Rückblick. Individuelle und allgemeine Faktoren als Grundmächte des geschichtlichen Lebens. Die Ideen

[173] 99. Blicken wir noch einmal auf den Gang aller menschlichen Entwicklung, der äußeren wie der inneren, zurück, um die maßgebenden Momente schärfer ins Auge zu fassen, die uns auf allen Gebieten gleichmäßig entgegengetreten sind. Drei große Gruppen von Gegensätzen sind es, die immer wiederkehren: äußere Vorgänge und Einwirkungen und innere Bedingungen und Motive; Tradition, Stillstand und Gebundenheit an das Überkommene und Fortschritt, freie, das Alte bekämpfende und Neues schaffende Bewegung; universelle, von der homogenen Masse getragene und individuelle, von einzelnen Persönlichkeiten ausgehende Tendenzen. Die drei Gruppen fallen keineswegs zusammen; aber ihnen allen gemeinsam ist der Gegensatz zwischen der aus der inneren Eigenart sei es einer Gruppe sei es einzelner Persönlichkeiten hervorgehenden [173] Wirkung und den als selbständige Gewalten über ihnen stehenden Faktoren der physischen wie der geistigen Welt, die jenen das Gesetz auflegen wollen. So können wir sie doch alle, auch die Einwirkung äußerer Gewalten, auf den Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen zurückführen. Jene Tendenzen erstreben eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, die sie erreichen würden, wenn sie allmächtig wären, wenn wie beim Tiere so auch beim Menschen außer den äußeren Vorgängen lediglich angeborene Triebe und Instinkte in ewig gleicher, der ganzen Gattung gemeinsamer Gestalt einwirkten; der Widerstand der individuellen Tendenzen, der ihre Wirkung in jedem Momente durchbricht und eine ständige Veränderung nicht nur der äußeren Bedingungen, sondern vor allem der inneren Gestaltung des Lebens bewirkt, schafft die Sonderart des einzelnen Ereignisses, ihr Zusammenwirken das geschichtliche Leben und die geschichtliche Entwicklung. Eben darum ist diese in jedem Einzelfalle andersartig gestaltet und kennt keine Gesetze und kann keine kennen, so oft auch eine auf Irrwege geratene Theorie sie gefordert hat und auch in der Gegenwart fordert, ja sich einbildet, sie entdeckt zu haben; sondern sie kennt nur Möglichkeiten und Analogien, die aber immer durch die Sonderart des geschichtlichen Einzelfalls modifiziert und abweichend von jedem anderen gestaltet werden.


Die theoretischen Grundprobleme des geschichtlichen Lebens habe ich in meiner Schrift: Zur Theorie und Methodik der Geschichte, 1902, eingehender behandelt (jetzt mit Zusätzen wieder abgedruckt in meinen Kleinen Schriften, 1910); vgl. auch meinen in der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin 1906 gehaltenen Vortrag: Humanistische und geschichtliche Bildung; ferner meine Untersuchungen über Thukydides und seine Prinzipien und Darstellungsmittel im zweiten Bande meiner Forschungen. – Auch bei äußeren Vorgängen, z.B. einer Epidemie wie der Pest von 429 in Athen oder der Pest unter Kaiser Marcus oder dem schwarzen Tod, einem Erdbeben wie dem von 464 in Sparta, oder dem Ausgang einer Schlacht, der Vernichtung eines Staats oder Volks durch ein anderes, bilden die von außen wirkenden Momente, wie im Kriege die Überlegenheit an Zahl, Bewaffnung u.a., oder die Einwirkung einer Lokalität oder etwa eines Sturms in der Seeschlacht, nur die eine Seite der wirkenden Momente; dazu tritt immer als das entscheidende die innere Eigenart der [174] von dem Ereignis Betroffenen, die dessen Verlauf und Wirkung erst zu einem geschichtlichen Ereignis macht; und so dürfen wir auch diese Vorgänge dem dominierenden Gegensatz der allgemeinen und der individuellen Faktoren unterordnen.


