6. Im Hafen des theologischen Lehramtes.

[41] So trat denn Graetz den 1. Juli 1853 in den Dienst der in Vorbereitung begriffenen Anstalt mit der Zusicherung, falls Statuten und Plan die behördliche Genehmigung finden sollten, woran übrigens nicht zu zweifeln war, als einer der Hauptlehrer neben Frankel Verwendung zu finden. Zu gleicher Zeit verließ sein Buch die Presse und trat vor die Öffentlichkeit unter dem Titel »Geschichte der Juden vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmud«. Auf einem Nebentitelblatt war es zugleich bezeichnet als: »Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Vierter Band«, damit von vornhinein ankündigend, daß schon mehr als der Plan und Umriß zu einer Gesamtgeschichte in seinem Geiste feststehe, und daß er eben nur mit dem vierten Band als dem erstgeborenen Buch seiner Geschichte zuerst herauskomme.

Es zeigte sich als ein glücklicher Wurf, daß unser Verfasser [41] mit der Darstellung der talmudischen Zeit debutiert hatte. Es findet sein Gegenstück, insofern man beides überhaupt miteinander vergleichen kann, nur noch in der Biographie Raschi's, mit der Zunz, der Schöpfer der jüdischen Wissenschaft, seine bedeutsame Wirksamkeit eröffnet hatte. Wie es dort die Zeitgenossen enthusiasmiert haben soll, daß der von Kindheit auf ihnen vertraute, als unentbehrlicher Berater und Gefährte hochgehaltene Interpret für Bibel und Talmud aus dem verschwimmenden Nimbus eines überirdischen Glorienscheines heraus in die menschliche Wirklichkeit hinübertrat, so hat es eine ähnlich elektrisierende Wirkung geübt, als die nebelhaft dunkle Zeitepoche, in der die Grundbücher des nachbiblischen Judentums, Mischnah und Talmud, entstanden sind, mit einemmal unter helle Beleuchtung gestellt ward und die rabbinischen Urheber dieser Werke, deren Namen und Sinnsprüche allen geläufig waren, leibhaftig vorgeführt wurden. Diese Männer, welche man bis dahin nur für verkörperte Lehrsätze anzusehen gewohnt war, von denen man nicht viel weiter wußte, als daß sie sagten, fragten und zuweilen auch klagten, welche man sich wie eine Art polnischer Wanderrabbis oder Kabbalisten vorzustellen allenfalls geneigt war, – sie tauchten unter der Feder unseres Historikers aus dem wesenlosen Schein hervor; in ihren Adern pulsiert frisches Leben und heißes Blut, deutlich heben sich die scharfgeschnittenen Physiognomien in ihrem geistigen Gegensatz, mit ihren charakteristischen Vorzügen und Schwächen von einander ab. In bunter Mannigfaltigkeit stehen sie vor uns da als echte Ritter vom Geist, antike Charaktere von glühendem Patriotismus, von unbeugsamer Willenskraft und unverwüstlicher Glaubenshoffnung. Ebenso lebhaft und anschaulich wird die geistige Atmosphäre der Zeit nach ihren Stimmungen und Spannungen, Gärungen und Kämpfen geschildert, wie die Ideen, Parteiungen, Meinungen und Strebungen wirr und heftig durcheinander wogen und sieden, und wie daraus die treibenden Kräfte hervorgehen, welche durch das Spiel von Stoß und Gegenstoß den Ereignissen ihren geschichtlichen Verlauf bestimmen. Den Herzschlag der Zeit will Graetz hörbar und fühlbar machen. Darum kümmert es ihn wenig, ob Stil und Ausdruck immer schulgerecht bleiben, er scheut in seinen Worten nicht den schroffen Ton und in seinen Bildern [42] nicht die satte, starke Farbe. Ohne Rücksicht auf irgend welche Empfindlichkeit wählt er die deutlichste, schlagendste Bezeichnung, um gemeinverständlich zu sein, um über seine Ansicht keinen Zweifel aufkommen zu lassen, um die Gestalten und Begebenheiten, wie sie in seinem Kopfe sich malen, in klarem Umriß und am richtigen Platz auf der Bildfläche hervortreten zu lassen. Es war begreiflich, daß das Buch bei seinem Erscheinen großes Aufsehen machte und sich sofort sein Publikum eroberte, bei dem es Gunst und Beifall in reichem Maße fand. Dagegen verhielten sich die gelehrten Fachgenossen zum größten Teil anfangs zurückhaltend. Sie stutzten über die neuen Momente, die, wie z.B. die christlichen Sekten bildungen, zur Vervollständigung des Gesamtbildes ungescheut herangezogen wurden, und konnten sich nicht hineinfinden, daß moderne Schlagworte und feuilletonistische Wendungen auf jene alten Verhältnisse übertragen wurden.

Wenn der Verfasser beispielsweise Nachum aus Gimso, dem die vielen Widerwärtigkeiten seines Lebens immer zum Guten ausgeschlagen seien, als den »Candide«19 der tannaitischen Sagenwelt bezeichnet, wenn er die Details des Bar-Kochbaschen Aufstandes, dessen Kapitel zu den schönsten und ergreifendsten Partien seines Geschichtswerks gehören, aus einzelnen Namen und versprengten Trümmerstücken zu rekonstruieren sucht und sogar von zwei Verteidigungslinien, der Esdrelonlinie und der Tur-Malkalinie spricht,20 wenn er dem gefeierten R. Jehudah ha-Nassi »reizbare Empfindlichkeit« zuschreibt,21 wenn er, den talmudischen Berichten vertrauend, den Römern die zivilisatorische Mission in Asien abspricht und sie namentlich für Vorderasien als Kultur zerstörend, Moral vergiftend schildert, so waren die Kritiker und Sachkundigen damals mit sich noch nicht im Klaren und wagten nicht zu entscheiden, ob hier die Kühnheit einer genialen Originalität durchbricht, oder nur die Unmanier einer phantastischen Effekthascherei sich aufspielt, deren falscher Flitter die Probe der Zeit nicht bestehen würde. Es kam noch hinzu, daß die religiösen Parteien, welche unter den welterschütternden Ereignissen von 1848 und deren Nachwirkungen wohl den öffentlichen und [43] lauten Streit eingestellt, aber in der Schärfe ihres Gegensatzes innerlich nicht nachgelassen hatten, scheel und unbefriedigt auf ein Buch blickten, das nur der Wahrheit dienen wollte und für keine andere Tendenz sich verwerten ließ. Die Anhänger der Reform warfen dem Verfasser vor, daß er den Talmud und seine Lehrer nur zu glorifizieren wisse, hingegen den wundesten Punkt, daß sie »die Versteinerung und Verknöcherung des Judentums« verschuldet hätten, mit keiner Silbe berühre,22 während die Stockorthodoxen darüber ungehalten waren, daß er die Träger der Tradition einer ihrer Anschauung nach unbefugten Kritik unterzieht und den traditionellen Lehrbegriff als das Produkt historischer Prozesse nachzuweisen sich bestrebt.23

Darüber freilich gab es nur eine Stimme, daß die jüdische Wissenschaft in Graetz einen hervorragenden, vielverheißenden Forscher gewonnen habe und daß dieser über eine ganz staunenswerte Gelehrsamkeit und Originalität verfügte. Man konnte ihm die Anerkennung nicht versagen, daß er durch seine Beherrschung der beiden Talmude und des gesamten Midrasch, durch seine Vertrautheit mit den Schriftwerken der Kirchenväter, durch die geschickte Methode, beide disparate Literaturkreise für kritische Punkte miteinander zu konfrontieren und sich gegenseitig beleuchten zu lassen, durch die glückliche Kombinationsgabe, etwaige über abgelegene Literaturgebiete verstreute Notizen, die überdies häufig noch einer Reparatur bedurften, als Ergänzungsstücke heraus zu erkennen und aneinander zu fügen, durch den scharfsinnigen Spürsinn, mit dem er verschollene geographische Namen und verwitterte Bezeichnungen, welche verschüttet und vergessen in irgend einem Winkel lagen, mit festem Blick herauszuheben, zu beleben und zu befruchten wußte,24 – daß er durch solche Vorzüge und Leistungen, welche durch die unvermeidlichen Verfehlungen und Verstöße im einzelnen keineswegs beeinträchtigt werden, die gelehrte Forschung wesentlich gefördert und die geschichtliche Erkenntnis erheblich bereichert hat. Wenn ein hoher Mut dazu gehörte, sich an eine der dunkelsten und schwierigsten [44] Partien der jüdischen Geschichte heranzuwagen, für welche damals in Vorarbeiten und Spezialforschungen noch überaus wenig geschehen war, so konnten auch die Gegner »nicht umhin, einzugestehen, daß er seine Aufgabe im ganzen gut gelöst«25 habe.

