Die geschichtliche Darstellung

[208] 117. Wenn alle Geschichtsforschung prinzipiell von der Gegenwart ausgeht und von den in ihr erkennbaren Wirkungen zu deren Ursachen aufsteigt, also in einem unendlichen, zuletzt nur tatsächlich, nicht theoretisch begrenzten Prozeß des Rückwärtsschreitens verläuft, so verfährt die Geschichtsschreibung gerade umgekehrt: sie geht aus von den wirkenden Momenten und entwickelt aus ihnen die geschichtlichen Ereignisse, die sie daher in absteigender Folge, dem Verlauf der Begebenheiten entsprechend, vorführt. Was bei jener die Voraussetzung ist und die Untersuchung überhaupt erst ermöglicht, erscheint in ihr als Folgeerscheinung. Die Darstellung bildet das Ergebnis und zugleich die Kontrolle der Forschung; sie braucht aber mit dieser nicht notwendig verbunden zu sein, weil die beiden Aufgaben verschiedene Tätigkeiten des menschlichen Geistes in Anspruch nehmen. Dagegen kann es keine wahrhaft historische Darstellung geben, die nicht auf eigene Forschung basiert ist (wenn sie daneben selbstverständlich auch die Ergebnisse fremder Forschung, nachdem sie sie kontrolliert hat, benutzen kann); wo sie doch versucht wird, führt sie notwendig zu phantastischen, weil wissenschaftlich nicht begründeten, Ergebnissen, so viel Geist auch darauf verwendet werden mag. Auf der Darstellung beruht die Wirkung der Geschichtswissenschaft und die Verbreitung ihrer Ergebnisse in dem historischen Bewußtsein weiterer Kreise; dagegen kann die Forschung niemals populär werden, weil sie eben wissenschaftliche Disziplinierung des Geistes und ununterbrochene kritische Tätigkeit erfordert, der jedes Einzelobjekt unterzogen werden muß, ehe es verwertet werden kann. Wissenschaftliche Kritik kann [208] aber niemals Gemeingut werden; im Gegenteil glaubt die naive, wissenschaftlich nicht erzogene Auffassung jederzeit ihr Meinen, ihre momentane, von subjektiven Stimmungen beherrschte Auffassung an ihre Stelle setzen zu dürfen. Gerade der Geschichtsforschung gegenüber herrscht diese Tendenz um so stärker, weil ihr Objekt allgemein zugänglich ist und allgemeines Interesse erregt, und man daher glaubt, historische Fragen ohne weitere wissenschaftliche Vorbereitung lediglich auf Grund des gesunden Menschenverstandes und der jedem zu Gebote stehenden Lebenserfahrung beurteilen zu können. Darauf beruht es, daß die Ergebnisse der geschichtlichen Kritik so häufig mit allgemeinem Kopfschütteln aufgenommen, und daß gerade ihre sichersten Resultate oft von der allgemeinen Meinung vollständig abgelehnt werden; und immer wieder finden sich Leute, oft von hervorragender geistiger Bedeutung, die sich für berechtigt halten, einen geschichtlichen Stoff zu behandeln, ohne sich um die Kritik und die wissenschaftlichen Ergebnisse ihrer Vorgänger zu kümmern. Sogar selbständige und ergebnisreiche wissenschaftliche Arbeit auf einem Gebiete der Geschichte gewährt hier noch keine Sicherheit und keinen Schutz auf jedem anderen; es wird selbst unter den größten Historikern kaum einen geben, der sich in dieser Richtung nicht Mißgriffe hätte zu Schulden kommen lassen.

118. Im übrigen sind Aufgabe und Bedingungen der geschichtlichen Darstellung schon hinlänglich besprochen, ebenso der subjektive und individuelle Charakter, der ihr notwendig anhaftet. Je höher ein Geschichtswerk steht und je vollkommener es seine Aufgabe erfüllt, desto entschiedener tritt derselbe hervor. Denn Geschichtschreibung ist Erfassung der wirksamen Vorgänge einer Vergangenheit und ihre Zusammenfassung zu einer inneren Einheit; diese Vorgänge und diese Einheit werden von dem darstellenden Historiker auf Grund der Ergebnisse der kritischen Forschung intuitiv erschaut, und seine Darstellung soll dieses Bild in Worte umsetzen und dadurch auch in dem Hörer oder Leser hervorrufen. Dazu gehört [209] nicht nur die Beherrschung und richtige, d.h. dem Objekt angemessene, Verwendung aller Kunstmittel der Darstellung, sondern vor allem die Tätigkeit der schöpferischen Phantasie. Darauf beruht es, daß alle Geschichtsdarstellung nicht nur Wissenschaft ist, sondern zugleich Kunst, und zwar nicht nur der äußeren Form nach, wie bei jedem Literaturwerk, sondern auch inhaltlich in der Gestaltung des Objekts. Nur darf die Phantasie des Historikers nicht frei schaffen wie die des Dichters, der sein Objekt selbst erst erzeugt; sondern sie ist gebunden an die geschichtlichen Tatsachen. Sie darf daher nur nachschaffen: sie soll die Vergangenheit aufs neue zu einem Leben in der Vorstellung erwecken so wie sie wirklich gewesen ist. Die künstlerische Phantasie des Dichters ist lediglich an die Bedingungen der Möglichkeit gebunden, die des Historikers dagegen an die, wenn auch entschwundenen, Tatsachen der Wirklichkeit; die Phantasie ist für ihn nur ein Hilfsmittel der historischen Gestaltung. Aber sie ergänzt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, wo diese eine Grenze findet, die sie mit ihrem Rüstzeug nicht zu überschreiten vermag: wo sie den psychologischen Problemen gegenüber versagt (§ 114), vermag die historische Phantasie den Charakter und die geistige Eigenart eines Menschen zu erfassen und von ihr aus seine Handlungen aus einer inneren Einheit zu entwickeln; wo jene nur einzelne Ereignisse ermittelt, deren Kausalverbindung und Wechselwirkung sich der sicheren Erkenntnis entzieht, erschaut sie die inneren Zusammenhänge, durch die diese Einzelvorgänge zu einer Einheit verwachsen. Die einzelnen Tatsachen bilden wie den Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit, so auch die Kontrolle: die innere Wahrheit der Rekonstruktion, welche alle Einzelvorgänge als begreiflich und aus dem inneren Zwange des Moments entstanden erscheinen läßt, bietet die Gewähr für ihre Richtigkeit. Daher steht die auf der Einzelpersönlichkeit des Historikers beruhende Individualität der Darstellung keineswegs im Gegensatz zu der Forderung historischer Objektivität, d.h. innerer, von keinen äußeren Einflüssen und dem Gegenstande fremden Tendenzen [210] getrübter Wahrheit der historischen Darstellung. Wenn ein Historiker wie THUKYDIDES oder RANKE die Realität der Dinge erschaut und durch die Mittel seiner Darstellung dieses Bild in der Seele des Lesers zu reproduzieren vermag, so hat er eben damit die höchste Objektivität erreicht.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 208-211.
Lizenz:
Kategorien: