Der übrige Peloponnes. Boeotien.

Der Krieg gegen Theben

[252] Gegen die argivische Ebene treten die übrigen Landschaften weit zurück. Im Eurotastal, dem »hohlen Lakedaimon«, liegt auf einem Hügel bei Vaphio ein Kuppelgrab, aus dem zwei der prächtigsten Schöpfungen aus der Blütezeit der neukretischen Kunst stammen, zwei Goldbecher mit getriebenen Reliefs, von denen das eine das Einfangen der Stiere, das andere die weidende Rinderherde darstellt487. In der Nähe liegt Amyklae, das als Herrschersitz der achaeischen Fürsten Lakoniens sowohl durch die Tradition wie durch die Verbreitung des Kults des Apollon von Amyklae nach Cypern und Kreta erwiesen wird488. Den Kern dieses Kults bildet das Hyakinthienfest, ein im Hochsommer gefeiertes Trauerfest um den Tod eines schönen Jünglings, das sich zu den zahlreichen gleichartigen Kulten Kleinasiens stellt, die das Hinschwinden und Tod der Vegetation betrauern. Es gehört also bereits der vorgriechischen Bevölkerung an, auch der Name ist kleinasiatisch. Die ältesten Fundschichten im Tempel von Amyklae aus mykenischer Zeit, darunter zahlreiche kleine Weihgeschenke wie in den kretischen Heiligtümern, zeigen, daß dabei das Opferblut in die Erde gegossen wurde, wie beim Totenkult489.

Auch in den Vorhöhen des Taygetos und an seinem Westabhang liegen ein paar Kuppelgräber, so bei Kampos (Gerenia) mit der Bleistatuette eines Adoranten. Bedeutsamer sind [253] die drei Kuppelgräber von Kakovatos in der Mitte der Westküste des Peloponnes am Fuß einer kleinen, 2 Kilometer vom Meer entfernten Burg; es ist das Pylos Homers, der Sitz des Neleus und Nestor490. Mehrere Kuppelgräber liegen in der Hochebene des südöstlichen Arkadiens bei Tegea491; im übrigen tritt das Binnenland und die nördliche Küste des Peloponnes sowie das Isthmusgebiet ganz zurück.

In Mittelgriechenland tritt am bedeutendsten Boeotien hervor. Diese rings von Bergzügen umschlossene Binnenlandschaft zerfällt in der mykenischen Epoche in zwei auch geographisch geschiedene Gebiete, die erst später durch die von Nordwesten einbrechenden Boeoter zu einer Einheit zusammengefaßt sind. Im Süden liegt das Reich der Kadmeer mit der Hauptstadt Theben492. Theben ist eine typische Binnenstadt; [254] seine Burg, die gewöhnlich Kadmeia genannt wird und sich von allen anderen mykenischen Königsburgen dadurch unterscheidet, daß sie sieben Tore hat, liegt auf einem von zwei Bächen, der Dirke und dem Hismenos, umschlossenen Hügel am Südrande der von ihm beherrschten aonischen Ebene. In ihr liegen die Trümmer des Palastes, mit Resten von Stuckfresken, die stilistisch denen des älteren Palastes von Tiryns und des von Mykene gleichstehn und also der Zeit um 1400 angehören werden493.

Die griechische Sage berichtet von einem Heerzug gegen Theben unter Führung des Königs von Argos; in der Tradition, die das Epos immer weiter ausgestaltet, steht er ebenbürtig neben dem Zug nach Troja494. Wie ein geschichtliches [255] Ereignis überall, wo Vorgänge der Gegenwart in den populären Erzählungsstoff übergehn und dann in epischen Liedern dauernd lebendig erhalten werden, sich sofort mit Stoffen ganz anderen Ursprungs, teils Mythen, teils Märchen durchsetzt und dadurch von Grund aus umgestaltet wird, so ist es auch diesen beiden Sagenkreisen gegangen: der troische verschmilzt mit dem Mythus von Helena und dem von Achilleus und wird dann durch Hineinziehung neuer Gestalten, so zunächst des Odysseusmythus, immer mehr erweitert, im thebanischen tritt vor allem die Oedipussage nebst der Gestalt des blinden Sehers Tiresias hinzu. Ferner ist Amphiaraos mit ihm verbunden, der Gott des benachbarten Oropos im Gebiet der Graer, der in einer Höhle unter der Erde haust und dort Traumorakel gibt – das wird dadurch erklärt, daß Zeus im Kampfe von Theben durch einen Blitzstrahl die Erde spaltet und er lebend in die Unterwelt hinabfährt. Bei der weiteren Ausbildung der Sage in der epischen Dichtung Ioniens495 sind dann die religiösen und prophetischen Züge immer mehr ausgesponnen und durch Einfügung neuer Gestalten vermehrt worden; aber ganz deutlich ist, daß die Grundlage überall – auch in der Oedipussage496 – echt [256] boeotische Kulte und Mythen bilden, und zwar meist Erdgottheiten und Orakel, von denen das Land auch später noch voll war. Diese ursprünglich selbständig nebeneinander stehenden Erzählungen, die Ursprung und Sonderart einzelner Kulte ätiologisch erklären sollten, sind dann mit der Tradition vom Kriege gegen Theben verbunden worden. Herbeigeführt wird er durch den Zwist zweier Brüder um die Herrschaft, der zur Werbung von Bundesgenossen für den Krieg und zum gegenseitigen Brudermord im Zweikampf führt497 – das ist ein weitverbreitetes Motiv populärer Erzählungen, in dem keinerlei mythische Elemente zu suchen sind. Das hat dann weiter dazu geführt, daß sie zu Söhnen des Oedipus aus seiner blutschänderischen Ehe gemacht werden; dadurch wird die ganze Oedipussage einschließlich der Sphinx – des Dämons des Φίκιον ὄρος gegenüber von Theben am Nordrande der aonischen Ebene, dem die Gestalt des von der kretischen Kunst aus dem Orient übernommenen Mischwesens gegeben wird – mit dem Kriege verbunden498. Nur umso deutlicher tritt [257] demgegenüber der geschichtliche Kern hervor. Ein Kriegszug des Königs von Argos gegen Theben, also ein Versuch, seine Herrschaft auch über Mittelgriechenland auszudehnen, ist durchaus begreiflich. Vielleicht darf man daraus, daß unter den Angreifern auch der Aetoler Tydeus erscheint, schließen, daß sie in den Bergstämmen des Westens Bundesgenossen fanden499. Allerdings wäre es voreilig, zu folgern, daß der Krieg eine wirklich Epoche machende Bedeutung gehabt haben müsse, da die Heldensagen anderer Völker, vor allem die germanischen, zeigen, daß oft genug ziemlich unwesentliche Vorgänge (wie z.B. der Untergang des Burgunderreichs von Worms) in der Sage eine zentrale Stellung gewinnen, während weit wichtigere Ereignisse, wie die Invasion des Römerreichs, dem Gedächtnis vollständig entschwinden. Jedenfalls aber handelt es sich um ein Unternehmen, das nicht zum Ziele geführt hat: daß der Angriff abgeschlagen wird und die Führer vor den Toren Thebens sämtlich fallen500, bildet den Inhalt der Kämpfe. Erst ganz sekundär wird dann eine Eroberung Thebens zehn Jahre später durch die Söhne der Gefallenen hinzugefügt501; da ist die Eroberung des kadmeïschen Thebens durch die Boeoter in der Völkerwanderung fälschlich in die Urzeit hinaufgesetzt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 252-259.
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