Allerdings wurde es als ein noch höherer Mut angesehen und vielleicht auch ironisiert, daß Graetz auf dem Seitentitelblatt und in der Vorrede seines Buches, das er als vierten Band bezeichnet hatte, ohne Scheu und Schüchternheit ankündigte, er werde von demselben Standpunkt kritischer Geschichtsforschung und in gleicher Darstellungsweise eine Gesamtgeschichte der Juden liefern. Das wollte ein einzelner Mensch fertig bringen! War ihm denn wirklich die schöpferisch gestaltende Kraft des echten Historikers gegeben? Oder wollte er sich gar den historischen Lorbeer auf Kredit reichen lassen?

Die äußeren Verhältnisse gestalteten sich nun doch für ihn immerhin günstig genug, so daß die Ausführung seines kühnen Vorhabens dadurch in hohem Grade erleichtert schien. Nicht etwa daß sich eine Gemeinde oder gar ein Mäcen gefunden, um ihm die Mittel bereit zu stellen, die zur Durchführung einer Aufgabe, wie er sie sich vorgesetzt, erforderlich waren; wie noch ganz anders hätte er dieselbe gelöst, wenn er bei seiner wunderbaren Arbeitskraft in die Lage gesetzt worden wäre, die handschriftlichen Schätze der verschiedenen Bibliotheken in aller Muße zu durchmustern und zu benutzen! Eine derartige Gunst hat bis auf den heutigen Tag der jüdischen Wissenschaft noch nicht gelächelt, und es ist, als wenn unserer Glaubensgemeinschaft, die doch sonst für alle humanen Interessen ein einsichtiges Herz und eine offene Hand hat, noch immer nicht das richtige Verständnis für diese Ehrenschuld an die Vergangenheit aufgegangen wäre. Graetz war schon zufrieden, daß die drückende Sorge um das tägliche Brot von ihm genommen war, als am 10. April 1854 Statuten, Plan und Personalien des Rabbinerseminars die Bestätigung der preußischen Regierung erlangten. Wiederum siedelte er nach Breslau über, wo sein literarischer Stern zuerst aufgetaucht war und er sich einstmals vergebens bemüht hatte, festen Fuß zu fassen, um fortab als ordentlicher Lehrer an der ersten [45] jüdisch-theologischen Bildungsanstalt, die am 10. August 1854 unter der Direktion Frankels eingeweiht und eröffnet wurde und den Namen »Jüdisch-theologisches Seminar, Fränckelsche Stiftung« erhielt, eine ihm erwünschte Lebensstellung einzunehmen.

Es war eine providentielle Fügung, daß drei Männer von so ungewöhnlicher Bedeutung wie Frankel, als Direktor der neuen Anstalt, Graetz und Jakob Bernays, als ihre ordentlichen Lehrer, dazu berufen waren, die theologische Bildung des Rabbinentums in die moderne Richtung hinüberzuleiten. Jeder von ihnen hatte seine ausgeprägte Eigenart, jeder von ihnen war ein homo trium litterarum in dem Sinne, daß sie, ein jeder nach Vortritt und Maßgabe seines Spezialstudiums, das hebräisch-rabbinische, das antike und das moderne Schrifttum beherrschten, jeder von ihnen hatte sich durch ernstes und tiefes Denken zu einer konservativen Auffassung des Judentums durchgerungen. Jakob Bernays,26 ein Meister der klassischen Philologie von weithin reichendem Ruf, besaß unstreitig das wirkungsvollste Lehrgeschick, das jedoch begabte Schüler hauptsächlich zu seiner Voraussetzung forderte, Frankel wirkte durch organisatorische und praktische Befähigung und übte eine Autorität, welche die Zöglinge in religiöser, wie wissenschaftlicher Richtung auf das Heilsamste beeinflußte; beide hatten jedoch das Streben, ihre wissenschaftliche Sonderart dem Schüler aufzuprägen, wohingegen Graetz auf jede Individualität achtete und seine Lehrtätigkeit besonders auf die Anregung, Befruchtung und Aufmunterung seiner Hörer zu richten pflegte. Während Frankel gern die straffe Ordnung und minutiöse Sorgfalt des elementaren Schulwesens auf sein theologisches Seminar übertragen wollte,27 weil ihm am Herzen lag, tüchtige Talmudisten und praktische Rabbiner auszubilden, und Bernays wiederum den romantischen Schimmer einer theologischen Fakultät im Auge hatte [46] und theologische Gelehrte heranzuziehen wünschte, war Graetz mit richtigem und gesundem Takt bemüht, zwischen beiden Gegensätzen zu vermitteln und eine Mittelrichtung für die Anstalt anzustreben. Obschon nun Frankel mit fester Hand das direktoriale Steuer führte, war er doch einsichtig und wohlwollend genug, auf klugen Rat zu hören und den Wünschen und Anschauungen seiner Mitarbeiter Rechnung zu tragen, so daß das Lehrerkollegium sich immerdar im besten Einvernehmen befand, was auch auf die Jünger wohltuend zurückwirkte.

Neben Frankel, der mit Fug und Recht, so lange er lebte, amtlich und moralisch eine dominierende Stellung behauptete, der im Aufblühen der Anstalt den Ruhm seines Tagewerks sah, und da er kinderlos war, in seinen Schülern seine Kinder erblickte und sich ihrer aller wahrhaft väterlich annahm, war es Graetz, der seine Räume seinen Hörern gastlich öffnete, jedem von ihnen, der bei ihm um Hilfe und Rat nachsuchte, bereit und willig zur Verfügung stand und namentlich zugunsten derer, die seine Sympathie besaßen oder von deren Fähigkeit und Charakter er eine gute Meinung gefaßt, mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Temperaments sich einzusetzen liebte. Durch die Dozentur an dem Breslauer Seminar, mit dessen Interessen er sich ebenso wie Frankel identifiziert hatte, war er endlich nach vielen Querzügen und nach mancherlei Jahren von sorgenvoller Ungewißheit in das erwünschte Fahrwasser gekommen, in dem er in voller Unabhängigkeit alle Segel seines geistigen Wesens aufspannen und mit aller Kraft sich hinter die Ruder legen konnte, um geschwellt von dem frohen, hoffnungsvollen Mut seiner sanguinischen Art, begünstigt von Wind und Flut, dorthin zu steuern, wohin ihn der Zug seiner Natur trieb. Jetzt fielen endlich äußere Amtspflicht und innere Berufsneigung für ihn zusammen; indem er den Dienst, für den er bestellt war, treu und eifrig besorgte, förderte er zugleich das Werk, das er als Lebensziel sich vorgesetzt und das nun in regelmäßiger, ununterbrochener Folge seiner vollen Verwirklichung entgegenschritt.

Im Jahre 1856 erschien der dritte Band »Geschichte der Juden von dem Tode Juda Makkabis bis zum Untergang des jüdischen Staates«, um dadurch seine Auffassung der talmudischen Epoche, mit der er »als der am wenigsten innerlich [47] verstandenen« begonnen hatte, zu ergänzen und zu begründen, und um zugleich den ganzen Boden klar und fest zu stellen, in welchem die Wurzeln für die jüdische Geschichte des diasporischen Zeitraumes liegen. Die Geschichte der Diaspora bis auf die neueste Zeit herab wollte er nämlich zuerst erledigen, und so war er wieder, wie er in der Vorrede zu dem darauf folgenden Band erklärte, »in das rechte Geleis eingefahren«, als er im Jahre 1860 den fünften Band veröffentlichte: »Geschichte der Juden vom Abschluß des Talmud (500) bis zum Aufblühen der jüdisch-spanischen Kultur (1027)«.

Nun mußte jeder Zweifel schwinden, es war dem Judentum nach langen Jahren ein echter Historiker erstanden.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1908], Band 1, S. 41-48.
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