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Der Staat und seine Organe

[8] Die grundlegenden Gedanken des platonischen Idealstaates17 sind unmittelbar aus der tatsächlichen Entwicklung des geschichtlichen Staates geschöpft. War in der hellenischen Staatenwelt überall die Staatsgewalt zum Zankapfel der verschiedenen Gesellschaftsklassen und den dem Leben der Gesellschaft entspringenden Sonderinteressen mehr oder minder dienstbar geworden, war die selbständige Staatsidee sozusagen in der Gesellschaft untergegangen, so will der platonische Idealstaat dem Staatsgedanken wieder ein Dasein schaffen, in welchem die Staatsgewalt unabhängig und frei über der Gesellschaft steht und daher auch von sozialen Sonderinteressen nicht beherrscht wird. Aus dem rücksichtslosen Wettstreit, in welchem die einzelnen Teile der Gesellschaft, sei es Individuen oder Klassen, sich gegenseitig ihren Sonderzwecken dienstbar zu machen suchen, erhebt sich das Bild eines Gemeinwesens, welches die[8] berechtigten Interessen aller befriedigen will, welches den Beruf und die Macht hat, den Egoismus der einzelnen Teile den Zwecken des Ganzen, das Sonderinteresse dem der Gesamtheit zu unterwerfen.

»Wir gründen« – sagt der Sokrates des Dialoges – »unseren Staat nicht in der Absicht, daß eine Klasse vor allen glücklich sei, sondern möglichst der ganze Staat.«18 Der Staat ist hier in der Tat für alle da. Denn die Staatsgewalt steht hier nicht den stärkeren Interessen zu Gebote, die zu ihrer Geltendmachung den größten Einfluß und die größte Macht aufwenden können, sie dient vielmehr in selbstloser Hingebung gerade zum Schutze der Schwachen19. Indem so der durch den Egoismus der Gesellschaft verdunkelte Staatsgedanke zu voller Verwirklichung gelangt, erhebt der platonische Idealstaat zugleich den Anspruch, der Rechtsstaat κατ᾽ ἐξοχήν, die höchste Verkörperung der Gerechtigkeit zu sein.20

Um die angedeutete Aufgabe zu erfüllen, d.h. über der Gesellschaft stehend ihr Herr und Meister zu bleiben, bedarf der Staat Organe, welche die Macht und den Willen haben, unabhängig von einseitigen Interessen die wahre Idee des Staates zu vertreten und zur Geltung zu bringen. Es muß im Staat ein Machtelement geben, bis zu welchem das gesellschaftliche Interesse nicht mehr heranreicht.

Der bestehende sei es oligarchische oder demokratische Staat entbehrte solcher Organe durchaus. Denn das Beamtentum, das durch Los oder Wahl unmittelbar aus den um die Macht ringenden wirtschaftlichen Klassen der Gesellschaft selbst hervorging, brachte die psychologische Abhängigkeit von Klasseninteressen und Klassenanschauungen in das Amt mit hinein, von denen es sich auch bei ehrlichem Willen des einzelnen, der Allgemeinheit zu dienen, niemals auf die Dauer zu emanzipieren vermocht hat. Wie wäre auch bei der Kürze der Amtsfrist und dem Wechsel der zur Herrschaft gelangenden Parteien eine Verwaltung möglich gewesen, die sich dauernd auf den staatlichen Boden gestellt und nur als Organ der Allgemeinheit gefühlt hätte? Und wie hätten Elemente, die durch ihre ganze bürgerliche Stellung in das Getriebe des Erwerbslebens[9] verflochten waren, die innere Unabhängigkeit des Staates gegenüber der Naturgewalt der materiellen Interessen behaupten können!

Damit war für Plato der Weg klar vorgezeichnet, auf welchem die Emanzipation des Staates von der Herrschaft der Gesellschaft gesucht werden mußte. Sollte der reine Amtscharakter des öffentlichen Dienstes wieder zur Geltung kommen und das Amt in den Stand gesetzt werden, die sittliche Aufgabe des Staates zu verwirklichen, die ihm seiner Idee nach zukommt, so war der erste Schritt aller Reform die Erhebung des Amtes zu voller Selbständigkeit.

Zu diesem Zwecke verlangt Plato die absolute Loslösung der mit der Vollstreckung des staatlichen Willens betrauten Individuen von dem Erwerbs- und Wirtschaftsleben, d.h. die Schaffung eines stabilen Beamtenkörpers, dessen Existenz durch Sold und Gehalt sichergestellt ist, und der ausschließlich und allein dem Dienste des Staates lebt.

Ja Plato geht noch weiter. Sollte der Einfluß der wirtschaftenden Gesellschaft und der sozial-ökonomischen Sonderinteressen für das staatliche Leben unschädlich gemacht werden, so mußte nach seiner Ansicht nicht nur die Ausübung des staatlichen Willens, Verwaltung und Regierung diesem Einfluß entzogen werden, sondern sie durfte auch keinen Anteil mehr haben an der Bildung des staatlichen Willens, an der Gesetzgebung. Die ganze Fülle der staatlichen Gewalt mußte sich in jenen nur dem Zwecke des Staates lebenden Organen der Gemeinschaft konzentrieren. Sie sind die alleinigen Träger aller staatlichen Funktionen. Eine Machtstellung, die freilich nur dadurch gesichert erscheint, daß sie zugleich den bewaffneten Arm des Staates darstellen. Die ganze übrige Bevölkerung ist eben nichts als rein wirtschaftende Gesellschaft; sie ist vom Wehrdienst ebenso ausgeschlossen, wie vom politischen Leben. Den bewaffneten Arm des Staates stellt eine stehende Elitetruppe dar, die ein unbedingt zuverlässiges Werkzeug der Regierungsgewalt ist und die vollkommene Unabhängigkeit des Staatswillens verbürgt.

Und noch eine andere Idee ist es, die durch diese Organisation des öffentlichen Dienstes zur Verwirklichung kommt: das Prinzip der Arbeitsteilung, d.h. der dauernden, das ganze Leben beherrschenden Anpassung an eine spezialisierte Lebensaufgabe21. Dieses Gesetz der[10] Arbeitsteilung, in welchem Plato die unbedingt maßgebende Norm für die äußere Ordnung des menschlichen Daseins erblickt, ist ihm ein Naturgesetz, weil die Menschen nicht einander gleich, sondern mit individuell-verschiedenen Anlagen geboren werden22. Es ist ihm ferner durch das Interesse der Gesamtheit gefordert, weil die Konzentrierung auf eine Tätigkeit die Leistungen jedes einzelnen steigert.23 Jeder hat sich mit seiner ganzen ungeteilten Kraft und Zeit in den Dienst seines Berufes zu stellen und darf ihn nicht als Nebengeschäft (ἐν παρέργου μέρει) betreiben, sondern muß von allen sonstigen Verpflichtungen frei sein (σχολὴν τῶν ἄλλων ἄγων).24

Wenn dies schon für die gewöhnliche Handarbeit gilt, wie viel mehr für die höheren Berufe, insbesondere für den Dienst des Staates! Die Tätigkeit des Regenten und Gesetzgebers, des Beamten und Militärs setzt nicht nur eine besondere Veranlagung, sondern auch ein Wissen voraus, welches nur durch eine systematische Erziehung für diesen besonderen Beruf erworben werden kann. Sie nimmt ferner die Kraft des ganzen Mannes in Anspruch, mehr als irgendein anderer Beruf25.

Wie sich also im Vernunftstaat überhaupt keine »doppel- und vielgestaltige« Persönlichkeit findet, sondern »jeder nur eines treibt, der Schuster nur Schuster und nicht zugleich Steuermann, der Landwirt nur Landwirt und nicht zugleich auch Richter, der Soldat nur Soldat und nicht zugleich Geschäftsmann ist, «26 so ist auch alle politische Tätigkeit Gegenstand eines eigenen Berufes, sie kann nicht zugleich Nebengeschäft der von der wirtschaftlichen Arbeit in Anspruch genommenen Klassen sein. Eine solche aktive Beteiligung aller Klassen an Gesetzgebung und Verwaltung würde ebenso den Forderungen der Natur, wie der Gerechtigkeit widersprechen, welche »jedem das Seine« zuweist und eben damit sein Recht widerfahren läßt.27

Auch diese schroffe Formulierung des Prinzips der Arbeitsteilung (der οἰκειοπραγία)28 ist wesentlich durch die Erfahrungen des geschichtlichen[11] Staatslebens bedingt. Sie bedeutet eine scharfe Reaktion gegen den Anspruch der herrschenden Majoritäten, der kompetenteste Richter über alles, letzte Instanz und oberstes Tribunal in jeder Frage zu sein, eine Reaktion gegen die Ansprüche der Mittelmäßigkeit und Unbildung29, gegen die Vielgeschäftigkeit (πολυπραγμοσύνη), wie sie unter der Herrschaft des Freiheits- und Gleichheitsprinzipes der Demokratie sich breit machte. Eine Reaktion, die nun begreiflicherweise in der Verfolgung des gegenteiligen Standpunktes das Prinzip der Differenzierung ihrerseits auf die Spitze trieb.30

Um nämlich die Trennung zwischen den Organen des öffentlichen Dienstes, den »Hütern« des Staates, wie Plato sie nennt, und dem wirtschaftenden Bürgertum (dem γένος χρηματιστικόν) so vollständig als möglich zu machen, stellt er die Forderung auf, daß die ersteren sogar aus dem Wohnverband mit der übrigen Bevölkerung gelöst werden müßten. Eine Forderung, deren Verwirklichung allerdings dadurch wesentlich erleichtert wird, daß Plato bei seinem Verfassungsentwurf die Verhältnisse des Stadtstaates zugrunde legt. Das gesamte Personal des Zivil- und Militärdienstes mit Frauen und Kindern denkt er sich in einem festen Lager – ähnlich wie die Spartiaten in der Lagerstadt Sparta – auf demjenigen Punkte des Staatsgebiets konzentriert, welcher sowohl zur Abwehr auswärtiger Feinde, wie zur Beherrschung der Landesbevölkerung am geeignetsten sei31.

Freilich ergibt sich hier alsbald ein Bedenken, dem sich auch Plato keineswegs verschließt, nämlich die Frage, ob denn diese radikale Unterwerfung der wirtschaftenden Gesellschaft unter die Organe der Staatsgewalt nicht auch über den besten Staat gerade das heraufbeschwören würde, was er prinzipiell vermeiden wollte, die Gefahr einer ausbeuterischen Klassenherrschaft.

Werden diese Hüter des Staates, denen die Bürgerschaft völlig wehrlos gegenübersteht, sich allezeit nur als die Vertreter des Staatsgedankens, als κηδεμόνες τῆς πόλεως32 fühlen und der Versuchung, die in der Macht liegt, nicht am Ende doch erliegen? Werden nicht auch sie als die Stärkeren das Interesse der Bürgerschaft selbstsüchtigen Regungen[12] nachsetzen und zuletzt »statt Hunden Wölfen«, statt »wohlwollenden Verbündeten der Bürger schlimmen Feinden gleichen«?33

Da die Abwehr dieser Gefahr die Grundbedingung für den ganzen Bestand des besten Staates ist, so ist Plato bereit, derselben mit allen Mitteln (παντὶ τρόπῳ) zu begegnen. Er verfolgt den Ideengang, auf dem sich die Konstruktion dieses Staates aufbaut, mit rücksichtsloser Kühnheit bis zu den letzten und äußersten Konsequenzen. Da die bloße äußerliche Trennung der staatlichen Organe von den Erwerbsklassen noch nicht eine innerliche Befreiung von der Gewalt der materiellen Interessen selbst bedeutet, solange die Lebensordnung dieser Organe dieselbe ist, wie die der bestehenden Gesellschaft, d.h. wenn auch hier das Institut des Privateigentums, des Erbrechtes und der Erwerbsfreiheit, sowie die damit verbundenen Unterschiede des Besitzes bestehen und ihre Wirkungen auf den einzelnen auszuüben vermögen, so bedarf es noch besonderer Veranstaltungen, um eine radikale Emanzipation der Regierenden von den Interessen des wirtschaftlichen Güterlebens, eine vollkommene Unterordnung des Individuums und seiner egoistischen Triebe unter den Staatszweck herbeizuführen. Solange die Beamten, sagt Plato, im Besitz von Geld, Häusern und Äckern sind, ist stets Gefahr vorhanden, daß sie sich mehr als Haus- und Landwirte, denn als Verwalter des Gemeinwesens fühlen.34

So verlangt er denn von den Organen seines Staates nichts Geringeres als den Verzicht auf das Privateigentum. Nicht der einzelne soll von der Erwerbsgesellschaft besoldet werden, sondern das gesamte Beamten- und Soldatentum als solches; und zwar soll der jährliche Betrag, den die Erwerbsklassen zu diesem Zweck in ihren Steuern aufbringen, nicht größer sein, als der Unterhalt der Besoldeten unbedingt erheischt, so daß denselben zwar »nichts mangelt, aber auch nichts übrig bleibt«35. Der Sold wird in Naturalien geleistet. Denn mit Geld, mit Gold und Silber, das in der Hand der Masse soviel Verruchtheit erzeugt,36[13] sollen die Hüter des Staates nichts zu schaffen haben. Sie sollen es nicht unter ihrem Dache dulden, noch sich Schmuckes oder Gerätes aus edlem Metall bedienen37. Sie bedürfen auch des Geldes nicht, da sie keinen Privathaushalt führen, sondern alle ihre Bedürfnisse in gemeinsamen Speisehäusern und Magazinen befriedigt finden. Sie entbehren – mit Ausnahme des Notwendigsten – allen eigenen Besitzes. Nicht einmal Wohnungen haben sie, zu denen anderen der Zutritt verschlossen wäre.38

Aber mit der Beseitigung des Individualeigentums an den Sachgütern sind noch nicht alle Quellen der Selbstsucht verstopft. Es bleibt für sie immer noch ein weites Feld der Betätigung, solange jene individuellen Rechtsverhältnisse und Sonderbeziehungen zwischen Person und Person bestehen, welche das Institut der Ehe erzeugt. Es bleibt die Möglichkeit einer Zersetzung und Spaltung der Hüterklasse durch widerstreitende Familieninteressen und damit einer Gefährdung des unentbehrlichen einheitlichen Zusammenwirkens der Träger des Staatswillens, der Einheit des Staatswillens selbst.

Damit ist für Plato – soweit die dem Staate dienende Klasse in Betracht kommt – das Urteil auch über die Familie gesprochen. Wie hier das Privateigentum und die Individualwirtschaft durch den Gemeinbesitz und die Gemeinwirtschaft ersetzt wird, so die Familie durch die Frauen- und Kindergemeinschaft. Die Frauen, welche nach der Beseitigung des Familienhaushaltes einen besonderen sozialökonomischen Beruf nicht mehr zu erfüllen haben, sollen in ihrer ganzen Erziehung und Lebensweise dem männlichen Geschlechte gleichgestellt werden: sie turnen (nackt!) mit den Männern, genießen denselben musischen und wissenschaftlichen Unterricht, teilen mit ihnen das Leben auf der Wache und im Lager, sind Mitglieder der gemeinsamen Speiseverbände und haben Zutritt zu allen Berufen39. Sie sollen ferner im Prinzip »allen Männern gemein sein und keine mit keinem in besonderer Gemeinschaft zusammenleben«40. Ein Zustand, der übrigens eine strenge Regelung des Geschlechtsverkehrs durch den Staat keineswegs ausschließt41 und mit[14] »freier Liebe« nichts zu tun hat42. Ebenso sollen auch die Kinder Gemeingut sein, und weder der Vater den Sohn, noch der Sohn den Vater kennen43.

Plato hofft, daß die Angehörigen einer so organisierten Körperschaft alle Empfindungen der Sympathie, die unter der Herrschaft von Ehe und Eigentum gewissermaßen individuell gebunden erscheinen, auf die Gemeinschaft und alle ihre Mitglieder übertragen würden. Mit dem Alleinbesitz würden auch die allein empfundenen Freuden und Schmerzen aufhören44. Wo jeder in dem anderen möglicherweise einen Bruder oder eine Schwester, einen Vater oder eine Mutter, einen Sohn oder eine Tochter vor sich hat45, wo alle dasselbe Mein nennen,46 da würde eine völlige Gemeinschaft der Empfindungen in Freude und Schmerz, eine ungestörte Harmonie der Interessen alle miteinander wie zu einer einzigen großen Familie verbinden47. Sie würden wie die Glieder des gesunden physischen Organismus zusammenleben und zusammenwirken im Dienste des Ganzen, als »echte Hüter« des Staates48.

Plato glaubt diese Wirkung von den vorgeschlagenen Institutionen um so eher erwarten zu dürfen, als er gleichzeitig die ganze Hüterklasse von zartester Kindheit an durch ein rein staatliches Erziehungssystem einer systematischen Disziplinierung und Durchbildung unterworfen wissen will, um sie auf das höchstmögliche Niveau der Sittlichkeit und Intelligenz zu erheben.

Die für den Dienst des Staates Bestimmten werden auch ausschließlich durch den Staat erzogen. Er bemächtigt sich ihrer sofort nach der Geburt, indem er die Neugeborenen in öffentliche Pflegeanstalten bringen läßt und zugleich Sorge dafür trägt, daß Kinder und Eltern sich gegenseitig völlig unbekannt bleiben.49

Die Erziehung selbst ist auf eine harmonische Durchbildung von Leib und Seele gerichtet, auf die möglichst gleichmäßige Entwicklung aller leiblichen, seelischen und geistigen Kräfte50. Um dereinst im Dienste der Gemeinschaft harmonisch zusammenwirken zu können, müssen die einzelnen vor allem mit sich selbst im Einklang sein51. Was Gymnastik, Musik, Poesie, bildende Kunst in diesem Sinne leisten kann und soll,[15] wird eingehend erörtert. Ja es wird die ganze Entwicklung der schönen Literatur und Kunst selbst, damit sie diesen erzieherischen Beruf auch tatsächlich erfülle, unter die Zensur des Staates gestellt. Alles was verweichlichende Sentimentalität, Sinnenkitzel, Unwahrhaftigkeit und Irreligiosität fördern kann, soll rücksichtslos aus ihr ausgemerzt werden52. Geduldet werden eigentlich nur noch patriotische und religiöse Poesien, Hymnen zum Preise der Götter und Lobgesänge zu Ehren hervorragender Männer!

Der Dichter wird sich in dem besten Staat zum Organ des Sittlichen und Guten machen müssen oder – »gar nicht dichten«53. Ebenso wird die staatliche Aufsicht über Künste und Handwerke dahin wirken, daß an Statuen, Gebäuden und sonstigen Werken alles Unsittliche, Gemeine, Häßliche und Maßlose vermieden werde. Wer das nicht zu leisten vermag, dem soll es nicht gestattet sein, hier seine Kunst auszuüben, »damit nicht die Hüter des Staates unter Nachbildungen der Schlechtigkeit, wie bei schlechter Kost aufgewachsen und davon Tag für Tag in sich aufnehmend, unvermerkt ein großes Unheil in ihrer Seele erwachsen lassen«. Nur das Schöne und Wohlanständige soll durch Kunst und Gewerbe zur Darstellung kommen, damit »die Jünglinge, wie an gesundem Orte wohnend, aus allem Nutzen ziehen, von welcher Seite immer etwas von den schönen Werken her in ihr Auge oder Ohr fällt, einem Luftzug ähnlich, der aus heilsamen Gegenden Gesundheit bringt, und schon von Kindheit auf unvermerkt sie zur Befreundung und Übereinstimmung mit dem Schönen treibt.«54

Ein Hauptgewicht legt Plato auf die Erziehung zu einer hochgesteigerten Religiosität, da er ohne die Mitwirkung sehr starker religiöser Triebfedern die von ihm geforderte Hingebung des Individuums an den Dienst der Gemeinschaft für unmöglich hält55. Von der Ansicht ausgehend, daß[16] sittliche Postulate sich am wirksamsten realisieren, wenn sie zugleich als Forderungen religiöser Überzeugung auftreten, führt er in das Erziehungssystem gewisse autoritative Glaubensvorstellungen ein, welche – in Form von Mythen – der heranwachsenden Generation eingeprägt werden sollen, um dieselbe mit wahrhaft sozialem Geiste zu erfüllen, die egoistischen, antisozialen Motive in ihrem Tun und Denken nicht aufkommen zu lassen: Da »die künftigen Wächter des Staates es für schimpflich erachten sollen, wenn man aus geringer Ursache sich untereinander befeindet,« so sollen sie nichts zu hören bekommen von den angeblichen Kämpfen der Götter und Heroen; man soll vielmehr durch geeignete Sagen womöglich den Glauben in ihnen erwecken, daß selbst auf Erden unter den Bürgern eines Gemeinwesens wenigstens alle Feindschaft Sünde sei, ja daß in Wirklichkeit eine solche Sünde im Staate (d.h. im besten Staat) niemals vorgekommen sei56. Durch einen eigentümlichen Schöpfungsmythus soll ferner allen Klassen der Bevölkerung, den Regierenden wie den Regierten, die Überzeugung beigebracht werden, daß alle Angehörigen des Staates als Kinder ein und derselben Mutter Erde, als Sprossen des Landes, das ihnen zu gemeinsamer Pflege anvertraut ward, untereinander Brüder seien57.

Plato sieht wohl ein, daß derartige Vorstellungen vom rein individualistischen Standpunkt aus schlechterdings unverständlich sind. Aber er hofft eben von der Kraft des Glaubens, daß sie die Mächte der Selbstsucht überwinden werde. Die Religion hat für ihn dieselbe sozial-aufbauende Bedeutung, wie z.B. für Carlyle, weil sie den Mittelpunkt, um den sich das Dasein des einzelnen bewegt, aus dem Individuum hinausverlegt und durch den Glauben an außerindividuelle, d.h. außerhalb des Individuums liegende Werte die Fähigkeit entwickelt, Opfer für die Gemeinschaft zu bringen, sich in das Leben derselben einzuordnen.

Allerdings sind es nicht die überkommenen religiösen Formen, von denen er sich eine genügende Förderung dieses Prozesses der Sozialisierung verspricht; denn sie haben die Herrschaft des Egoismus über das Handeln der Menschen nicht zu verhindern vermocht. Die Absicht Platos, die Hüter seines Staates nicht nur zur Gottesfurcht, sondern »zu[17] möglichster Gottähnlichkeit«58 zu erziehen, setzt zu ihrer Verwirklichung eine Verinnerlichung und Vergeistigung der Religion voraus, welche vor allem der Sinnenwelt eine ganz andere Stellung anweist als die herkömmliche Volksreligion. Die Weltanschauung, die die entscheidenden Wertmaßstäbe der Sinnenwelt entnimmt, soll überwunden werden durch einen Idealismus, der der Sinnenwelt als der unvollkommenen Erscheinung eines höheren unsichtbaren Seins nur eine beschränkte, untergeordnete Bedeutung zuerkennt und die letzten Ziele menschlichen Strebens weit über das Individuum und das flüchtige Erdenleben hinausverlegt.

Die »göttlichen Aussichten« (ϑεῖαι ϑεωρίαι)59, welche die Schöpferkraft einer genialen dichterischen Phantasie in dem unvergleichlichen Bilde von der Höhle im siebenten Buche und in den großartigen Spekulationen am Schluße des Werkes dem »sterblichen, dem Tod geweihten Geschlecht« eröffnet60, der Hinweis auf ein göttliches Strafgericht, welches dem Gerechten im Jenseits mit paradiesischer Seligkeit, dem Ungerechten mit zehnfachen Qualen lohnt61, die Lehre von der wahren überirdischen Heimat der für unsterblich erklärten Seele, dies alles wird die Gläubigen auf dem Pfade der Tugend und Gerechtigkeit verharren lassen, der »für sie im Leben und nach dem Tode der beste ist«62, 5 auf dem Wege, der »nach oben« führt, in den Himmel.63

Diese Glaubenslehre deckt sich vollkommen mit den Grundgedanken der idealistischen Philosophie, welche sich als die Blüte des gesamten Unterrichts im platonischen Staate darstellt, und deren innerliche Aneignung die Bedingung für das Emporsteigen zur höchsten Amtsgewalt bildet. Die durch die Jugenderziehung bereits entwickelten »richtigen Vorstellungen« sollen bei den befähigtsten Elementen der Hüterklasse durch eine systematische wissenschaftliche Schulung, welche bis zum Mannesalter (bis zum 35. Lebensjahre) reicht, auf die Höhe begrifflicher Erkenntnis erhoben werden64, einer Erkenntnis, in der die zur Herrschaft Berufenen ein Gut von so beseligendem Wert (κτῆμα ἡδὺ καὶ μακάριον) besitzen, daß ihm gegenüber alle anderen Interessen in den Hintergrund treten.65

[18] Wen »echtes Weisheitsstreben« auf solche Höhe des Denkens geführt hat, dem kann das äußere Dasein so wenig »als etwas Großes« erscheinen, daß selbst der Tod alle Schrecken für ihn verliert66. In wesenlosem Scheine liegt das Leben des bloßen Sinnengenusses unter ihm, überhaupt alles, was die große Masse zur ruhelosen Jagd nach dem Golde stachelt67. Denn »wo die Triebkräfte der Seele mit aller Macht, einem abgeleiteten Strome gleich, auf einen Punkt hindrängen, da wirken sie nach allen anderen Seiten hin um so schwächer.68« Darum sind diejenigen, für welche die Erkenntnis das Höchste ist, zur Leitung aller anderen berufen, weil sie allein ein Ziel im Leben haben, welches ihrem gesamten Fühlen und Handeln eine absolut einheitliche Richtung gibt.69

Sie sind um so mehr zur Herrschaft befähigt, je weniger gerade für sie der Besitz der Macht Gegenstand einseitig egoistischer Gelüste sein kann. Sie haben ja den unaussprechlichen Reiz eines »besseren« Lebens kennen gelernt, in welchem sie sich schon auf Erden nach den Inseln der Seligen versetzt glauben70. Was könnte sie bestimmen, von den reinen Höhen der Forschung und Erkenntnis71 hinabzusteigen in das Dunkel eines »schlechteren« Lebens?72 Wenn sie es – im besten Staat – trotzdem tun, so tun sie es nur notgedrungen73 und gehorsam dem Gesetz, sowie in der Erfüllung der Dankespflicht, welche sie dem Staate als ihrem Erzieher schulden, dem Staate, der sie »zu ihrem und des Staates Frommen wie in Bienenstöcken zu Weiseln und Königen heranbilden ließ«74.

Indem so die Ausübung der obersten Regierungsgewalt in die Hände von Männern gelegt wird, die in ihr nur die Erfüllung einer sittlichen Pflicht sehen75, hat die Idee des Staates eine Vertretung gefunden, die über alle Interessen erhaben dasteht.

Hier gibt es daher auch keinen Kampf mehr um die politische Macht, wie er das Leben des wirklichen Staates vergiftet, in welchem blinder Wahn »um einen Schatten kämpft und über die Herrschaft sich entzweit, als ob diese ein hohes Gut wäre«76. Hier herrschen in Frieden die Repräsentanten des wahrhaft beglückenden Reichtums: der Sittlichkeit und Vernunft77, während dort »Bettler und nach eigenem Nutzen Hungernde sich auf den Staat werfen, in der Meinung, von ihm das Gute[19] erbeuten zu müssen,« und so den inneren Kampf entzündend sich und ihre Mitbürger zugrunde richten78.

Statt der »Träumenden« herrschen hier die »Wachenden«79, statt der »zur Gemeinschaft Untauglichen«, Antisozialen (δυσκοινώνητοι) die wahrhaft sozial Gesinnten (οἱ φιλοπόλιδες)80, statt der sittlich und geistig Unreifen die durch »Unterricht und Alter zur Vollendung Gelangten« (τελειωϑέντες παιδείᾳ τε καὶ ἡλικίᾳ).81. An Stelle der Blinden, deren Geiste überhaupt kein deutliches Urbild der Dinge (ἐναργὲς παράδειγμα) innewohnt, sind hier die Wissenden getreten, welche den Staat nach seinem göttlichen Musterbild (ϑεῖον παράδειγμα)82 zu formen verstehen, diejenigen, welche allein imstande sind, an alles Gegebene den Maßstab der Idee anzulegen und die Wirklichkeit ideengemäß zu gestalten. Denn sie haben das Höchste, die sittliche Idee geschaut (τὴν τοῦ ἀγαϑοῦ ἰδέαν, μέγιστον μάϑημα)83, welche den bleibenden Mittelpunkt alles sozialen und politischen Denkens und Handelns bilden soll.

All dies hat Plato im Auge, wenn er es auszusprechen »wagt«, daß im besten Staat die treuesten der Hüter zu »Weisheitsfreunden« (φιλόσοφοι) gebildet werden müßten84, und daß die Staaten der Wirklichkeit erst dann von ihren Übeln erlöst werden würden, wenn die »Philosophen« in ihnen zur Herrschaft kämen oder die jetzt sogenannten Könige zu philosophieren begännen85. »Erst dann kann unser Staat erwachsen und das Licht der Sonne schauen.« Zwar werden es immer nur wenige sein, welche sich auf eine solche Höhe der Intelligenz und idealer Gesinnung zu erheben vermögen, wie sie hier von den obersten Lenkern des Staates verlangt wird86, allein die Zahl der zur Regierung Gelangenden ist für Plato gleichgültig. Mag die Regierungsform eine monarchische87 oder eine[20] aristokratische (im besten Sinne des Wortes) sein, wenn es nur gelingt, durch eine sorgfältige Auslese wirklich die besten Männer an die Spitze zu bringen.

Zu diesem Zweck hat sich die heranwachsende Generation der Hüterklasse einer Reihe von Prüfungen zu unterwerfen, die neben geistiger Begabung und wissenschaftlichem Fortschritt ganz besonders die Charakterentwicklung ins Auge fassen. Alle diejenigen, welche nicht in den niederen Stellungen des Verwaltungs- und Militärdienstes zurückbleiben wollen, müssen sich durch strenge wissenschaftliche Studien zu einer Höhe der Bildung, zu einer harmonischen Gesamtanschauung der Dinge erhoben haben, die sie befähigt, stets auch den allgemeinen Zusammenhang alles Einzelwissens klar zu erfassen. Sie müssen anderseits durch die entschiedensten Proben von Charakterfestigkeit und Opferfähigkeit dem Staate eine Bürgschaft dafür gegeben haben, daß sie ihr ganzes Leben hindurch das Wohl des Ganzen zur leitenden Norm ihres Handelns machen werden88. »Weit sorgfältiger als Gold im Feuer geprüft« müssen sie gezeigt haben, daß nichts auf der Welt, nicht Gewalt, noch Trug, noch Begierde sie jemals in ihrer Hingebung an den Staat wankend machen könne.89

Die also Erprobten treten mit fünfunddreißig Jahren in die höheren Ämter der Verwaltung und des Heerwesens ein, um sich jene umfassende praktische Erfahrung und Tüchtigkeit anzueignen, welche auch nach Plato für den Staatsmann unentbehrlich ist90. Diejenigen aber, welche sich hier in jeder Hinsicht den Forderungen der Praxis gewachsen gezeigt, sollen an der Schwelle des Alters – im fünfzigsten Lebensjahre – dem »letzten Ziele zugeführt« und veranlaßt werden, ihr geistiges Auge emporzurichten zu dem, was allem Licht verleiht. Sie sollen die Muße erhalten, sich in die Welt der Begriffe zu versenken und so das zu erkennen, was in allem Wechsel des einzelnen das ewig Bleibende, Allgemeine, das von dem Zufall der Erscheinung abgelöste wahre Wesen der Dinge ist. Zugleich soll ihnen die Macht zuteil werden, nach diesem[21] höchsten Maßstab, den ihnen die begriffliche Erkenntnis, die Einsicht in das »an sich Gute« an die Hand gibt, alles staatliche und individuelle Leben zu gestalten91.

Zu dem Zweck dürfen sie zwar fortan den größten Teil ihrer Zeit der Wissenschaft widmen, allein gleichzeitig wird ihnen die Verpflichtung auferlegt, in periodischem Wechsel wenigstens vorübergehend die oberste Leitung des Staates zu übernehmen, wenn die Reihe sie trifft, sich »der Mühseligkeit der Staatsgeschäfte zu unterziehen«92. Die Macht, die sie ausüben, ist eine absolute. Sie sind die eigentlichen »vollkommenen Hüter« (φύλακες παντελεῖς) des Staates, ihnen gegenüber alle Standesgenossen nur ausführende Organe, »Helfer und Förderer des Willens der Herrscher« (ἐπίκουροί τε καὶ βοηϑοὶ τοῖς τῶν ἀρχόντων δόγμασιν),93, wie diese selbst nur Werkzeuge der Staatsidee sein wollen. So offenbart sich in allen Organen des Staates die hohe sittliche Idee, für welche sie bestehen und funktionieren; sie ist als allgegenwärtiges und allbestimmendes Prinzip in allen Handlungen der öffentlichen Gewalten wirksam.

So unerschöpflich nun aber auch die Fülle sittlicher und geistiger Kräfte erscheinen mag, welche durch den geschilderten Erziehungs- und Bildungsprozeß entwickelt werden soll, – eine Sorge bleibt noch vor dem weitschauenden Geiste des Denkers bestehen: Wird sich diese mühsam errungene Summe von Kräften auch ungeschwächt erhalten oder späteren Generationen wieder verloren gehen?

Wenn auch die ideale Beamten- und Kriegerklasse als Ganzes genommen eine Elite darstellt, Gradunterschiede in der Tüchtigkeit der einzelnen Individuen sind doch auch hier unvermeidlich. Wie nun, wenn die für die höchsten staatlichen Aufgaben befähigten Talente sich nicht in der nötigen Anzahl reproduzieren? Plato stand hier einfach vor der Alternative: entweder der von den äußeren Zufälligkeiten der Fortpflanzung drohenden Verschlechterung der »für das Gemeinwesen bestimmten« Klasse ihren freien Lauf zu lassen und damit auf die Dauerhaftigkeit seiner staatlichen Schöpfung von vorneherein zu verzichten oder[22] aber – die Fortpflanzung ihres zufälligen und rein individuellen Charakters zu entkleiden. So abstoßend für unser Empfinden die Konsequenzen sind, zu denen man auf letzterem Wege notwendig gelangen muß: die staatliche Regelung der Fortpflanzung durch die bewußte und künstliche Auslese oder Zuchtwahl, – bei Plato konnte keine Rede davon sein, daß er auf eine Forderung verzichtet hätte, welche sich aus seinem System mit logischer Folgerichtigkeit ergab.

Nach seiner Ansicht ist schön und gut, was dem Staatszwecke nützt, unsittlich und häßlich nur das, was ihn schädigt94. Denn der Staatszweck ist ja das Glück und, weil das Glück, auch die Sittlichkeit aller. Wie könnte also das, was diesem Zwecke dient, der Sittlichkeit widerstreiten? Allerdings fordert es auch ein großes, nach unserem Gefühl zu großes Opfer an Freiheit und Selbstbestimmung. Allein gibt es für den Beamten und Soldaten des Vernunftstaates, das unbedingt ergebene Organ für die Durchführung des Staatszweckes, irgendein Opfer, welches gegenüber diesem Zweck ein zu großes wäre?

Übrigens widersprach ja dem Empfinden des antiken Menschen ein Zwang gerade auf diesem Gebiete nicht in dem Grade wie unserem modernen. Der Hellene war gewöhnt, selbst die Ehe – als das Institut, welches dem Staate Bürger zu geben hat – unter einem rein politischen Gesichtspunkt zu betrachten95; und es ist nur die äußerste Konsequenz dieser Auffassung, wenn der beste Staat, der, um der beste zu sein, sich auch seine Organe selbst schaffen zu müssen glaubt, den Anspruch erhebt, durch eine planmäßige Regelung des Fortpflanzungsgeschäftes sich die stetige Wiedererzeugung der für seinen Dienst geeignetsten Individuen dauernd zu sichern.

So legt denn der Vernunftstaat seinen Dienern, d.h. Beamten und Soldaten, die Verpflichtung auf, sich bei der Erzeugung der »für das Gemeinwesen bestimmten Kinder« an die Altersgrenzen zu halten, welche nach seiner Ansicht die sicherste Bürgschaft für einen tüchtigen Nachwuchs gewähren96. Er verlangt von ihnen den Verzicht auf die Ehe,[23] d.h. auf freiwillige und dauernde Verbindungen, und die Unterwerfung unter die künstlichen Veranstaltungen, durch welche die Staatsgewalt für jeden einzelnen Fall die einzelnen zusammenführt, obgleich dabei rücksichtslos nach den züchterischen Grundsätzen der individuellen Auslese97 die tüchtigsten Individuen vor den minder Tauglichen bevorzugt werden98. Prinzip ist, daß »die Besten sich am häufigsten mit den Besten verbinden und umgekehrt die Schlechtesten nur mit den Schlechtesten«. Die Tüchtigsten sollen eine möglichst zahlreiche Nachkommenschaft erzeugen, weshalb z.B. allen denen, welche im Kriegs- oder Friedensdienst sich hervorgetan – zugleich als Belohnung – eine »häufigere Begünstigung des Beilagers« zuteil wird. Unter Veranstaltung großer Festlichkeiten, mit Opfern und heiligen Liedern und unter feierlichen Gebeten der Priester und Priesterinnen und des ganzen Volkes erfolgt je nach Bedürfnis die Ziehung der Hochzeitslose; und nach ihrem Ausfall, den die Geschicklichkeit der Regierenden durch geheimen Trug bestimmt, sollen Bräutigam und Braut einander zugeführt werden. Ja die Grundsätze der Zuchtwahl werden so strenge durchgeführt, daß die Kinder von minder tüchtigen Individuen, denen man ja die Liebe nicht ganz versagen kann, von vorneherein als außerhalb der Klasse ihrer Eltern stehend behandelt werden. Sie sollen ebenso wie etwaige gebrechliche Kinder ihrer tüchtigeren Standesgenossen »beiseite geschafft werden«99. Ferner sollen alle Früchte einer von der Obrigkeit nicht angeordneten Verbindung abgetrieben, oder, wo das nicht möglich, so behandelt werden, als »sei für ihre Auferziehung kein Platz vorhanden«.100

Indem so Generationen hindurch immer wieder diejenigen Individuen zur Nachzucht gewählt werden, welche die durch systematische Erziehung und Disziplinierung entwickelten Charaktereigenschaften in hervorragendem[24] Maß bewähren, den anderen dagegen, welche sich den höchsten Staatszwecken weniger anzupassen vermögen, die Vererbung innerhalb des Standes versagt bleibt, werden die dem Staatszweck angepaßten Eigenschaften der Elite des Soldaten- und Beamtenstandes nicht nur erhalten, sondern durch Häufung so sehr gesteigert, daß Plato an demselben eine »Herde von möglichster Vollkommenheit«101 zu erhalten hofft.

Aber auch noch in anderer Beziehung kommt dieses System dem Bestande der Klasse zugute. Indem es ihre Vermehrung der Willkür des einzelnen entzieht und sie stets mit den gegebenen Verhältnissen auszugleichen sucht, begegnet es zugleich der Gefahr eines allzu starken Angebots von Kräften, für welche der Staat keine Verwendung hätte102. Eins Gefahr, die hier ja eine besonders große wäre, da der Kommunismus nicht nur jedem für sich volle Versorgung gewährt, sondern ihm auch die Fürsorge für den Unterhalt seiner Nachkommenschaft gänzlich abnimmt103.

So sind denn auch hier die Vorschläge Platos, so verwerflich sie für unser Gefühl erscheinen, aus den vorausgesetzten Zuständen mit strengster Folgerichtigkeit entwickelt; für diejenigen, welche die Voraussetzungen annehmen, sind sie logisch unabweisbar. Eine andere Frage ist freilich die, ob all das, was Plato sich von ihrer Durchführung verspricht, auch wirklich eintreten würde!


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 8-25.
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Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

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