Die historische Tradition

[220] 126. In jeder Zeit erzählt man sich von den Vorgängen, die sie bewegen, vor allem, wenn sie eine umfassendere Wirkung ausüben, wie Kriege und Schlachten oder die Maßnahmen und das persönliche Verhalten eines Herrschers oder Staatsmanns. Neben der unmittelbaren Einwirkung solcher Vorgänge gibt häufig das allgemeine Interesse an ihrem Inhalt, [220] an außergewöhnlichen und charakteristischen Vorfällen, Anlaß zu weiter Verbreitung dieser Erzählungen. Dabei gestalten sie sich innerlich um: die geschichtlich entscheidenden Momente werden in der Regel schon von dem ungeschulten Beobachter nicht scharf erfaßt, und treten an Interesse weit hinter dem Auffallenden zurück, das die Phantasie beschäftigt; die persönliche Eigenart des Erzählers bildet die Begebenheit unbewußt und bewußt um: die Motivierung wird nach den herrschenden religiösen, sittlichen, intellektuellen Anschauungen gestaltet, vor allem aber nach den Kombinationen des mythischen Denkens, das überall übernatürliche Einwirkungen zu erkennen glaubt. Regelmäßig werden dann andere Vorfälle mit dem Ereignis zu einer Einheit verknüpft, parallele Erzählungen aus Geschichte und Mythus mischen sich ein; darunter auch Erzählungen, die die Taten und Schicksale einer Gruppe, z.B. eines Stammes oder einer Stadt, zu einer Einheit zusammenfassen, die an eine mythische Gestalt, etwa den eponymen Ahnherrn, angeknüpft werden kann. Namentlich liebt die Phantasie, verschiedene hervorragende Gestalten mit einander in Verbindung zu setzen und sich dabei in charakteristischen Worten und Taten betätigen zu lassen, und dadurch die isolierten Erzählungen zu einem größeren Cyklus zu verbinden. So kann ein Ereignis schon unmittelbar nach seinem Eintreten von den Beteiligten und Zuschauern selbst in einer von seinem wirklichen Verlauf total abweichenden Weise erzählt werden; und je weiter sich die Erzählung verbreitet, je länger sie sich erhält, desto größer wird diese Umgestaltung, bis zuletzt von den Tatsachen selbst kaum noch etwas übrig bleibt.

127. Wenn solche Erzählungen in einer Zeit entstehen, wo die dichterische Tätigkeit in epischer Gestalt bei einem Volk stark entwickelt ist, oder wo sonst, namentlich auf religiösem Gebiete, eine Tradition von fester Gestalt sich ausbildet, so können sie dauernd erhalten werden. So leben in dem griechischen, dem germanischen, dem indischen Epos, der im wesentlichen romanischen Sage von Karl d. Gr., den [221] bretonischen Sagenstoffen, und ebenso in den iranischen Sagen, die erst sehr viel später epische Gestalt erhalten haben, historische Ereignisse einer fernen Vergangenheit durch Jahrhunderte und Jahrtausende fort. Aber nur scheinbar, nach dem Glauben der Nachwelt, ist es ein historisches Interesse, das sie lebendig erhält; tatsächlich beruht ihr Fortleben gerade auf den ungeschichtlichen Bestandteilen, die ihr beigemengt sind, seien diese nun vorwiegend mythischer oder religiöser, seien sie ausschließlich poetischer Natur. Der wahre Hergang ist dabei völlig gleichgültig, und ist denn auch oft genug bis auf wenige dürftige Überreste, z.B. Namen, geschwunden. Wo uns neben diesen Sagen gleichzeitige geschichtliche Quellen vorliegen, wie beim germanischen Epos, ist die Ausscheidung dieser Bestandteile und die Feststellung der Ursprünge der Erzählung natürlich sehr leicht; dagegen äußerst schwierig und in den Einzelheiten meist so gut wie unmöglich, wo alle derartigen Quellen fehlen, wie bei den Griechen und den Iraniern. Helfen kann hier nur einmal die Analogie, sodann aber die Erkenntnis, daß bestimmte Bestandteile (etwa die Zerstörung von Troja oder Theben, das Königtum von Mykene und Argos u.a.) weder mythischen noch religiösen Ursprungs sein können, sondern ein individuelles Element enthalten, das historisch sein muß. Es ist aber ein Irrtum, anzunehmen, daß es notwendig Ereignisse von größerer Bedeutung gewesen sein müßten, die auf diese Weise in der Sage fortlebten; vielmehr können es sehr untergeordnete Vorfälle sein, die durch irgend einen Zufall zur Sagenbildung Anlaß gegeben und sich dadurch erhalten haben. Ebenso ist es bekannt, daß in der Sage geschichtliche Stoffe zu einer Einheit verbunden sein können, die um Jahrhunderte aus einander liegen, wie in die Sage von Attila und den Burgundern der Ostgothenkönig Theoderich, in die von Karl d. Gr. die Kreuzzüge Eingang gefunden haben. Die Geschichte der germanischen und bretonischen Sagen zeigt auch, wie weit derartige Stoffe wandern und wie sie ihre Ausbildung und dichterische Gestaltung in Gebieten finden können, die zeitlich [222] und räumlich weit von ihrem ursprünglichen Schauplatz entfernt sind und mit den historischen Ereignissen selbst in gar keiner Beziehung gestanden haben.

128. Wo eine derartige künstliche Erhaltung einer Tradition in der Sage nicht eingetreten ist, entschwinden die Erzählungen von zeitgenössischen Ereignissen sehr rasch dem Gedächtnis, selbst wenn sie eine novellistische oder anekdotische Ausprägung erhalten haben, wie die Geschichten des ausgehenden griechischen Mittelalters oder in unserer Zeit die von Friedrich d. Gr., Napoleon u.a., die übrigens großenteils nur auf literarischem Wege und durch Einwirkung der Schule künstlich am Leben erhalten oder, wie die Gestalt Friedrich Barbarossas u.s.w., zu neuem Leben erweckt worden sind. Vielmehr werden die älteren Begebenheiten und Erzählungen durch neue verdrängt, das unmittelbare praktische Interesse an ihnen erlischt, die Persönlichkeiten, die an ihnen beteiligt sind, kennt man nicht mehr. Im allgemeinen erstreckt sich, im öffentlichen wie im privaten Leben, die geschichtliche Erinnerung niemals über die Persönlichkeiten hinaus, die man selbst noch als lebende kennen gelernt hat, höchstens daß man einmal eine besonders charakteristische Erzählung, die man etwa vom Großvater gehört hat, noch seinen Kindern wiedererzählt, die ihr aber selten ein tieferes Interesse zuwenden werden. So umfaßt die geschichtliche Erinnerung einer Zeit nicht mehr als zwei bis drei Generationen. Der Glaube, daß naturwüchsige Völker (z.B. die Araber) ein längeres Gedächtnis hätten, war ein aus verkehrter Beurteilung ihrer Traditionen hervorgegangener verhängnisvoller Irrtum, bei dem die auf literarischem Wege ihnen zugeführten Erzählungen das Blendwerk alter und fester Überlieferung erzeugten, so bei den Arabern die biblischen, bei anderen orientalischen Völkern z.B. die graeco-aegyptische Alexandersage; jetzt kann er wohl als vollständig überwunden gelten. Nur da, wo ein Ereignis oder eine Persönlichkeit mit einem in die Gegenwart hineinragenden Denkmal, etwa einem Bauwerk, einem im Volksmunde lebenden Gedicht, [223] einer staatlichen Institution, verknüpft ist, kann auch die Erinnerung an sie lebendig bleiben, wenn sie auch oft kaum mehr ist als ihr Name. Erst wenn das historische Leben eines Volks an Intensität gewaltig gewachsen ist und große, auf Generationen nachwirkende Ereignisse es bewegen, wächst die Zeitdauer der geschichtlichen Erinnerung wenigstens etwas an, ohne jedoch die Trübung und Umgestaltung durch die oben bezeichneten Einwirkungen einzuschränken. So umfaßte zu Herodots Zeiten die geschichtliche Erinnerung der Griechen, die mit sehr dürftigen Anfängen beginnt, einen Zeitraum von etwa zwei Jahrhunderten. Da tritt aber auch schon die beginnende historische Literatur hinzu, ohne deren Entwicklung alle diese Erzählungen so gut wie spurlos würden verschollen sein.

129. Mündliche Überlieferung, d.i. Berichte von Augenzeugen, die dann auch schriftlich fixiert werden mögen, sei es von ihnen selbst, sei es von anderen, bildet neben den Urkunden die Grundlage alles geschichtlichen Materials. Ihre Kritik, d.h. die Ermittlung des Verhältnisses dieses Berichts zu dem Ereignis selbst, und die Ausscheidung der Elemente, welche diesem durch die Subjektivität des ursprünglichen Erzählers (zu der auch bewußte und unbewußte Verfälschungen gehören), die Grenzen seines Erkenntnisvermögens und die Bedingungen seiner Information beigemischt sind, ist die letzte, äußerlich dem gerichtlichen Zeugenverhör entsprechende, Tätigkeit der kritischen Forschung. Aber als eigentliche, d.h. unmittelbare Quelle kommt die mündliche Tradition für alle geschichtlich fortgeschrittenen Zeiten nur noch für die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit (der Gegenwart in weiterem Sinne) in Betracht, da sie sonst überall durch die geschichtliche Literatur ersetzt ist. Die mündliche Überlieferung über die Vergangenheit, die im Volke umläuft, die aber bei uns immer durch die Literatur beeinflußt ist, hat für die Geschichtsforschung nur noch Bedeutung einmal zur Kritik ähnlicher Überlieferungen, sodann aber um ihrer selbst willen, insofern in ihr Anschauungen zum Ausdruck gelangen, die [224] zum Verständnis der Volksindividualität dienen, ja die selbst als historische Faktoren von großer Bedeutung sein können – z.B. die Anschauungen der Deutschen von der Macht ihres alten Kaisertums, die der Italiener von der ehemaligen Herrlichkeit Roms. Eine selbständige Bedeutung als Quelle für die Vergangenheit hat dagegen die mündliche Tradition nur in Zeiten, wo die zusammenhängende Geschichtsüberlieferung eines Volkes beginnt und seine ältesten Historiker diese Traditionen aufgezeichnet und zu einem zusammenhängenden Geschichtsbilde verarbeitet haben. Da ist die erste Aufgabe der Kritik, aus ihrer Darstellung diese mündlichen Überlieferungen in reiner Gestalt herauszuschälen, die weitere, deren Entwicklung bis zu ihrem Ursprung hinauf zu verfolgen und so durch sie an die Ereignisse selbst heranzukommen. Das typische Beispiel für eine derartige Überlieferung bietet das Geschichtswerk Herodots (vgl. Bd. III, 141ff.).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 220-225.
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