Die phoenikische Kunst

[130] In dem großen Verkehrsgebiet, das der phoenikische Handel zusammenfaßte, hat sich ausgebildet, was uns als Erzeugnis phoenikischer Kunstfertigkeit entgegentritt. Schon früher sind die Schwierigkeiten berührt worden, mit denen auf diesem Gebiet eine gesicherte Erkenntnis zu kämpfen hat; gesteigert sind sie dadurch, daß aus den phoenikischen Städten selbst Denkmäler bis zur Perserzeit hinab fast völlig fehlen. Aber im wesentlichen liegen sie in der Sache selbst, in dem inneren Wesen des Phoenikertums, dessen Eigenart sich auch hier, wie bei allen Völkern, in seiner Kunst verkörpert275.

[130] Die Phoeniker sind betriebsame Kaufleute, praktisch und nüchtern, wie es deren Art ist. Was ihr Geschäft erfordert, verstehn und beurteilen sie zutreffend; und so haben sie sich mit Geschick angeeignet, was immer ihnen dienstlich erschien. Den Griechen gelten sie als Meister der Erfindungen; die Bereitung des Glases, die Purpurfärberei, die Metallarbeit und weiter Maß und Gewicht und die Kunst des Schreibens werden auf sie zurückgeführt. In Wirklichkeit ist keine einzige dieser Fertigkeiten von den Phoenikern geschaffen. Die Glasbereitung ist in Ägypten heimisch; bunte wollene Gewänder tragen, im Gegensatz zu der linnenen Kleidung der Ägypter, die syrischen Völkerschaften, Semiten wie Nichtsemiten, wo immer sie auf ägyptischen Denkmälern dargestellt sind; das Metall hat man in Ägypten und Babylonien seit den ältesten Zeiten bearbeitet; die den vorderasiatischen Handelsverkehr beherrschenden Maße und Gewichte stammen aus Babylonien, ebenso wie der Gebrauch von Silber und Gold als Wertmesser; und auch die bedeutsamste Schöpfung der Phoeniker, das Alphabet, geht doch auf Anregungen aus Ägypten zurück. Aber die Phoeniker haben alle diese Errungenschaften für ihre praktischen Zwecke verwendet und weiter verbessert. Bezeichnend dafür ist die Art, wie sie die Schrift vereinfacht und ohne lange Lehrzeit bequem verwendbar gemacht haben. In derselben Weise werden sie gar manche Technik und so auch den Schiffbau vervollkommnet haben.

Dagegen fehlt diesen Verstandesmenschen in noch höherem Grade als ihren semitischen Stammgenossen jede Schwungkraft der Phantasie und damit der Antrieb zu selbständigem Schaffen aus dem eigenen Innern heraus. Sie können rechnen und nachahmen, aber nicht frei gestalten. Herodot schildert ihren Handelsbetrieb durchaus zutreffend mit den Worten: »Sie unternahmen weite Seefahrten und exportierten ägyptische und assyrische (d.h. nach Herodots Sprachgebrauch babylonische) Waren«276. [131] Damit sind zu gleich die gesamten Erzeugnisse des phoenikischen Kunstgewerbes charakterisiert. Sie kopieren und variieren die Vorbilder, welche ihnen die Kunst Ägyptens, Babyloniens und Assyriens, des chetitisch-kleinasiatischen Bereichs liefert, ohne sie wirklich zu verstehn. Dabei begegnen dann fortwährend Fehler und Stilwidrigkeiten derselben Art, wie sie in den Nachahmungen chinesischer und ägyptischer Vorbilder in der europäischen Industrie seit dem 18. Jahrhundert überall vorliegen und im Kunsthandel die Fälschungen verraten. Die hieroglyphischen Inschriften auf phoenikischen Silberschalen, Glasgefäßen (vgl. S. 105, 1 aus Spanien) u.a., nicht selten mit aus beliebigen Zeichen zusammengestellten scheinbaren Königsnamen, sind durchweg sinnlos und oft eben so stilwidrig wie die auf den Obelisken moderner Schloßparks oder auf den für fremde Touristen fabrizierten Skarabaeen. In den Reliefs und Gemälden auf Metallschalen, Elfenbeinkästchen und Möbeln, die sich in zahlreichen Bruchstücken in zwei Magazinen des Palastes von Kalach (Nimrod) erhalten haben, den Assurnaṣirpal II. zuerst erbaut und dann Sargon wieder hergestellt hat, sind die diesen Kunststilen entlehnten Motive nebeneinander verwendet; dadurch ist zugleich eine annähernde Datierung gegeben277. Gleichartige Darstellungen finden sich an den verschiedensten Stellen im Bereich des phoenikischen und später des karthagischen Handels. Aber ein Versuch, sie innerlich zu einer organischen Einheit zu verbinden und sich selbst einen eigenen Stil zu schaffen, liegt den Phoenikern völlig fern; was ihre Kunst charakterisiert und überhaupt erkennbar macht, ist eben diese Stillosigkeit. Daher ist [132] es so häufig unmöglich, mit Sicherheit zu entscheiden, ob eine dieser Arbeiten wirklich von Phoenikern stammt oder unter ihrem Einfluß von einem einheimischen Handwerker oder Künstler angefertigt ist; das wird besonders deutlich auf Cypern (o. S. 87f.), wo noch die mykenischen und griechischen Einflüsse hinzukommen278.

So sind die phoenikischen Arbeiten nicht Schöpfungen eines lebendigen Kunsttriebes und Ausdruck einer Idee, sondern Waren, die einen Absatz erwarten lassen. Beherrschend ist daher, wie in ganz Syrien, die jeweilige Mode. In der älteren Zeit dominiert der ägyptische Einfluß; mit dem Emporkommen der Assyrermacht wurden dann die assyrisch-babylonischen Vorbilder herrschend. Unter den Achaemeniden nehmen die phoenikischen Dynasten die persische Tracht an, und daneben macht sich schon seit dem 6. Jahrhundert stärker der Einfluß der griechischen Kunst geltend. Das geht so weit, daß man sich schließlich, um modern zu sein, nicht nur in griechische Gewänder kleidet, sondern sogar, im Gegensatz gegen alle anderen Semiten, den Bart abrasiert hat.

Grundlegend ist, der Geschichte des Landes entsprechend, von alters her der ägyptische Einfluß. Die Formen der Baukunst sind ganz von diesem abhängig. Über dem Portal der Tempel und Kapellen schwebt die geflügelte Sonnenscheibe oder am Gesims eine lange Reihe von Uraeusschlangen mit dem Sonnendiskus auf dem Haupt. Die Tafeln der Weihinschriften werden ganz nach ägyptischem Vorbild gestaltet, mit der geflügelten Sonnenscheibe darüber, deren Gestaltung mit den herabhängenden Uraeusschlangen nicht mehr verstanden wird und die daher, wie bei den Chetitern und Assyrern und überall in der vorderasiatischen Mischkunst, in einen Sonnenvogel umgebildet wird. Ebenso wird aus dem ägyptischen Mondbild (Mondsichel mit von dieser umfaßtem Vollmond) ein Halbmond [133] mit der Sonne oder einem Stern darüber. Das ägyptische Lebenszeichen (das sog. Henkelkreuz Die phoenikische Kunst), als schutzbringend auf Siegeln und Amuletten überall verwendet, so wenig man seine Bedeutung versteht, wird in eine menschenähnliche Figur mit darangesetzten Armen und Beinen Die phoenikische Kunst verwandelt, ein Symbol, das uns später namentlich auf den karthagischen Stelen immer wieder begegnet. Dazu kommen dann all die anderen phantastischen Gestalten dieser Mischkunst, die seit alters in ein weibliches Wesen umgestaltete geflügelte Sphinx, die verschiedenen Greifen, der jetzt auch in Ägypten als Abwehr gegen den bösen Blick sehr beliebte Bes-Kopf, ferner Kämpfe der Götter und Dämonen mit Löwen und Ungeheuern u.ä. Auf den Siegeln mit den Namen ihrer phoenikischen Besitzer, gelegentlich Zylindern, meist geschnittenen Steinen, sehr oft in Gestalt von Skarabaeen, kehren alle diese Gestalten wieder.

Sehr früh hat sich von Ägypten aus das Gottesbild nach Syrien und Phoenikien verbreitet. So wird die große Göttin von Byblos immer ganz in der Gestalt der Ḥatḥor oder Isis dargestellt, mit Kuhhörnern und zwischen ihnen der Sonnenscheibe auf dem Haupte279. Umgekehrt sind, wie wir früher schon gesehn haben, zur Zeit der ägyptischen Eroberungen manche Gottheiten aus Syrien in der dort geschaffenen Gestalt nach Ägypten gelangt, so die Göttin Qadeš von Kinza, die nackt auf einem Löwen steht, mit Blumen und Schlangen in den Händen, Haartracht und Kopfschmuck wie Ḥatḥor, aber gegen die ägyptische Art en face gebildet, ferner die Kriegsgöttin 'Anat oder 'Asit zu Roß und der gleichfalls als Krieger mit allen Waffen dargestellte Gott Rešep, dessen Helm mit dem Kopf einer Gazelle geziert ist280.

Die Hauptobjekte des Kultus dagegen, die heiligen Steine und Holzpfähle oder Bretter, in denen die Gottheit sitzt, sind niemals in bildliche Darstellungen der Götter umgewandelt, wie in den Hermen und Brettidolen der Griechen, sondern haben [134] immer ihre ursprüngliche Gestalt bewahrt. Völlig gleichartig waren lange Zeit die Steinpfeiler, die man auf ein Grab stellt oder die sich jemand als Gedächtnismal –hebraeisch jad »Hand« genannt – am Wege aufrichtet oder auch in einen Tempel stellt, um sich das Gedenken und die Gnade der Gottheit zu sichern. Solche Steinpfeiler, oft von großen Dimensionen, haben sich z.B. in Gazer in großer Zahl erhalten und werden in der israelitischen Überlieferung oft erwähnt. Vielfach finden sie sich in der Wüste, wo sie natürlich ganz undatierbar sind. In ihnen lebt der Name und die Person des Stifters fort; aramaeisch heißt die Grabstele daher nepheš »Seele«. In den Eponymenstelen von Assur hat man diese Form bis ans Ende des Reichs beibehalten, und da kommt der Gedanke, der sie geschaffen hat, ganz lebendig darin zum Ausdruck, daß sie in der daraufgesetzten Inschrift als »Bild« des Stifters bezeichnet wird, obwohl dieses Bild in Wirklichkeit nur durch den Namen vertreten wird281. In Phoenikien dagegen ist, etwa gleichzeitig mit Griechenland, der Schritt zum plastischen Bilde gemacht worden, sowohl bei den Grabstelen wie vor allem bei den Stiftungen in den Tempeln. Auf Cypern sind die Tempel voll von Votivstatuen in menschlicher Gestalt, Männern und Frauen, ganz entsprechend den ἀνδριάντες und κόραι der griechischen Tempel; und wie bei diesen ist auch hier garnicht zu entscheiden, ob sie den Geber oder die Gottheit darstellen sollen. Das Wesentliche ist denn auch nicht die Bedeutung des Bildes, sondern die Betätigung der Frömmigkeit: es ist geheiligter Brauch geworden, daß wer von der Gottheit begnadigt und mit reichen Mitteln ausgestattet ist, ihr seinen Dank und den Anteil am Gewinn durch, eine solche Gabe darbringt.

In diesen cyprischen Statuen und Statuetten stehn überall die verschiedensten Stile, der ägyptische, vorderasiatische, griechische bunt nebeneinander. Wie diese Mischung ebenso die Gestaltung der Götterbilder durchdringt, zeigt besonders anschaulich eine Stele aus Marathos (Amrît gegenüber von Arados)282. [135] Auf ihr ist ein Gott dargestellt, der ganz nach dem Vorbilde der Pharaonen gebildet ist, bekleidet mit dem Lendentuch der Könige nebst dem zugehörigen, lang herabhängenden Schwanz, um den Hals eine Schmuckkette, auf dem Haupt die Krone Oberägyptens, an der die Uraeusschlange natürlich verzeichnet ist; in der nach oben ausholenden Rechten schwingt er eine gekrümmte Keule, die dem Sichelschwert entspricht. Nichtägyptisch ist nur sein nach chetitischer Weise aufgerollter Haarschopf; über ihm schweben der Mond und die geflügelte Sonnenscheibe. Aber dazu kommen dann Entlehnungen aus dem chetitischen Kulturkreise, die auch bei den Assyrern heimisch geworden sind: in der Linken hält er an den Hinterbeinen eine winzige Löwin in die Höhe – ein Motiv, das sich ebenso bei einer Göttin auf einer phoenikischen Elfenbeinplatte aus Kalach findet283 und von den Griechen auf die große Jägerin Artemis, die πότνια ϑηρῶν, übertragen ist; und seine Gestalt wird getragen von einem Löwen, der auf dem Gebirge steht. Dabei hat der Künstler garnicht den Versuch gemacht, die verschiedenen Motive organisch zu verbinden und seine Darstellung irgendwie lebenswahr zu machen: er hat die Füße des stehenden oder schreitenden Gottes einfach auf den Kopf und den nach oben gekrümmten Schwanz des Tieres gesetzt.

Dieses Relief kann als typisch gelten für die phoenikische Kunst. Durchweg zeigt sich, daß diese, anders als die chetitische, für die Universalgeschichte der Kunst überhaupt nicht in Betracht kommt. Bedeutung hat sie nur dadurch gewonnen, daß sie die orientalischen Motive dem Westen, vor allem der archaischen Kunst Griechenlands übermittelt hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 130-137.
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