Zweiter Abschnitt
Die platonische Kritik der geschichtlichen Staats- und Gesellschaftsordnung

[437] Wenn die Erhebung des Staates über die einseitige Herrschaft des Güterlebens als ein fundamentales Problem der Politik aufgestellt wurde, so ergab sich für die philosophische Staatslehre von selbst die weitere Aufgabe, durch die einschneidende Kritik der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ihrerseits den Kampf aufzunehmen und das öffentliche Bewußtsein so eindringlich wie möglich auf die Gefahren hinzuweisen, mit denen das Übergewicht des wirtschaftlichen Egoismus das ganze Volks- und Staatsleben bedrohte. Ausdrücklich hat Plato für die politischen Wissenschaften die Notwendigkeit betont, sich nicht bloß auf »leere« Theorien zu beschränken, sondern auch auf die Geschichte und die Erscheinungen des tatsächlichen Lebens einzugehen.75 Insbesondere scheint ihm eine Untersuchung über das Ideal der »Gerechtigkeit«, wie er sie mit der Konstruktion des »besten Staates« verbindet, ohne eine Analyse des gegenteiligen Prinzipes und seiner tatsächlichen Lebensäußerungen unvollständig.76 Denn nur so erhalten wir eine genügende Antwort auf die Frage, »durch welche Gesetze das, was sich erhält, erhalten bleibt und durch welche das, was untergeht, zugrunde gerichtet wird, was also beseitigt werden muß, damit ein Staat glücklich werde«.77

In wahrhaft großartiger Weise führt uns auf diesem Wege Plato zu der Erkenntnis des innersten Wesens der sozialen Mißstände seines Volkes. Das achte Buch des »Staates« mit seiner einschneidenden Kritik[437] eines ganz in der Gesellschaft aufgegangenen und von der Gesellschaft beherrschten Staatslebens ist eine einzige gewaltige Anklageschrift gegen die plutokratische sowohl wie gegen die ochlokratische Souveränität der materiellen Interessen.

Plato geht aus von dem Punkte der Entwicklung,78 wo statt der Staat und Gesellschaft zusammenhaltenden Motive ein zersetzender, die sozialen Bande auflösender Egoismus und mit ihm die »Jagd nach dem Golde« (χρηματισμός) für den herrschenden Teil der Gesellschaft die allgewaltige Triebfeder des Handelns geworden ist.79 Diese Wandlung des öffentlichen Geistes erzeugt nach Plato selbst in einer aristokratischen Gesellschaft eine Klasse von Menschen, deren Götze das Geld ist, das sie insgeheim mit roher Leidenschaft verehren. Ihre Hauptsorge gilt ihren Geldschränken und den Depots, wo sie ihr Geld sicher bergen können. An ihren Wohnungen schätzen sie vor allem die Mauer, die sie von der Außenwelt scheidet. Denn sie sollen ihr »ureigenstes Nest« sein, in dessen Dunkel sie mit Weibern und, mit wem es ihnen sonst beliebt, ungestört dem Genusse leben und ihre Handlungen dem Auge des Gesetzes entziehen können. Sie werden erfinderisch in immer neuen Formen des Aufwandes und modeln darnach selbst die Gesetze um, die Bürgen alter Einfachheit des Lebens, denen sie und ihre Frauen untreu werden.80

Der goldgefüllte Geldschrank der Reichen (ταμιεῖον ἐκεῖνο χρυσίον πληρούμενον)81 beginnt nun aber sehr bald seine Anziehungskraft auf die Allgemeinheit auszuüben. Es wird unter ihnen selbst und dann in immer weiteren Kreisen, indem stets der eine auf den andern blickt, ein förmlicher Wettkampf um den materiellen Besitz entfesselt, der die Erwerbsgier stetig steigert, während anderseits die idealen Güter (die ἀρετή) in der öffentlichen Wertschätzung sinken. Eine Entwicklung, die auf den Volksgeist notwendig entsittlichend wirken muß. Denn wo man sich vor dem Reichtum und den Reichen beugt, da wird man naturgemäß die Tugend und die »Guten« geringer achten. (Virtus post[438] nummos!) Das aber, was einer steten Achtung sich erfreut, wird geübt, das gering Geachtete vernachlässigt.82

Die Folge dieser Herrschaft des Geldes und der Spekulation ist dann natürlich die, daß auch der Staat in Abhängigkeit von den Geldmagnaten gerät; und der Ausdruck dieser Abhängigkeit ist die politische Herrschaft des Kapitals, die Plutokratie83 oder die Herrschaft der wenigen. Der Reichtum allein wird gepriesen und bewundert, er wird der Weg zu den höchsten Ehren des Staates, während der Nichtbesitzende schon um dieser seiner Armut willen mißachtet wird. Eine Summe Geldes (πλῆϑος χρημάτων) bildet den Maßstab, der über das Recht des einzelnen im Staat entscheidet.84 Der Staat zerfällt gewissermaßen in zwei Staaten, den der Reichen und der Armen, die denselben Raum bewohnend sich feindselig gegenüberstehen und wenigstens insgeheim sich fortwährend befehden.85 Auch äußerlich wird der Staat durch diese Entwicklung der Dinge geschwächt. Seine Wehrhaftigkeit leidet. Denn die Besitzenden, die an ihrem Gute hängen, scheuen die finanziellen Opfer, welche die Landesverteidigung erheischt, und sie haben anderseits, wenn sie die Massen unter die Waffen rufen, stets zu fürchten, daß ihnen dieselben gefährlicher werden könnten als der auswärtige Feind.86

Das größte aller Übel aber ist nach Plato die dem Geiste der Geldherrschaft entsprechende, oder wenigstens von ihr zugelassene absolute Freiheit der Veräußerung und des Erwerbes der Güter. Es entsteht dadurch jene ungesunde Anhäufung des Kapitals, welche einzelne überreich macht, während andere in einen Zustand hoffnungsloser Armut herabsinken. Die Kehrseite des Mammonismus ist der Pauperismus und das Proletariat oder – um uns enger an die Ausdrucksweise Platos[439] anzuschließen – die Klasse der »völlig-Besitzlosen«, die im Staate leben, ohne einen Teil desselben auszumachen, weder wirtschaftlich als Geschäftsleute und Handwerker, noch militärisch, für den Roß- und Hoplitendienst, ins Gewicht fallen, die eben nichts sind als die »Armen«, die »Dürftigen«.87

Offenbar im Hinblick auf die fortwährende Vernichtung der kleinen Vermögen durch die großen, die Verknechtung des Volkes durch Pacht und Schulden, wie sie die sozialökonomische Entwicklung der Zeit charakterisiert, stellt Plato es als eine allgemeine Erfahrung hin, daß die Plutokratie die große Masse derjenigen, welche sich nicht zur herrschenden Klasse emporzuschwingen vermögen, am Ende in eine proletarische Existenz herabdrückt,88 daß sie den Abstand der kleinen Leute von der Aristokratie des Besitzes stetig vergrößert. Es ist mit anderen Worten dasselbe, was der moderne Sozialismus zum Ausgangspunkt seiner Kritik des Bestehenden macht; die Entblößung der Arbeitenden von den Produktionsmitteln und die Ansammlung derselben in den Händen einer Minderheit, die nicht mehr zu arbeiten braucht und daher auch eine Klasse von Müßiggängern, Genießern und Verschwendern erzeugt, die Plato auch wieder echt modern als Drohnen bezeichnet.89

Dieses Drohnentum ist ein Krebsschaden der Gesellschaft (νόσημα πόλεως)90 und schlimmer als das im Bienenstaat. Denn die geflügelten Drohnen hat die Gottheit wenigstens stachellos geschaffen, jene menschlichen aber teilweise mit argen Stacheln versehen. Aus ihnen rekrutiert sich besonders das in der plutokratischen Gesellschaft so zahlreiche Kontingent der Diebe, Beutelschneider, Tempelräuber und Anstifter aller sonstigen Unbill, deren die Staatsgewalt nur mit Mühe Herr wird. Allerdings gibt es im Menschenstaat auch Drohnen, welche nicht in dieser Weise stachelbewehrt, d.h. minder beherzt sind, als ihre entschlosseneren[440] Genossen, die im Kampf gegen Sittlichkeit und Recht voranstehen. Dafür aber schweben sie auch stets in Gefahr, im Alter zu Bettlern zu werden und so doch wieder die Zahl der gefährlichen Klassen zu vermehren.91

Neben diesem Drohnentum, das überall, wo es auftaucht, ähnliche Störungen im sozialen Organismus erzeugt, wie Schleim und Galle im physischen Körper,92 tritt uns als typische Charaktererscheinung der plutokratischen Gesellschaft das Spekulantentum entgegen: die Leute, von denen Plato sagt, daß sie Begehrlichkeit und Geldgier auf den Herrschersitz in ihrer Seele erheben und mit Stirnbinden, goldenen Ketten und Ehrensäbeln angetan zum Großkönig in ihrem Innern erkiesen.93

Um emporzukommen, gehen sie mit ihrem ganzen Dichten und Trachten auf im Erwerbe. Während aber ihre Habe sich mehrt, verarmen sie an Geist und Gemüt, indem sie beides zum Sklaven der Erwerbsgier machen und den Verstand über nichts anderes forschen und sinnen lassen, als wodurch geringeres Vermögen sich mehrt, das Herz aber nichts anderes bewundern und in Ehren halten lassen, als den Reichtum und die Reichen.94 Schmutzige Seelen, die ihren Ehrgeiz auf weiter nichts richten, als auf Gelderwerb, und aus allem und jedem Nutzen zu ziehen wissen für den einen Zweck der Bereicherung. Alles Bildungsinteresse geht ihnen ab; denn wie könnten sie sonst »einen Blinden zum Reigenführer« erkiesen?95

Auch in diesen Menschen beginnen sich drohnenartige Begierden (κηφηνώδεις ἐπιϑυμίαι) zu regen, sobald sich ihnen die Möglichkeit zur Ausbeutung von Schwachen, z.B. hilflosen Waisen, oder sonst – z.B. bei der Verwendung fremder Gelder – eine Gelegenheit bietet, ungestraft unrecht zu tun.96 Und dabei können diese Leute im geschäftlichen Verkehr als ehrenwerte Männer dastehen! Denn sie sind klug genug, zur rechten Zeit ihre Begierden zurückzudrängen, weil sie wohl zu berechnen wissen, wo ihnen die Unehrlichkeit teurer zu stehen kommen würde, als der Verzicht auf widerrechtlichen Gewinn. Sie erscheinen[441] wohlanständiger als viele andere, obgleich sie von der echten Tugend einer mit sich selbst einigen, harmonisch gestimmten Seele himmelweit entfernt sind.97

Übrigens arbeitet das Prinzip der Kapitalherrschaft selbst diesem Spekulantentum in die Hand. Der Unersättlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft, die von dem, was sie als das höchste Gut betrachtet, niemals genug haben kann,98 entspricht so recht jene Freiheit, welche jedem gestattet, beliebig über seinen Besitz zu verfügen, damit ja das Kapital Gelegenheit bekommt, durch Darlehensgeschäfte und schließlich durch den Ankauf verschuldeter Güter sich zu bereichern.99 Diese Freiheit bringt vor allem denjenigen den Ruin, welche der Tendenz des plutokratischen Zeitalters zum unwirtschaftlichen Konsum, zum Luxus, erliegend den Geldmännern in die Hände fallen.100

Die Verarmten nun, fährt Plato im Sinne des oben erwähnten Bildes fort, kauern im Staate mit Stacheln und sonstigen Waffen ausgerüstet, die einen mit Schulden überbürdet, die andern ehrlos geworden, wieder andere von beidem betroffen, alle aber voll Haß und über Anschlägen brütend gegen die, welche sie um das Ihrige gebracht, wie überhaupt gegen alle Welt, begierig lauernd auf einen allgemeinen Umsturz. Die Geldmänner aber, die geduckt umherschleichen wie das leibhaftige böse Gewissen und diese ihre Opfer gar nicht zu bemerken scheinen, »schleudern unter den übrigen auf den, der sich ihnen preisgibt, verwundend den Pfeil des Geldes und erzeugen, indem sie in den Zinsen eine reiche Nachkommenschaft solchen Vaters (d.h. des Geldes) an sich bringen, der Drohnen und Bettler die Menge im Staate«.101

[442] Dabei ist ihnen die Stimmung, die sie durch all das in der Gesellschaft hervorrufen, so wenig eine Mahnung, daß sie ruhig zusehen, wie insbesondere die jüngere Generation sich der Schwelgerei ergibt, allen Anstrengungen des Körpers und Geistes abgeneigt, weichlich und schlaff wird,102 während sie selbst gleichgültig gegen alles andere, als den Gelderwerb, um wahre Tugend sich ebensowenig bemühen, wie der verachtete Proletarier.103

So zieht man selbst jene gefährliche Schmarotzerpflanze auf dem Boden der Geldherrschaft groß, den berufsmäßigen Müßiggang, der mit Hilfe des ererbten Renteneinkommens sich selbst von Beruf und Arbeit dispensiert. Plato hat das Leben dieser reichen Müßiggänger, das zum Spiel der ephemersten Stimmungen und Launen wird, in seiner ganzen inneren Haltlosigkeit mit scharfem Griffel gezeichnet. Der Verfall aller geistigen und moralischen Energie, wie ihn der arbeitslose Rentengenuß mit psychologischer Notwendigkeit herbeiführt, könnte kaum anschaulicher geschildert werden, als in dem Bild, welches Plato von dem »demokratischen«, d.h. persönliche Ungebundenheit über alles liebenden Sohne des »oligarchischen« geldmachenden Vaters entworfen hat:

»So lebt der Mann in den Tag hinein, ein Spielball jeder flüchtigen Laune. Heute schwelgt er in Wein und Tafelmusik, morgen wieder trinkt er Brunnen und braucht eine Entfettungskur. Bald treibt er allerlei Leibesübungen, bald ergibt er sich dem dolce far niente; dann[443] wieder tut er, als gäbe er sich mit Studien ab, oder er spielt den Politiker, besteigt die Tribüne und sagt und tut, was ihm gerade beifällt. Reizen ihn die Lorbeeren eines Strategen oder der Gewinn eines Spekulanten, so wirft er sich alsbald mit Eifer auf diese Gebiete. Und so ist in seinem Leben keine Ordnung, keine Zucht; er jedoch nennt ein solches Leben süß und frei und lebt es bis an sein Ende.«104

Freilich arbeitet er mit diesem »freien und glücklichen« Leben, das keine Pflichten kennt, gleichzeitig an der Beschleunigung des Gerichtes, welches die herrschende Gesellschaftsklasse durch das geschilderte Tun und Denken ihrer erwerbenden, wie ihrer genießenden Elemente über sich selbst heraufbeschwört.

Plato hebt dabei vor allem die psychologische Rückwirkung auf die unteren Volksklassen hervor.

»Wenn bei solcher Gemütsverfassung Herrschende und Beherrschte miteinander in nähere Berührung kommen, bei Reisen, Wallfahrten, Heereszügen u. dgl., insbesondere, wenn in den Gefahren des Krieges der eine den andern beobachtet, wird da der Reiche Veranlassung haben, auf den Armen verächtlich herabzusehen? Wird nicht vielmehr das Gegenteil eintreten, wenn ein sehniger, handfester, von der Sonne verbrannter Mann aus dem Volke im Felde seine Stelle neben einem Reichen erhält, der an schattige Behaglichkeit gewöhnt ist oder an übermäßiger Wohlbeleibtheit leidet, und er dessen Keuchen und Not mit ansieht? Wird dem Armen da nicht der Gedanke kommen, dergleichen Menschen seien nur durch ihre Schlechtigkeit reich? Und wenn nun das Volk unter sich ist, wird da nicht einer dem andern zuflüstern: Unsere Herren sind im Grunde gar nichts wert?«105

Dieser zum Bewußtsein der Masse gekommene Widerspruch zwischen der Unwürdigkeit der Regierenden und ihrem Anspruch auf Beherrschung von Staat und Gesellschaft gräbt der politischen Kapitalherrschaft das Grab. Durch die unersättliche Begier nach dem, was sie als höchstes Gut erstrebt und wodurch sie selbst entstand, durch die Vernachlässigung alles anderen um des Gelderwerbes willen richtet sie sich selbst zugrunde.106

Wie es aber bei einem geschwächten Körper nur einer geringen Veranlassung[444] bedarf, damit er erkranke, ja wie er bisweilen auch ohne Anstoß von außen das innere Gleichgewicht verliert, so kann auch über den krankhaften Organismus der plutokratischen Gesellschaft aus geringfügigem Anlaß die Katastrophe hereinbrechen. Der längst entzündete Unheilsbrand (τὸ κακὸν ἐκκαυόμενον),107 den die Herrschenden nicht zu stillen verstanden, dem sie im Gegenteil immer neue Nahrung zugeführt, er lodert in hellen Flammen empor.108

Die Geldoligarchie erntet jetzt, was sie gesäet. Denn auch die Volksherrschaft, die an ihre Stelle tritt, bleibt ein Tummelplatz der drohnenhaften Begierden, welche der Kapitalismus großgezogen. Nur erhalten jetzt die wirtschaftlich Schwachen, die wenig oder nichts Besitzenden die Macht, ihrerseits diesen Begierden gegenüber dem Kapital die Zügel schießen zu lassen.109 Die Drohnen, d.h. die ruinierten Verschwender und Nichtstuer, stellen sich zwischen die Besitzenden und die – in der Demokratie zahlreichste – Klasse derer, die von der Arbeit ihrer Hände leben. Sie wissen die Masse des arbeitenden Volkes an sich zu fesseln, indem sie dessen Gelüste nach dem »Honig« nähren, der nunmehr auf Kosten der Besitzenden zu erbeuten ist. Der Reichtum wird zum Drohnenfutter (κηφήνων βοτάνη).110 Jetzt genügt der bloße Besitz des Reichtums, um als Volksfeind verdächtigt zu werden.111 Die frühere Ausbeutung durch das Kapital vergilt jetzt die Masse und ihre Führer mit einer rücksichtslosen Bekämpfung des Reichtums, mit Verbannungen, Hinrichtungen und Konfiskationen, mit Anträgen auf Schuldenkassierung und Aufteilung des Grundbesitzes. Die bisherigen Träger des Ausbeutungsprinzipes fallen nun ihm selbst zum Opfer.

Aber auch die aus der Demokratie entstehende ochlokratische Herrschaft der materiellen Interessen, die das vom Kapitalismus auf wirtschaftlichem Gebiet verwirklichte Prinzip der Freiheit auf alle möglichen anderen Lebensgebiete überträgt, muß an der Übertreibung dieses ihres Prinzipes zugrunde gehen. Sie erliegt zuletzt dem, in welchem sich der Egoismus und die Selbstherrlichkeit des Individuums am reinsten verkörpert, der in der rücksichtslosen Geltendmachung des Eigeninteresses sich als der Stärkste erwiesen und »ein Riese riesenhaft sich reckend«112 aufrecht stehen bleibt auf dem Stuhle des Staatswagens, nachdem er viele andere zu Boden gestreckt.113 So erwächst aus Kapitalismus[445] und Pauperismus und aus dem freien Spiele rein individualistischer Kräfte zuletzt die Gewaltherrschaft, die Tyrannis.114

Plato vergleicht an einem andern Ort dieses über alle objektiven sittlichen Mächte sich hinwegsetzende Ringen brutaler Naturinstinkte mit dem Ansturm der Titanen gegen die Himmlischen. Der soziale Daseinskampf scheint ihm mit diesem Erwachen titanenhafter Gelüste in der Menschenbrust zu den rohen gewaltsamen Formen eines vormenschlichen Zeitalters zurückzukehren.115 Ja es findet sich hier bereits Begriff und Wort des bellum omnium contra omnes des Hobbes (»τὸ πολεμίους εἶναι πάντας πᾶσιν«),116 in welchem die sozialistische Kritik der Gegenwart das charakteristische Kennzeichen der modernen Gesellschaft erblickt.117

Mit denselben düsteren Farben wird die Entartung des Volkscharakters durch den Egoismus eines schrankenlosen Erwerbstriebes an einer späteren Stelle geschildert: »die Liebe zum Reichtum«, heißt es dort, »raubt den Bürgern alle Zeit, für etwas Höheres Sorge zu tragen, als für das eigene Vermögen. Ihre ganze Seele hängt daran, so daß sie sich kaum noch um etwas anderes kümmern kann, als um den täglichen Gewinn.118 Die Unterweisung und die Einrichtungen, die diesem Zwecke förderlich sind, nimmt jeder bereitwillig an, anderes aber dünkt ihm lächerlich (τῶν δὲ ἄλλων καταγελᾷ!).119

[446] Daher kommt es, daß jedermann in unersättlicher Begier nach Gold und Silber jedes Gewerbe, jedes Mittel, sei es ehrenhaft oder nicht, sich gefallen läßt, wenn es nur zum Reichtum führt, daß man vor keiner noch so schimpflichen Handlung zurückschreckt, wenn sie nur die Möglichkeit gewährt, dem schrankenlosen Bauch- und Phallusdienst zu frönen.«120

Dieses Streben nach sinnlichem Lebensgenuß und nach den Mitteln zu seiner Befriedigung ist eine der Haupttriebkräfte der sozialen Zersetzung. Denn indem man unbekannt mit dauernden und reinen Lustgefühlen nach Art des Viehes auf der Weide stets nach unten blickend und zur Erde und zur Krippe hingebückt mit Fressen und Befriedigung der Liebesbrunst sich gütlich tut, schlägt man sich um den Vorzug in diesen Dingen gegenseitig tot, mit eisernen Hörnern und Hufen aufeinanderstoßend, in der Gier der Unersättlichkeit, weil diese Genüsse nicht das Wirkliche (die Seele) mit wirklichen Genüssen erfüllen. Diese Traumbilder wahren Lustgefühles erzeugen ein rasendes Verlangen in den Unverständigen und werden so zum Gegenstand blutigen Kampfes, wie einst das Trugbild der Hellena in Ilion.121

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 437-447.
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