[29] Mit dem eklatanten Mißerfolg in Oberschlesien waren zugleich alle anderen derzeitigen Aussichten für ihn rettungslos versunken. Bald stand wiederum die Sorge um das tägliche Brot neben seinem Stuhl, ohne daß seine Kraft bei diesem harten Kampf wie früher durch freundliche Hoffnungsblicke in die Zukunft gespannt und gehoben wurde. Am meisten nagte der Vorwurf an ihm, daß er noch ein anderes geliebtes Wesen in seine Aussichtslosigkeit hineingerissen habe. Da war es hoher Frauensinn, der in der reinen Hingebung an den geliebten Mann nicht wankte, seine müde Seele durch Trost und Zuspruch erquickte und den in seinem Gemüte wühlenden Aufruhr stillte. Erfrischt und angeregt wurden seine Lebensgeister wieder aufs neue durch eine Einladung [29] seitens Zacharias Frankels, sich einer Versammlung konservativer Richtung anzuschließen, die der letztere im September 184612 nach Dresden berufen wolle, um über religiöse Tagesfragen zu beraten und zugeschlossenem Vorgehen sich zu einigen.
Dr. Zacharias Frankel hatte zu Dresden gleich am Anfang seiner Laufbahn eine überaus wirkungsvolle Tätigkeit entfaltet, um den politischen Druck, der in der sächsischen Heimat auf seinen Glaubensgenossen lastete, inssonders betreffs der Eidesleistung, zu mildern; trotzdem war er wesentlich eine wissenschaftliche Natur. Mit einer umfassenden Kenntnis des Talmuds ausgestattet und ihn kritisch durchdringend, war er der erste, der den Grund zu einer modernen Erforschung dieses Schriftwerkes legte; er hatte es sich zur Lebensaufgabe gestellt, das klassische Studium des Talmuds zu begründen und die Halachah nach ihrer Entwickelungsgeschichte zu verfolgen. Schon seine schriftstellerischen Erstlingswerke verrieten in der gründlichen, peinlich sorgfältigen und zuverlässigen Art ihrer Forschung den ernsten und hervorragenden Gelehrten und sicherten ihm in der wissenschaftlichen Welt ein hohes und unbestrittenes Ansehen.
Als die reformatorischen Bestrebungen innerhalb der deutschen Judenschaft in immer lebhafteren Fluß gerieten und immer größere Wellenringe zogen, als man einerseits Rabbinerversammlungen plante, um die angestrebten Neuerungen in ein System zu bringen und zu sanktionieren, und man anderseits aus Mißtrauen gegen die Stimmführer fürchtete, daß durch die Beschlüsse und Kundgebungen einer derartigen Versammlung bedenklicher Zündstoff in die Gemeinden geworfen werden würde, hielt Frankel es für geboten, seine bisherige Zurückhaltung aufzugeben und in die religiöse Bewegung mit einzugreifen. Er trat daher 1844 mit einer »Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums« hervor, welche vierteljährlich erscheinend, einen streng wissenschaftlichen Charakter tragen und zugleich die religiösen Tagesfragen behandeln sollte. Ein Theologe von Besonnenheit, Welterfahrung und Duldsamkeit, vertrat er den Standpunkt,[30] daß auch im Glaubensleben die veränderten Zeitverhältnisse berücksichtigt werden müßten, daß aber diese Berücksichtigung den historischen Boden nicht verlassen dürfe, und daß alle Neuordnung aus der wissenschaftlichen Erkenntnis des Wesens und der Tradition des Judentums heraus zu erfolgen habe. Das war nun ganz nach dem Sinne von Graetz, und er hatte sich kaum ein Jahr darauf öffentlich bemerkbar gemacht, als er Beziehungen zu Frankel suchte, der dieser Annäherung bereitwilligst entgegenkam und den jungen Gelehrten zur Mitarbeiterschaft an seiner Quartalschrift aufforderte. Graetz antwortete darauf mit der Übersendung eines höchst geistvollen und anregenden Aufsatzes: »Die Septuaginta im Talmud«, wobei die ihm eigene Weise, Talmud und Midraschstellen untereinander und mit den Angaben und Anführungen der Kirchenväter zu vergleichen, das historische Element des talmudischen Berichtes dadurch zu fixieren und Kombinationen daran zu knüpfen, klar zutage tritt.
In demselben Jahr 1845 war Frankel auf der zweiten zu Frankfurt a.M. tagenden Rabbinerversammlung mit der Hoffnung erschienen, in mäßigendem und vermittelndem Sinne auf die Beratungen und Beschlüsse einwirken zu können; er gab jedoch diese Hoffnung auf, als die Versammlung den Beschluß faßte, daß das Hebräische als Gebetssprache beim Gottesdienst nur »ratsam«, nicht »objektiv-notwendig« sei. Er trat mit Eklat aus der Rabbinerversammlung aus und rechtfertigte seinen Schritt in einer ebenso würdigen wie entschiedenen Erklärung. Frankels Auftreten fand allseitige und lebhafte Anerkennung, es rüttelte geradezu die gesetzestreuen Gemüter der verschiedensten Schattierungen auf, aus zahlreichen und angesehenen Gemeinden wurde ihm durch huldigende Dankadressen die volle Zustimmung zu seinem entschlossenen Vorgehen ausgedrückt. In Breslau hatte Graetz eine begeisterte Adresse abgefaßt und in Umlauf gesetzt; dieselbe bedeckte sich schnell mit Unterschriften, und Graetz konnte sich dabei den malitiösen Scherz nicht versagen, notorische Anhänger von Geiger, der den Austritt Frankels sehr übel vermerkt und durch dessen Erklärung sich zu schmähendem Wort hinreißen ließ, mit Erfolg zur Unterzeichnung heranzuziehen.
Warum wohl Frankel damals die ihm günstige Stimmung und Gelegenheit nicht sofort benutzte, um eine große gemäßigte [31] Partei um sich zu sammeln? Erst im folgenden Jahre 1846 unternahm er einen Versuch in dieser Richtung, indem er an die konservativen Theologen moderner Gesinnung Einladungen zu einer Zusammenkunft in Dresden ergehen ließ, vielleicht um der reformatorischen dritten Rabbinerversammlung, welche im Juli desselben Jahres zu Breslau zusammentreten sollte, ein wirksames Paroli bieten zu können. Aber selbst dieser Versuch ist von Frankel nicht mit der nötigen, sonst an ihm bemerkbaren Energie durchgeführt worden. Als Graetz im September 1846 in Dresden eintraf, fand er zu seinem Erstaunen niemanden vor. Samson Raphael Hirsch, damals Landrabbiner von Emden, hatte von vornherein abgelehnt, weil er den modernen Rabbinen die innere wie äußere Berechtigung zu Eingriffen in den religiösen Kult absprach. Rapoport in Prag hatte aus unbekannten Gründen abgesagt, ihm lagen eben nur wissenschaftliche Interessen am Herzen. Michael Sachs in Berlin war durch amtliche Abhaltungen entschuldigt. Den meisten anderen war die Zeit und der Ort zur Zusammenkunft nicht gelegen gewählt. Frankel wiederum war ein vornehmer Geist, dem es widerstrebte oder nicht gegeben war, die Werbetrommel kräftig zu rühren, durch Agitation oder Reklame Stimmung zu machen und eine Partei an sich zu locken oder gar zu fanatisieren; nur der Gerechtigkeit seiner Sache wollte er vertrauen, er verschmähte die kleinen Mittel und Kunstgriffe, um ausschließlich die Macht der Überzeugung wirken zu lassen. Es mußte naturgemäß einen tiefen Eindruck auf ihn hervorbringen, als er wahrnahm, wie Graetz der einzige war, der seinem Ruf so unbedingte Folge leistete. Beide Männer, so verschieden an Alter, Natur und Anlage, doch eins in ihren Anschauungen und Zielen, waren nun durch die persönliche Berührung einander näher getreten, und sie schlossen, wenn auch unausgesprochen, eine für das Leben vorhaltende Waffenbrüderschaft.
Graetz war jedenfalls entschlossen, von nun an bei aller Wahrung seiner Selbständigkeit seine theologische Stellung an der Seite von Frankel zu nehmen; hatte er doch erkannt, daß er in seinen religiösen Überzeugungen gerade diesem sich am meisten nähere. Der letztere hatte dasselbe seinerseits dadurch anerkannt, daß er Graetz auf seinen Wunsch die formelle Autorisation zur Ausübung rabbinischer Funktionen (הארוה תרתה) erteilte.
[32] Frankel stellte übrigens mit dem Ende 1846 die Herausgabe seiner Zeitschrift ein, um seine Kraft für künftige, bessere Zeiten aufzusparen. Zu diesem dritten und letzten Jahrgang seiner Zeitschrift hatte Graetz neben einzelnen Rezensionen noch einen seiner bedeutsamsten Aufsätze beigesteuert, welcher in mehreren Artikeln »Die Konstruktion der jüdischen Geschichte« behandelt. Frisch und lebhaft im Ausdruck, reich an schönen Gedanken, die selbst von Homileten mannigfach ausgemünzt wurden, zeichnet die Abhandlung mit klaren und scharfen Strichen die Grundlinien und Gesichtspunkte, welche für eine Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte maßgebend sein sollen; indes ist der Verfasser noch allzusehr in der philosophischen Schulsprache und Denkweise seiner Zeit befangen, so daß er sich verleiten läßt, die Transzendenz Gottes auf Kosten der monotheistischen Idee unverhältnismäßig in den Vordergrund zu stellen.
So bedeutendes Ansehen Graetz durch seine gelehrten Arbeiten besonders in theologischen Kreisen sich erworben hatte, er spähte vergebens überall nach einem Punkte aus, an dem er die Wurzeln einer festen, wenn auch nur bescheidenen Lebensstellung einschlagen konnte. Endlich schien sich der Horizont doch lichten zu wollen, es winkte ihm die Aussicht, den eigenen Herd begründen zu können, leider eine Fata morgana. Die orthodoxe Partei in Breslau hatte nämlich Ende 1846 ihre Aktion wieder energisch aufgenommen, erkannte den Sohn des verstorbenen Salomo Tiktin, Gedalja Tiktin, der an seine Vorfahren und Vorgänger geistig bei weitem nicht heranreichte, als ihren Rabbiner an und ging damit vor, eine Religionsschule in ihrem Sinne einzurichten; zu ihrer Organisation und Leitung ward Graetz berufen.13 Wohl war die Breslauer Gemeinde aufgelöst, indem die orthodoxen Elemente sich von dem Synagogenverband getrennt hatten, indessen gab es für die Separatisten kein rechtsgiltiges Bindemittel, um sich als korporative Genossenschaft zusammenzuschließen. [33] Überdies war am 23. Juli 1847 das Gesetz für die Verhältnisse der Juden in Preußen erschienen, und es war noch nicht abzusehen, wie sich die Zustände unter der Herrschaft des neuen Gesetzes gestalten würden. Einzelne wohlhabende Privatleute übernahmen daher die Verantwortlichkeit, um die verschiedenen Vertragsverhältnisse, vornehmlich betreffs der Religionsschule, zu ordnen. Da fegten die politischen Stürme des Jahres 1848 über die preußischen Lande hin. Wirtschaftliche Erschütterungen traten ein, noch schwerere wurden befürchtet, und in der Furcht davor zogen jene Privatleute ihre Bürgschaft zurück. Daraufhin erfolgte der Zusammenbruch der orthodoxen Religionsschule, in jenen Kreisen das erste Opfer der politischen Sturmflut, deren Wellenringe ihre zerstörende Wirkung bis in die entferntesten Lebensbeziehungen hinüberspielten. Graetz stand abermals auf der Straße, ohne Beschäftigung, ohne Brot.
Damals richteten sich aller Augen nach Wien, wo die Volksbewegung große Dimensionen angenommen und überraschende Erfolge errungen hatte; dort stand die Demokratie in Waffen, hatte sich der österreichischen Hauptstadt bemächtigt, und man knüpfte große Hoffnungen daran, daß das Waffenglück daselbst zugunsten der demokratischen Partei entscheiden würde. Durch Vermittlung eines Studienfreundes, des Dr. B. Friedmann,14 der später als Rabbiner in Mannheim fungierte, in jenen Tagen aber als wirksamer Volksredner in Breslau sich hervorgetan und bei der Redaktion der demokratischen Oderzeitung mitwirkte, wurde an Graetz das sonderbare Anerbieten gestellt, als Berichterstatter für die genannte Zeitung sich nach Wien zu begeben.15 Ratlos, wie er war, geht er, obschon mit innerem Widerstreben, auf diesen Vorschlag ein.
Auf der Reise nach Wien drängte es ihn, einen Abstecher [34] nach Nikolsburg zu machen, um dort seinen früheren Lehrer Samson Raphael Hirsch, aufzusuchen, der indessen das Landrabbinat von Emden mit dem in Nikolsburg vertauscht hatte. Graetz war auch nach seinem Abgang von Oldenburg mit dem Landrabbiner stets in brieflichem Verkehr und freundschaftlicher Beziehung geblieben; obgleich er den starr traditionellen Standpunkt von Hirsch nicht teilte und seiner theologischen Bedeutung nicht mehr wie vormals mit enthusiastischem Gemüt, sondern mit kritischer, nüchterner Beurteilung gegenüberstand, so war doch die Neigung und Verehrung für den ehemaligen Lehrer in ihm nicht etwa verdampft, er wollte nach langen Jahren ihn wieder sehen und sprechen. Hirsch, der ebenfalls eine entschiedene Sympathie für seinen früheren Schüler hegte, trug Bedenken, ihn nach dem dermals so heißen Boden Wiens ziehen zu lassen, und Graetz, der wenig Lust und Beruf zu politischer Berichterstattung in sich spürte, ließ sich gerne zum Bleiben bereden und nahm vorläufig mit einer untergeordneten Stellung an der Nikolsburger Religionsschule vorlieb. Im Hintergrund stand freilich die Anwartschaft auf einen Lehrerposten an einem von Hirsch projektierten Rabbinerseminar, dessen Schöpfung diesen ganz ernstlich beschäftigte. Hirsch hatte sich lange mit dem Gedanken getragen, – der übrigens den hervorragenden Rabbinen jener Epoche, in dem Wunsch, eine theologische Schule ihrer Richtung zu bilden, fast durchwegs als Ziel vorschwebte, und als brennende Frage auf der Tagesordnung stand, – eine jüdisch-theologische Bi dungsanstalt ins Leben zu rufen. Es nahm den Anschein, daß dieser Plan in Nikolsburg, wo von jeher eine vielbesuchte Talmudschule blühte, sich um so leichter würde verwirklichen lassen, als man eben an eine schon vorhandene Institution nur anzuknüpfen, dieselbe umzugestalten und ihr neuen Geist einzuflößen brauchte. Graetz wurde sogleich von seinem Gönner veranlaßt, den im Talmud bewanderten und bisher nur dialektisch geschulten Jünglingen Vorlesungen über jüdische Geschichte zu halten. Es war natürlich, daß er zu seinen Vorträgen für derartige Talmudschüler die Zeit der Mischnah und des Talmuds wählte, eine Geschichtsperiode, mit der er sich schon beschäftigt hatte und der er jetzt für den vorliegenden Zweck die sorgfältigsten Studien widmete.
