Der Feldzug des Datis

[304] Das Unternehmen gegen Griechenland aufzugeben konnte Darius nicht in den Sinn kommen; vielmehr war es jetzt erst recht zu einer Ehrensache für das Reich geworden. Die persischen Truppen traf keine Schuld; auch diesmal hatten sie sich im Kampfe siegreich behauptet. Aber der Feldzug war falsch angelegt: man hatte Monate gebraucht für beschwerliche Märsche; man hatte die schöne Flotte nutzlos Stürmen und Klippen ausgesetzt; schließlich hatte man umkehren müssen, ohne auch nur an die Grenze des feindlichen Gebiets gelangt zu sein. Aber war es nötig, den weiten Umweg über Thrakien einzuschlagen und eine kostspielige Flotte aufs Spiel zu setzen? Die Perser waren unbedingte Herren der See; seit Themistokles' Flottenplan aufgegeben war – darüber war die persische Regierung selbstverständlich genau unterrichtet –, hatte man zur See keinen Widerstand zu fürchten. Von Milet und Samos aus ließ sich ein starkes Invasionsheer in ebensoviel Tagen nach Attika hinüberschaffen, wie es beim Landmarsch Monate brauchte. Dann stand man im Zentrum des feindlichen Gebiets; die Gegner waren zersplittert und unentschlossen. Die persisch gesinnten Gemeinden, die zu Persien neigenden Parteien konnten, wenn die persische Armee im Lande stand, sofort in Aktion treten. So war ein ernstlicher Widerstand kaum zu erwarten; in raschem Anlauf konnte der Hauptteil Griechenlands erobert und dann die Gemeinden, die etwa wie Sparta im Widerstand beharren würden, der Reihe nach niedergeworfen werden. Darius' Entscheidung entsprach diesen Erwägungen: er berief den Mardonios ab und übertrug das Kommando einem Meder Datis, dem der Neffe des Königs Artaphernes, der Sohn des Satrapen von Sardes, beigeordnet wurde. Für das Frühjahr 490 befahl er die Ansammlung einer neuen Reichsarmee und der für den Transport [305] von Mannschaft und Pferden erforderlichen Flotte in Kilikien363. Auch diesmal sollen es 600 Trieren gewesen sein, wie beim Skythenzug und in der Schlacht bei Lade. Schon das zeigt, daß die Zahl konventionell und viel zu hoch gegriffen ist. Auch waren es nicht Kriegs- sondern Transportschiffe, größtenteils wohl offene Pentekonteren, die von den Mannschaften selbst gerudert wurden – schon um der Verpflegung willen mußte man die Zahl der Matrosen möglichst beschränken364. So erklärt es sich auch, daß die Schiffe bei Marathon auf den Strand gezogen waren und die Athener versuchen konnten, sie mit den Händen festzuhalten. Aber auch wenn die Zahl der Schiffe feststünde, würde sie eine genauere Berechnung der Stärke des Heeres nicht ermöglichen. Mehr als 20000 Mann können es schwerlich gewesen sein, vielleicht beträchtlich weniger. Jedenfalls war die Armee des Datis wesentlich kleiner als das von Mardonios geführte Landheer. Reiter können nur in sehr beschränkter Zahl, wenige Hunderte, mitgeführt sein; auch diese konnten schon, wenn das Terrain ihnen zu operieren gestattete, dem griechischen Hoplitenheer gegenüber von ausschlaggebender Bedeutung werden. Auf die selbständige Kooperation einer Kriegsflotte verzichtete man; die Schiffe dienten nur dem Transport. Alle diese Dinge waren durch den Kriegsplan gegeben; auch sie zeigen aber, so gut wie dieser selbst, daß man von der Widerstandskraft der Griechen ziemlich gering dachte365.

[306] Gegen Anfang des Sommers 490 stach Datis mit seinem Heere von Kilikien nach Samos zur Fahrt quer durch das Ägäische Meer auf Griechenland zu in See366. Zur Strafe für sein Verhalten im Jahr 500 wurde Naxos verwüstet; die übrigen Inseln stellten Geiseln. Auf Delos wurde dem großen Gott Apollo ein Opfer dargebracht367. Nachdem die Dryoperstadt Karystos an der Südspitze Euböas zur Unterwerfung gezwungen war, erschien die Flotte vor Eretria. Hilfe hatte die Stadt von niemandem zu erwarten; auch die attischen Kleruchen im Gebiet von Chalkis (Bd. III2 S. 742 zogen vor, nach Attika zu flüchten, statt sich nutzlos aufzuopfern. So war das Schicksal Eretrias besiegelt, auch wenn nicht innerer Hader hinzugekommen wäre. Nach kurzer Belagerung öffneten die Führer der mit Persien im Einvernehmen stehenden Partei den Feinden die Tore, um das Schlimmste zu vermeiden. Die Stadt wurde eingeäschert, die Bevölkerung fortgeführt; Darius hat sie im Gebiet von Susa angesiedelt. Dann führte Datis das Heer nach Attika hinüber; auf Hippias' Rat landete er in der bergumkränzten Ebene von Marathon, deren kleine Bauern ehemals die Hauptstütze der Tyrannis gebildet hatten. Auch konnte hier, wenn [307] es überhaupt zu einer Schlacht kam, die persische Reiterei wirksam in den Kampf eingreifen.

Die Erwartung der Perser, die Gegner isoliert angreifen und schlagen zu können, hatte sich vollständig erfüllt. Von einer planmäßigen Organisation des Widerstands war keine Rede, eine nationale Armee, die ihnen die Landung hätte streitig machen können, war nicht vorhanden368. Zwar schickten, als die Feinde anrückten, die Athener einen Eilboten mit einem dringenden Hilfegesuch nach Sparta; aber bis die spartanischen Truppen marschfertig waren und in Attika erscheinen konnten, verging geraume Zeit; voraussichtlich mußte die Entscheidung vorher gefallen sein369. So war auch Athen lediglich auf seine eigene Kraft angewiesen. Nur die Platäer, denen ein Sieg der Perser die Auslieferung an das verhaßte Theben gebracht hätte, wahrten ihm die Treue; ihre gesamte waffenfähige Mannschaft, angeblich etwa 1000 Mann, stieß auf dem Schlachtfeld zu den Athenern. Inzwischen waren auf die Kunde von der Landung der Perser die Bataillone des attischen Hoplitenheers auf Miltiades' Betreiben370 in voller Stärke ausgerückt, um ihnen die Straße zu verlegen, die aus der Marathonischen Ebene [308] längs des Meers um den Fuß des Pentelikon nach Pallene und weiter nach Athen führt371. Ihre Zahl wird auf 10000 Schwerbewaffnete geschätzt. Leichtbewaffnete hatte man so wenig wie Reiter; die Mannschaften der beiden oberen Klassen, welche zu Pferd ins Feld zogen, gaben in der Schlacht ihre Rosse ab und traten in die Hoplitenphalanx ein372. Voll stolzer Siegeszuversicht waren die Athener ins Feld gerückt; aber als sie nun auf den Vorhöhen des Pentelikon lagerten und das feindliche Heer sich gegenübersahen, dem der Ruf der Unbesiegbarkeit vorausging, an Zahl dem ihrigen überlegen, in fremdartiger, Schrecken erregender Rüstung und Bewaffnung, da geriet der Mut ins Wanken. War es wirklich notwendig, alles auf einen Wurf zu setzen? War es nicht[309] geratener, sich hinter die Mauern373 Athens zu flüchten, die Hilfe der Spartaner, die weitere Entwicklung abzuwarten? Wenn kein anderer Ausweg blieb, schien ja die Möglichkeit, später doch zu schlagen, immer noch vorhanden. Auch unter den Strategen ließen sich nicht wenige Stimmen in diesem Sinne vernehmen. Da hat Miltiades eingegriffen. Er erkannte, daß, wenn man bei Marathon den Kampf nicht wagte, man ihn vor Athen noch weniger wagen würde; sollte man alsdann durch die Operationen der Feinde oder durch die letzte Verzweiflung doch noch dazu gezwungen werden, so konnte er nur in schimpflicher Niederlage enden. Wenn irgendwo, so galt hier der Satz, daß jede belagerte Stadt auf die Dauer unhaltbar ist. Die Perser beherrschten die See; sie konnten Athen von allen Verbindungen abschneiden und aushungern, wenn sie es nicht stürmen wollten. Lange vorher aber mußte die tyrannenfreundliche Partei, welche mit den Persern paktieren wollte, ans Ruder kommen oder, um sich zu retten, die Stadt dem Feinde in die Hände spielen wie in Eretria. Dagegen eine günstigere Gelegenheit, die feindliche Übermacht zu schlagen, als sie die eingenommene Stellung bot, ließ sich nicht finden; man mußte nur warten, bis die Perser zum Angriff vorgingen und dann mutig den entscheidenden Stoß führen. Es gelang Miltiades, den Polemarchen Kallimachos – das war damals noch ein erwählter kriegserfahrener Beamter, der als elfter im Strategenrat mitstimmte und den Ehrenplatz auf dem rechten Flügel einnahm – zu überzeugen. Seine Stimme gab den Ausschlag; es wurde beschlossen auszuharren. Die Konsequenz war, daß dem Miltiades als dem berufenen Führer dauernd das Oberkommando überlassen wurde.

[310] So blieben die Heere mehrere Tage lang unbeweglich in ihren Stellungen. Die Athener konnten ihre gedeckte Position nicht verlassen, ihr Heer nicht dem persischen Pfeilhagel aussetzen. Aus demselben Grunde mußten die Perser wünschen, in der Ebene zu schlagen; ein Angriff auf die athenische Stellung war bedenklich. Auch konnten sie im Vertrauen auf den Eindruck ihrer Erfolge und die Machinationen der zu ihnen neigenden Partei zunächst hoffen, daß die Athener alsbald abziehen und die Straße nach Athen freigeben würden. Aber als die Athener sich nicht rührten, wurde die persische Stellung unhaltbar; untätig stehenbleiben konnten sie nicht, abziehen noch weniger, ohne den Mut der Gegner gewaltig zu steigern und ihr Unternehmen von vornherein für gescheitert zu erklären; ihnen blieb nichts übrig, als auf jede Bedingung zu schlagen. Die Kunde, daß die Spartaner ausgerückt seien, mag den Ausschlag gegeben haben374: Datis entschloß sich zum Angriff und führte sein Heer in Schlachtordnung vor, im Zentrum, nach persischem Brauch, die besten Truppen, Perser und Saken375. Da stellte auch Miltiades sein Heer in Schlachtordnung [311] auf, auf dem rechten Flügel Kallimachos mit seiner Phyle, der Aiantis, dann die übrigen der Reihe nach, jede unter ihrem Strategen, auf dem linken die Platäer. Seit langem hatten die [312] Griechen gelernt, die Entscheidung der Feldschlacht nicht im Zentrum zu suchen, sondern auf den Flügeln, von hier aus die feindliche Schlachtreihe aufzurollen, und zu dem Zwecke, womöglich [313] die Feinde zu überflügeln und in der Flanke zu fassen. Das war freilich bei der numerischen Überlegenheit der Perser unmöglich; aber Miltiades dehnte seine Schlachtlinie so weit aus, daß sie der persischen gleichkam, und verstärkte beide Flügel, unbekümmert darum, daß dadurch das Zentrum dünn und nur wenige Glieder tief wurde. So erwartete er den persischen Angriff. Als aber die Feinde so weit herangekommen waren, daß ihre Pfeile in Wirksamkeit treten konnten, da »als die Opferzeichen günstig ausfielen«, ließ er die ganze Schlachtreihe im Laufschritt vorgehen. So gelangte man zum Nahkampf, ohne von dem persischen Pfeilhagel viel zu leiden. Es entspann sich ein heftiger Kampf Mann gegen Mann. Die Perser wehrten sich tapfer, so sehr sie den Hopliten gegenüber im Nachteil waren; sie durchbrachen die feindliche Mitte. Doch die tiefe Aufstellung der attischen Flügel brachte die Entscheidung: hier wurden die Feinde geworfen, und dann das siegreiche Zentrum angegriffen und geschlagen. Auch bei der Verfolgung gab es noch harte Kämpfe, in denen der Polemarch Kallimachos und der Strateg Stesileos den Tod fanden. Aber die Perser konnten nicht mehr zum Stehen kommen; zum Teil wurden sie in die Sümpfe im Norden der Ebene gedrängt, die Mehrzahl floh zu den Schiffen und stieß sie ins Meer. Hier wurde dem Kynegiros, [314] Euphorions Sohn, dem Bruder des Äschylos, die Hand abgehauen, als er versuchte, ein Schiff festzuhalten. Sieben Schiffe haben die Athener genommen; mit den übrigen gewann Datis das Meer. 6400 Tote soll er auf dem Schlachtfeld zurückgelassen haben; von den Athenern waren 192 gefallen.

Trotz der Niederlage hat Datis die Hoffnung auf einen Erfolg nicht sogleich aufgegeben; er umfuhr mit der Flotte das Sunische Vorgebirge. Vielleicht gelang es, durch eine plötzliche Landung Athen zu überraschen und mit den Tyrannenfreunden in der Stadt direkte Verbindungen anzuknüpfen: noch nach sechzig Jahren wurden die Alkmeoniden beschuldigt, durch einen aufgesteckten Schild dem Perser ein Zeichen gegeben zu haben, daß sie bereit seien, ihm die Stadt in die Hände zu spielen376. Aber bald mußte Datis empfinden, wie unmöglich es war, mit dem geschlagenen Heer eine Landung und eine neue Schlacht zu versuchen. Überdies war das siegreiche Athenerheer im Eilmarsch herangerückt und lagerte bei der Stadt. Daher gab er alle weiteren Unternehmungen auf und kehrte nach Asien zurück.

So war der feindliche Angriff glorreich abgewiesen. Als kurz nach der Schlacht das spartanische Hilfskorps von 2000 Mann eintraf377, fand es nichts mehr zu tun, als das Schlachtfeld zu besichtigen und den Athenern seine Anerkennung auszusprechen. Mit Hilfe der Götter hatten die Athener den ruhmvollsten Sieg erstritten, der einem Griechenstamm beschieden war. Sie hatten ein an Zahl überlegenes Heer mutig im Laufschritt angegriffen, sie hatten den Beherrschern der Welt den Ruf der Unbesiegbarkeit geraubt. Auf dem Schlachtfeld selbst wurden die Gefallenen bestattet; ihre Taten hatten sie den Heroen der Vorzeit gleichgestellt. Miltiades' Name war in aller Munde; seine Zuversicht hatte sich glänzend bewährt378. Es konnte scheinen, als sei [315] die Abenteuerlichkeit der Pläne des Themistokles erwiesen, die Überlegenheit des attischen Hoplitenheers über jeden feindlichen Angriff für alle Zukunft festgestellt. Tatsächlich freilich war nur die Verkehrtheit des vom König gebilligten, von Datis ausgeführten Kriegsplans erwiesen; wie die Dinge verlaufen würden, wenn die Perser zu dem Plane des Mardonios zurückkehrten, vermochte niemand zu sagen. So viel ist gewiß, daß ein Heerzug wie der des Xerxes im Jahr 490 Griechenland gänzlich unvorbereitet getroffen und auch die heldenmütigste Gegenwehr mit überlegener Macht niedergeworfen und erdrückt haben würde, während Datis' Unternehmen überhaupt unausführbar war, wenn Athen im Jahr 490 bereits eine seemächtige Flotte besaß. Die Entscheidung von Marathon hatte nur provisorische Gültigkeit; sie beruhte darauf, daß jede der beiden kriegführenden Mächte die Leistungsfähigkeit des Gegners unterschätzt hatte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 304-317.
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