100. Der Spielraum, auf dem die Individualität, sowohl die von Gruppen und Völkern, wie die der Einzelpersonen, zur Wirkung gelangen kann, ist bei den einzelnen Völkern und weiter bei den einzelnen Epochen ihrer Entwicklung sowohl extensiv wie intensiv sehr verschieden. Voraussetzung ist, wie bei aller geschichtlichen Wirkung, daß überhaupt ein selbständiger Wirkungskreis gegeben ist, in dem geschichtliche Ereignisse sich abspielen können: daß dabei die räumliche Ausdehnung sehr unwesentlich ist und große politische Vorgänge, Kriege u.a. ebensowenig erfordert werden – wenn dadurch auch die Bedeutung der Individualität gewaltig gesteigert werden kann –, zeigt die Geschichte der Israeliten, der griechischen Kleinstaaten u.a., und ebenso z.B. die Geschichte der Religionsstifter. Die Wirksamkeit der Individualität hängt vielmehr wesentlich ab vom Stande der Kultur, d.h. der Gesamtheit der in einander greifenden und zu einer Einheit verwachsenden Errungenschaften, welche in den Gemeinbesitz einer größeren oder kleineren Gruppe übergegangen sind und durch die Tradition vertreten werden. Diese Tradition strebt Denken und Handeln der gesamten Gruppe und jedes Einzelnen zu bestimmen und in feste Bahnen zu lenken; sie ruft ihn aber zugleich zu eigener Betätigung auf und erzeugt dadurch die Gegenwirkung, in der seine Individualität zum Ausdruck gelangt und, unter Benutzung der äußeren Faktoren des Moments, die Tradition zu beherrschen und nach seiner inneren Eigenart umzugestalten versucht. Diese Wechselwirkung trägt in den einzelnen Epochen einen sehr verschiedenen Charakter. Man kann oft der Auffassung begegnen, daß die »wilden« und überhaupt alle in der Kultur zurückstehenden Volker der Individualität entbehrten, daß bei ihnen der Einzelne keine Sonderart habe, sondern denke und handle wie jeder andere auch, daß er daher nur ein Typus sei. Demgegenüber ist von scharfen Beobachtern oft genug hervorgehoben [175] worden, daß gerade hier (z.B. bei den Arabern oder den Indianern) die Eigenart und dementsprechend die Bedeutung der Persönlichkeit viel ausgeprägter sei, als in unserer homogenen Kultur, daß in jedem Moment alles auf die Geltendmachung der eigenen Persönlichkeit gestellt sei und von ihr allein Erfolg und Gestaltung des Lebens abhänge, nicht von den allgemeinen Faktoren, die mit dem Fortschritt der Kultur viel stärker hervorträten und die Menschen in homogene Typen umwandelten. Weiter hat vor allem JAKOB BURCKHARDT die Auffassung begründet, daß die Individualität erst mit der Renaissance erwacht sei, während z.B. D. SCHÄFER (Weltgeschichte der Neuzeit I, 13) dieser Auffassung den Satz gegenüberstellt: »Wenn es irgend eine Zeit gegeben hat, in der die Einzelpersönlichkeit entwickelt war, so war es das Mittelalter, und gerade von der Renaissance kann man sagen, daß sie einen starken Anstoß gab, der Individualität der Tat Schranken zu setzen. ... Wer näher hinsieht, erkennt [im Mittelalter] alsbald die unendliche Mannigfaltigkeit der Hergänge und Verhältnisse und die Fülle starker Persönlichkeiten, die ihre Umgebung zu formen vermochten.« In derselben Weise wird man entgegengesetzte Auffassungen über die Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte des Orients oder in der homerischen Welt im Gegensatz zu der späteren Entwicklung Griechenlands vertreten können. In Wirklichkeit sind immer beide Auffassungen berechtigt. Denn Gebundenheit und Freiheit, allgemeine und individuelle Faktoren beherrschen alles menschliche Leben und alle Wirklichkeit überhaupt: erst durch ihr Zusammenwirken entsteht jede Einzelerscheinung, jedes Objekt der realen Welt. Aber eben daraus erhellt, daß diese entgegengesetzten Auffassungen den Kern der Frage nicht treffen; dieser liegt vielmehr darin, daß in den älteren Epochen der Einzelne, mag er noch so selbständig handeln, doch in allen entscheidenden Momenten feste Formen und Anschauungen als etwas außer ihm Stehendes, schlechthin von der Tradition Gegebenes voraussetzt, die sein wie aller Anderen Tun bestimmen und an denen er nichts ändern [176] kann, ja von denen es ihm gar nicht einmal in den Sinn kommt, daß er sie ändern könnte. Wenn es im Mittelalter »kaum ein Gesetz gibt, das nicht Ausnahmen hätte dulden müssen, kaum eine Ordnung, die nicht durchbrochen worden wäre«, wenn der Einzelne sich, eine gewaltige Macht schaffen, die bestehenden Staaten umstürzen und durch neue ersetzen kann, so ist doch die historisch entwickelte Form, in der der mittelalterliche Staat sich gestaltet, die soziale Gliederung, die Gebundenheit der Stände, für ihn etwas Gegebenes und Selbstverständliches3; und wenn er doch etwa versucht, sie zu durchbrechen, so treten ihm die Kräfte, die sich in diesen verkörpern, übermächtig entgegen und zwingen selbst Neubildungen wie die Städte in diese festen Formen. Und wenn auf religiösem Gebiet die mannigfachsten Tendenzen sich geltend machen, und in der Kirche nichts weniger als volle Uniformität besteht, so bleibt doch bei allen Reformbestrebungen die Anerkennung des Christentums oder des Islams als unumstößlicher, außerhalb des individuellen Willens bestehender Wahrheit die selbstverständliche Voraussetzung: wer dagegen sich auflehnt, geht unfehlbar zu Grunde und vermag keine Wirkung auszuüben, es sei denn, daß unter ganz eigenartigen Umständen es ihm gelingt, eine Anzahl von Anhängern für eine neue Religion zu gewinnen, wie dem Chalifen Hâkim – auch dann aber bleibt neben der Anknüpfung an die bestehende Religion der Offenbarungscharakter, die Unterordnung unter eine überweltliche Autorität gewahrt. Gleichartig sind die Schranken, die z.B. der Tätigkeit eines Araberscheichs von noch so starker und selbständig ausgeprägter Persönlichkeit, oder etwa der eines homerischen Helden gesetzt sind. Erst wenn die Kulturentwicklung durch das Zusammenwirken [177] innerer und äußerer Momente eine bestimmte Stufe erreicht hat, ist es möglich, diese Schranken zu durchbrechen und die volle Freiheit der Individualität zu erringen. Diese besteht eben darin, daß sie keine äußere Autorität mehr anerkennt, daß sie da, wo diese eine Regel aufstellt, ein Problem sieht, daß ihr das Gesetz nicht etwas von außen Auferlegtes ist, sondern daß sie es in sich selbst trägt – mag sie es auch, etwa im Gottesbegriff, in die Außenwelt projizieren –, daß sie daher versucht, die äußere und die innere Welt nach ihrer Erkenntnis und Überzeugung zu gestalten, und daß die Verhältnisse ihr die Möglichkeit zu einer derartigen freien Betätigung ihrer Eigenart gewähren. Das Ergebnis, zu dem sie gelangt, mag dabei mit dem Inhalt der Tradition teilweise oder selbst vollständig übereinstimmen; das ist für diese Frage irrelevant: in den inneren Momenten liegt der entscheidende Gesichtspunkt.

101. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, daß die wirksame Individualität eine an sich durch ihre geistigen Eigenschaften bedeutende Persönlichkeit sein müsse – darauf beruht der Heroenkult CARLYLES. Allerdings gibt es Persönlichkeiten, die alle anderen Menschen an innerem Wert, an Begabung und Schöpfungskraft unendlich überragen, und von denen daher die gewaltigste Wirkung durch Jahrhunderte und Jahrtausende ausgehen kann. Aber auch bei ihnen kommt es immer darauf an, einmal ob die allgemeine Entwicklung so gestaltet ist, daß sie solchen Persönlichkeiten Raum zu umfassender Wirkung gewährt, oder ob diese umgekehrt durch die entgegenstehenden Mächte der Tradition und Homogenität erstickt werden, sodann aber, ob die individuellen Umstände ihres Lebens ihnen einen Anlaß zu solcher Betätigung gewähren. Denn wo diese von außen gegebene Möglichkeit fehlt, verzehrt sich ihre Kraft in sich selbst, möge sie nun den inneren Trieb zum Handeln in großen Verhältnissen besitzen oder nicht; es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß jede Zeit geniale Menschen hervorbringt, die einen solchen Anlaß niemals finden und deren Leben daher in kleinen Verhältnissen dahingeht, ohne Spuren zu hinterlassen – es sei hier nur an die [178] absoluten Schranken erinnert, welche der Wirksamkeit der Frau bei vielen Völkern und Kulturen gesetzt sind. Umgekehrt aber führen die zufälligen Umstände, welche die geschichtliche Gestaltung der Vorgänge beherrschen, ununterbrochen Persönlichkeiten in maßgebende Stellungen, welche in keiner Weise über den Durchschnitt emporragen, oft sogar weit hinter ihm zurückbleiben, oder weisen ihnen wenigstens in einem Moment eine große Entscheidung zu; und doch kann ihr Verhalten und ihre Willensent schlüsse für die weitere Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung sein, weit mehr als die Taten und Gedanken überragender Persönlichkeiten. Dann wird ihre Individualität, so untergeordnet sie an sich erscheint, zu einem mächtigen Faktor der geschichtlichen Entwicklung und bestimmt den weiteren Gang im Guten oder im Bösen. Das Wesentlichste ist immer die Frage, ob der Konflikt der geschichtlich wirksamen Kräfte sich so gesteigert hat, daß verschiedene Möglichkeiten sich die Wage halten und die Entscheidung sich in den Willensakt eines einzelnen Menschen zusammenfaßt und dadurch ihr Gepräge erhält, oder ob der Einzelne (wie so oft bei Massenbewegungen) nur der ephemere Träger einer allgemeinen Bewegung ist, an dessen Stelle jeder andere ebenso handeln würde wie er. In diesem Falle ist seine Individualität geschichtlich gleichgültig, weil es tatsächlich auch im Moment des Werdens nur eine Möglichkeit gab, die durch den persönlichen Faktor nicht modifiziert wird.

102. Der Unterschied der Zeiten in der Wirksamkeit des individuellen Moments ist immer nur relativ, nicht absolut; es handelt sich um ein mehr oder minder, nicht um ein völliges Zurücktreten der einen der beiden grundlegenden Tendenzen. Denn wenn die Individualität nach Alleinherrschaft strebt, wenn sie die Welt ausschließlich nach ihren Bestrebungen – sei es nach persönlichem Interesse, sei es etwa nach den Grundsätzen des Verstandes oder ihrer eigenen Weltanschauung – gestalten will und die allgemeinen Faktoren als nicht berechtigt zu vernichten sucht oder gar als nicht vorhanden betrachtet, so erheben sie sich nur zu um so mächtigerer [179] Gegenwirkung, noch weit mehr, als wenn umgekehrt die allgemeinen Faktoren die Individualität niederhalten. Denn die Macht der Tradition ist allerdings im stände, die Einzelpersönlichkeit völlig in Bande zu schlagen und ihr Selbstgefühl zu ersticken, äußerlich indem sie z.B. ein Volk oder einen Stand so vollkommen knechtet, daß jeder Gedanke des Widerstands in ihm erlischt, innerlich, indem sie eine solche Allgewalt über das Denken gewinnt, daß jeder Ansatz zu selbständigem Denken schwindet – Zustände, die bei vielen Völkern durch die Bande des Zauberwesens und unwandelbarer religiöser Anschauungen erreicht sind, die jedes kirchliche System erstrebt, und die, in höherer Gestalt, dem Altertum in Aegypten, der Neuzeit in China verwirklicht scheinen, und nicht selten sehr bedeutenden Geistern, wie Plato und manchen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, als ein bewunderungswertes Ideal erschienen sind. Jede Kulturentwicklung zeigt diese Doppelheit der Wirkungen. Sie wird getragen von Einzelpersönlichkeiten, sie verschafft ihnen, indem sie fortschreitet, weiten Raum zu freier Entfaltung ihrer Kräfte; aber zugleich setzt sie diese individuellen Errungenschaften, indem sie sie zum Gemeingut zu machen sucht, in feste Regeln, in Traditionen um, denen sie die Individuen zu unterwerfen strebt. So wirkt sie eben durch die Entfesselung der Individualität selbst darauf hin, ihr aufs neue Schranken zu setzen, sie in Fesseln zu schlagen, eine neue, vielfach gesteigerte Homogenität zu erzeugen. Wie weit gerade bei scheinbar aufs höchste gesteigerter Individualität in einer hochentwickelten Kultur diese Erstickung der Selbständigkeit und inneren Freiheit der Persönlichkeit gehen kann, können wir in unserer Zeit in erschreckendem Umfang wahrnehmen, oft genug eben bei denen, welche das Prinzip des schrankenlosen Individualismus auf ihre Fahnen schreiben, wie die Anhänger NIETZSCHES. So führt jeder Kulturfortschritt eben durch die Individualität aufs neue zur Erstarrung, und damit entweder zu einer Ertötung des Kulturlebens, zu einem stagnierenden Dasein in ewig gleichen Verhältnissen, oder zu einer [180] inneren Zersetzung, zu einem tiefgreifenden Konflikt, aus dem dann, nach Überwindung der leblos gewordenen Elemente, eine neue höhere Kultur erwachsen kann. Welche dieser Tendenzen den Sieg davonträgt, ist im voraus niemals zu entscheiden, sondern hängt von der Gesamtwirkung der geschichtlichen Faktoren ab. Es hat Völker genug gegeben, welche, nachdem sie die höchsten Höhen der Kultur erreicht hatten, von ihnen unaufhaltsam in Erstarrung, in geistige und daher auch in politische und materielle Stagnation hinabgesunken sind, aus denen sie, trotz einzelner Versuche, ein neues selbständiges Leben zu erwecken, sich niemals wieder haben herausarbeiten können – es sei hier nur an die Aegypter, an die Griechen, an die islamischen Völker, und vor allem an den Untergang der antiken Kultur erinnert. Auch bei allen modernen Kulturvölkern sind diese Tendenzen ständig am Werk, und kein einziges, das einmal eine führende Stellung errungen hat, hat sich dauernd in dieser zu behaupten vermocht. Was unsere Kultur aufrecht erhält, was auch die einzelnen Völker immer von neuem aufgerüttelt hat – nur Spanien hat sich aus der Stagnation noch nicht wieder zu erheben vermocht –, ist das politische Moment, die Bildung eines auf der Basis der Nationalität ruhenden Staatensystems, welches die einzelnen Völker, um ihre selbständige Existenz zu behaupten, immer von neuem zu energischer Betätigung und zur Anspannung aller Kräfte zwingt und damit die Entwicklung der allgemeinen Kultur des ganzen Kulturkreises ständig steigert. Aber der Glaube, daß das so sein müsse, daß die Kultur der Menschheit ständig fortschreite, beruht nicht auf geschichtlicher Erfahrung. Allerdings haben sich bisher, wenn eine Kultur zu Grunde gegangen ist, einzelne Kulturelemente in dem Ruin behauptet und auf neue Völker befruchtend weiter gewirkt. Aber die Möglichkeit, daß nicht nur eine Kultur, sondern die Kultur überhaupt einmal wieder dauernd zu Grunde ginge, ist dadurch nicht ausgeschlossen; und ebensowenig ist es notwendig, daß die neuentstehende Kultur höher stehen müsse als die alte, aus deren Trümmern sie erwächst. Der [181] Glaube an ein stetiges Fortschreiten menschlicher Kultur ist ein Postulat des Gemütslebens, nicht eine Lehre der Geschichte.