Trotz allen Eifers, den er seinen Vorträgen und Studien [35] zuwandte, sah er sich in seinen eigentlichen Erwartungen enttäuscht, und das Peinliche seiner prekären Lage verschärfte sich im Laufe der Zeit noch mehr. Die Fanatiker des Nikolsburger Ghettos hatten selbst an dem gesetzestreuen Verhalten des Landrabbiners vielerlei auszusetzen, sein Jünger wandelte vollends unter ihnen als eine fremde, unheimliche Erscheinung. Denunziationen verdächtigten ihn bei den Lokalbehörden wegen seiner demokratischen Gesinnung; damit traf ihn der schwerste Makel, mit dem besonders ein Ausländer in dem damaligen Österreich behaftet werden konnte, und es bedurste des ganzen Aufgebotes seiner Freunde, um arge Ungelegenheiten und eine sofortige Ausweisung von ihm abzuwehren. Die Schöpfung einer Rabbinerschule, auf welche Graetz wie auf eine letzte Karte alle seine Hoffnungen gesetzt hatte, erwies sich immer mehr als eine leere Seifenblase; ob die Orts- und Zeitverhältnisse dem Projekt ungünstig waren, ob Hirsch aus anderen Gründen den Plan fallen ließ, steht dahin.16 In den freundschaftlichen Beziehungen beider Männer war auch allmählich eine leise Erkaltung eingetreten. Graetz begrüßte es daher wie eine Erlösung aus unhaltbaren Zuständen, als ihm aus dem im Nikolsburger Bezirk gelegenen Lundenburg, einem Städtchen in der Nähe Wiens, seitens des Vorstandes der Antrag gemacht wurde, die Organisation und Leitung der dortigen Gemeindeschule zu übernehmen. Man verständigte sich schnell, und am 12. September 1850 erfolgte seine Anstellung als Dirigent und Oberlehrer der jüdischen Schule zu Lundenburg.
Es war ein bescheidenes Amt, in dessen Dienst er sich stellte, und ein mäßiges Einkommen, mit dem er zu rechnen hatte. [36] Allein es bot ihm doch immerhin die Möglichkeit eine häusliche Existenz zu begründen und bis zu einem gewissen Grade seine Individualität frei zu entfalten.
Ehe er in das Amt trat, eilte er in die alte Heimat zurück, um die treue, der Vereinigung mit ihm geduldig entgegenharrende Braut, welche von fehlgeschlagenen Erwartungen nicht entmutig, den Glauben an ihn niemals verloren hatte, Anfangs Oktober 1850 unter den Trauhimmel zu führen.17 Er hätte keinen besseren und tapfereren Kameraden finden können, als die Gattin, die ihm nach seinem neuen Heim folgte. Sie hat ihm durch ihr harmonisches, maßvolles und liebreiches Wesen nicht nur das Haus geschmückt und die umwölkten Tage aufgeheitert, sondern auch das Ungestüm seines Temperament, gemäßigt und die Neigung seines Wortes zu scharfen, kaustischen, herausfordernd klingenden Akzenten abgemildert. Sie verstand sich auf die Bedürfnisse seiner Seele, in der es zuweilen wie ein Klang unbestimmter und ungestillter Sehnsucht hindurchzitterte Es lag eben in seiner Persönlichkeit manches Inkommensurable, das sich nicht erklären ließ. Er war Dritten gegenüber ein bei aller Mitteilsamkeit verschlossener Charakter, der die geheimen Regungen seines Gemütes tief in sich verbarg, so daß er stets äußerlich durchaus ruhig und gemessen erschien und niemand ahnte, welche Gedanken und Erregungen in seinem Inneren unter der ruhigen Oberfläche oftmals stürmisch durcheinanderwogten. Trotzdem bedurfte er, um sein äußeres Gleichgewicht stets zu behaupten, einer Aussprache, in welcher die leicht erregbare, innerlich stark reagierende Stimmung seines schnell unter hohen Spannungsdruck gesetzten Gemütes sich zu entladen und zu läutern pflegte. Solchem Zwecke mögen wohl die Blätter seines Tagebuchs gedient haben, da sie zumeist unter dem Druck eines hochgespannten Affektes geschrieben sind. Mit dem Tage seiner Verheiratung beginnen diese Aufzeichnungen immer spärlicher zu fließen, bis sie schließlich ganz versiegen. Hatte er doch in seiner Lebensgefährtin die sympathische Seele gefunden, [37] welche ihm mit unbegrenzter Verehrung und Teilnahme ergeben war, in deren Empfindung sein Denken und Fühlen einem vollen und meist geklärten Widerhall begegnete. Und wie sein seelisches Leben, so teilte sie auch sein geistiges Streben, sie hat sich des Gatten wissenschaftliche Interessen zu eigen gemacht und ihm wie ein sorgsamer Hilfsarbeiter bei seiner gelehrten Beschäftigung die förderlichste Handreichung geleistet.
So ging denn der neue Schuldirigent am 15. Oktober 1850 in Lundenburg mit Eifer und Lust an seine Tätigkeit, dirigierte, klassifizierte, hielt feierliche Ansprachen und unterrichtete. Wie es scheint, fehlte auch der Erfolg nicht, denn er fand ermunternden Beifall. Im Schatten seiner kleinen, aber glücklichen Hütte nahm er seine literarischen Pläne und Arbeiten wieder auf, hatte er ja für seine Vorträge in Nikolsburg ein reiches Material über die talmudische Zeit gesammelt, das er nun verwerten wollte.
Es dauerte jedoch nicht lange so mischten sich trübe Schatten in den idyllischen Zustand. Mit Hirsch war es fast zu einem Zerwürfnis gekommen. Als das junge Ehepaar in Nikolsburg bei ihm seinen Antrittsbesuch machte, verlangte dieser von der jungen Frau, daß sie, einem talmudischen Brauch zufolge, ihr schönes Haar mit einer Art Perücke, einem sogenannten Scheitel, verdecken möge, wogegen dieselbe sich mit dem ganzen Stolz einer gekränkten Frauenseele zwar höflich, doch entschieden verwahrte; auch Graetz wies das Ansinnen energisch zurück, und man schied wenig befriedigt von einander. Schwerer und lästiger drückten die dunklen Nebel, wie sie sich aus dem trüben Dunstkreis des engen und undisziplinierten Ghettolebens, zumal in einer österreichischen Kleingemeinde, zu entwickeln pflegten. Die Eifersucht der rabbinischen Lokalgröße, eines beschränkten Talmudisten, der von Graetz' Ruhm verdunkelt zu werden fürchtete und daher ab und zu seine amtliche Überlegenheit geltend machte, krähwinkelige Rivalitäten, gegen die Notabilitäten der Gemeindestube gerichtet, welche die leitenden Personen in den Angriffen auf die von ihnen begünstigten Einrichtungen und Männer treffen wollten, ließen es Graetz in ihrem verbissenen Ingrimm empfinden, daß des Lebens ungemischte Freuden keinem Sterblichen und am allerwenigsten dem Dirigenten einer israelitischen Gemeindeschule [38] in Österreich zuteil werden. Angebereien, namentlich beim Bezirksamt, welche ihn als eingefleischten Demokraten denunzierten, machten ihm viel zu schaffen, gingen aber dieses Mal, ohne irgend welchen Schaden anzurichten, glücklich vorüber.
Das Jahr 1851 erhöhte sein Glücksgefühl, es schenkte ihm Familiensegen, eine Tochter, welche die einzige neben seinen vier Söhnen blieb, und mit der er stets in außerordentlicher Innigkeit zusammenhing. Dazu kam, daß Zacharias Frankelin selbigem Jahr die theologische Arena wieder mit einer »Monatsschrift« betrat, welche abweichend von der früheren »Zeitschrift« in erster Reihe wissenschaftlichen Interessen dienen sollte, und Graetz in ehrenvollster Weise zur Mitarbeit aufforderte. Freudig stellte er sich unter diese Fahne und veröffentlichte in schneller Folge im ersten Jahrgang der »Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums« (Oktober 1851 – Dezember 1852) eine ganze Reihe historischer Abhandlungen: »Jüdischgeschichtliche Studien«, »Rezension der Rapoportschen Enzyklopädie«, »die talmudische Chronologie und Topographie«, »die absetzbaren Hohepriester während des zweiten Tempels«, welche Abhandlungen sämtlich große Gelehrsamkeit, klaren Überblick und gereiftes Urteil bekunden. Es waren dies Vorarbeiten und Fundamente für die Darstellung der Ereignisse vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmuds, mit der er sich lange schon herumgetragen, und welche er nun in raschem Fluß niederschrieb und fertig stellte.
Mittlerweile mag wohl im Laufe des Jahres 1852 bei der Behörde des Bezirksamts ein Wechsel eingetreten sein, oder der Wind umgeschlagen haben, denn Graetz macht auf einmal wider alles Erwarten die ganz überraschende und schmerzliche Wahrnehmung, daß die unermüdlichen Ränke und böswilligen Denunziationen bei dem Bezirkshauptmann endlich doch verfangen hatten. Schwere Kränkungen und Demütigungen drohten ihm, die versuchte Gegenwehr erwies sich als aussichtslos, daraufhin kündigte er in Lundenburg sein Amt.
Es trieb ihn jetzt in das preußische Vaterland zurück, und er entschloß sich, mit seiner Familie nach Berlin überzusiedeln. Ihn leitete dabei die Hoffnung, dort für die Geschichte des talmudischen Zeitalters, die er fast druckreif beendet [39] hatte, leicht einen Verleger zu finden. Es lag auch der Gedanke nicht fern, daß er zur Ausführung seines Planes, der auf eine Gesamtgeschichte der Juden gerichtet, bereits seinem Geiste deutlich vorschwebte, einer an Bibliotheken reichen Stadt, wie Berlin, füglich gar nicht entbehren könne. In der zweiten Hälfte des September 1852 traf er in Berlin ein, woselbst ihm Dr. Michael Sachs und andere Freunde wohlwollend und dienstwillig zur Seite traten. Sachs vermittelte ihm die Bekanntschaft des vortrefflichen Dr. Veit, der den Verlag seines Buches übernahm.
Im Winterhalbjahr 1852/53 hielt er, vom Berliner Gemeindevorstand aufgefordert, neben Zunz und Sachs geschichtliche Vorlesungen für Kandidaten der jüdischen Theologie, die beifällig aufgenommen wurden. Als er um die Mitte des Februar eine dieser Vorlesungen beendet hatte, trat der mit Recht eines großen Ansehens sich erfreuende Eisenbahndirektor und Redakteur einer angesehenen Zeitschrift, des »Magazin für die Literatur des Auslands«, Joseph Lehmann aus Glogau, an ihn heran und fragte im Auftrage des Kuratoriums der Fränkelschen Stiftungen zu Breslau an, ob er eventuell in das Lehrerkollegium des in Breslau zu schaffenden Rabbinerseminars einzutreten gewillt sei, man unterhandle mit dem Oberrabbiner Dr. Frankelin Dresden wegen Übernahme der Direktion, derselbe habe unter anderen Bedingungen auch die Anstellung von Graetz als Lehrer gefordert, auf welche das Kuratorium mit Freuden eingehe und seine Erklärung wünsche. Graetz machte seine Zusage von der definitiven Entschließung Frankels abhängig, die letztere erfolgte bald hernach und die schwierigen Konferenzen über die Gestaltung des Seminars nahmen ihren Anfang.
Die Schwierigkeit bestand zunächst darin, daß gar kein Muster und Schema vorlag, an das man sich bei der Einrichtung einer rabbinischen Lehranstalt in Auswahl des Lehrplans, der Pensen und Wissenszweige anlehnen konnte, daß es sich um eine Neuschöpfung handelte, für welche es an jeder Erfahrung fehlte, und welche sofort durch praktische Ausgestaltung unter den überaus eigentümlichen Verhältnissen die Bürgschaft des Erfolges in sich tragen sollte. Überdies hatte der Stifter, Kommerzienrat Jonas Frän ckel, bei seiner Testierung einige Bestimmungen getroffen, deren Realisierung unter [40] den veränderten Zeitumständen der neuen Anstalt verhängnisvoll werden konnten.18 Es war der Geist Frankels, der mit klarer und energischer Einsicht das zu verfolgende Ziel erkannte, der den Plan, den Wissensstoff und Lehrgehalt für die künftige Anstalt feststellte und dadurch die Grundlagen für die jüdische Theologie der Gegenwart schuf. Auf seinen Wunsch, für sich und für das Kuratorium eine fachmännische Kraft jederzeit frei zur Verfügung zu haben, ging das letztere um so bereitwilliger ein, als auch sonst ein vermittelndes Element nicht ganz überflüssig erschien, da Frankel sich nur schweren Herzens von Dresden trennte und geneigt war, jeden ihm berechtigt scheinenden Anlaß zu benützen, um sein den Kuratoren gegebenes Wort zurückziehen zu dürfen. Zu solcher Aushilfe war nun Graetz vorläufig ausersehen.
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro