Recht und Moral. Das Bundesbuch

[314] Soweit wir sehn können, hat es im alten Israel festformulierte oder gar schriftlich aufgezeichnete Rechtssätze nicht gegeben687, sondern die aus den Ältesten der Gemeinden, d.i. den [314] Häuptern der angesehensten und wohlhabendsten Geschlechter gebildeten Richter entscheiden nach dem Herkommen, und wo dies nicht ausreichte, nach eigenem Ermessen, in derselben Weise, wie z.B. in Griechenland vor den großen Gesetzgebungen des 7. und 6. Jahrhunderts und wie es in Sparta dauernd festgehalten wurde. Die Gerichtsurteile werden öffentlich, in Gegenwart der Volksgemeinde gegeben, die Todesurteile von dieser selbst durch Steinigung vollzogen688. Daneben konnte der König eingreifen und selbst die Entscheidung geben oder z.B. einen der Blutrache des Geschlechts Verfallenen unter seinen Schutz nehmen689.

Indessen die fortgeschrittene Kultur und die durch sie geschaffene Zersetzung der schlichten und homogenen Lebensformen erzeugt auch hier das Bedürfnis nach einer festen Rechtsordnung, die der Willkür der richterlichen Entscheidungen Schranken setzt und das aus primitiven Zuständen erwachsene Gewohnheitsrecht durch ein richtiges, den fortgeschrittenen rechtlichen und sittlichen Anschauungen entsprechendes Recht ersetzt. Daraus ist eine Sammlung von Rechtssätzen erwachsen, die uns unter dem Namen »Bundesbuch« (Exod. 24, 7) erhalten ist als Zusammenfassung der rechtlichen und kultischen Gebote, die Jahwe dem Volk auferlegt hat, als er mit ihm den Vertrag schloß, durch den er der Gott Israels wurde690.

Den Hauptbestandteil des Bundesbuchs bilden locker aneinandergereihte691 Rechtssatzungen (mišpaṭîm, Exod. 22, 1 bis [315] 22, 19), also eine Sammlung des Tôrôt, der Weisungen, durch die, wie es im Segen Moses heißt, die Lewiten das Volk über das Recht belehren. Die Zwangsgewalt eines Staatsgesetzes haben sie nie besessen692, wie denn manche Vorschriften, so die über das Sklavenrecht, niemals ausgeführt worden sind; es sind vielmehr die Normen, nach denen die Richter ihre Entscheidung geben sollen. An sie angeschlossen ist eine Reihe sittlicher und humaner Vorschriften693, die nach Jahwes Willen jeder Israelit befolgen soll, die aber rechtlich meist garnicht erzwungen werden können und bei denen daher auch jede Strafbestimmung fehlt. Daß Jahwe solche Weisungen gegeben hat, ist für alle Propheten die Voraussetzung ihrer Strafreden; daß sie die Tora ihres Gottes vergessen und die Gotteserkenntnis verachten, ist der Vorwurf, den Hosea gegen die Priester Israels erhebt. Eine Sammlung dieser Satzungen ist das Bundesbuch. Die Lebensverhältnisse und Anschauungen, die es widerspiegelt, sind die eines Bauernvolks; das Gesetzbuch ist also in Israel entstanden und setzt das Bestehn friedlich geordneter Zustände im Volke voraus. Von einer Einwirkung der prophetischen Ideen findet sich noch nichts. Wohl aber sind die rechtlichen sowohl wie die sittlichen Anordnungen überall beherrscht von einem weit über die primitiven Anschauungen hinaus gesteigerten sittlichen Empfinden. Das Streben, gerecht zu urteilen, führt zu einer Scheidung der verschiedenen Fälle, so im Blutrecht: wer einen anderen erschlägt, soll getötet werden; die Tötung hat natürlich der Bluträcher zu vollziehn, dem ist, wie im Blutrecht Drakons, ein Abkauf der Schuld durch Zahlung einer Blutsühne nicht mehr gestattet. Wenn die Tötung unabsichtlich (»durch [316] Gottes Fügung«) geschehn ist, darf der Totschläger an eine Kultusstätte flüchten; liegt aber hinterlistiger Mord vor, so soll er vom Altar weggerissen und getötet werden. Ähnlich wird bei Körperverletzungen geschieden, wenn auch im allgemeinen der Satz gilt Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nicht selten führt das bereits zu einer entwickelten Kasuistik, so z.B. bei Diebstahl oder bei einem stößigen Stier694. Dadurch tritt die früher so oft angewendete Entscheidung durch ein Orakel ganz zurück; sie kommt nur noch vor, wenn anvertrautes Gut weggekommen ist, ohne daß ein Dieb nachweisbar ist; und auch hier kann an Stelle des Gottesurteils ein Eid der Parteien vor Jahwe treten695.

Für die wirtschaftliche Lage bezeichnend ist das ständige Anwachsen der Sklaverei im eignen Volk. Durch den Fortschritt der Geldwirtschaft und das harte Schuldrecht sinken ununterbrochen zahlreiche Hebraeer696 in Schuldknechtschaft und werden verkauft; daß sie ihr Recht gegen die Armen so rücksichtslos ausüben, ist bekanntlich der schwerste Vorwurf, den Amos gegen die Israeliten erhebt. Es ist bezeichnend, daß der Gedanke, das Schuldrecht zu ändern und die Schuldknechtschaft aufzuheben, wie später in Griechenland und in Rom, noch ganz fern liegt; das Bundesbuch begnügt sich mit der Mahnung, den Armen bei Darlehn milde zu behandeln und von ihm keinen Zins zu nehmen697. Dagegen bemüht es sich, die Lage des Schuldknechts zu bessern; der hebraeische Knecht soll nach sechs Jahren freigelassen werden698, wenn er nicht vorzieht, dauernd bei seinem[317] Herrn zu bleiben – das werden sehr viele getan haben, da es ihnen ihre Existenz sichert. Anders liegt es dagegen in dem offenbar alltäglich vorkommenden Fall, daß jemand seine Tochter als Sklavin und Konkubine verkauft hat699; dann bleibt sie Sklavin, nur ihre gute Behandlung wird verlangt, und an Ausländer soll sie nicht verkauft werden.

Die Tendenz, gegen Verbrechen mit aller Strenge vorzugehn, aber die Notlage der ärmeren Bevölkerung nach Möglichkeit zu mildern, geht durch das ganze Gesetzbuch. Mit dem Tode bestraft werden soll, wer freie Menschen raubt und als Sklaven verkauft, sowie wer Vater oder Mutter schlägt oder ihnen flucht, ferner die religiösen Verbrechen, Zauberei, Beischlaf bei einem Tier, Opfer an andere Götter (s.u.). Daran reihen sich die Weisungen zu rechtlichem und sittlichem Verhalten: Beisassen, Witwen und Waisen nicht bedrücken, gegen den Armen das Schuldrecht nicht ausnutzen, von ihm keinen Zins für ein Gelddarlehn fordern, ihm einen verpfändeten Mantel für die Nacht zurückgeben. Ein Nachtrag mahnt weiter: Du sollst kein böses Gerücht (gegen jemand) aussprengen noch falsches Zeugnis zugunsten einer schlechten Sache geben. Auch dem Gegner soll man einen verlaufenen Ochsen oder Esel zurückbringen, das Recht der Armen nicht beugen noch sich (im Gericht) bestechen lassen. Ein weiterer Nachtrag wandelt den Feiertag am Schluß der siebentägigen Woche700, den Sabbat, an [318] dem man sich der Erholung und Festfreude hingab, in ein soziales Gebot: am siebenten Tage soll die Arbeit unterbleiben, damit das Vieh, der Knecht und der Beisasse ausruhen und Atem schöpfen können. Dies Gebot hat zu einer für die Tendenzen dieser Schrift charakteristischen Erweiterung geführt: es wird auch auf das siebente Jahr übertragen, in dem der Grundbesitzer den Ertrag des Ackers, der Weinberge und Ölbäume nicht für sich einernten, sondern den Armen überlassen soll701. An eine Befolgung dieser gut gemeinten, aber in der Praxis ganz undurchführbaren Vorschrift war natürlich nicht zu denken; erst das Judentum hat auch damit Ernst gemacht.

Angeschlossen ist eine Reihe kultischer Gebote, von denen das Kernstück als von Jahwe am Sinai durch Moses gegebenes Gebot Exod. 34 wiederkehrt, mit mehreren, gleichfalls dem Bundesbuch entnommenen Zusätzen702. Dies Kernstück gebietet, [319] daß an den drei Festen des Landbaus, Mazzen am Beginn der Ernte, Erntefest und Weinlese am Schluß des Jahres, alle Männer »vor Jahwe«, d.h. an den Kultstätten, erscheinen sollen, und zwar »nicht mit leeren Händen«, also mit Opfergaben zu den großen Schlachtfesten. Daneben steht das aus der Nomadenzeit stammende Schlachtfest der jungen Lämmer im Frühjahr, das nicht gemeinsam, sondern von den Familien in der Wohnung gefeiert wird; es ist recht eigentlich das Fest Jahwes703, für den das zauberkräftige Blut an die Türpfosten geschmiert wird. Das Tier muß noch in der Nacht völlig verzehrt werden, auch vom Fett darf nichts auf den folgenden Morgen aufgehoben werden; da es in dieselbe Zeit fällt wie das Mazzenfest (im Judentum ist es dann völlig damit zusammengeworfen), darf dabei kein gesäuertes Brot benutzt werden. Angeschlossen sind noch zwei weitere Gebote: von den Erstlingen der Feldfrucht eine Abgabe (re'sît ἀπαρχή) an den Tempel zu geben, und (beim Passachopfer) das Lamm nicht in der Milch seiner Mutter zu kochen – das erschien als widernatürlich und daher als religiöser Frevel.

In diesen Geboten findet sich von den sonst im Bundesbuch hervortretenden sittlichen Tendenzen nichts; dagegen zeigen sie das Bestreben, den Kultus zu regulieren und zu steigern704. [320] Dahin gehört weiter das verhängnisvolle Gebot: »Deinen erstgeborenen Sohn sollst du mir geben, ebenso sollst du mit der Erstgeburt von Rindern und Kleinvieh verfahren und sie am achten Tage mir geben (d.h. opfern)«. In Exod. 34 ist hinzugefügt, daß die erstgeborenen Söhne gelöst werden sollen (durch ein stellvertretendes Tieropfer); aber gerade dieser Zusatz beweist, daß das Gebot ursprünglich wörtlich, als wirkliche Opferung, gemeint ist705. Wie bei den Phoenikern hat sich der Glaube, der Zorn der Gottheit könne nur durch Hingabe des Kostbarsten, was der Mensch besitzt, beschwichtigt werden, in dieser Zeit auch bei den Israeliten (und ebenso bei den Moabitern) immer weiter verbreitet und hat auch in das Bundesbuch Aufnahme gefunden.

Den Eingang des Bundesbuchs bilden Gebote über die Form, »in der Jahwe verehrt werden will«706. Wie in den Fluchformeln von Sichem steht auch hier das Verbot des Gottesbildes voran: »Ihr sollt euch neben mir keine Götter aus Silber und Gold machen«707; mit solchen Bildern wird, das ist die Auffassung, dem Gotte, der in eigener Person seine Gebote erläßt, ein selbständiges beseeltes Wesen zur Seite gestellt. Dagegen verheißt Jahwe, daß er »an jeder Kultstätte (maqôm), wo er seinen Namen [321] anrufen läßt, zu dir kommen und dich segnen wird«. Aber Altäre soll man nur aus Erde oder unbehauenen Steinen und ohne Stufen (»damit deine Scham nicht vor ihm entblößt werde«) errichten – eine echt lewitische Polemik gegen den im Kultus eingerissenen Luxus und die prunkvollen Altäre, wie sie seit Salomo in Jerusalem und ebenso in den Tempeln Israels standen708 und das Wesen des schlichten, volkstümlichen Kultus der Vorzeit zerstörten.

In den Formeln von Exod. 34 ist dem Verbot der Gußbilder vorangestellt: »einen anderen Gott sollst du nicht verehren; denn Jahwe heißt Eiferer, er ist ein eifernder Gott«. Im Bundesbuch fehlt dieser Satz, da es die Alleinverehrung Jahwes als selbstverständlich voraussetzt709; dagegen steht unter den Strafgesetzen: »Wer andern Göttern opfert, soll gebannt werden«710; er ist mit Weib und Kind und der gesamten Habe Jahwe verfallen und wird vor ihm abgeschlachtet, wie im Vernichtungskriege die durch ein Gelübde der Gottheit geweihten Feinde711. Auch ein Nachtrag (23, 13) gebietet: »Den Namen anderer Götter sollst du nicht anrufen noch in den Mund nehmen«.

[322] Dieses Gebot entspricht ebensowohl dem Kultus von Sichem wie dem Wesen des Sinaigottes. In der Praxis freilich haben sich diese Forderungen nur in vereinzelten Fällen durchsetzen lassen; die überzeugten Anhänger der Reformbewegung waren eben gering an Zahl, die Massen hielten an den überkommenen Kultformen fest. Wie in den Tempeln Israels, mit Ausnahme von Sichem, die metallenen Kultbilder Jahwes standen, so dachte man ihn sich umgeben von einem Hofstaat abhängiger Gottheiten, wie in der Geschichte vom Paradiese. So stand im Tempel von Jerusalem eine angeblich von Moses angefertigte eherne Schlange Nechuštan, der Sitz eines Dämons, der Heilung von Schlangenbissen gewährte. Durch Amos erfahren wir, daß die Israeliten bei der Ašima von Samaria schwören712 so gut wie beim Gott von Dan und beim Daud (Dämon) von Be'eršeba713. Derselben »Ašima des Gotteshauses« überweist die jüdische Militärkolonie in Elephantine im Jahre 419 einen Teil der für den Jahwetempel eingekommenen Gelder, und daneben der »'Anat des Gotteshauses«, die in einem Eide als 'anat-jahu, als Genossin Jahwes erscheint. Das zeigt, daß trotz aller Reformbestrebungen die alten Kulte in Judaea bis zuletzt ungemindert fortbestanden haben, und das gleiche gilt von der Himmelskönigin, der die Weiber Kuchen backen und Trankopfer spenden (o. S. 148).

Ernstlichen Anstoß erregt es dagegen, wenn ein Kultus sich so selbständig entwickelt, daß er als Konkurrent Jahwes erscheint714. Daher werden auch die Ašeren, die am Altar errichteten [323] Holzpfähle, verworfen715; sie gelten, wie bei den Phoenikern (o. S. 149, 3, 152f.), als Sitz und Kultobjekt der großen Göttin, die Jahwe als Gemahlin ebenbürtig zur Seite steht. So hat schon Asa von Juda, der zweite Sohn und Nachfolger Rehabeams, die Ašera umgehauen und verbrannt, seine Mutter, eine Tochter Absaloms, die diesen Kult gefördert hatte, aus ihrer Ehrenstellung entfernt und im Zusammenhang damit auch die Prostituierten aus dem Lande gejagt. Dauernden Erfolg hat diese Maßregel freilich nicht gehabt; denn beides treffen wir in der Folgezeit immer wieder auch in Jerusalem an.

Aus allen besprochenen Zeugnissen erkennen wir, in welchem Maße geistig erregt sich das Leben des Volks im ersten Jahrhundert nach Aufrichtung der Königsherrschaft gestaltet hat und wie die verschiedensten Anschauungen und Bestrebungen durcheinander wogten. Das Gegenbild bietet die geistige Bewegung, welche die griechische Welt seit dem 7. Jahrhundert umgestaltet hat; aber anders als in Hellas tritt sie in Israel auf in religiösem Gewande, und auch die großen Probleme des Rechts und der Politik müssen sich in dieses einkleiden. Daher ist denn auch die Entscheidung auf religiösem Gebiet gefallen; sie wurde herbeigeführt, als unter der Dynastie 'Omris die Alleinherrschaft Jahwes durch einen fremden Gott, den Ba'al von Tyros, ernsthaft gefährdet schien.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 314-325.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon