausländische Polizeibeamte die Gestapo besuchten, offensichtlich auch, um von ihr zu lernen, vergleiche Affidavit Gestapo-26 und 89. Auf alle Fälle mußte dadurch der einzelne Gestapo-Beamte seine Tätigkeit als international anerkannt ansehen.

Die Ziele, Aufgaben und Methoden der Gestapo sind grundsätzlich auch während des Krieges die gleichen geblieben. Soweit ihr andere als die bisher beschriebenen Handlungen zugedacht wurden, müssen sie als außerhalb der Organisation stehende polizeifremde Handlungen gewertet werden. Besonders über die Einsatzgruppen, ihre Zusammensetzung und Tätigkeit und ihr Verhältnis zur Gestapo wird noch zu sprechen sein.

Nun müßte ich nach dem Aufbau der Anklage darüber sprechen, ob sich die Gestapo an einem gemeinsamen Plan zur Begehung von Verbrechen beteiligt hat, ob sie als bewußter Teil des Ganzen an der sogenannten Nazi-Verschwörung im Sinne der Anklage mitgewirkt hat. Um aber diese Frage behandeln zu können, erscheint es notwendig, zuvor zu untersuchen, welche Verbrechen der Gestapo tatsächlich nachgewiesen werden können.

Zur Bezeichnung einer Organisation als verbrecherisch können ebenso wie zur Charakterisierung einer Einzelperson nur typische Erscheinungsformen herangezogen werden, das heißt nur solche Handlungen und Wesenszüge, die der Eigenart, dem Wesen der betreffenden Organisation entsprechen. Es können daher nicht Vorgänge verwendet werden, die sich zwar in der Organisation abgespielt haben, die aber als organisationsfremd, hier als polizeifremd bezeichnet werden müssen, ferner nicht Handlungen, die nur von einzelnen Angehörigen begangen worden sind. Zur Feststellung, ob diese Erscheinungsformen als verbrecherisch anzusehen sind, ist das deutsche Recht zur Untersuchung heranzuziehen, das übrigens in der Charakterisierung des allgemeinen Verbrecherischen von der Auffassung anderer zivilisierter Länder nicht abweicht.

Der Einteilung der Anklage entsprechend werde ich die der Gestapo zur Last gelegten Verbrechen ebenfalls einteilen in Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

[564] a) Verbrechen gegen den Frieden.

Hier ist Gegenstand der Anklage der Vorwurf, die Gestapo habe zusammen mit dem SD Grenzzwischenfälle künstlich geschaffen, um Hitler den Vorwand zum Krieg mit Polen zu geben. Zwei Grenzzwischenfälle werden angeführt, der Überfall auf den Sender Gleiwitz und ein vorgetäuschter Angriff einer polnischen Gruppe bei Hohenlinden.

Der Überfall auf den Sender Gleiwitz wurde nicht unter Beteiligung von Gestapo-Beamten ausgeführt. Der Zeuge Naujocks, der der Leiter dieses Unternehmens war, der Gestapo jedoch nicht angehörte, hat eindeutig bestätigt, daß kein Angehöriger der Gestapo bei dieser Aktion mitbeteiligt gewesen ist. Der Auftrag zu diesem Unternehmen ging unmittelbar von Heydrich aus und wurde von diesem direkt an Naujocks mündlich übermittelt.

Der Auftrag zu dem vorgetäuschten Angriff bei Hohenlinden wurde von Müller, dem Chef des Amtes IV des RSHA, an Naujocks übermittelt, doch hat Naujocks, der auch diese Aktion leitete, eine Beteiligung des Amtes IV ausdrücklich in Abrede gestellt.

VORSITZENDER: Herr Dr. Merkel! Wäre das nicht ein geeigneter Zeitpunkt abzubrechen?


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


1 Es wurde nicht General de Boisse, sondern General Mesny ermordet. – Dokumente Nummer 4059-PS (4. Schriftstück) und Nummer 4069-PS.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 21.
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