Vorwort zur zweiten Auflage

[7] Seit dem Erscheinen der ersten Auflage des ersten Bandes dieses Werks (1884) ist fast ein Vierteljahrhundert vergangen. Es ist eine Zeit der reichsten wissenschaftlichen Arbeit gewesen, in der unsere Kenntnis des alten Orients und des ältesten Griechenlands von Jahr zu Jahr durch neue Funde in immer aufs neue jede Erwartung übertreffender Weise vermehrt und auf bisher ganz unbekannte Epochen ausgedehnt, und in der zugleich durch den rastlosen Fortschritt fruchtbringender Forschung das Verständnis des damals schon zugänglichen Materials stetig vertieft und damit auch für die geschichtliche Darstellung weit ergiebiger gemacht worden ist. Gleichzeitig hatte ich selbst nach Kräften auch auf diesem [7] Gebiete weiter zu arbeiten und zu tieferer Auffassung zu gelangen mich bemüht; daß ich inzwischen die folgende Epoche habe darstellen können, ist auch für die älteren Zeiten nicht ohne Ergebnisse geblieben. So erklärt es sich, daß, auch als ich nach Abschluß der griechischen Geschichte die Neubearbeitung der längst vergriffenen beiden ersten Bände in Angriff nehmen konnte, noch fünf Jahre vergangen sind, ehe ich mit dem Druck habe beginnen können, und daß wenigstens in den älteren Abschnitten die gesamte Anlage geändert wer den mußte und kaum ein Satz in die neue Bearbeitung übernommen worden ist. Für viele Gebiete war das Fundament erst in eingehenden Untersuchungen zu gewinnen, die über den Rahmen dieses Werkes hinausgingen; auch ergriff ich gern die Gelegenheit, um, wo es mir vergönnt war, noch einmal wieder das ganze Gebiet des alten Orients systematisch durchzuarbeiten, einzelne Probleme, die mich lange beschäftigt hatten, eingehend und, soweit es mir möglich war, abschließend zu behandeln. Auf diese Weise sind außer kleineren Arbeiten meine Abhandlungen über die aegyptische Chronologie (Abh. Berl. Ak. 1904 und 1907) und über die Sumerier und Semiten in Babylonien (Abh. Berl. Ak. 1906) und mein Buch über die Israeliten und ihre Nachbarstämme (Halle 1906) entstanden, welche für die wichtigsten Abschnitte der Geschichte des alten Orients die Vorarbeiten zusammenfassen. Einige ähnliche Untersuchungen hoffe ich im weiteren Fortgang der Arbeit noch folgen lassen zu können.

Der Erweiterung und Vertiefung der Forschung entspricht der wesentlich größere Umfang der neuen Auflage. Außerdem forderte die in den späteren Abschnitten völlig durchgeführte synchronistische Behandlung auch in den älteren gesteigerte Berücksichtigung, und daher eine Änderung der Disposition; vor allem die kretisch-mykenische Zeit läßt sich jetzt gar nicht mehr getrennt vom Orient behandeln. Aber auch den folgenden Abschnitten der griechischen Geschichte wird die Zusammenfassung mit der gleichzeitigen Geschichte des Orients zu gute kommen. Der Inhalt der beiden ersten Bände der ersten Auflage, die Geschichte des Orients und Griechenlands bis auf die Perserkriege, [8] wird sich jetzt auf drei Bände verteilen, die, da die alte Bandzahl beibehalten werden muß, als »erster Band, zweite Hälfte« und »zweiter Band, erste und zweite Hälfte« bezeichnet werden.

Vorausgeschickt ist, als erste Hälfte des ersten Bandes, die jetzt zu einer systematischen Darstellung der Anthropologie und der Prinzipien der Geschichtswissenschaft erwachsene Einleitung. Daß ich meinem Werk eine derartige Einleitung vorangestellt habe, hat ehemals, wo das Interesse der meisten Historiker diesen Fragen völlig abgewandt war, bei manchen Beurteilern Verwunderung und Tadel erfahren; gegenwärtig, wo derartige Fragen an der Tagesordnung sind, wird eine Rechtfertigung nicht mehr erforderlich sein. Die Einleitung verdankt keineswegs nur dem eigenen Interesse an diesen Problemen ihr Dasein, dem Streben nach Gewinnung einer einheitlichen, historisch begründeten Weltanschauung, welches für mich überhaupt bei der Ergreifung meines Berufs die innerste Triebfeder gewesen ist; sondern sie ist für eine wissenschaftliche, einheitlich gedachte Geschichte des Altertums überhaupt ganz unentbehrlich. Denn hier treten diese Fragen dem Historiker auf jedem Einzelgebiete entgegen; er soll überall die geschichtlichen Anfänge der einzelnen Völker und Kulturen darstellen, und dazu ist er gar nicht imstande, wenn er diese Probleme nicht als Ganzes erfaßt und zu ihnen prinzipiell Stellung genommen hat. Überdies aber ist es allerdings dringend geboten, daß dem Überwuchern moderner Konstruktionen und phantastischer Systeme gegenüber, welche gegenwärtig unserer Zeit als gesicherte Endergebnisse der Wissenschaft ausgeboten werden, die Berechtigung der geschichtlichen Betrachtung erwiesen, und die schlichten Ergebnisse, zu denen sie führt, unverfälscht dargelegt werden. Der Vorwurf, daß ich nicht modern genug, daß ich rückständig sei und dem Fluge der fortgeschrittenen Erkenntnis unserer Zeit nicht zu folgen vermöge, wird ohne Zweifel gegen mich erhoben werden. Aber in den Jahrzehnten, die ich als Lernender und Mitarbeitender auch in ihrer Einzelgestaltung überschauen kann, habe ich so viele Theorien und Systeme kommen und gehen sehen, die [9] alle bisherige Erkenntnis umstoßen und eine neue gesicherte Wahrheit an ihrer Stelle aufpflanzen zu können glaubten, daß mich derartige Einwände nicht mehr beirren können. Wenn irgendwo, so erweist sich hier der alte Spruch Epicharms als der sichere Leitstern der Erkenntnis, den der Forscher nie vergessen darf: νᾶφε καὶ μέμνασ᾽ ἀπιστεῖν˙ ἄρϑρα ταῦτα τᾶν φρενῶν. –

Die ersten zwei Bände waren zwei Männern gewidmet, denen ich für meinen Lebensgang und meine geistige Ausbildung unendlich viel schulde: JOHANNES CLASSEN (1805-1891), dem Lehrer meiner Jugend, dem ich neben meinem Vater verdanke, daß ich mich von früh auf im Griechischen ganz heimisch gefühlt habe, dem unermüdlichen Förderer meiner weiteren Entwicklung, der mir die Ergreifung einer wissenschaftlichen Laufbahn überhaupt möglich gemacht hat, und RICHARD ROEPELL (1808-1893; er hat den zweiten Band, der ihm gewidmet war, nicht mehr gesehen, sondern ist an eben dem Tage entschlafen, an dem ich das erste druckfertige Exemplar erhielt und ihm zusenden wollte), der mich als jungen Professor in Breslau mit herzlicher Freundschaft aufnahm und nicht nur in ununterbrochenem angeregtestem Verkehr mein geschichtliches Wissen und Verständnis ständig erweitert und vertieft hat, sondern mir auch einen so lebendigen Einblick in Denken und Empfinden und in die Entwicklung der älteren Generation erschlossen hat, wie er sonst dem ein halbes Jahrhundert Jüngeren selten zuteil wird. So soll denn dieses Werk dauernd mit ihren Namen verbunden bleiben. Neben ihnen möchte ich an dieser Stelle eines Dritten gedenken, dessen vielseitiger geistiger und wissenschaftlicher Anregung und Förderung und stets hilfsbereiter Freundschaft ich nicht am wenigsten verdanke, des vor einem Jahrzehnt uns entrissenen GEORG EBERS.


Groß-Lichterfelde bei Berlin, den 2. November 1907


Eduard Meyer


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1.
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