Allgemeiner Charakter der Semiten

[415] 352. Aus den Verhältnissen, in denen sie erwachsen sind, erklären sich die Charaktereigenschaften, welche die Völker semitischer Rasse dauernd bewahrt haben und durch die sie sich geistig eben so bestimmt gegen andere Völker scheiden, wie physisch. Daß die seßhaft gewordenen Stämme immer mit der alten Heimat in enger Berührung blieben und von hier aus wieder und wieder durch Nachschübe überschwemmt wurden, hat diese konservative Tendenz gestärkt und z.B. den Geschlechtsverbänden und der aristokratischen Staatsordnung in Syrien und den Phoenikerstädten dauernden Bestand verliehen. Als bezeichnendster Zug des semitischen Charakters tritt uns die Nüchternheit ihres Denkens entgegen: scharfe Beobachtung der einzelnen Tatsachen, wie sie wandernden Stämmen in Steppe und Wüste natürlich ist, und ein berechnender, auf das Praktische gerichteter Verstand, der auch die Religion und die Anschauungen von der Gottheit beherrscht, und hier, wo er eine Notwendigkeit zu erkennen glaubt, vor keiner Konsequenz zurückschreckt, sondern sie rücksichtslos und oft genug mit brutaler Grausamkeit durchführt. Dem entspricht es, daß die Semiten sich überall als geschickte Händler erwiesen haben. Dabei fehlt es keineswegs an Ehrgefühl und einer daraus erwachsenen idealen Gesinnung, die [415] sich namentlich in der Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen für den Verband äußert, zunächst den geschlechtlichen und politischen, später auch speziell den religiösen, in dem er steht oder dem er sich anschließt. Hier haben die Semiten gewaltige Idealisten hervorgebracht, nicht nur in den israelitischen Propheten, sondern auch in Mohammed und gar manchen Gestalten der Geschichte; des Islâms; und auch Persönlichkeiten wie die Karthager Hamilkar und Hannibal wird man hierher rechnen dürfen. Aber daneben bricht auch bei ihnen immer wieder die nüchterne Auffassung durch, welche mit den gegebenen Realitäten, eingebildeten wie wirklich vorhandenen, verstandesgemäß operiert und dabei auch das eigene Interesse nicht vergißt; die Intuition wird überwuchert durch kühle Berechnung. Nur zu oft stehen in den Äußerungen der israelitischen Propheten oder Mohammeds die großen, auf dem unwiderstehlichen Hervorbrechen einer inneren Überzeugung beruhenden Momente unmittelbar neben Zügen, die auf unser Gefühl fremdartig und abstoßend wirken; und in der Ausgestaltung der beiden vollkommensten Offenbarungen semitischen Geistes, des Judentums und des Islâms, treten diese Seiten vollends ganz in den Vordergrund. Zu der entsetzlichen Nüchternheit, welche diese beherrscht, bilden die Sohnesopfer und die religiöse Prostitution der Phoeniker nur die Kehrseite. Der Indogermane vermag das nicht auch nur vorübergehend zu ertragen: aus dem Islâm haben die Perser den Pantheismus der Sûfis entwickelt, gegen den der semitische Geist wieder in der echt arabischen Reaktion der Wahhâbiten sich aufgelehnt hat. Die Innigkeit des Gemütslebens und die Wärme der Empfindung, welche den Indogermanen auszeichnet, ist dem Semiten fremd; auch bei dem Aegypter tritt sie viel stärker hervor. Damit hängt aufs engste zusammen, daß dem Semiten die schöpferische Gestaltungskraft der Phantasie fehlt und darum die innere Freiheit des Geistes, die diese gewährt. In der semitischen Poesie dominiert durchaus der Verstand und die scharfe Beobachtung. Sie zeigt eine wirkungsvolle Rhetorik und ist ausgezeichnet durch Witz und Scharfsinn; aber sie [416] wird bizarr, sobald sie sich selbst ihre Welt schaffen soll. Selbst in ihren größten Schöpfungen, Deuterojesaja und Hiob, ist das unverkennbar; geht man von hier oder von der altarabischen Poesie etwa zu der indischen und persischen über, um von der griechischen ganz zu schweigen, so gelangt der Unterschied sofort lebendig zum Bewußtsein. Ebenso haben die Semiten zwar gar manche bedeutende praktische Erfindung aufzuweisen-keine ist in ihren Konsequenzen wirkungsvoller gewesen als die unseres Alphabets –, aber große selbständige Schöpfungen haben sie kaum hervorgebracht; und so gut wie gänzlich verschlossen ist ihnen das Gebiet der philosophischen Spekulation, auf dem alles analysierende Denken nie zum Ziele führt, wenn ihm nicht die schöpferische, die Zusammenhänge intuitiv erfassende und reproduzierende Phantasie ergänzend zur Seite tritt. Das gleiche gilt von der bildenden Kunst; es ist allbekannt, wie wenig die Semiten hier zu leisten vermocht haben. Die einzige, überraschende Ausnahme bildet die große Kunst der akkadischen Zeit Babyloniens (§ 404f.); aber dem steht die volle Stagnation nicht nur der Kunst, sondern des Geisteslebens überhaupt gegenüber, in die Babylonien in der Folgezeit auf mehr als ein Jahrtausend versunken ist.

353. Trotz dieser Mängel sind die Semiten ein hochbegabter Volksstamm, der im historischen Leben der Menschheit Gewaltiges geleistet hat. Es ist erstaunlich, mit welcher Energie die Stämme Arabiens Gesittung und eine eigenartige Kultur inmitten der Wüste geschaffen und dann ihre Anschauungen und den Stempel ihrer Eigenart fremden Völkern von zum Teil ganz anderer Denkweise aufgezwungen haben; noch erstaunlicher vielleicht ist die selbständige Entwicklung, welche in der Enge Palaestinas das kleine Volk der Israeliten sich errungen hat, und die gewaltige weltgeschichtliche Wirkung, die von hier ausgegangen ist. Achtunggebietend sind auch, trotz des Fehlens selbständigen inneren Lebens, die geschichtlichen Leistungen der Phoeniker und Karthager. Weit älter ist die Kultur Babyloniens. Sie ist freilich kein reines [417] Produkt des Semitismus, sondern beruht auf seiner Vermischung mit einem fremden Volkstum. Auch hat sie eine Höhe, die der der israelitischen und der arabischen oder auch nur der der aegyptischen Kultur vergleichbar wäre, nicht zu erreichen vermocht. Vielleicht ist das doch für die Eigenart des semitischen Wesens bezeichnend. Denn in Babylonien fehlt die Einwirkung, welche der lebendige Strom geschichtlichen Lebens schafft, die Aufnahme und Verarbeitung fremder Anregung und fremden Guts und die dadurch hervorgerufene Gegenwirkung, welche zum Herausarbeiten des eigenen Wesens zwingt; gerade diese Momente aber sind bei der Entwicklung der Israeliten und der Araber von entscheidender Bedeutung gewesen. In Babylonien dagegen hat sich, anders als in Aegypten, das innere Eigenleben des Volks alsbald erschöpft; über das einmal Erreichte vermochte es nicht hinaus zu kommen, und so ist seine Kultur früh zum Stillstand gelangt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 415-418.
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