Anhang II: Bericht.

[177] Wie aus dem Verhör vom 16. November 1945 Rosenbergs, der Heß noch unmittelbar vor dessen Flug nach England gesehen hatte, hervorgeht, gab Heß damals keinerlei Anzeichen von Abnormität – weder äußerlich noch im Gespräch – zu erkennen. Er war, wie gewöhnlich, still und gesetzt. Auch war nicht ersichtlich, daß er nervös gewesen wäre. Vordem war er ein ruhiger Mensch, der gewöhnlich an Schmerzen in der Magengegend litt.

Aus dem Bericht des englischen Psychiaters, Doktors Rees, unter dessen Beobachtung Heß seit den ersten Tagen nach seinem Fluge nach England stand, geht hervor, daß Heß nach dem Flugzeugunfall keinerlei Anzeichen einer Gehirnverletzung aufwies, daß sich jedoch nach seiner Festnahme und Inhaftierung Anzeichen von Verfolgungswahn bemerkbar machten; er befürchtete, daß er vergiftet oder umgebracht und sein Tod als Selbstmord hingestellt würde und daß dies alles von den Engländern unter dem hypnotischen Einfluß der Juden ausgeführt würde. Dieser Verfolgungswahn dauerte an bis zu dem Zeitpunkt der Niederlage der deutschen Armee bei Stalingrad, worauf sich statt dessen Anzeichen von Gedächtnisschwäche einstellten. Nach Dr. Rees' Beobachtungen waren der Verfolgungswahn und die Gedächtnisschwäche nicht zur gleichen Zeit bemerkbar. Weiterhin haben zwei Selbstmordversuche stattgefunden. Eine Messerwunde in der Herzgegend, herrührend vom zweiten Selbstmordversuch, ließ ohne Zweifel auf hysterisch-demonstrative Veranlagung schließen. Nach einem später wieder festgestellten Wechsel [177] von Gedächtnisschwäche zum Verfolgungswahn schrieb er, er simuliere diese Gedächtnisschwäche, und geriet schließlich wiederum in einen Zustand von Gedächtnisschwäche, der sich bis heute erhalten hat.

Bei der Untersuchung von Rudolf Heß am 14. November 1945 wurde folgendes festgestellt:

Heß klagt über öfters auftretende krampfartige Schmerzen in der Magengegend, die sich unabhängig von Nahrungseinnahme bemerkbar machen, ebenso über Kopfschmerzen in den vorderen Lappen bei geistiger Anstrengung und endlich über Gedächtnisverlust.

Im allgemeinen ist sein Zustand durch bleiche Hautfarbe und eine bemerkenswerte Verminderung von Nahrungseinnahme gekennzeichnet.

Innere Organe: der Puls ist 92, eine Schwächung des Herztones bemerkbar. Bei den anderen inneren Organen ist keine Veränderung eingetreten.

Der neurologische Befund weist keine Anzeichen einer organischen Schädigung des Nervensystems auf.

Psychologisch ist Heß bei klarem Bewußtsein. Er ist sich bewußt, daß er sich im Gefängnis von Nürnberg befindet und als Kriegsverbrecher angeklagt ist. Nach seinen eigenen Worten ist er mit der gegen ihn erhobenen Anklage – die er gelesen hat – vertraut. Fragen beantwortet er rasch und zutreffend. Seine Redeweise ist zusammenhängend, der Gedankengang ist klar und fehlerlos und von ausreichenden, gefühlsbetonten Bewegungen unterstützt. Auch fehlen Anzeichen von Trugschlüssen. Weiter muß hier festgestellt werden, daß die gegenwärtige Untersuchung durch Lt. Gilbert Ph. D. bestätigt, daß Heß' Intelligenz normal und in einigen Fällen überdurchschnittlich ist. Seine Bewegungen sind natürlich und ungezwungen.

Heß bringt keine wirre Phantasien vor, noch gibt er irre Erklärungen über seine Magenschmerzen oder seinen Gedächtnisschwund ab, was früher von Doktor Rees bestätigt wurde, als Heß diese Erscheinungen auf Vergiftung zurückführte. Wenn Heß jetzt über die Ursache seiner Schmerzen und seines Gedächtnisschwundes befragt wird, gibt er zur Antwort, daß die Ärzte dies wissen müßten. Nach seinen eigenen Aussagen kann er sich an sein Vorleben kaum erinnern. Die Lücken in Heß' Erinnerungsvermögen können nur auf Grund seiner subjektiv wechselnden Behauptungen über seine Unfähigkeit, sich dieser oder jener Person, dieses oder jenes Vorfalls zu erinnern, festgestellt werden. Nach seinen eigenen Worten ist alles, was er gegenwärtig weiß, bloß dem entnommen, was er angeblich in letzter Zeit von seiner unmittelbaren Umgebung erfahren oder in den vorgeführten Filmen gesehen hat.

[178] Am 14. November hat Heß die Einspritzung von Betäubungsmitteln verweigert, die ihm zwecks einer Analyse seines psychologischen Zustandes angeboten wurde. Am 15. November verweigerte er nachdrücklich und bestimmt eine ihm von Professor Delays angebotene Narkose mit der Begründung, daß er überhaupt alle Maßnahmen zur Heilung seines Gedächtnisschwundes erst nach Beendigung des Prozesses ergreifen würde.

Die obigen Ausführungen erlauben nach unserer Überzeugung die Schlußfolgerungen, daß Heß' Abweichungen von normalem Verhalten folgende Formulierung zuläßt:

1. In der psychologischen Persönlichkeit Heß' lassen sich keinerlei Veränderungen feststellen, die für fortschreitende Schizophrenie typisch wären; aus diesem Grunde können auch die Zwangsvorstellungen, unter welchen er in England zeitweise gelitten hat, nicht als Ausdruck schizophrenen Irreseins angesehen werden; sie sind vielmehr als Ausdruck einer psychogenen paranoischen Reaktion zu werten, d.h. die psychologisch verständliche Reaktion einer labilen Person auf seine Lage (Mißerfolg seiner Mission, Verhaftung, Gefängnis). Eine solche Auslegung Heß' wirrer Angaben in England wird durch ihr Verschwinden, Wiederauftauchen und neuerliches Verschwinden bestätigt; sie hängen von äußeren Umständen ab, die Heß' Geisteszustand beeinflußten.

2. Heß' Gedächtnisschwund ist nicht die Folgeerscheinung einer geistigen Erkrankung, sondern kennzeichnet sich als hysterischer Gedächtnisschwund; seine Grundlage ist eine Neigung zu Selbstverteidigung, die teilweise im Unterbewußtsein liegt, teilweise überlegt und bewußt gefördert wird. Solch eine Haltung endet häufig, wenn die hysteriche

Person vor die unvermeidliche Notwendigkeit gestellt wird, sich richtig zu benehmen. Es ist daher durchaus möglich, daß Heß' Gedächtnisschwund endet, wenn er vor dem Gerichtshof zu erscheinen hat.

3. Vor seinem Flug nach England hat Heß an keinerlei Geistesstörung gelitten und ebensowenig ist er derzeit mit einer solchen behaftet. Gegenwärtig trägt er ein hysterisches Verhalten mit Zeichen eines vorsätzlich-bewußten (simulierten) Charakters zur Schau, das ihn aber nicht von seiner Verantwortlichkeit im Sinne der Anklage befreit.


Unterschrift: PROFESSOR KRASNUSHKIN

Doktor der Medizin


Unterschrift: PROFESSOR E. SEPP

Wissenschaftler

Ordentliches Mitglied der Medizinischen Akademie


[179] Unterschrift: PROFESSOR Dr. med. KURSHAKOV

Chefarzt des Gesundheitskommissariats der USSR


17. November 1945.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 177-180.
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