Der Versuch, die geschichtliche Entwicklung der einzelnen Kulturvölker unter ein bestimmtes Schema zu zwängen, in ihr die Verwirklichung einer bestimmten transzendenten Idee zu suchen, in der dann die einzelnen Völker sich ablösen sollen, wie ihn HEGEL unternommen hat (in unserer Zeit fehlt es nicht an Repristinationsversuchen), ist notwendig verfehlt und hat in den geschichtlichen Tatsachen keine Grundlage; er vergewaltigt diese vielmehr ununterbrochen. Eben so verkehrt ist es, eine derartige Betrachtung der geschichtlichen Vorgänge als »Geschichtsphilosophie« zu bezeichnen; sie ist vielmehr bestenfalls, soweit ihr nämlich die Tatsachen entsprechen, eine Geschichte einiger allgemeiner Ideen und der Versuche, sie zu verwirklichen. Geschichtsphilosophie kann nur etwas total anderes genannt werden, nämlich die theoretische Erörterung der grundlegenden Probleme der Geschichtswissenschaft.


103. Das höchste, was die Individualität zu schaffen vermag, ist die Idee. Sie ist die Schöpfung eines Einzelnen; aber sie gewinnt ihre geschichtliche Gestalt durch das Zusammenwirken Mehrerer, die sie modifizieren und voll ausbilden. Dann gewinnt sie Scharen von Anhängern und sucht sich durchzusetzen und damit zum Allgemeingut und zu der die Gesamtheit beherrschenden Norm zu werden. Aber auch wenn es ihr gelingt, die entgegengesetzten Ideen und die hinter diesen stehenden Mächte niederzukämpfen und – innerhalb der Grenzen, die jeder Tendenz durch den ewigen Kampf des geschichtlichen Lebens gesetzt sind – die volle Herrschaft zu gewinnen, so fällt sie eben damit der Gewalt der universellen Faktoren anheim: sie ist aus der Welt der Gedanken in die reale Welt der Erscheinungen eingetreten und untersteht damit den Bedingungen, welche diese beherrschen. Darauf beruht es, daß jede Idee, sobald sie sich verwirklicht, in ihr Gegenteil umschlägt: denn kein Gedanke vermag die Wirklichkeit in ihrer Totalität zu umfassen. Dieser Umschlag der Ideen tritt in allem geschichtlichen Leben hervor: auf ihm beruht die Tragik der Geschichte, die oft genug, eben bei den Schöpfern der höchsten Ideen, auch zu einer Tragik des [182] Einzellebens geworden ist. So ist aus der Religion der Propheten das Judentum, aus der Lehre Jesu die katholische Kirche und weiter die Religionsverfolgung entstanden, die dann aus der Forderung der Gewissensfreiheit durch die Reformation noch einmal als notwendige geschichtliche Konsequenz hervorgegangen ist – während der in der Theorie viel exklusivere Islam eben darum in der Praxis immer viel toleranter gewesen ist –; ebenso führt die freiheitliche Erhebung der englischen Revolution gegen die Übergriffe des Königtums zur Zwangsherrschaft des Parlaments und dann der Armee, der Reformversuch Platos und Dios in Syrakus zur Usurpation der Staatsgewalt und zur Zersetzung des Staats, den man retten will, die Proklamierung der individuellen Freiheit jedes Staatsbürgers in der französischen Revolution zur Schreckensherrschaft, in der modernen sozialen Entwicklung zum Despotismus des sozialdemokratischen Systems. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren – so sei daran erinnert, daß die Beseitigung des Opferwesens in dem späteren Judentum, im Christentum und im Islam durch die gewaltige Steigerung seiner Bedeutung im jüdischen Gesetz herbeigeführt ist –; wir haben schon gesehen, wie alle Geschichte der Religion, der Kunst und Wissenschaft, der Kultur überhaupt, von diesem Umschlag der Idee beherrscht ist, bei der sich das Prinzip der Freiheit in das des Zwanges und dadurch die Idee, unter der Herrschaft der allgemeinen Faktoren, in all ihren Ausgestaltungen in ihr Gegenteil umwandelt. Eben dadurch wird dann die Reaktion, die Entstehung einer neuen Idee hervorgerufen, welche die alte der Herrschaft beraubt und eben dadurch wieder dem gleichen Schicksal anheimfällt. So wiederholt sich der Kampf und damit der Kreislauf der historischen Erscheinungen immer von neuem; aber in jedem Einzelfalle ist die individuelle Gestaltung der wirkenden Momente und darum auch das Ergebnis ein anderes. Darauf beruht ebensowohl die innere Einheit wie die unendliche Mannigfaltigkeit der Geschichte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 173-184.
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