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Das Bürgertum

[25] Zu der Ausführlichkeit der Darstellung, welche Plato dem Soldaten- und Beamtentum widmet, steht in eigentümlichem Gegensatz die Kürze, mit der er über die Lebensordnung der Erwerbsgesellschaft hinweggeht.

Man hat darin seit Aristoteles eine Lücke des ganzen politischen Systems sehen wollen104 und die bereits bei Aristoteles ziemlich deutlich[25] ausgesprochene Vermutung daran geknüpft, als sei Plato vor den Schwierigkeiten zurückgeschreckt, welche diese Frage einer systematischen Behandlung entgegenstellt105.

Nun ist es ja allerdings richtig, daß Plato ein umfassendes Programm für die Ordnung des Wirtschaftslebens im Idealstaate nicht gibt, während er später in seinem der Wirklichkeit mehr angenäherten Organisationsentwurf des »Gesetzesstaates« einen ausführlichen Plan für die staatliche Regulierung der gesamten Volkswirtschaft dieses zweitbesten Staates ausgearbeitet hat. Auch ist es, wie wir sehen werden, ohne weiteres klar, daß Plato selbst nicht zu einem abschließenden Urteil darüber gelangt ist, wie und in welchem Umfange in der Praxis das zu verwirklichen sei, was ihm wohl als das Ideal einer Wirtschaftsordnung des besten Staates vorschwebte.

Trotzdem kann von einer »Lücke des Systems« nicht die Rede sein. Denn Plato selbst hat sich so klar und bestimmt wie möglich darüber ausgesprochen, warum er in dem Entwurf des idealen Vernunftstaates auf detaillierte Vorschläge nach der genannten Seite hin verzichtete.

Er hat ein lebhaftes Gefühl dafür, daß gegenüber der unendlichen Mannigfaltigkeit, Verschlungenheit und Wandelbarkeit der gesellschaftlichen Zustände, gegenüber dem nicht minder verschiedenartigen und wandelbaren Menschengemüt alle positive Satzung nur einen relativen Wert beanspruchen kann. Nach seiner Überzeugung ist es immer mißlich, das Leben durch starre Regeln meistern zu wollen, welche überall und immer Geltung beanspruchen. Denn kein Gesetzgeber sei imstande, genau im voraus zu bestimmen, was »für alle das Beste und Gerechteste« ist106, und »indem er allen insgesamt Vorschriften gibt, genau jedem einzelnen das ihm Angemessene zuzuteilen«107. Als ein Einfaches, welches seinem Wesen nach niemals mit dem Komplizierten sich decken wird108, könne das geschriebene Gesetz – zumal auf dem Gebiete des so verwickelten wirtschaftlichen Verkehrsrechtes – nur mit »groben Durchschnitten« rechnen109, niemals wirklich genügend auf das Individuelle eingehen. Die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit, wie sie in denkbar[26] idealster Weise der Vernunftstaat bezweckt, wird daher dem positiven Recht immer nur innerhalb enger Grenzen möglich sein. Es gibt kein formales Recht, welches nicht um den Preis teilweiser materieller Ungerechtigkeit erkauft wäre.

Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint die Unterwerfung der Regierenden unter das geschriebene Gesetz nur als ein Notbehelf, welcher unentbehrlich ist, um das Interesse der Regierten gegen deren Unverstand oder Egoismus zu schützen110. Wie aber, wenn die Regierung aus Männern besteht, bei denen es eines solchen Schutzes nicht bedarf, »wahrhaften Staatsmännern«, welche der »königlichen Wissenschaft« (ἐπιστήμη βασιλική) Meister sind?111 Sollen ihnen die Fesseln (ἐμποδίσματα) geschriebener Satzungen angelegt werden, die der praktischen Verwirklichung ihrer höheren Einsicht überall hindernd und störend in den Weg treten, einer Einsicht, die sich bei freier Betätigung notwendig besser bewähren muß als alles Gesetz?112

Es ist nur die einfache und unabweisbare logische Konsequenz dieser auch in dem Dialog über den »Staatsmann« (d.h. über das wahre Königtum) entwickelten Auffassung, wenn Plato darauf verzichtet, den Regenten seines Idealstaates über die Art und Weise, wie sie zu regieren hätten, »viele und weitläufige« (πολλὰ καὶ μεγάλα) Vorschriften zu machen113. Er ist ja überzeugt, daß die von ihm vorgeschlagene Erziehung und Organisation des Beamtentums dem Staate eine Regierung verbürgt, welche das denkbar höchste Maß praktischer Erfahrung und theoretischer Erkenntnis in sich verkörpert, ein höheres jedenfalls, als es der bloße Theoretiker für sich in Anspruch nehmen konnte. Er würde also mit seinen eigenen Anschauungen über das Verhältnis der echten Staatskunst zum geschriebenen Gesetz in Widerspruch geraten sein, wenn er es »gewagt« hätte, einer so vollkommenen Regierung, welche »in den meisten Fällen« die notwendigen gesetzlichen Vorschriften leicht selbst finden werde114, für alle Zukunft die Hand zu binden. Nicht die tote, gegenüber[27] der rastlosen Bewegung des Lebens starr sich gleichbleibende Satzung soll die Grundlage der im Vernunftstaat verwirklichten idealen Gerechtigkeit sein, sondern die lebendige, aus dem ewig frischen Born praktischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis schöpfende Weisheit seiner leitenden Staatsmänner.

Durch diese Anschauung war es grundsätzlich ausgeschlossen, daß der Entwurf des Idealstaates, »wie man vielleicht erwarten mag,«115 zugleich ein umfassendes Programm der Sozial- und Wirtschaftspolitik enthielt.

Man sieht, wie gründlich man Plato mißverstehen würde, wenn man mit Zeller annähme, daß Platos Idealstaat die Erwerbsstände »durchaus sich selbst überlasse«,116 oder mit Gomperz, daß Plato aus Mangel an Interesse es vergessen habe, sich über die Einzelheiten jener Regierungsweise zu äußern!117

Eine solche Auffassung ist nur möglich, wenn man die Stellung der wirtschaftlichen Klassen in diesem Staate völlig verkennt. Sie beruht auf der falschen Voraussetzung, daß hier nur die Angehörigen der Hüterklasse als Staatsbürger zu betrachten seien, und daß sich daher das Interesse des Staats an der materiellen und sittlichen Wohlfahrt seiner Bürger einzig und allein auf diese Klasse beschränke. Die »Masse des Volkes« erscheint auf dem hier vorausgesetzten Standpunkt nur als die unentbehrliche materielle Unterlage für die Verwirklichung der mit dem Staatszweck selbst zusammenfallenden Lebensziele einer höheren Gesellschaftsklasse. Sie ist nichts, als die misera plebs contribuens, die keinen Anspruch darauf hat, die eigenen Lebenszwecke in gleicher Weise, wie die jener Bevorzugten, als Objekt staatlicher Fürsorge anerkannt zu sehen. »Ihre Beschaffenheit ist für das Gemeinwesen gleichgültig.«118

Hätte Plato wirklich so gedacht, so wäre sein ganzes politisches System eine Absurdität. Dieses System, welches ausdrücklich erklärt, daß es keine Klasse der Bürger auf Kosten der anderen glücklich machen will, es soll alles, was nicht Beamter oder Soldat ist, als ein ganz unwesentliches[28] Mitglied der Gesellschaft, als reines Mittel zum Zweck behandelt haben, es soll das ganze arbeitende Bürgertum – vom gemeinen Handlanger bis hinauf zum Künstler – als eine Masse hingestellt haben, deren geistiges und sittliches Niveau ein so niedriges sei, daß von ihrem Wohle weiter nicht die Rede zu sein brauche, daß man über ihr Schicksal einfach zur Tagesordnung übergehen könne!

Was würde ferner der kulturpolitische Wert eines Staates bedeuten, dessen Leistungsfähigkeit in einseitigster Weise einem kleinen Bruchteil des Volkes zugute käme, während er für die ungeheure Mehrheit119, vielleicht für 19/20, weder in materieller, noch in sittlicher, noch in geistiger Hinsicht irgendeinen Fortschritt gegenüber den bestehenden Zuständen bedeutet hätte! Warum hätte endlich Plato ohne irgendeine innere oder äußere Nötigung das für den Bestand seines Idealstaates überaus gefährliche Experiment machen sollen, die kleine rein sozialistisch und zentralistisch organisierte Korporation seiner Hüter in den Mittelpunkt einer Gesellschaft zu stellen, deren ganzes Leben durch das diametral entgegengesetzte Prinzip des laisser faire (des πάντα ἐατέον) beherrscht worden wäre? Und vorausgesetzt, man traut ihm eine solche politische Ungeheuerlichkeit zu, wie läßt sich mit den oben entwickelten sozialökonomischen Grundanschauungen Platos die Ansicht vereinbaren, er habe die individualistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Wirklichkeit einfach in seinen Vernunftstaat herübergenommen und die Verwirklichung der sein ganzes Denken und Fühlen beherrschenden sozialistischen Ideen grundsätzlich auf einen ganz unverhältnismäßig kleinen Teil des Volkes beschränkt?

Plato hat bekanntlich in jenem späteren Werke zu zeigen gesucht, wie der Staat auch bei dem Verzicht auf die ideale Musterregierung des Vernunftstaates zu relativ befriedigenden Zuständen gelangen könne. Er hat sich hier genötigt gesehen, die Aufgabe, deren Lösung er in der Politie getrost der »königlichen Kunst« der künftigen Lenker seines besten Staates anheimstellen konnte, seinerseits in Angriff zu nehmen und der geringeren Einsicht einer weniger vollkommenen Regierung durch Aufstellung von positiven Normen für die Einzelheiten der Verwaltung zu Hilfe zu kommen. Diese Normen, deren Beobachtung ihm für die Wohlfahrt von Volk und Staat unerläßlich erscheint, bezwecken eine mehr[29] oder minder sozialistische Regulierung der gesamten Volkswirtschaft und erstrecken sich daher auch auf das Leben aller Klassen des Volkes. Mit großer Gründlichkeit vertieft er sich hier in die »niedere Welt des Marktes«, von der er sich in dem früheren Werke mit »vornehmer Geringschätzung« abgekehrt haben soll.120

Es ist unbegreiflich, zeigt aber wieder einmal recht drastisch, wie sehr die Macht vorgefaßter Meinungen den Blick für das Nächstliegende trüben kann, daß noch niemandem der unlösbare Widerspruch aufgefallen ist, der sich bei der bisherigen121 Auffassung aus dieser Tatsache ergibt. Hier in den »Gesetzen« ein Staat, der zwar in bezug auf die Güte der Regierung hinter den höchsten Anforderungen zurückbleibt, aber den Regierten doch noch des Guten genug leistet und ihnen nichts Geringeres verheißt als Erlösung von den schlimmsten Krankheitsformen der bestehenden Gesellschaft, von Mammonismus und Pauperismus und ihren Folgezuständen122, ein Staat, der mit der größten Energie auf die Versittlichung des ganzen Verkehrs- und Arbeitslebens hinarbeitet;123 – und dort in der πολιτεία ein Staat, welcher der wahrhaft vernunft- und naturgemäße zu sein beansprucht und die denkbar beste Regierung haben will, in welchem aber für die ungeheure Mehrheit der bürgerlichen Gesellschaft diese vortreffliche Regierung eine gänzlich unfruchtbare ist und sie in der Haupt- und Grundfrage der Zeit vollkommen im Stiche läßt, – ein Staat, der in der absoluten Unabhängigkeit der Regierungsgewalt von allen sozialen und wirtschaftlichen Sonderinteressen und Vorurteilen die denkbar beste Bürgschaft für eine gedeihliche Lösung gerade dieser Frage besitzt, der aber unbegreiflicherweise von solch einzigartigem Vorzug keinen Gebrauch macht!

Und das soll der Staat gewesen sein, der ausdrücklich den Anspruch erhebt, daß durch ihn das Wohl aller Bürger gefördert werden soll, der Staat, in welchem Plato auch dann noch das höchste politische Ideal erblickte, als er es unternahm, jenen zweitbesten Staat zu konstruieren?

Dieser Entwurf des zweitbesten Staates ist, wie schon bemerkt, ganz[30] und gar von sozialreformatorischem Geiste erfüllt. Er erkennt ausdrücklich als ein »verständiges Gemeinwesen« (πόλις νοῦν ἔχουσα) nur ein solches an, welches die »Heilung« der sozialen »Krankheit« (τῆς νόσου ταύτῆς ἀρωγήν) ernstlich und auf breitester Basis in Angriff nimmt124; und er spricht anderseits die Erwartung aus, daß ein solches verständiges Gemeinwesen bei der Durchführung dieser und aller sonstigen staatlichen Aufgaben sich so enge als nur immer möglich an das Vorbild des idealen Vernunftstaates anschließen werde.125

Wie wäre eine solche Auffassung möglich gewesen, wie hätte Plato auch damals noch den Vernunftstaat als das ideale Musterbild für jeden sozialen Zukunftsstaat aufstellen können, wenn derselbe sein sozialpolitisches Interesse ausschließlich auf seine Beamten und Soldaten konzentriert und die ganze übrige Gesellschaft dem »größten Übel« (dem μέγιστον νόσημα) überlassen, also selbst nicht den Anforderungen entsprochen hätte, welche Plato an ein verständiges Gemeinwesen stellt?

In den »Gesetzen« heißt es, selbst in einem Staate mit nur mittelmäßiger Verfassung und Verwaltung müsse für alle Freien und Sklaven soweit Sorge getragen werden, daß niemand in den äußersten Grad der Armut versinken könne und dadurch zum Betteln genötigt werde126. Im besten Staate dagegen soll sogar die große Mehrzahl der Bürger völlig sich selbst überlassen bleiben!

Das einzige positive Zeugnis, welches für die angebliche »Gleichgültigkeit« des Vernunftstaates gegenüber dem gesamten erwerbenden und wirtschaftlich tätigen Bürgertum geltend gemacht wird, ist die bekannte Bemerkung der Politie, daß für den Bestand des Staates die Beschaffenheit der an Regierung und Gesetzgebung Beteiligten wichtiger sei, als die der Regierten. »Auf die anderen kommt es weniger an. Denn wenn auch die Schuhmacher schlecht sind und vorgeben, das Gegenteil, d.h. gute Schuster zu sein, so liegt darin noch keine Gefahr für den Staat. Wenn aber die Hüter der Gesetze und des Staates das nicht sind, was sie heißen, sondern es nur scheinen, dann sieht man, daß sie den ganzen Staat von Grund aus verderben, wie es ja auch allein in ihrer Hand liegt, den Staat zu einem gut verwalteten und glücklichen zu machen.«127

[31] Daß diese Bemerkung für die bisherige Auffassung nichts beweist, liegt auf der Hand. Nur vorgefaßte Meinung kann in ihr einen falschen Aristokratismus finden. Es ist nicht aristokratisches Vorurteil, sondern einfach wahr, daß der Staat in erster Linie an der Fähigkeit seiner Organe interessiert ist und erst in zweiter an der Tüchtigkeit der einzelnen Privaten.128

Übrigens ist diese letztere Plato keineswegs gleichgültig129. Die Regierung seines Idealstaates hat sorgfältig darüber zu wachen, daß nicht bloß die Regierenden, sondern auch alle anderen Klassen ihr Tagewerk in möglichst tüchtiger Weise betreiben130. Daher finden sich auch gerade in dem Entwurf des Idealstaates die bekannten Erörterungen, wie durch die Vervollkommnung der Arbeitsteilung und die Bekämpfung des Mammonismus und Pauperismus die Tüchtigkeit des wirtschaftenden Volkes gehoben werden könne. Diese Tatsache kann nur derjenige übersehen, der mit Zeller der Ansicht ist, daß bei einem »Verächter aller Erwerbstätigkeit« wie Plato »von volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten überhaupt keine Rede sein« könne!

Nun soll aber die Stelle nicht bloß beweisen, daß Plato die praktische Tüchtigkeit der arbeitenden Klassen gering geschätzt hat, sondern noch mehr, daß ihm auch für ihre Moralität das nötige Interesse fehlte131. Nach der Ansicht Zellers hätte Plato, wenn ihm an der Erziehung der gewerblichen Klassen etwas gelegen war, dieses irgendwie andeuten, er hätte sagen müssen: »Ob der Schuster ein Schuster oder nicht, berührt den Staat nicht groß, aber ob er ein rechtschaffener Mann ist, berührt ihn.«

Darauf ist einfach zu erwidern, daß nach dem ganzen Zusammenhang dieser Stelle eine solche Bemerkung gar nicht am Platze war, daß[32] dagegen Plato unmittelbar darauf, wo er von den genannten wirtschaftspolitischen Maßregeln zur Hebung des dritten Standes spricht, in der Tat sein Interesse an der Sittlichkeit desselben so deutlich wie nur möglich zu erkennen gibt! Er will die Bürger des dritten Standes vor Not, wie vor Überfluß bewahrt wissen, weil sie dadurch nicht bloß zu schlechten Arbeitern, sondern auch zu schlechten Menschen würden132, weil sonst Ausschweifung, Müßiggang, gemeine Gesinnung (ἀνελευϑερία) unter ihnen überhand nehmen könnte133.

Ebenso leicht erledigt sich die Behauptung, daß Plato, wenn ihm an der Sittlichkeit des dritten Standes etwas lag, auch hätte angeben müssen, wie derselbe dazu erzogen werde.

Wir sahen, daß Plato der Regierung des besten Staates solche Detailvorschriften in Beziehung auf den dritten Stand überhaupt nicht macht134. Anderseits enthält der Organisationsentwurf des zweitbesten Staates in der Tat solche Angaben über die Art und Weise, wie auch die Moralität der wirtschaftenden Klassen zu heben sei – und zwar nicht bloß im öffentlichen Interesse, sondern zu deren eigenem Besten135. Plato sagt dort, die Hüter der Gesetze hätten stets zu bedenken, daß sie nicht bloß Leute zu regieren haben, denen die Wohltat einer guten Abkunft und guten Erziehung zuteil geworden, und die daher vor gesetzwidrigem und schlechtem Tun leichter zu bewahren seien, als diejenigen, denen dieses versagt ist, und die noch dazu durch ihren Beruf starken Versuchungen ausgesetzt sind. Diese müßten besonders sorgfältig überwacht werden. Es müßten Mittel und Wege gefunden werden, daß selbst der Charakter des niedrigsten Krämers »nicht so leicht ein schmutziger und schamloser werde«, daß wir auch »an einem solchen einen möglichst wackeren oder doch einen möglichst wenig Tadel verdienenden Mitbewohner unseres Staates haben«136. Ja Plato geht noch weiter und gibt selbst ausführliche[33] Anweisungen über die Hebung derjenigen Menschenklasse, deren moralische Verkümmerung für die Anschauung des Hellenen wohl als eine hoffnungslose erscheinen konnte, nämlich der Unfreien. Gegenüber der Ansicht, daß an der Sklavenseele nichts Gesundes sei (ὡς ὑγιὲς οὐδὲν ψυχῆς δούλης), und daß man dem Sklaven in allem und jedem mißtrauen müsse, hebt Plato die Tatsache hervor, daß viele Sklaven in jeder Art von Tüchtigkeit ihre Herren überträfen (κρείττους πρὸς ἀρετὴν πᾶσαν). Er erklärt es als eine Angelegenheit von großer Wichtigkeit für das öffentliche, wie für das private Interesse, diese Tüchtigkeit im Sklaven zu entwickeln, und er verlangt zu dem Zwecke eine sorgfältige moralische Einwirkung auf dessen seelisches Leben. Der Staat wie der einzelne muß wünschen, daß die Sklaven ihren Herren möglichst wohlwollend gegenüberstehen137. In der Behandlung der Sklaven zeigt es sich, wer imstande ist, »eine fruchtbare Tugendsaat auszustreuen« (σπείρειν εἰς ἀρετῆς ἔκφυσιν)138. Es handelt sich um eine sittliche Pflicht, deren Erfüllung – weil von dem Starken gegenüber dem Schwachen geübt – das echteste Kriterium einer wahrhaft gottesfürchtigen und gerechten Gesinnung sei139.

In solcher Gesinnung nimmt sich der platonische Gesetzesstaat selbst der Unfreien an, die nicht einmal Hellenen, sondern verachtete Barbaren sind, da Plato in seinem Staat alles, was hellenischen Stammes ist, von vorneherein vom Sklavenlos verschont wissen will140. Und bei solchen Anschauungen sollte es Plato für »gleichgültig« erklärt haben, ob in seinem Vernunftstaat der Gewerbetreibende, der hier noch dazu dem Staate als Bürger angehört, ein rechtschaffener Mensch ist oder nicht, während in den »Gesetzen« als die einzige Steuer, welche der Staat von den Gewerbetreibenden fordert, deren Rechtlichkeit bezeichnet wird141. Derselbe Mann, der sogar den nichtgriechischen Sklaven zum »Wohlwollen« gegen seinen Herrn erzogen wissen will, sollte es nicht »der Mühe wert« gefunden haben142, im Vernunftstaat auf die Gesinnung der großen Mehrheit der Bürger einzuwirken, er sollte sich »mit dem[34] passiven Gehorsam des dritten Standes begnügt haben, der im Notfall erzwungen werden kann«?143

Wenn dem wirklich so wäre, so müßte Plato seine Stellung zur wirtschaftlichen Arbeit und zum wirtschaftenden Bürgertum in der Zeit von der Abfassung des »Staates« bis zu der der »Gesetze« völlig geändert haben. Er wäre dann aber auch für uns ein psychologisches Rätsel! In der von dem kühnsten Optimismus erfüllten Epoche seines Lebens, in welcher er von der idealen Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Natur so hoch wie möglich dachte, hätte er dem wirtschaftenden Bürgertum in all seinen Gliedern die Möglichkeit des sittlichen Fortschrittes grundsätzlich abgesprochen; später dagegen, als bei ihm mit der gesteigerten Empfindlichkeit für die Schwächen der menschlichen Natur auch die Neigung zur herben Beurteilung der Menschen überhaupt zugenommen, als traurige persönliche Erfahrungen seinen Glauben an die Menschheit erschüttert und ihn zum Verzicht auf die Ausführung seiner liebsten Ideale bestimmt hatten, hätte er gerade über die der sittlichen Versuchung und Entartung am meisten ausgesetzte Masse des Volkes ungleich günstiger geurteilt!

Nun sind es allerdings gerade Äußerungen der »Politeia«, auf welche sich diejenigen stützen, die da meinen, Plato habe es sich gar nicht anders denken können, als daß derjenige, welcher sich der wirtschaftlichen Arbeit widmet, »keinerlei persönliche Tüchtigkeit erlange«144. Allein haben die Worte Platos wirklich diesen Sinn?

Er klagt einmal über die unberufenen Elemente, welche sich – besonders aus gewerblichen Kreisen – zu den Studien drängten, um deren schöner Außenseite willen »von der Technik zur Philosophie« übersprängen, obgleich sie entweder von Haus aus ungenügend veranlagt seien oder durch die unvermeidlichen Nachteile einer handwerksmäßigen Beschäftigung eine Störung und Hemmung in ihrer leiblichen und geistigen Entwicklung erlitten hätten. Worin dieses Zurückbleiben der körperlichen und geistigen Entwicklung besteht, wird nicht gesagt. Es wird nur mit bildlichem Ausdruck von einer »Niederbeugung«, einer »Knickung« der Psyche gesprochen. Dieselbe erscheint wie ein Baum, dem die Krone gebrochen und damit die Fähigkeit zum Emporwachsen genommen ist.145

[35] Aber dem ganzen Zusammenhange nach kann der Sinn der Stelle nur folgender sein: Wer durch mechanische Arbeit sein Brot erwerben muß, vermag sich nicht jene Harmonie der physischen und geistigen Kräfte zu erhalten, welche die Hauptbedingung erfolgreicher Gedankenarbeit ist. Auch liegt es in der Natur der mechanischen Arbeit und der Sorge für den täglichen Erwerb, daß sie jene Energie des Denkens und jenen idealen Aufschwung der Seele nicht aufkommen läßt, welche die höchsten Berufe voraussetzen.

Es ist das dieselbe Anschauung, wie wir sie z.B. bei Fichte wiederfinden, wenn er »über das Wesen des Gelehrten« sagt, daß die große Masse der Menschen ausschließlich in der Welt der sinnlichen Erscheinung lebe und in dem, was diese für Realität nimmt, niemals sich zur Erkenntnis dessen aufzuschwingen vermöge, was aller Erscheinung zugrunde liegt. Die moderne Sozialwissenschaft betrachtet sogar das als eine offene Frage, ob »der mechanische Handarbeiter je die Nerven- und Denkentwicklung erreichen wird, wie unsere heutigen Kaufleute und Mittelstände«146. Wie kann man es da als Ausfluß aristokratischen Hochmutes gegenüber den handarbeitenden Klassen bezeichnen, wenn ihnen Plato nicht die Nerven- und Denkentwicklung zutraut, welche die höchsten Berufe voraussetzen? Von Klassenvorurteilen kann hier so wenig die Rede sein, wie bei dem Handwerkersohn Fichte, der, obwohl ein lebhafter Vorkämpfer bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, aus denselben Prämissen, wie Plato, den Schluß zieht, daß politische Freiheit höchstens nur für einen notwendig sei, daß die Übertragung der Regierungsgewalt an diesen einen oder einen »Ausschuß« den Vorteil gewähre, daß die »Bürger alsdann ruhig fortfahren können, dasjenige zu treiben, was sie verstehen!«147

Nun ist es allerdings richtig, daß von Plato das Banausentum mit einer gewissen Schroffheit in seine Schranken zurückgewiesen wird. Aber es ist damit doch noch nicht gesagt, daß bei einer handwerksmäßigen oder gewerblichen Tätigkeit überhaupt von keinerlei persönlicher Tüchtigkeit mehr die Rede sein könne, daß jeder Gewerbsmann notwendig[36] das sein müsse, was wir einen »an Leib und Seele verkümmerten« Menschen nennen.

Wenn Plato in der Handarbeit eine Ursache zu vielfacher Schwächung der physischen, seelischen und geistigen Kräfte sieht, folgt daraus, daß er diese Verkümmerung für eine so weitgehende und rettungslose hielt, um das ganze produzierende Bürgertum einfach seinem Schicksale zu überlassen? So ungünstig auch die Vorstellungen gewesen sein mögen, welche sich Plato bei seiner Einsicht in das Getriebe der Volkswirtschaft und der technischen Produktion148 und in die Wirkungen einer weitgediehenen gewerblichen Arbeitsteilung ja notwendig aufdrängen mußten, pessimistischer sind seine Äußerungen jedenfalls nicht, als diejenigen, welche der Begründer der modernen Nationalökonomie über die nach seiner Ansicht in fortgeschrittenen Industrie- und Handelsstaaten unvermeidliche Verkümmerung der handarbeitenden Klassen getan hat.

Es ist von Interesse, diese Ausführung Adam Smiths sich zu vergegenwärtigen. Sie vereinigt an einer Stelle alle die Klagen, in welchen der doktrinäre Liberalismus, wenn sie bei antiken Autoren auftreten, nur Vorurteile eines falschen Aristokratismus zu sehen pflegt. »Der Verstand der meisten Menschen« – sagt Adam Smith – »wird bloß durch ihre gewöhnliche Beschäftigung gebildet. Der Mensch, welcher sein ganzes Leben damit zubringt, einige einfache Operationen unaufhörlich zu wiederholen, deren Erfolg auch immer derselbe oder doch sehr gleichförmig ist, kommt nie in den Fall, sein Nachdenken anzustrengen oder seine Erfindungskraft zu üben. Er verliert also gewöhnlich die Fähigkeit nachzudenken und wird mit der Zeit so unwissend und beschränkt, als nur irgendein menschliches Geschöpf werden kann. Die Schlafsucht, in welche sein Geist versinkt, macht ihn nicht nur unfähig für vernünftige Diskussion, sondern erstickt auch in ihm alle edleren Gefühle des Herzens und erlaubt ihm daher nicht einmal die gewöhnlichen Pflichten des Privatlebens gehörig zu erfüllen. Über die großen und umfassenden[37] Gegenstände des öffentlichen Wohles ist er durchaus unvermögend ein Urteil zu fällen, und wenn nicht außerordentliche Vorkehrungen getroffen sind, den Wirkungen seiner Lebensweise entgegenzuarbeiten, so ist er auch unfähig, sein Vaterland im Kriege zu verteidigen. Die Einförmigkeit seiner sitzenden Lebensweise schwächt seinen natürlichen Mut und ... sogar seine körperlichen Kräfte. Die Geschicklichkeit in seinem Gewerbe scheint also auf Kosten all seiner geistigen, sozialen und kriegerischen Tugenden erworben zu sein. In diesen Zustand muß aber der arbeitende Arme, also der größte Teil des Volkes bei einer Nation, die in Gewerbe und Handel große Fortschritte macht, notwendig geraten, wenn nicht der Staat sich seiner Erziehung und Ausbildung annimmt.« Ohne dies würde nach Smith »der große Haufe völliger Verwilderung anheimfallen.«149

Man sieht, selbst die denkbar ungünstigste Vorstellung über die Wirkungen der Lebenslage der Massen braucht an und für sich noch keinen Verzicht auf die Forderung zu enthalten, daß diesen Wirkungen von seiten der Gesamtheit entgegengearbeitet werden müsse. Wenn man die analogen Äußerungen Platos anders beurteilt, als die des liberalen Volkswirtes, so liegt dies eben nur an den übertriebenen Vorstellungen, die man sich von seinem »starren Aristokratismus« macht. Aus seinen Äußerungen selbst läßt sich ein solcher Verzicht nicht herauslesen150.

Noch weniger ist ein solcher Verzicht ausgesprochen in der einzigen Stelle der Republik, welche neben der eben besprochenen überhaupt noch in Betracht kommt. Diese zweite Stelle ist gewissermaßen die Ergänzung der ersteren. Wie diese hauptsächlich auf Grund der geistigen Inferiorität der großen Masse einen Protest gegen das Eindringen des Banausentums in die Gebiete rein geistigen Tuns enthält, so tritt jene den politischen Ansprüchen desselben mit einem Hinweis auf die fehlende moralische Qualifikation entgegen.

[38] Die große Masse wird für unreif zu politischer Selbstbestimmung erklärt. Sie muß sich von Rechts wegen durch diejenigen leiten lassen, welche »das Göttliche als Herrschendes in sich tragen«, und diese Forderung wird mit dem Hinweis auf die Masse derjenigen begründet, durch welche Handwerk und Handarbeit verächtlich würden, weil sie nicht verstünden, dem edleren Teile ihres Selbst auf die Dauer die Herrschaft über Leidenschaft und Begierde zu verschaffen, sondern dazu erst des äußeren Zwanges des Gesetzes bedürfen.151

Auch diese Äußerung enthält nicht die absolute Verurteilung, die man aus ihr herauszulesen pflegt. Sie gibt nur ein Urteil über die tatsächliche Durchschnittsgesinnung der Masse. Sie sagt keineswegs, daß die Handarbeit an und für sich oder gar jede wirtschaftliche Arbeit überhaupt den Menschen unfähig mache, ein gewisses Maß von Sittlichkeit zu erwerben. Plato selbst erkennt ja später einmal ausdrücklich eine Art des Erwerbes an, den Landbau, – in welcher wenigstens die leitende wirtschaftliche Arbeit »den Erwerbenden nicht nötigt, das zu vernachlässigen, um dessentwillen man Erwerbsucht, nämlich Seele und Leib«152. Aber selbst die industrielle Klasse des Idealstaates kann er sich nicht körperlich und moralisch so verkümmert vorgestellt haben, wie man gewöhnlich annimmt. Er unterscheidet unter den Bürgern des Idealstaates diejenigen, welche »an Leib und Seele gut geartet sind« (εὐφυεῖς τὰ σώματα καὶ τὰς ψυχάς) von denjenigen, welche »der Seele nach schlecht geartet und unheilbar sind« (τοὺς δὲ κατὰ τὴν ψυχὴν κακοφυεῖς καὶ ἀνιάτους). Nach der herrschenden Auffassung könnten die wirtschaftenden Klassen nicht zu den ersteren gehören, sondern nur zu den letzteren. Daß davon aber keine Rede sein kann, beweist das Schicksal, welches dieser »Schlechtgearteten« im Idealstaate harrt: »Sie müssen sterben!«153

Wir dürfen eben nicht vergessen, daß Plato zweierlei Arten von Sittlichkeit kennt: eine ideale auf der vernunftgemäßen Erkenntnis der Wahrheit, auf dem »Wissen« beruhende Sittlichkeit: die philosophische Tugend, und jene »volkstümliche«, bürgerliche Tugend (δημοτικὴ καὶ πολιτικὴ ἀρετή),154 welche durch Angewöhnung und Übung entsteht (ἐξ ἔϑους τε καὶ μελέτης γεγονυίαν ἄνευ φιλοσοφίας τε καὶ νοῦ).

Diese »bürgerliche« Tugend, die sich insbesondere als Besonnenheit und Rechtschaffenheit (σωφροσύνη τε καὶ δικαιοσύνη)155 äußert, spricht[39] Plato dem dritten Stande des Idealstaates so wenig ab, daß er sie vielmehr für den Bestand des Staates geradezu unentbehrlich nennt156.

Auch Zeller kann das nicht leugnen157, und stellt uns damit vor das unlösbare psychologische Rätsel, wie dieselben Menschen, von denen es sich Plato »gar nicht anders denken kann, als daß in ihrem Innern die niedrigen Kräfte über die edleren die Herrschaft gewinnen«, daß sie »keinerlei persönliche Tüchtigkeit« erlangen können, gleichzeitig zur Übung dieser Tugenden befähigt sein sollen!

Wer das Göttliche nicht »als ein Herrschendes in sich trägt«, der braucht eben noch lange nicht immer ein willenloses Opfer niedriger Triebe zu sein. Was ihm fehlt, ist nur jene höhere Erkenntnis, welche der »Wissende« von dem wahren Wesen, von den Gründen und der Notwendigkeit des Sittlichen hat. Er kann nur das erreichen, was Plato eine »richtige Vorstellung« nennt, die δόξα ἀληϑής, welche sich vor jener Erkenntnis, der ἐπιστήμη, dadurch unterscheidet, daß sie als ein bloßes Meinen immer die Möglichkeit des Rückfalls in falsche Vorstellungen zuläßt158, wie sie eben das Wissen als festgegründete Erkenntnis der Wahrheit von vorneherein ausschließt. Das Wissen kann durch keine Überredung wankend gemacht werden, die bloße richtige Vorstellung dagegen kann es, weil sie selbst durch Überredung, durch Einwirkung auf das wandelbare Gemüt erzeugt ist, nicht durch die Erhebung des Intellekts zu einem Wissen, das seiner Natur nach unantastbar ist159.

Die für die große Mehrheit erreichbare Sittlichkeit erscheint von diesem Standpunkt aus als ein unsicherer und wandelbarer Besitz. Sie genügt, um den einzelnen zu einem »leidlich guten« Menschen (ἀνὴρ μέτριος)160 zu machen, aber nicht, um eine über alle Anfechtungen erhabene Herrschaft des Göttlichen in seiner Seele zu erzeugen, welche »die Richtung auf das, was droben ist«, unerschütterlich festhält161. Sie gibt – zumal großen Versuchungen gegenüber – nicht die Bürgschaft der Unantastbarkeit, wie sie Plato von demjenigen fordert, der Anspruch auf die politische Herrschaft macht.

Wer wollte leugnen, daß diese Auffassung mit ihrer einseitigen Ableitung der Sittlichkeit aus der Erkenntnis der »nichtphilosophischen« Tugend keineswegs gerecht wird! Sie unterschätzt die unreflektierte Sittlichkeit des geistig Tieferstehenden und verkennt daher, daß die höchste Tugend in jeder Schichte der Gesellschaft möglich und individuell[40] auch tatsächlich vorhanden ist. Allein diese Unterschätzung des für den Niedrigsten erreichbaren Maßes individueller Sittlichkeit berechtigt uns nicht, in dem Urteil über die tatsächliche Durchschnittsgesinnung der großen Mehrheit den Ausdruck hochmütiger Mißachtung zu sehen. Es ist ein Urteil, das gerade damals angesichts der Klassenherrschaft des Demos nur zu begreiflich war, und dem sich ganz analoge Äußerungen durchaus volksfreundlicher Beobachter an die Seite stellen lassen. »Bei den Massen«, sagt z.B. Schmoller, »bleibt der Egoismus innerlich, wenn auch gebändigt durch die sittlichen Ergebnisse des sozialen Lebens, die Ursache der meisten Handlungen.162« Anderseits sollte man nie vergessen, daß Plato der einer ungestörten Muße sich erfreuenden Geldaristokratie genau dieselbe sittliche Unzulänglichkeit für die politische Herrschaft zuschreibt, wie der Handarbeit, überhaupt Anforderungen an die Charakter- und Geistesbildung der Regierenden stellt, welchen unter tausend Menschen im günstigsten Falle einige wenige, in der Regel höchstens einer oder zwei zu genügen vermögen163.

Wir haben es eben hier mit einer Auffassung zu tun, bei der die Frage nach dem Berufe und der sozialen Stellung des einzelnen insoferne an Bedeutung verliert164, als gegenüber der »königlichen Kunst«, die mit ihrer Einsicht das Ganze umfaßt und das Ganze beherrscht, jede andere Tätigkeit, welche im Dienste für einzelne Bedürfnisse der Gesellschaft aufgeht, in gleicher Weise als eine dienstbare erscheint (τέχνη, ἐπιστήμη διάκονος). Der Landwirt wie der Gewerbsmann, der Lohnarbeiter wie der Bankier und Kaufmann, der Ringmeister wie der Arzt, der Schreiber wie der Priester und Seher165, sie alle erscheinen hier eben wegen der Schranken ihrer Tätigkeit und ihres Wissens von den Anforderungen »staatsmännischer Kunst« (πολιτικῆς τέχνης) gleichweit entfernt166. In dieser Hinsicht besteht für Plato kein Unterschied zwischen dem bescheidenen Arbeiter und dem »hochmütigen wegen der Wichtigkeit seines Berufes hochangesehenen« Priester167.

[41] Sollte es nun aber Plato deswegen, weil ihm die Angehörigen aller anderen Berufe dem zur Leitung des Ganzen befähigten philosophischen Staatsmann gegenüber eine niedrigere Stufe des Wissens und der Einsicht repräsentieren, für gleichgültig erklärt haben, ob sie überhaupt ein höheres oder geringeres Maß von Tüchtigkeit besäßen? Man sieht, zu welchen Konsequenzen die genannte Anschauungsweise führt!

Übrigens findet unsere Auffassung auch in dieser Frage ihre volle Bestätigung durch die »Gesetze«. Auch im zweitbesten Staate werden politische Rechte nur solchen eingeräumt, welche Gewinn aus Handel und Gewerbe »verschmähen« und ihre »wahrhaft freie« Gesinnung nicht in »schimpflichem Handwerkersinn« untergehen lassen168. Und trotz dieser Auffassung wird gleichzeitig die möglichste Versittlichung des Arbeitslebens bis herunter zum verachteten Trödler, ja zum Sklaven gefordert! Warum sollte also eine solche Forderung mit dem Standpunkt des Idealstaates unvereinbar sein, in welchem der Handwerker noch dazu eine ungleich geachtetere Stellung einnimmt?

Man läßt sich eben viel zu sehr durch den Eindruck bestimmen, welchen die schroffe Form mancher platonischer Äußerungen macht, und zieht daher Konsequenzen aus ihnen, die dem Urheber selbst ferne lagen. Man übersieht, daß die oft leidenschaftlich bewegten und wohl auch gelegentlich sich widersprechenden Äußerungen einer genialen Persönlichkeit, eines von rücksichtslosem Eifer beseelten Apostels anders beurteilt werden müssen, als die kühl abgewogenen Sätze eines reinen Verstandesmenschen, welcher den Dingen ohne innere Anteilnahme gegenübersteht. Man übersieht, daß jene Schroffheit des Ausdruckes bei einem Manne, der mit der größten Unbefangenheit über den Wert und die Ehrenhaftigkeit jeder Arbeit zu urteilen vermochte, nicht bloß in Vorurteilen wurzeln kann. Man denke nur an die schöne Erörterung Platos, wie auch die wirtschaftliche Arbeit geadelt werden könnte, wenn sie nicht bloß als Mittel zur Befriedigung des wirtschaftlichen Egoismus ausgebeutet, sondern im Geiste vernünftig-sittlicher Selbstbeschränkung und in dem Bewußtsein geübt würde, daß sie zugleich eine in den notwendigen Bedürfnissen der Menschen begründete soziale Dienstleistung ist. Plato ist der Ansicht, daß selbst die durch den Mißbrauch verächtlich gewordenen Berufsarten, wie z.B. Kramhandel u. dgl., von wahrhaft sittlichen Menschen in tadelloser Weise betrieben sich der vollsten Sympathie und Wertschätzung erfreuen würden,[42] daß man sie wie eine Mutter und Pflegeamme in Ehren halten würde169. Denn warum sollte man nicht jeden, der mit redlicher Arbeit zur Befriedigung der allgemeinen Bedürfnisse beiträgt, als einen »Wohltäter« anerkennen, der fortwährend dem Volke und dem Lande Dienste leistet?170

Es ist die Idee eines sozialen Dienstpostens, wie sie neuerdings wieder von Rodbertus u.a. aufgestellt worden ist, die uns bereits hier vollkommen klar ausgesprochen entgegentritt. Zwar ist für Plato diese Auffassung der wirtschaftlichen Arbeit eben nur ein Ideal, auf dessen Realisierung er wenigstens in dem letzten Stadium seines wirtschaftstheoretischen Denkens verzichtet, weil eine solche Idealität der Gesinnung nur von außergewöhnlich guter Charakteranlage und sorgfältiger Erziehung zu erwarten sei und der großen Masse ewig fremd bleiben werde171. Allein er hält doch selbst hier noch eine »wenn nicht vollständige so doch wenigstens teilweise Heilung« für möglich172 und sieht in der Fürsorge für die sittliche Gesundung des wirtschaftlichen Verkehrs und Arbeitslebens, für die Moralität der wirtschaftlich arbeitenden Volksklassen eine der wichtigsten Aufgaben der staatlichen Gemeinschaft173, der sie sich trotz der Größe und Schwierigkeit derselben nicht entziehen kann und darf.

Die Schroffheit, mit der sich Plato über die Masse äußert, erklärt sich also nicht aus hochmütiger Mißachtung des wirtschaftlichen Arbeitslebens, sondern aus den Erfahrungen, die er mit der Gesinnung der Masse gemacht hat. Sie ist ganz wesentlich der psychologische Reflex von Zuständen, die dem für die höchsten Aufgaben des Staates begeisterten Sinn des Denkers unerträglich erschienen, und deren Urheber eben der städtische Demos war. Diese Empfindung eines unerträglichen Druckes mußte sich mit elementarer Gewalt in bittere und harte Worte umsetzen, wenn – wie in unseren Dialogen – unter gleichgesinnten Männern das Gespräch auf die Leute kam, die draußen auf der Pnyx »um die Rednerbühne saßen und jedes mißliebige Wort tobend niederschrieen«, in deren Händen selbst die idealste Funktion des Staates, das[43] Werk der Gerechtigkeit, zur Karikatur werden konnte. Erkennen wir so die psychologische Wirkung des Gegensatzes, so wird uns selbst das Härteste begreiflich, vollends, wenn es – wie in jenen Äußerungen – dem Manne in den Mund gelegt wird, der selbst der intellektuellen und moralischen Schwäche der Masse zum Opfer gefallen war.

Hat der Terrorismus der Mehrheit, des »vielköpfigen Despoten« (Aristoteles) nicht zu allen Zeiten genau in derselben Weise auf edlere, sittlich und ästhetisch feiner organisierte Naturen gewirkt? Erinnern wir uns z.B. des Reflexes, welchen die Taten der französischen Demokratie in den Werken unserer Geistesheroen hinterlassen haben!

Unmittelbar an das Wort des platonischen Sokrates von dem hindämmernden Traumleben der meisten Menschen, die sich nie über die bloße »Meinung« zur begrifflichen Erkenntnis zu erheben vermögen, klingt der Spruch des »demokratischen« Schiller an: »Weh denen, die dem ewig Blinden des Lichtes Himmelsfackel leihn.« Und stammen nicht von ihm die klassischen Verse, die den demokratischen Doktrinarismus an der Wurzel treffen?


»Mehrheit ist der Unsinn,

Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.

Kümmert sich um das Ganze, wer nichts hat?« –


Die Art vollends, wie Goethe in tausend Sprüchen von der Menge redet, gibt den platonischen Äußerungen kaum etwas nach. Mit platonischer Schroffheit erklärt er in den »Wanderjahren«: »Nichts ist widerwärtiger als die Majorität. Denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.« – Eine Auffassung, die übrigens Goethe nicht gehindert hat, gerade in dem Entwurf des Gesellschaftsideals, das die Wanderjahre enthalten, die Frage nach der Stellung der wirtschaftlichen Arbeit in wahrhaft humanem, von Klassenvorurteilen freiem Geiste zu beantworten174.

Aber auch bei den Herolden und Führern der Demokratie selbst finden sich ähnliche Klagen: »Schwer ist es – sagt Rousseau in den Bekenntnissen – adelig zu denken, wenn alles Denken der Erhaltung des Lebens gelten muß.« Und noch weit schärfer der größte Wortführer der Revolution, Mirabeau: »Verachtet das Volk und helft ihm.« – Die[44] Arbeit für das Wohl des Volkes wird als Pflicht anerkannt und trotzdem: »Verachtet!« Eine Devise, die übrigens die Staatsmänner des platonischen Idealstaates nicht zu der ihrigen gemacht hätten.

Man denke sich einmal bei uns die Monarchie durch das rein parlamentarische Prinzip tatsächlich beseitigt und die Parlamentsmehrheit in den Händen der Masse, Behördenwahl und Rechtsprechung durch das Volk nach athenischem Muster! Wer wollte bezweifeln, daß die unvermeidliche Reaktion der gebildeten Minderheit zu derselben schroffen Beurteilung der Masse, ihrer geistigen und sittlichen Unreife führen würde, wie in den Zeiten der athenischen Demokratie? Die Illusionen des doktrinären Liberalismus, der jetzt noch auf die in solchen politischen Verhältnissen ergrauten antiken Denker herabzusehen gewohnt ist, würden wie Seifenblasen verschwinden und einem Pessimismus Platz machen, der hinter dem der antiken Staatslehre kaum wesentlich zurückbleiben dürfte. Es ist vollkommen richtig, wenn ein bekannter Führer der Sozialdemokratie gemeint hat, daß in dem Momente, wo dieselbe die Mehrheit in den Parlamenten erringen würde, die Minderheit das allgemeine gleiche Stimmrecht einfach aufheben, also die große Masse ebenso zu politischer Ohnmacht verurteilen würde, wie dies Plato tut; – wobei übrigens nicht zu vergessen ist, daß Plato auch von der Minderheit noch eine ganz andere Legitimation zur Herrschaft fordert, als diese bis jetzt aufzuweisen vermag.

Schon jetzt ist unter dem gewaltigen Eindruck der radikalen Massenbewegung der Gegenwart die »realistische« Richtung der modernen Staatslehre, welche den Anspruch erhebt, mit dem tatsächlichen Leben und seinen Forderungen in engster Fühlung zu stehen, genau bei denselben Anschauungen angelangt, welche dem modernen Demokratismus an der Staatslehre der Griechen so ganz unverständlich sind. Sie erklärt, wie diese, das Prinzip der Majorität für ein »durchaus unrichtiges und falsches«. Es »unterliegt ihr – um die Worte eines der modernsten Vertreter dieses Realismus zu gebrauchen – absolut keinem Zweifel, daß die Masse immer gedankenlos und roh ist, Vernunft und Adel der Gesinnung nur einer verschwindend kleinen Minorität der Menschen eigen ist«. Eine Tatsache, die nur dadurch gemildert werden könne, daß die große Masse durch die Minorität von jedem Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten ferngehalten und ausgeschlossen bleibt175. Das hätte auch Plato nicht schroffer ausdrücken können!

[45] Milder, aber doch in ähnlichem Sinne hat ein Meister der historischen Richtung der politischen Ökonomie geurteilt. »Steigt man – sagt Roscher – mit der Anteilgewährung an der Souveränität immer tiefer herunter, so ist wohl zu bedenken, daß eine den Körper unmäßig anstrengende Hantierung, ewige Nahrungssorgen, enger Gesichtskreis von Jugend auf, sorglose Erziehung keine gute Schule für den Staatsmann bilden.«176 – Gerade in den untersten Klassen ist, wie Schmoller mit Recht bemerkt177, die Gefahr am größten, daß sich das Individuum ganz und ausschließlich dem Klassengeist ergibt, je mehr die Faktoren der allgemeinen Bildung, des Staats- und Nationalgefühls zurücktreten. Selbst ein so liberaler Politiker, wie Hirth, nähert sich der platonischen Charakteristik der Demokratie, wenn er in seinen »freisinnigen Ansichten des Staates und der Volkswirtschaft« sagt: »Zu der enorm großen Rolle, welche heute bei uns das Individuum als Wähler und indirekt als Gesetzgeber, als Steuerzahler und Vaterlandsverteidiger spielt, zu dem stolzen Selbstbewußtsein, das ihm die Gleichheit vor dem Gesetze gibt, zu alledem steht die wirkliche Rechtskultur in gar keinem Verhältnis. Die große Masse tappt im Finstern. Wohl ihr und dem Staate, wenn sie zum wenigsten guten Instinkten folgt. Das ist alles, was wir hoffen dürfen.«178 – »Was in erregten Augenblicken – sagt der Nationalökonom Cohn – nur als ein Recht erschien, dessen man sich nur zu bemächtigen habe, um es auszuüben, erwies sich in der Erfahrung als eine schwierige Pflicht, welcher der moderne Mensch und seine individualistische Lebensrichtung nicht gewachsen war.«179 – Eben das, was Plato von der antiken Demokratie behauptet!

Und solche Anschauungen sind keineswegs vereinzelt! Sie treten uns ganz ähnlich, wie im Altertum, gerade da entgegen, wo sich die Entwicklung des staatlichen Lebens am »freiheitlichsten« gestaltet und dem antiken Republikanismus am meisten genähert hat. So hat ein hervorragender Staatsmann des republikanischen Zürich ganz offen erklärt, daß ein selbstloser Patriotismus im höheren Sinn von vielen, ja den meisten nach ihrer Bildungsstufe und unter dem Drucke täglicher Anstrengungen und Sorgen für den dürftigen Lebensunterhalt gar nicht gefordert werden könne180.

Seit dieser Äußerung ist ein Menschenalter verflossen, in welchem der[46] Demokratismus im Sinne des antiken Prinzips der unmittelbaren Gesetzgebung durch das Volk weitere Fortschritte gemacht, gleichzeitig aber auch die Folgen der immer höher anschwellenden demokratischen Strömung selbst in »liberalen« Kreisen eine Wandlung herbeigeführt haben, die in immer schärferen und schrofferen Äußerungen zutage tritt. So eröffnete die neue Züricher Zeitung im Jahre 1891 einen Feldzug gegen die direkte Volksgesetzgebung, gegen das Referendum, mit folgender Erklärung, welche direkt aus der platonischen Staatslehre entlehnt sein könnte: »Vom Gesetzgeber wird verlangt: Sinn für Billigkeit und Gerechtigkeit, ein weiter Blick und umfassende Kenntnisse. All diese Dinge sind bei der großen Masse des Volkes nicht vorhanden. Wie kann man sie also zum obersten Gesetzgeber machen? Das Referendum sollte zur politischen Schulung des Volkes dienen. Statt dessen ist es Ursache, daß die schlimmsten menschlichen Eigenschaften, welche die Unzufriedenheit mit den ökonomischen Verhältnissen erzeugt, nämlich Neid, Selbstsucht und Engherzigkeit in politischen Dingen wachgerufen und ausschlaggebend werden.«

Die gegnerische demokratische Presse sieht in dieser Kritik natürlich nur engherzigen volksfeindlichen Aristokratismus, genau so, wie man den über alles Getriebe der Parteien erhabenen antiken Denker zum aristokratischen Parteimann gestempelt und unter die Leute geworfen hat, die »in der Hetärie dem Demos den Tod geschworen«181.

Ist Plato Aristokrat in diesem Sinne, dann ist es auch Carlyle, der von Athen und Rom gesagt hat, daß sie »ihr Werk nicht durch laute Abstimmungen und Debatten der Massen, sondern durch die weise Einsicht und Herrschaft der wenigen vollbracht haben«182; – dann ist auch ein anderer hervorragender britischer Denker, Henry Maine, engherziger Aristokrat, weil er gesagt hat: »Alles was England berühmt und alles was England reich gemacht hat, ist das Werk von Minoritäten und oft von sehr kleinen. Es scheint mir unumstößlich sicher, daß, wenn seit vierhundert Jahren ein ausgedehntes Wahlrecht und eine zahlreiche Wählerschaft hier zu Lande bestanden hätte, wir weder eine religiöse Reform, noch einen Wechsel der Dynastie gehabt, noch Glaubensfreiheit, nicht einmal einen richtigen Kalender erlangt hätten. Die Dreschmaschine, der mechanische Webstuhl, die Spinnmaschine und möglicherweise[47] die Dampfmaschine wären verboten worden. Und wir können ganz allgemein sagen, daß die immer näher kommende Herrschaft der Massen von der übelsten Vorbedeutung für alle Gesetzgebung ist, die sich auf wissenschaftliche Kenntnis gründet, die geistige Anstrengung erheischt, sie zu verstehen, und Überwindung, sich ihr zu unterwerfen.183«

Hat aber anderseits das »besitzende und gebildete« Bürgertum von den freien Verfassungsformen des modernen Staates den Gebrauch gemacht, daß das Mißtrauen, welches Plato auch der Bourgeoisie entgegenbringt, lediglich als Ausfluß antiker Vorurteile gelten könnte? Keineswegs! Die Erfahrungen des freiheitlichen Staatslebens der Neuzeit haben unwiderleglich gezeigt, daß, wie Schmoller treffend bemerkt hat,184 »die Mehrzahl der Menschen, auch der Geschworenen, der Stadtverordneten, der Abgeordneten, daß alle die, welche nicht eine sehr hohe geistige und moralische Bildung haben, die Abstraktionskraft und Fähigkeit nicht besitzen, ihr Denken und Fühlen als Geschäftsinhaber von dem als Vertreter öffentlicher Interessen ganz zu trennen.« –

Es wird dadurch nur das bestätigt, was einer der größten Meister psychologischer Beobachtung, Schopenhauer, in seiner »Welt als Wille und Vorstellung« gesagt hat: »Der Vorteil übt eine geheime Macht über unser Urteil aus. Was ihm gemäß ist, erscheint uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zuwider ist, stellt sich uns im vollen Ernst als ungerecht und abscheulich oder zweckwidrig und absurd dar. Daher so viele Vorurteile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der Sekte, der Religion.«

Wenn aber schon die Schwierigkeit des uninteressierten und stimmungslosen Denkens für die meisten eine kaum überwindliche ist, wie viele besitzen jene Fähigkeit zur beständigen Selbstkritik gegenüber den in den Schranken der Subjektivität wurzelnden Urteilstrübungen, jene Kraft der Abstraktion, ohne welche die höchste, allen gerecht werdende[48] Objektivität nicht möglich ist? – Die Antwort, welche die geschichtliche und psychologische Erfahrung auf diese Frage gibt, lautet in der Formulierung eines modernen Kritikers des Sozialismus: »Die Fähigkeit absoluter Objektivierung ist die Gabe der auserlesensten Geister allein. Die größten Philosophen, die größten Staatsmänner sind Meister der Objektivierung gewesen. Das Volk ist stets Stümper darin.«185 – Und was folgt daraus für die Sozialtheorie, wenn es gilt, die Grundsätze festzustellen, nach denen eine Gerechtigkeit höherer Ordnung zu verfahren hat? Sie »muß es ablehnen, sich an die Beteiligten zu wenden«. Sie hat aus der klaren Erkenntnis der Motive, von denen die verschiedenen Gesellschaftsklassen bewußt oder unbewußt sich leiten lassen, die Einsicht gewonnen, »wie verfehlt es wäre, die Direktive für das sozialpolitische Handeln von ihnen entnehmen zu wollen«186. Sie fordert für die Feststellung der »Formel der Gerechtigkeit« eine Instanz, welche selbständig und frei über dem Getriebe der Gesellschaft steht.

Vergegenwärtigen wir uns all diese Tatsachen, deren wir uns erst in der Schule des modernen politischen Lebens recht bewußt geworden sind, die aber dank analogen Erfahrungen bereits dem antiken Denker klar vor Augen standen, so müssen wir sagen: Wenn Plato auch hier, wie sonst, ohne Rücksicht auf andere, für den geschichtlich gewordenen Staat in Betracht kommenden Momente, die letzten, rein logischen Konsequenzen ziehen wollte, so konnte er sich als den idealen Repräsentanten seines Gerechtigkeitsprinzipes nur den auf der Höhe wissenschaftlicher Erkenntnis stehenden Staatsmann denken, konnte unmöglich der Erwerbsgesellschaft einen Einfluß auf das staatliche Leben einräumen, der mit dem Eindringen ihrer »Urteilstrübungen« gleichbedeutend gewesen wäre, die Durchführung des Gerechtigkeitsprinzips von vornherein in Frage gestellt hätte! – Ob diese Lösung eine praktisch mögliche, das ist eine andere Frage. Uns kommt es hier nur darauf an festzustellen, daß die Ausschließung der Erwerbsstände von der Politik durch die streng logische Konsequenz des ganzen Systems unbedingt gefordert war.

Dies verkennen alle diejenigen, die da meinen, daß in den politischen Dialogen Platos durch den Mund des Sokrates nur aristokratische Vorurteile des Verfassers zum Ausdruck kommen. Daß dem nicht so ist, beweist schon die bedeutsame Tatsache, daß auch der geschichtliche Sokrates, der Bildhauerssohn, der Mann der Arbeit, als politischer Denker[49] aus ähnlichen Motiven über die politische Herrschaft der Erwerbsklassen nicht minder schroff geurteilt hat als Plato. Von ihm, der doch jeder Arbeit ihre Ehre gab187, stammt das herbe Urteil über den souveränen Demos, den »unwissenden und ohnmächtigen Haufen von Walkern, Schustern, Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Händlern und Krämern, die nie über Politik nachgedacht haben«188. Und trotzdem! Wäre nicht Sokrates der letzte gewesen, der darauf verzichtet hätte, über diesen unwissenden Haufen eine »fruchtbare Tugendsaat auszustreuen«, ihn aufzuklären über sich selbst und seine Stellung in der Gesamtheit? Hat nicht gerade Sokrates die Diskussion über die sittlichen Aufgaben des Menschen hinausgetragen auf den Markt, in die Palästra und die Buden der Handwerker?189 Und ist es nicht das Glück des gesamten Volkes, in dessen Dienst er alle Staatsgewalt stellt?190

Auch der platonische Sokrates denkt trotz seiner ungleich größeren Zurückhaltung gegen die Masse in der Hauptsache nicht anders191. Denn darin liegt ja gerade das Wesen der von ihm verkündeten »wahren« Staatskunst, daß durch sie der Staat zu einer Anstalt wird, welche möglichst alle zum Guten zu erziehen sucht192. Wenn es auch immer solche geben wird, deren »Ungelehrigkeit und niedrige Gesinnung« (ἀμαϑία καὶ ταπεινότης) aller Erziehung spottet193, so kann doch bei dieser Auffassung der Staat unmöglich von vorneherein ganze Klassen oder gar die große Mehrheit seiner Bürger von solcher Erziehung ausschließen. Ein Staat, der, wie der platonische, nicht das Glück irgendeines einzelnen Standes, sondern des ganzen Volkes will, muß auch die unentbehrliche Voraussetzung alles Wohlbefindens, ein gewisses Maß von Sittlichkeit möglichst zu verallgemeinern suchen. Alle anderen Wohltaten, die den Bürgern erwiesen werden können, sind ja nach Platos Ansicht für dieselben vollkommen wertlos, wenn es nicht gelingt, sie zugleich[50] auch sittlich zu bessern194. Und Plato kann diese Aufgabe seinem Staate um so weniger abgesprochen haben, da er der Überzeugung lebt, daß für niemand Beruf oder Stand ein absolutes Hindernis bildet, je nach seiner Individualität ein größeres oder geringeres Maß von Sittlichkeit zu erreichen195.

Nichts könnte auf diese Anschauung Platos ein klareres Licht werfen als die Anklage, welche er gegen die politischen Führer der athenischen Demokratie, gegen Perikles, seine Vorgänger und Nachfolger erhebt. Er kann sie nicht als gute »Staatsmänner« (οὐκ ἀγαϑοὶ τὰ πολιτικά),196 ja nicht einmal als gute Staatsbürger anerkennen, »weil sie es verabsäumt hätten, ihre Mitbürger aus Schlechteren zu Besseren zu machen«197, was doch »das alleinige Streben eines guten Bürgers sein muß«.198

Sollte aber für denselben Mann, der die Staatsmänner des geschichtlichen Staates in solcher Weise für den Stand der allgemeinen Volkssittlichkeit verantwortlich macht, der die Politiker und Redner der Demokratie vor allem als schlechte Volkserzieher verwirft und den Staat als eine Erziehungsanstalt für alle proklamiert199, sollte für den bei dem Entwurf seines Staatsideals diese Frage, soweit es sich um die große Mehrzahl der Bürger handelt, gar nicht mehr vorhanden gewesen sein? Eine ganz undenkbare Annahme, welche zugleich die weitere Konsequenz in sich schlösse, daß der Vernunftstaat für die Sache der Volkserziehung noch weniger geleistet haben würde, als der bestehende.

Adam Smith weist in der erwähnten Erörterung über die schädlichen Folgen der Arbeitsteilung rühmend auf die Gesetzgebung der hellenischen Staaten hin, welche durch ihre Fürsorge für die musische und gymnastische Ausbildung aller Staatsangehörigen den Einseitigkeiten einer gewerblichen und merkantilen Entwicklung entgegengewirkt hätten. Kann man Plato im Ernste die Absicht zutrauen, in seinem alle beglückenden[51] Staat die ungeheure Mehrheit dieser Wohltat zu berauben und damit eine der wertvollsten Schranken physischer und sittlicher Entartung selbst niederzureißen?

Übrigens besitzen wir von Plato selbst eine Äußerung, in der er sich mit der genannten Tätigkeit des bestehenden Staates vollkommen einverstanden erklärt. Im Krito werden die Gesetze des Staates redend eingeführt; sie weisen den eingekerkerten Sokrates auf die Fürsorge hin, mit der sie sich seiner von Kindheit auf angenommen, und der er die »Erziehung und Bildung«, die musische, wie die gymnastische, zu verdanken habe, die ihm sein Vater eben den Gesetzen gemäß habe angedeihen lassen. Sokrates, d.h. Plato selbst, erkennt ausdrücklich diese staatliche Fürsorge, die auch der Kinder des armen Handwerkers nicht vergißt, als etwas »Schönes« an200. Zwar handelt es sich dabei nicht um ein vom Staate selbst geleitetes Erziehungswesen, sondern im wesentlichen nur ummittelbare Maßregeln, welche dem Staate eine gewisse Bürgschaft dafür geben sollen, daß die heranwachsenden Bürger nicht ohne Erziehung und Unterricht bleiben. Allein für die prinzipielle Frage, auf welche Klassen sich nach Platos Ansicht die Unterrichtspolitik des Staates zu erstrecken hat, ist das ohne Belang.

Aber auch im Entwurf des Idealstaates fehlt es keineswegs an Anhaltspunkten dafür, daß Plato nach wie vor die Tätigkeit des Staates im Interesse der Erziehung und des Unterrichts dem gesamten Bürgertum zugute kommen lassen will.

Das harmonische Verhältnis, welches der Idealstaat zwischen allen Klassen der Gesellschaft herzustellen sucht, soll nicht bloß das Werk des Zwanges, sondern in erster Linie eine Frucht der freien Überzeugung, der »Überredung« sein201. Diesem Zweck dienen unter anderem die Glaubensvorstellungen, welche Plato den Angehörigen der Erwerbsstände, den »übrigen Staatsbürgern«, ebenso eingeprägt wissen will, wie den Beamten und Kriegern: der schon erwähnte Schöpfungsmythus, der durch die Lehre von der Verwandtschaft aller Bürger das ganze Volk mit dem Geiste der Bruderliebe erfüllen soll202, ferner die ebenfalls mythisch eingekleidete Lehre, daß die Scheidung der drei Stände[52] des Vernunftstaates ein Werk der Gottheit selber sei203, endlich der Götterspruch, nach welchem jede Veränderung in dem gegenseitigen Verhältnis dieser Stände, jedes Hinausstreben eines Standes über die ihm durch die Verfassung des Staates zugewiesene Rechtssphäre den Staat selbst mit dem Untergang bedrohen würde204.

Auch für die Regierten soll die Staatsordnung nicht bloß etwas Äußerliches sein; sie sollen ihr innerlich zustimmen können und in den Stand gesetzt werden, alle Zweifel an der Gerechtigkeit der staatlichen Ordnung und alle Gedanken der Auflehnung dadurch zu überwinden, daß ihnen dieselbe zu einer »göttlichen« wird. Jeder Bürger soll die Besonderheit seiner eigenen Stellung und Berufsarbeit als den Ausdruck eines göttlichen Willens, seine Unterwerfung unter das Ganze als eine religiöse Pflicht erfassen lernen.

Die Unterweisung in diesen Glaubensvorstellungen bildet bei der Hüterklasse einen Bestandteil des musischen Unterrichtes in dem hergebrachten Sinne des Wortes, des Unterrichts in Poesie und Musik und in den γράμματα, d.h. Lesen und Schreiben. Folgt daraus nicht mit Notwendigkeit, daß Plato, wenn er diese religiöse Unterweisung auch auf die Jugend des dritten Standes ausdehnen wollte, dieselbe zugleich an dem Elementarunterricht und der auf der gereinigten Volksreligion ruhenden sittlichen Erziehung beteiligen mußte? Plato sagt selbst in der Erörterung über diese sittliche Erziehung, daß das Gepräge (τύπος), welches man dem Fühlen und Denken der Menschen zu geben wünscht, sich am leichtesten in dem lenkbaren Gemüt der Jugend erzeugen läßt.205 Wie hätte er das Gepräge, welches er dem ethisch-politischen Empfinden des dritten Standes geben will, auf anderem Wege suchen sollen, als dem der Jugenderziehung! Plato will ja auch die Jugend der bürgerlichen Klassen vor unwürdigen Vorstellungen über die Götter behütet wissen. Alle Mythen, welche solche Vorstellungen enthalten, wie z.B. die Geschichte von Giganten und Götterkämpfen u. dgl., dürfen im Bereich seines Staates überhaupt »nicht erzählt« werden, dürfen »vor den Ohren keines Knaben« erwähnt werden, selbst wenn sie nur im symbolischen Sinne gemeint seien206. »Denn der Knabe vermag nicht zu unterscheiden, was Sinnbild ist, was nicht, auch pflegen die Vorstellungen,[53] die der Mensch in diesem Alter in sich aufnimmt, unaustilgbar und unveränderlich festzuhaften.207« Der Idealstaat wird daher unter keinen Umständen (οὐδ᾽ ὁπωστιοῦν) zugeben, daß »die Knaben die ersten besten Sagen, die von den ersten Besten erdichtet sind, anhören und in ihre Seele Vorstellungen aufnehmen, die größtenteils denen entgegengesetzt sind, von denen wir glauben, daß sie dieselben im späteren Leben festhalten müssen.208«

Wenn aber die heranwachsende Jugend des dritten Standes sich desselben staatlichen Schutzes gegen das Eindringen staats- und sittengefährlicher Vorstellungen erfreut, wie die der Hüterklasse, soll ihr nicht Auch das positive Ergebnis der platonischen Pädagogik zugute kommen, nach welcher es eben wegen der Nachhaltigkeit der Jugendeindrücke »für das Allerwichtigste anzusehen ist, daß die Kinder in dem, was sie zuerst hören, Dichtungen hören, deren Erzählung zur Tugend anzureizen vermag?«209 Liegt es nicht im Interesse des Idealstaates selbst, die sittlichen, religiösen und sozialen Vorstellungen, welche auch die Angehörigen des dritten Standes »festhalten« müssen, und die Dichtungen und Mythen, die diese Vorstellungen erzeugen sollen, zum Gegenstand einer systematischen Jugenderziehung zu machen?

Und fordert nicht schon die Verfassung des Vernunftstaates ein gewisses Maß von Erziehung für alle Volksklassen? Die Ständegliederung soll hier ja durchaus nicht zu einem starren Kastenwesen führen, welches den Niedriggeborenen unter allen Umständen an seinen Stand fesselt; sie soll nicht der Ausdruck von ständischen Privilegien und Monopolen sein, sondern einzig und allein ein Werkzeug für die Verwirklichung des Staatszweckes, der jede Klassenpolitik ausschließt. Um des Staatszweckes willen werden hier die Söhne der oberen Klasse bis hinauf zu den Regenten, wenn sie sich für den militärischen oder politischen Beruf der Väter ungeeignet erweisen, rücksichtslos »zu den Handwerkern und Bauern hinabgestoßen«, während der begabte Handwerker- und Bauernsohn ungehindert zu den höheren Berufen, ja zur obersten Regierungsgewalt emporsteigen kann210. Dem Genie und Verdienst winkt hier im wahrsten Sinne des Wortes die Krone211. Wie vermag aber der Staat die für seine Zwecke hervorragend begabten Elemente des dritten Standes zu erkennen, wenn er ihm nicht ein gewisses Maß von Erziehung und Unterricht zuteil werden läßt? Wenn ferner Plato in seinem Staat jedem[54] einzelnen durch die Gesamtheit den Beruf zuweisen will, der seiner individuellen Naturanlage entspricht212, wie kann diese Naturanlage sich offenbaren, wenn der Staat nicht durch ein öffentliches Unterrichtssystem allen seinen Angehörigen die Gelegenheit dazu bietet? Plato selbst verlangt die allersorgfältigste staatliche Überwachung der gesamten heranwachsenden Jugend, damit sich der Staat über die Anlagen der einzelnen ein Urteil bilden könne213. Wie ist diese Überwachung anders möglich als mittels der Schule?

Zu demselben Ergebnis gelangen wir, wenn wir uns die Stellung vergegenwärtigen, welche der dritte Stand selbst im Idealstaat einnimmt. Wir sehen, daß doch auch diesem Stand ein sittliches Ziel gesteckt wird, das keineswegs ein niedriges ist. Im Idealstaat wird von dem wirtschaftenden Bürgertum erwartet, daß es sich nicht bloß gezwungen, sondern in freiwilliger Selbstbeschränkung und aus innerer Überzeugung in die Unterordnung unter die zur Herrschaft Berufenen füge214. Es ist der Geist der sittlichen Selbstzucht (σωφροσύνη), der sich hier von oben her über alle Stände verbreitet215, und mit dem sich anderseits auch dem dritten Stande die Fähigkeit verbindet, den Anforderungen zu entsprechen, welche das Gerechtigkeitsprinzip des Vernunftstaates an den einzelnen stellt.

Dieses Gerechtigkeitsprinzip wird verwirklicht durch das »angemessene« Tun (οἰκειοπραγία) aller Volksgenossen216. Jeder hat die Stellung im allgemeinen Arbeitsleben auszufüllen, welche ihm die Gesamtheit nach dem Maße seiner Kräfte und Gaben angewiesen; auf sie hat er seine[55] Tätigkeit zu konzentrieren und nicht in Wirkungssphären überzugreifen, welche außerhalb seiner besonderen Lebensaufgabe oder Befähigung liegen. Keiner hat nur sich selbst und seinem Interesse zu leben, sondern als Teil eines Ganzen auch im Sinne des Ganzen tätig zu sein, so daß das, was der einzelne der Gesamtheit zu nützen vermag, ihr auch wirklich zugute kommt217. Alles Tun des einzelnen erhält so ein soziales Gepräge und wird dadurch ein Mittel des sozialen Friedens, der harmonischen Übereinstimmung der Volksgenossen.

Diese Sozialisierung des gesamten Arbeitslebens, die, wie ja Plato selbst zugibt, nicht bloß durch äußere Gewalt und mechanische Niederhaltung der egoistischen Triebe und Begierden der Widerstrebenden, sondern mindestens ebensosehr durch »Überzeugung« der verständigeren und besseren Elemente erreicht sein will, sie kann nur das Ergebnis einer systematischen Erziehung zum Gemeinsinn sein, welche schon das Gemüt des Kindes in ihre Zucht und Pflege nimmt, welche das Bewußtsein der höheren Bestimmung des Mannes für das Ganze schon in der Seele des Knaben weckt.

Wie könnte überhaupt die Erziehung derjenigen für den Staat gleichgültig sein, welche – zum Teil wenigstens – dereinst selbst befähigt sein sollen, in ihrem Schaffen die höchsten Ziele desselben zu unterstützen! Wir sehen, welches Gewicht Plato darauf legt, daß in den Schöpfungen der redenden und bildenden Künste, wie in den Erzeugnissen des Handwerkes nur das Schöne, Edle, Maßvolle zum Ausdruck komme, alles Gemeine, Häßliche, Unsittliche ferne bleibe, damit schon die ganze äußere Umgebung das empfängliche Gemüt der heranwachsenden Jugend mit harmonischen Eindrücken erfülle, sie überall nur auf das Gute, Schöne, Ideale hinweise. Die »Demiurgen« müssen sich, wie Goethe in dem Idealstaat der Wanderjahre von den Künstlern fordert, zuletzt dergestalt über das Gemeine erheben, daß die ganze Volksgemeinde in und an ihren Werken sich veredelt fühle! Sollte Plato wirklich geglaubt haben, dieses hohe Ziel durch rein negative Mittel, durch polizeiliche Repressivmaßregeln erreichen zu können?

Daß dies nicht der Fall ist, geht zur Genüge aus seiner ausdrücklichen Erklärung hervor, daß das, was er in den Werken der Dichter, der Künstler und der »übrigen Demiurgen« zum Ausdruck gebracht wissen will, im wesentlichen die Frucht der sittlichen Beschaffenheit derselben ist (τῷ τῆς ψυχῆς ἤϑει ἕπεται)218 und zwar einer guten sittlichen Beschaffenheit[56] (σώφρονός τε καὶ ἀγαϑοῦ ἤϑους)219, die Frucht einer Gesinnung, welche den »Charakter gut und schön gestaltet hat«220. Wie kann er es bei dieser Anschauung einzig und allein dem Zufall überlassen haben, ob sich Poesie, Kunst und Kunsthandwerk überhaupt auf die Stufe sittlichen und ästhetischen Empfindens erheben und auf ihr behaupten würde, welche die Erfüllung seiner Anforderungen voraussetzt! Wie kann er von ihnen ohne weiteres erwartet haben, daß sie immer befähigt sein würden, »dem Wesen des Schönen und Wohlanständigen nachzuspüren« (ἰχνεύειν τὴν τοῦ καλοῦ τε καὶ εὐσχήμονος φύσιν)221, wenn die Befähigung dazu bei den einzelnen nicht entwickelt und geschult wird?

Plato selbst sagt an der nämlichen Stelle, wo er diese ideale Forderung an die künstlerische und gewerbliche Produktion des Idealstaates stellt: »Von der größten Wichtigkeit für die Erziehung ist die musische Bildung. Sie erzeugt eine wohlanständige Gesinnung (φέρει τὴν εὐσχημοσύνην). Nur wenn er richtig erzogen wird, wird der Mensch zu einem solchen Wohlanständigen, wenn nicht, zum Gegenteil222. Je besser die Erziehung, um so schärfer wird der Blick für das mangelhaft Gebliebene und unschön Ausgeführte oder von Natur unschön Gebildete223, um so freudiger wird der Mensch das Schöne in seine Seele aufnehmen, das Häßliche und Gemeine dagegen schon als Jüngling verabscheuen, bevor er noch den Grund davon zu erkennen imstande ist.«

Allerdings wird diese Beobachtung gelegentlich der Frage nach der Erziehung des Hüterstandes ausgesprochen. Aber sie selbst ist doch ganz allgemein gehalten und beruft sich auf allgemeine, für alle Menschen in gleicher Weise gültige Erfahrungen. Wir sind daher wohl berechtigt, die Konsequenz dieser ganzen Auffassung zu ziehen und zu sagen: Sie führt zu dem logisch unabweisbaren Schluß, daß die Künstler und Kunsthandwerker, wenn in ihren Schöpfungen nur der Geist des Schönen zum Ausdruck kommen soll, auch in diesem Geiste erzogen und gebildet werden müssen. Aus mangelnder Erziehung würde ja, um mit Plato selbst zu reden, nur das »Gegenteil« entspringen können: »Musenentfremdung[57] und Unempfindlichkeit für das Schöne« (ἀμουσία καὶ ἀπειροκαλία).224

Man sieht, in welch unlösliche Widersprüche die herrschende Ansicht Plato verwickeln würde. Sollen wir bei dem »größten Lehrmeister der Welt« ohne jeden zwingenden Grund auf seinem eigensten Gebiet solche Widersprüche voraussetzen?

Übrigens besitzen wir eine, allerdings spätere Äußerung Platos, aus der wenigstens soviel hervorgeht, daß er auch der Erziehung der »arbeitenden« und wirtschaftenden Klassen ein lebhaftes Interesse entgegengebracht hat. Er spricht hier die Ansicht aus, daß, wer es als Mann zu etwas Tüchtigem bringen will, von Kindheit auf in Spiel und Ernst in allem sich üben müsse, was seinen künftigen Beruf angeht.225 »Wer ein tüchtiger Landwirt oder Baumeister werden will, dessen Spiel muß – bei dem einen – in der Aufführung kindlicher Bauwerke, – bei dem anderen – in landwirtschaftlichen Beschäftigungen bestehen, und die Erziehung muß bei beiden für kleines Handwerksgeräte, Nachbildungen des wirklichen, sorgen.« Überhaupt muß die Erziehung darauf hinwirken, daß schon die Jugend gewisse Kenntnisse und Fertigkeiten, deren sie in ihrem späteren Berufe bedarf, sich möglichst spielend erwerbe, daß schon durch die kindlichen Übungen den Neigungen und Trieben der Knaben die Richtung gegeben werde, in der sie bei ihrer künftigen Berufstätigkeit zu beharren haben226. Welche Bedeutung von diesem Gesichtspunkt aus die Volkserziehung für einen Staat erhalten muß, der allen die Möglichkeit zu größter Berufstüchtigkeit verschaffen will, das liegt doch wohl auf der Hand!

Daß Plato in der Tat keineswegs den ganzen dritten Stand als eine einzige »stumpfe und unbildsame Menge« betrachtet und behandelt[58] wissen wollte227, dafür spricht sogar – so paradox es klingen mag – die politische Stellung, welche er dem dritten Stande in seinem Idealstaate zuweist. Allerdings fehlt den Erwerbsklassen das Recht der Mitwirkung an der Bildung des Staatswillens. Aber stehen nicht auch die meisten Mitglieder der Hüterklasse als Beamte und Soldaten in einem reinen Subordinationsverhältnis zu der allmächtigen Regierung? Der eine oder die wenigen, welche »am Steuer des Staates« stehen, sind im Besitze der vollen und ungeteilten Souveränität. Ihrer absoluten Machtvollkommenheit gegenüber ist die rechtliche Stellung aller anderen Klassen prinzipiell die gleiche: die der unbedingten Unterordnung228.

Zwar genießt die Hüterklasse insoferne einen Vorzug, als die Laufbahn des Soldaten und Beamten die Vorbedingung für die dereinstige Erlangung der obersten Gewalt bildet, und die Kinder der Klasse von vorneherein wieder für den Beruf der Väter erzogen werden. Allein ganz abgesehen davon, daß nur ein verschwindend kleiner Bruchteil das genannte Ziel wirklich zu erreichen und damit aus den Reihen der Gehorchenden herauszutreten vermag, eine Klassenherrschaft soll damit ja in keiner Weise geschaffen werden. Der erstere Vorzug beruht auf dem Grundsatz der Arbeitsteilung und der daraus abgeleiteten Alleinberechtigung der praktischen und theoretischen Fachbildung, der zweite auf der künstlichen physiologischen Auslese, der die »für die Gemeinschaft bestimmten Kinder« ihr Dasein verdanken, und in der der Staat die unentbehrliche Garantie für die Erzeugung eines seinen Zwecken entsprechenden Nachwuchses sieht, ohne dabei jedoch gleichbefähigte Elemente aus anderen Klassen auszuschließen. Hier gibt es nicht, wie im ständischen Staat, ein Recht der Kastenangehörigkeit als solcher und daher auch keine Vergewaltigung durch erzwungene Ebenbürtigkeit der Unebenbürtigen. Überhaupt erkennt der Staat dem Interesse der Hüterklasse keinen höheren Anspruch auf Berücksichtigung zu als dem der »übrigen Bürger«. »Wir gestalten uns«, sagt Plato, »den glücklichen Staat nicht, indem wir einen Teil von der Gesamtheit ausscheiden und eine Minderheit[59] in ihm als glücklich annehmen, sondern den gesamten Staat.«229 Der Gesetzgeber kümmert sich nicht darum, daß sich im Staate ein Stand vor anderen wohl befinde, sondern er sucht zu bewirken, daß es allen im Staate wohl ergehe230.

Daher stehen sich hier auch die Angehörigen der verschiedenen Volksklassen nach den Intentionen Platos keineswegs als Herren und Untertanen gegenüber, vielmehr können sich alle Staatsangehörigen, der Beamte, wie der Gewerbsmann, der Soldat, wie der Bauer als Mitbürger231, ja als Brüder fühlen!232 Dieses Solidaritätsgefühl ist ein so inniges, die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Ständen sind so sehr von dem Geiste gegenseitigen Wohlwollens und Vertrauens erfüllt, daß man im Idealstaat die Träger der Staatsgewalt nicht einmal mit dem Namen bezeichnet, den man selbst in der reinen Demokratie ohne Bedenken gebraucht, nämlich als Regierende (ἄρχοντες), sondern als Erhalter und Helfer (σωτῆρες καὶ ἐπίκουροι); und ebensowenig fühlen die Männer der Regierung sich als die »Herren« (δεσπόται) des Volkes, sondern sie ehren in demselben ihre Lohngeber und Ernährer (μισϑοδότας τε καὶ τροφέας). Regenten, Beamte, Soldaten erscheinen als »gefällige Verbündete« der übrigen Bürger233. Sie sehen in ihnen nicht »Schützlinge und Untergebene« (περιοίκους τε καὶ οἰκέτας), sondern freie Männer, Freunde und Ernährer (ἐλευϑέρους φίλους τε καὶ τροφέας)234. Den Mann der Handarbeit verbindet mit dem Geistesarbeiter, der den höchsten[60] Zielen der Gemeinschaft dient, von vorneherein ein gewisses ideelles Band, der von Plato ausgesprochene Gedanke, daß auch jener in gewissem Sinne ein Werkmeister ist, der sich in seinem Tagewerk möglichst tüchtig zu erweisen hat, ebenso wie die »anderen Werkmeister«235.

So erfreuen sich hier die Erwerbsstände einer Wertschätzung, von der Plato später in den Gesetzen gesagt hat, daß sie dem Gewerbe nur dann allgemein und unbestritten zuteil werden würde, wenn es in den Händen von wahrhaft sittlichen Menschen wäre. Im Vernunftstaat genießt in der Tat die wirtschaftliche Arbeit die Achtung, welche ihr – wie wir sahen – nach den »Gesetzen« unter jener Voraussetzung gebührt: sie wird »geliebt und in Ehren gehalten wie eine Mutter und Pflegerin« (τροφός).236

Allerdings wird hier diese Anerkennung der Ehre der Arbeit nicht von einer so idealen Bedingung abhängig gemacht, wie dort, allein darüber kann doch kein Zweifel bestehen, daß Plato als unentbehrliche Grundlage solcher Berufsehre wenigstens ein im Vergleich mit der damaligen Wirklichkeit ziemlich hohes Durchschnittsniveau der allgemeinen Volkssittlichkeit notwendig voraussetzen mußte. Wie wäre sonst jene Gemeinsamkeit der Gefühle und Anschauungen möglich, die doch – bis zu einem gewissen Grade wenigstens – vorhanden sein muß, wenn auch der Höchstgebildete und Höchststehende in dem Manne der Handarbeit den »Freund und Bruder« sehen soll, wenn »alle – derselben Herrschaft, d.h. der Vernunft, untertan – nach Möglichkeit einander gleich und befreundet« sein sollen?237 Allerdings werden die sittlich Unmündigen aus dem Banausenstand, die »von Natur zu[61] schwach« sind, aus eigener Kraft der durch die Geldgier entfesselten »pöbelhaften« Instinkte Herr zu werden, zugleich als »Dienende« derer bezeichnet, die »das Göttliche in sich tragen«. Aber dieses »Dienen« hat, wie Plato ausdrücklich hinzufügt, mit Herren- und Sklaventum nichts zu tun, sondern bedeutet nur die Unterordnung unter das allen »verbündete« und zum Heile gereichende Vernunftgesetz, das auch die wirtschaftende Klasse zu »möglichster Gleichheit und Freundschaft« mit den Regierenden erziehen will238.

Man mache sich nur recht deutlich, wie hochgespannt das Ideal ist, welches die soziale Organisation des Vernunftstaates verwirklichen soll. Hier ist ja in vollem Maße das verwirklicht, was von Plato im »Staatsmann« als das höchste Ziel wahrer Staatskunst hingestellt wird, jenes »Ineinanderweben der Gemüter«239, welches dieselben durch ein »göttliches Band«240 in Einklang bringt und das Zusammenleben der verschiedenen Klassen zu einem Abbild der Harmonie der Töne macht241. Dieses ideale Wechselverhältnis der Stände aber setzt hinwiederum voraus, daß wenigstens die verständigen Elemente auch der Regierten »eine richtige Vorstellung von dem haben, was schön, gerecht und gut ist,«242 oder daß, wie es im »Staat« heißt, alle Klassen darin übereinstimmen, »was im Staate, wie in der Seele jedes einzelnen von Rechts wegen das Herrschende sein müsse,«243 weil eine solche Anschauungsweise allein »wenigstens in bezug auf den Staat zu einer besonnenen und verständigen Haltung führen kann«.244

Mit der Harmonie, welche das Ganze erfüllt, muß sich auch das Seelenleben der einzelnen Bürger möglichst in Einklang setzen. Soll der Staat ein »in sich befreundeter« sein, sollen nach Möglichkeit alle Bürger einander ähnlich und befreundet sein, so kann nicht die ungeheure Mehrheit derselben sich in einer Seelenverfassung befinden, welche Plato als eine anarchische bezeichnet, in welcher aus der »Verwirrung und verkehrten Richtung« (ταραχὴ καὶ πλάνη) der verschiedenen Seelenkräfte sich immer wieder von neuem »Unrecht und Zügellosigkeit, Gemeinheit und Unwissenheit, kurz jede Schlechtigkeit erzeugt«.245 Der Staat will nicht bloß aus möglichst vollkommenen technischen[62] Einheiten zusammengesetzt sein, wie das Getriebe eines toten Mechanismus, und muß daher notwendig darauf hinwirken, daß jeder Bürger sich bemühe, durch eine verständige Regelung des gesamten Trieblebens zu einer gewissen Herrschaft über sich zu gelangen.

Schon die Forderung, daß jedem Bürger die seiner Naturanlage entsprechende Beschäftigung zuzuweisen sei, wird mit der Notwendigkeit motiviert, daß jeder »zu einem, nicht zu einer Vielheit und damit auch die Gesamtheit der einzelnen zu einer Einheit, nicht zu einer Vielheit sich gestalte«246. Soll diese für den einzelnen erreichbare Einheitlichkeit weiter nichts als die Konzentrierung auf ein technisches Arbeitsgebiet bedeuten und nicht auch zugleich eine gewisse Vereinheitlichung des moralischen Menschen? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Plato selbst bezeichnet eben dies letztere Ziel als die Richtschnur jedes Tuns und Handelns, mag es sich nun auf den wirtschaftlichen Erwerb (περὶ χρημάτων κτῆσιν) und den wirtschaftlichen Verkehr (περὶ τὰ ἴδια ξυμβόλαια) oder auf das staatsbürgerliche Verhalten beziehen247. Und wenn auch Plato voraussieht, daß selbst im Idealstaat unter den Erwerbsklassen die Zahl derer überwiegen wird, welche diese Forderung nur unvollkommen und nur unter der Einwirkung des durch die Verständigeren geübten Zwanges gerecht zu werden vermögen248, so erscheint doch die geschilderte Gemütsverfassung bis zu einem gewissen Grade auch für den dritten Stand erreichbar. Ohne sie würde ja auch von vorneherein von einem Glück des Standes nicht die Rede sein können.

Die Tugenden nun, in welchen sich diese Gemütsverfassung äußert, sind die »Rechtlichkeit« (δικαιοσύνη) oder, wie Hegel übersetzt, Rechtschaffenheit, und jenes sittliche Verhalten, welches Plato als σωφροσύνη bezeichnet249. Die σωφροσύνη ist sittliche Selbstbeherrschung, weil sie des Unvernünftigen in uns, der blinden Triebe, der Selbstsucht und der Lust Herr wird250, maßvolle Selbstbescheidung, weil sie in dem richtigen Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit sich willig in die Unterordnung unter diejenigen fügt, welche durch ihre höhere Einsicht zur Leitung des Ganzen berechtigt sind251, sie ist der Geist strengster und treuester Pflichterfüllung[63] in dem individuellen Berufe, kurz »Tun des Guten« (πρᾶξις τῶν ἀγαϑῶν)252, »Gesundheit der Seele«253. Sie »macht diejenigen, welche sie besitzen, zu guten Menschen« (ἀγαϑοὺς ποιεῖ, οἶς ἂν παρῇ).254

Daß ein solches Maß von sittlicher Tüchtigkeit nur das Ergebnis der Erziehung sein kann, leuchtet von selbst ein und wird von Plato in dem Dialog, in welchem er das Wesen der σωφροσύνη näher zu bestimmen versucht hat, ausdrücklich anerkannt255. Er verlangt eine »Pflege der Seele« (ϑεραπεία ψυχῆς) wie eine Diätetik des Körpers; und dieselbe Forderung kehrt wieder in einer späteren Schrift – im Gorgias –, wo er von den »Vorschriften und Anordnungen für die Seele« spricht, den τάξεις τε καὶ κοσμήσεις τῆς ψυχῆς256, welche nötig sind, »damit sich in den Seelen der Bürger Rechtschaffenheit und Besonnenheit erzeuge«. Welches sind aber die Anordnungen für die Seele, welche Plato, wie man sieht, allen Bürgern ohne Unterschied zugute kommen lassen will? Der Entwurf des besten Staates gibt darauf die Antwort257: Es ist die »einfache« musische und gymnastische Erziehung, durch die allein jene Ausgleichung der Triebe, jene richtige moralische Vorstellungsweise zu erzielen ist, welche den einzelnen befähigt, im Sinne des Gerechtigkeitsprinzipes des besten Staates freiwillig »das Seine zu tun«258. Ohne sie würde der Staat Gefahr laufen, daß die gesamte Lebensweise aller Bürger durch das Übergewicht der niederen Seelentriebe verkehrt würde (ξύμπαντα τὸν βίον πάντων ἀνατρέψῃ)259. Durch eine mangelhafte Erziehung (τροφῇ κακῇ), wie durch schlechten Umgang muß das Bessere der Übermacht des Schlechteren (πλήϑει τοῦ χείρονος) erliegen260. Wer daher in der Rechtschaffenheit auch das Glück sieht, der wird anerkennen, daß man durch Tat und Wort auf all das hinwirken müsse (ταῦτα λέγειν καὶ ταῦτα πράττειν), wodurch der innere Mensch (ὁ ἐντὸς ἄνϑρωπος) die größere Gewalt erhält, daß man die »vielgestaltige« Menschenseele »so behandelt wie der Landmann, der das Nutzbare pflegt und veredelt261, das wilde Unkraut aber nicht aufkommen läßt«, daß man allen Triebkräften der Seele sorgfältige Aufmerksamkeit schenkt, sie zu gegenseitiger Übereinstimmung[64] erzieht. – Es ist derselbe Standpunkt, der in dem Worte Kants zum Ausdruck kommt, daß der Mensch nur Mensch wird durch Erziehung. – Wenn der Mensch, heißt es in den »Gesetzen«, nicht hinreichend oder nicht gut erzogen wird, so kann er sehr leicht, obwohl er zu den zahmen Geschöpfen zählt, das wildeste von allen werden, welche die Erde erzeugt262. Daher die eminente Wichtigkeit des Erziehungswesens für den Staat263.

Mit besonderer Schärfe wird dieser Gedanke wiederholt in dem unmittelbar an den Ideengang der Politie sich anschließenden Timäos. Plato kann es sich auch hier gar nicht anders denken, als daß der, welcher ohne Erziehung und Unterricht aufwächst, der nicht »von Jugend auf die als Heilmittel gegen das Schlechte erforderliche Kenntnis erworben hat, schlecht264 werden« muß. Die »Überredung«, d.h. doch wohl in erster Linie die Erziehung, erzeugt jene richtigen Vorstellungen, welche die Grundlage der Volksmoral sind265. Daher »muß jedermann, soweit es in seiner Macht steht, nach der Erziehung, der Lebensweise, den Kenntnissen streben, durch welche er der Schlechtigkeit zu entrinnen und ihr Gegenteil zu erreichen vermag«266. Unter den Erziehern aber, die an diesem Werke mitarbeiten, steht voran der Staat. Er trägt durch seine Einrichtungen und durch das, »was in ihm öffentlich und privatim gelehrt wird«, wesentlich die Mitschuld, wenn es mit der Sittlichkeit des Volkes schlecht bestellt ist267.

Die Mängel der Volksschulbildung werden daher von Plato in seiner Kritik des Bestehenden scharf hervorgehoben. Er stellt in den »Gesetzen« als Vorbild Ägypten auf, wo die große Masse der Kinder (πάμπολυς παίδων ὄχλος) einen Elementarunterricht genieße, mit dem sich das hellenische Unterrichtswesen nicht messen könne. Er »schämt sich für sich und alle Hellenen«, daß in Hellas der Elementarunterricht in gewissen Dingen (in der Beurteilung der einfachsten Raumverhältnisse) die Jugend in einer »lächerlichen und schamlosen« Unwissenheit268 lasse,[65] wie sie nicht Menschen, sondern einer Herde von Schweinen zukomme269. Es wird gewissermaßen ein Menschenrecht anerkannt auf das nach dem Stande der Gesittung unentbehrliche Maß der Bildung. Gleichzeitig geht der Gesetzesstaat so weit, daß er die Kinder der höchsten Würdenträger mit denen des ärmsten Arbeiters, ja des Sklaven – bis zu einem gewissen Alter wenigstens – gemeinsam erziehen läßt!270 Und wenn dann auch eine Scheidung zwischen Freien und Unfreien eintritt, so wird doch für die ersteren das Prinzip der allgemeinen Schulpflicht strenge durchgeführt.271

Ist es bei solcher Anschauung denkbar, daß Plato sein Ideal in einem Staate gesehen haben sollte, der sich einzig und allein um die Erzeugung guter Soldaten und Beamten kümmert und sich gegen die Frage der Volkserziehung völlig gleichgültig verhält, einem Staate, der die ungeheure Mehrheit der Bürger der Gefahr der Entsittlichung und Verrohung preisgibt? Wenn die Kräfte, die das Gesamtleben bestimmen, nur durch Erziehung und Unterricht in jedem einzelnen geweckt und entwickelt werden können, muß da nicht gerade in einem Staate, der die möglichst vollkommene und der Gesamtheit förderliche Entfaltung aller individuellen Kräfte anstrebt, die Unterrichtsfrage ein wichtiger Gegenstand des öffentlichen Interesses sein? Wie kann vollends ein Staat, in welchem auch der Höchststehende in jedem Volksgenossen einen Freund und Bruder ehren soll, die Masse in einem Zustand lassen, den Plato mit dem einer Schweineherde vergleicht?

Ja wir können noch weitergehen und sagen: Mit der Frage der Volkserziehung ist die Aufgabe des Idealstaates gegenüber seinen Bürgern noch lange nicht erschöpft. Der Staat, der das Glück womöglich aller wollte, der eben deswegen und um seines eigenen Bestandes willen an dem sittlichen Fortschritt, an der Berufstüchtigkeit, wie an dem äußeren Gedeihen der wirtschaftenden Klassen auf das lebhafteste interessiert war, der konnte unmöglich das gesamte arbeitende Volk in allen übrigen[66] Beziehungen sich selbst überlassen. Für Plato ist, wie wir sahen, die Frage der Volkssittlichkeit zugleich eine wirtschaftliche und soziale Frage. Er sieht dieselbe überall durch die ungesunden Auswüchse der bestehenden Wirtschaftsordnung, durch Mammonismus und Pauperismus, auf das schwerste gefährdet, und zwar gerade diejenigen Eigenschaften am meisten, die der Idealstaat bei seinen Bürgern in erster Linie voraussetzt. Für die sittliche Selbstbeschränkung, aus der sich hier das harmonische Verhältnis zwischen allen Volksklassen erzeugt, kennt Plato keinen schlimmeren Feind als den Gegensatz von reich und arm, die Quelle aller Überhebung, Schamlosigkeit und Umsturzbegierde.272 Dem Geiste der Einfachheit, der Mäßigkeit und Arbeitsamkeit, in dem Plato eine Grundbedingung gesunder gesellschaftlicher Zustände sieht, widerstreitet insbesondere der Reichtum, der Erzeuger von Üppigkeit, Luxus und Müßiggang;273 er ermöglicht das faule Rentnerleben, das der Arbeit hochmütig den Rücken kehrt und damit dem vaterländischen Gewerbe leistungsfähige Kräfte entzieht,274 wie denn überhaupt die bestehende Verteilung des Besitzes nach Plato nicht bloß moralische, sondern auch volkswirtschaftliche Nachteile im Gefolge hat, deren Beseitigung er in dem Entwurf des Idealstaates ausdrücklich ins Auge faßt. So wird gerade hier auf den schweren Übelstand hingewiesen, den die Kehrseite des Reichtums, die Besitzlosigkeit, hervorruft, daß sich so viele aus Mangel an Betriebskapital nicht die nötigen Produktionsmittel verschaffen und daher nicht das leisten können, wozu sie befähigt wären.275 Plato beklagt es lebhaft, daß auf diese Weise »durch beides, durch Reichtum und Armut, die Produktion sowohl wie die sittliche und technische Tüchtigkeit der Produzierenden verschlechtert wird,276 ein Ergebnis, das mit den Forderungen des Vernunftstaates absolut unvereinbar ist.

Wir sahen bereits bei der Organisation des Zivil- und Militärdienstes, mit welcher Konsequenz dieser Staat den Gedanken verfolgt, jede individuelle Kraft an die Stelle zu bringen, die sie ihrer Eigenart nach am besten auszufüllen vermag. Dieses Prinzip – jeder an seinem Platze für und durch das Ganze – wird von Plato ausdrücklich auch auf die wirtschaftenden Klassen übertragen. »Auch von den andern Bürgern,[67] sagt er, soll jedem einzelnen durch die Regierung die Beschäftigung zugewiesen werden, zu der ihn seine natürlichen Anlagen befähigen, damit jeder das eine, ihm Zukommende betreibe.«277 Der Staat wird dadurch nicht nur dem Anspruch des Individuums auf eine seiner persönlichen Leistungsfähigkeit entsprechende Lebensstellung gerecht, sondern er erreicht damit zugleich auch, daß jede Kraft im Dienste der Gesamtheit die entsprechende Verwendung findet. Denn der platonische Staat darf keine Kraft unbenützt lassen. Da er, um die innere Einheit des Staates nicht zu gefährden, sich grundsätzlich auf ein kleines Gebiet beschränkt,278 muß er das, was ihm an Größe und Bürgerzahl fehlt, durch eine möglichst intensive Anspannung und Ausnützung aller Kräfte zu ersetzen suchen. Schon die oben erwähnte Emanzipation des weiblichen Geschlechtes ist wesentlich durch diesen Gedanken veranlaßt. Es ist nach Platos Ansicht mit dem staatlichen Interesse unvereinbar, daß die ganze eine Hälfte der Staatsangehörigen unter den bestehenden Verhältnissen nicht das leistet, was sie bei einer vollständigen Ausbildung ihrer Anlagen leisten könnte.279 Denn dadurch bleibt, wie es in den »Gesetzen« heißt, beinahe die Hälfte der im Staat vorhandenen Gesamtkraft ungenützt, so daß bei gleichartiger Ausbildung beider Geschlechter das Doppelte von dem erreicht werden könnte, was jetzt erreicht wird.280 Er hat daher, wie wir sahen, wenigstens den Frauen der für den öffentlichen Dienst bestimmten Klasse die denkbar weitestgehenden Bildungsziele gesteckt, um eben damit zugleich die Leistungsfähigkeit der ganzen Klasse zu erhöhen. Noch bezeichnender für diese Tendenz ist die Klage, welche Plato in seinem späteren sozialpolitischen Werk ausspricht, daß wir »in Beziehung auf unsere Hände durch den Unverstand der Mütter und Wärterinnen gewissermaßen gelähmt worden sind«, weil wir die linke Hand nicht in gleicher Weise ausbilden wie die rechte. Auch diesen Mangel will Plato beseitigt wissen. Die Jugenderziehung soll sorgfältig darüber wachen, daß beide Geschlechter im Gebrauch ihrer Glieder so geschickt wie möglich würden und nicht durch falsche Gewöhnung die von Natur verliehenen[68] Fähigkeiten verkümmern lassen.281 Es ist, als ob man einen modernen Techniker vor sich hätte, der es nicht mitansehen kann, daß irgendeine Kraft ungebraucht verloren geht.282 Eben darum legt ja auch Plato ein so großes Gewicht auf die strengste Durchführung des Prinzips der Arbeitsteilung in dem gesamten Gebiete der Produktion, weil sie die intensivste Ausnützung und Steigerung der individuellen Arbeitskräfte gestattet.

Wenn aber in dem Vernunftstaat keine Kraft unbenützt bleiben oder verkommen soll, so muß er notwendig dahin streben, eine gewisse Untergrenze aufrecht zu erhalten, unter welche überhaupt keine Klasse der Bevölkerung herabsinken darf. Er kann keine Zwergwirtschaften, keine verkommenen Handwerker dulden, er kann den Bürger nicht zum arbeitslosen und arbeitsscheuen Proletarier werden lassen, der für das Wirken am Wohle des Ganzen, d.h. für den Staat überhaupt verloren ist und damit nach Platos Ansicht aufhört, ein »Teil des Staates« zu sein.283

Der Vernunftstaat duldet keine Drohnen,284 keine sozialen Schmarotzerexistenzen. Daher ist hier auch kein Raum für das andere Extrem, für das faule Rentnerleben der Reichen. Ebenso entschieden wie gegen hoffnungslose Verarmung muß er gegen eine Ansammlung des Reichtums ankämpfen, welche für ganze Klassen allen Anreiz zur Arbeit beseitigen würde. Jeder, der eine Arbeit zu verrichten vermag, die dem Wohle der Gesamtheit förderlich ist, der soll auch arbeiten. Es ist nach Plato von dem Begriff eines wohlgeordneten Staates unzertrennlich, daß allen ohne Unterschied irgendeine Tätigkeit auferlegt ist, der sie sich nicht entziehen können.285

Der angebliche Verächter der Arbeit begegnet sich hier unmittelbar mit dem Bewußtsein des arbeitenden Volkes, wie es bei dem bäuerlichen Poeten von Askra zum Ausdruck kommt. Er knüpft selbst unmittelbar an Hesiod an, von dem wir das schöne Wort besitzen, daß »keinerlei Arbeit schändet, sondern allein die Arbeitsscheu«. Das Bild von den parasitischen Drohnen ist von Plato aus Hesiod entnommen. Wie dem[69] Dichter, so ist ihm der vornehme und der gemeine Tagedieb (τρυφῶν καὶ ἀμελὴς ἀργός τε) gleich verhaßt. Noch in seinem letzten Werk kommt er auf den Fluch Hesiods gegen den »arbeitscheuenden« Mann zurück:286


Der ist den Göttern verhaßt und den Sterblichen, welcher ohn' Arbeit

Fortlebt, gleich an Werte den unbewaffneten Drohnen,

Die der emsigen Bienen Gewirk aufzehren in Trägheit,

Nur Mitesser.

(W. u. T. 302-6.)


Zu diesem Kampf gegen Mammonismus und Pauperismus ist aber der Vernunftstaat noch aus anderen Gründen gezwungen. Seine ganze Existenz beruht auf der Entsagungskraft und Opferfähigkeit seines Beamtentums und seiner Armee. Darf er hoffen, den mühsam groß gezogenen Geist der Bedürfnislosigkeit und Anspruchslosigkeit aufrecht zu erhalten, wenn der Beamte und Soldat zusehen muß, wie diejenigen, um derentwillen er dient und denen sein Verzicht auf Besitz und Genuß wesentlich zugute kommt, schrankenlos Besitz auf Besitz, Genuß auf Genuß häufen und teilweise wenigstens ein Leben führen, das sozusagen ein ewiges Fest sein würde?287

Und die Regierten selbst? Werden sie sich auf die Dauer in einem Zustande absoluter Unterordnung erhalten lassen, wenn in ihren Reihen im Gefolge des Reichtums das Selbstgefühl stetig wächst, wenn sich unter den Handwerkern und Gewerbetreibenden Leute erheben, die »übermütig geworden durch den Reichtum« oder durch den Besitz sonstiger äußerer Machtmittel den Gedanken fassen können, sich den Zutritt zu den höheren Klassen zu erzwingen?288 Wie wäre überhaupt auch nur im entferntesten an den von Plato mit der Harmonie der Töne verglichenen Einklang der Gemüter im Idealstaat zu denken gewesen, wenn derselbe die Masse der Bevölkerung einfach in den überkommenen Zuständen belassen haben würde, in denen Plato nur die Brutstätte der schlimmsten Leidenschaften erblickte! Er würde damit ja, wie schon Aristoteles bemerkt[70] hat, alles, was er an der bestehenden Gesellschaftsordnung verwerflich findet, in seinen Idealstaat hineingetragen haben.289

Wie wir sahen, hört nach Platos Ansicht durch den Gegensatz von arm und reich der Staat auf, ein einheitlicher Staat zu sein, er zerfällt gewissermaßen in zwei einander feindliche Staaten. Konnte es bei dieser Auffassung gleichgültig erscheinen, ob im besten Staat durch die ungeheure Mehrheit des Volkes ein so gewaltiger Riß hindurchging? Zwar war die Einheit des Staates hier, wo die Staatsidee eine selbständige Existenz über der Erwerbsgesellschaft gefunden hatte, durch die sozialen Gegensätze nicht so unmittelbar bedroht wie in dem Staate der Wirklichkeit, wo sich diese Gegensätze stets auch auf das staatliche Gebiet verpflanzten. Allein daran war doch nicht zu denken, daß selbst der gesündeste Beamten- und Heeresorganismus in der stetigen und – bei aller örtlichen Absonderung – unvermeidlichen Berührung und Reibung mit einem kranken sozialen Körper, mit einer Gesellschaft im »Fieberzustand«, auf die Dauer gegen solche Ansteckungsgefahr gefeit bleiben würde. Aber selbst wenn man diese Möglichkeit zugeben wollte, wie wäre mit dem politischen Einheitsbegriff Platos ein Staat vereinbar, der »nur die »silbernen« Seelen in das Joch der Pflicht, in den Dienst der »Kollektivität« zwingt, während die niederen Naturen frei erwerben und genießen dürfen«?290 Ein Staat, der, wie schon Aristoteles richtig bemerkt hat, aus zwei Gemeinwesen bestünde, deren innerer Gegensatz notwendig zu einer gegenseitigen Verfeindung führen würde, einer πόλις ὑγιής und einer πόλις φλεγμαίνουσα.291

In der Tat kennt Plato keine staatliche Angelegenheit, welche für die Regierung des Idealstaates – nächst der Aufrechterhaltung der kommunistischen Organisation des Hüterstandes – wichtiger wäre, als die staatliche Regelung der Eigentumsfrage in der wirtschaftenden Gesellschaft.292 Die Regierung hat nach Platos ausdrücklicher Anweisung sorgfältig darüber zu wachen, »daß nicht etwa unbemerkt in den Staat sich einschleiche die Armut und der Reichtum«.293 Ein Programm, bei dem man unwillkürlich[71] an das Idealbild der christlichen Urgemeinde in Jerusalem erinnert wird, dessen stark sozialistisch empfindender Urheber294 hier ja auch ein Gemeinwesen verwirklicht sieht, in dem »niemand war, der Mangel litt«. Auch stellt Plato eine Reihe von Forderungen auf, die ein Staat erfüllen muß, in dem es – wie eben im Vernunftstaat – weder Arme noch Reiche geben soll. So verlangt er z.B., um das »auflodernde Unheil« (d.h. die Entstehung von Drohnen und Bettlern) im Keime zu ersticken, sehr starke Einschränkungen des Vertragsrechtes; er will nicht, daß jedermann in der Verfügung über sein Eigentum oder in der Erwerbung fremden Gutes völlig freie Hand habe, weil dadurch »die einen überreich, die andern dagegen ganz arm werden«.295 Er will den Geldwucher an der Wurzel treffen, indem er den Grundsatz aufstellt, daß die »Klagbarkeit der Gelddarlehen aufgehoben werden müsse«.296 Er will endlich nach dem Vorbild Altspartas im Idealstaat kein Gold- und Silbergeld dulden.297 Also eine Wirtschaftsordnung, die Eigentum und Erwerb ebenso in Fesseln legt, wie die Person des von Staats wegen zu einer bestimmten Berufsarbeit gezwungenen Bürgers;298 eine Wirtschaftsordnung, die jeden Kreditverkehr vernichtet, der Geldwirtschaft so gut wie ein Ende macht und das ganze Wirtschaftsleben möglichst auf naturalwirtschaftliche Zustände zurückschraubt!

Genügt das nicht vollkommen, um die immer wiederholte Behauptung, daß Plato »die alte Wirtschaftsordnung unverändert (!) bestehen lassen« wollte,299 geradezu als absurd zu erweisen? Allerdings ist Plato – aus den schon erwähnten Gründen300 – über einzelne Vorschläge[72] nicht hinausgegangen; aber der Radikalismus dieser Reformgedanken läßt doch im Zusammenhalt mit den Grundprinzipien des Vernunftstaates bis zu einem gewissen Grade wohl erkennen, was wohl dem Verfasser der Politie wenigstens als die wünschenswerteste Lösung des sozialen Problems vorgeschwebt hat.

Zunächst fragt es sich: Was lag in der unabweisbaren Konsequenz der Aufgaben, welche Plato der wahren Staatskunst und damit dem Idealstaate stellt?

Wir können das, was der Staat nach Plato »sein soll«, nicht besser veranschaulichen als durch die Charakteristik, welche das in wesentlichen Punkten ganz platonisch gedachte Staatsideal von Rodbertus bei seinem neuesten Biographen gefunden hat: Der Staat soll danach die zentrale Organisation des sozialen Körpers sein. Das Wesen jeder Organisation aber besteht in der Kongruenz und Harmonie der Teile, deren jeder eine bestimmte auf das Gesamtleben bezogene und mit der Tätigkeit aller übrigen Teile in Wechselwirkung stehende Funktion zu erfüllen hat. Je zentralisierter und arbeitsteiliger, desto vollkommener ist der Staat. Von seinem »übersichtlichen Standpunkt« aus kann und muß der Staat das Tun der individuellen Vielheiten in Einverständnis und Einklang setzen, als der formende Bildner der sozialen Materie, als die gesellschaftliche Vorsehung. Ihm gebührt auf allen Gebieten des sozialen Lebens die »Initiative und dominierende Macht«, auf dem Gebiete der intellektuellen und sittlichen, wie auf dem der wirtschaftlichen Kultur.301

Im wesentlichen dasselbe meint Plato, wenn er einmal von der »königlichen Kunst« sagt: »Sie ist die Ursache alles richtigen Handelns im Staate (αἰτία τοῦ ὀρϑῶς πράττειν ἐν τῇ πόλει), sie sitzt am Steuer des Staates und alles lenkend und überall herrschend (πάντα κυβερνῶσα καὶ πάντων ἄρχουσα) macht sie alles nutzbringend (πάντα χρήσιμα ποιεῖ).«302 Denn ihr allein steht die vernunftgemäße Entscheidung darüber zu, wie alles Tun und Handeln seinem höchsten Zweck, der allgemeinen Wohlfahrt am besten dienstbar gemacht werden kann. Ihre Aufgabe ist es daher, alle einzelnen Tätigkeiten auf dieses Ziel hinzuleiten, sie so zu regeln, wie es der gemeinsame Zweck aller erfordert. Sie ist der oberste Regulator des gesamten Arbeitslebens.303

Wie hätte der Idealstaat diese Prinzipien verwirklichen können, wenn[73] er das Institut des Privateigentums in dem Umfang, wie es bestand, festgehalten hätte? Um jede wirtschaftliche Kraft an der richtigen Stelle verwerten zu können, mußte die zukünftige Zentralgewalt ja unbedingt allezeit in der Lage sein, ihr die nötigen Arbeitsmittel zuzuweisen, was ohne ein staatliches Verfügungsrecht über die Produktionsmittel gar nicht möglich gewesen wäre.

Ob Plato selbst diese Konsequenz für die Praxis gezogen hat, wissen wir nicht. Wohl aber wissen wir, daß er Ideen ausgesprochen hat, die einen radikalen Bruch mit dem Bestehenden bedeuten und deutlich erkennen lassen, daß er das Problem wenigstens abstrakt theoretisch zu Ende gedacht hat.

Plato wirft nämlich die Frage auf, worin das höchste von dem Gesetzgeber vor allem anderen zu erstrebende Glück des Staates bestehe, worin das größere Übel.304 Die Antwort lautet: Es gibt für den Staat kein größeres Gut, als was ihn innerlich zusammenhält und einigt, kein größeres Übel, als was ihn trennt und spaltet.305 Nichts aber wirkt so einigend wie die Gleichheit der Interessen oder – platonisch gesprochen – die »Gemeinschaft von Freude und Schmerz«,306 nichts so trennend wie ihre Geteiltheit.307 Es ist zu wünschen, daß möglichst alle Bürger (ὅτι μάλιστα πάντες οἱ πολῖται) bei denselben Vorkommnissen des Lebens eine gleichartige Empfindung, sei es der Freude oder der Trauer haben können, daß nicht dieselben Begegnisse die einen hoch erfreuen, die andern mit tiefem Kummer erfüllen.308 Wie bei dem einzelnen Individuum der ganze Körper den Schmerz oder das Wohlgefühl einzelner Teile mitempfindet, so soll auch im Staate, der um so vollkommener ist, je mehr er in Beziehung auf innere Einheitlichkeit ein Abbild des menschlichen Organismus wird, die Gesamtheit aller sich mitfreuen oder mitbetrüben können, wenn dem einzelnen etwas Gutes oder Übles widerfährt.309 Was ist es aber, was in der bestehenden Gesellschaft[74] gerade das Gegenteil: die Geteiltheit der Interessen und der Empfindungen und damit die Trennung der Gemüter verewigt? Nach Plato einzig und allein der Umstand, daß nicht von allen Gütern des Lebens ebensogut das Wort gilt, »das ist mein« und »das ist nicht mein,« daß durch das Privateigentum der Gewinn und die Freude des einen zum Verlust und Schmerz des anderen werden kann.310

Wenn wir uns die ganze Tragweite dieser Sätze vergegenwärtigen, so leuchtet ein, daß Plato im Prinzip wenigstens bei dem Kommunismus des Beamten- und Heereskörpers unmöglich stehen bleiben konnte, daß er vielmehr eine möglichste Verallgemeinerung des Kommunismus gewünscht haben muß. Das Ideal staatlicher Einheit, welches hier aufgestellt wird, war ja nur dann vollständig zu verwirklichen, wenn nicht bloß der Beamte und Soldat, sondern womöglich das ganze Volk lebte und wirtschaftete wie eine große Familie.

Diese Schlußfolgerung ist unabweisbar, selbst wenn sich in einem früheren Teile der Politie Äußerungen zugunsten der reinen Individualwirtschaft der Erwerbstände fänden. Es würde das weiter nichts beweisen, als daß eben im Verlaufe der Arbeit selbst Plato durch die Konsequenzen seines Gedankensystems auf der Bahn des Kommunismus weiter gedrängt wurde, als es seinen ursprünglichen Intentionen entsprach. Allein meines Erachtens gibt es solche Äußerungen nicht. Die Stellen, welche man als Beweis dafür anzuführen pflegt, daß Plato »bei der Masse des Volkes die übliche Lebensweise« voraussetzt, beweisen dies absolut nicht.

An der einen Stelle begründet Plato den Kommunismus seiner Beamten und Soldaten damit, daß sie, wenn man ihnen Privateigentum an Grundbesitz, Häusern oder mobilem Kapital gestattete, aus »Hütern« zu Haus- und Landwirten werden und als feindliche Herren, nicht als »Verbündete« ihrer Mitbürger auftreten und ihr ganzes Leben hindurch Haß hegend und erregend Urheber und Gegenstand feindseliger Nachstellungen sein würden.311

[75] Man erklärt diese Worte so, als wollte Plato sagen: Der Beamte und Soldat des Idealstaates würde durch das Privateigentum in dieselbe privatrechtliche und wirtschaftliche Lage versetzt werden, wie sie der Bauer usw. in demselben Staate einnimmt. Allein diese Beziehung auf den dritten Stand des Idealstaates ist doch, wie schon einzelne Erklärer richtig erkannt haben,312 in die Stelle erst künstlich hineingelegt. Der Sinn der Äußerung ist offenbar ein ganz allgemeiner, nämlich der: die Hüter würden ihrem Berufe entfremdet, wenn sie zugleich bäuerliche und andere Privatwirte wären, d.h. sie würden ein höheres Interesse an der Vermehrung ihres Vermögens und der Bewirtschaftung ihres Grundbesitzes haben, als an ihrer Amtspflicht.

Ebenso allgemein ist die andere hier in Betracht kommende Stelle gehalten, wo einer der Unterredner des Dialoges gegen die kommunistische Lebensordnung der Hüter den Einwand erhebt, daß dieselbe doch wenig Raum für das Glück lasse, welches der Idealstaat seinen Angehörigen verheißt. Diese Leute hätten den ganzen Staat in ihrer Hand und trotzdem von dem Staate nicht den geringsten äußeren Vorteil, da sie ja nicht, wie andere (οἷον ἄλλοι) Ländereien erwerben, schöne große Häuser bauen und entsprechend ausstatten können, kein Gold und Silber, kurz nichts von alldem besitzen dürfen, was man bei denjenigen sucht, welche für glücklich gelten sollen« (πάντα ὅσα νομίζεται τοῖς μέλλουσι μακαρίοις εἰναι).313

Es ist klar, daß hier nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die Lage der höheren Klassen des Idealstaates derjenigen der übrigen Bürger desselben gegenübergestellt wird, – es heißt ja auch in den meisten Handschriften einfach »ἄλλοι«, nicht »οἱ ἄλλοι«, – sondern ganz allgemein dem Leben anderer Menschen überhaupt, wie es der vulgären Auffassung vom Glück entspricht.

Selbst diejenige Stelle, an welcher die Beamten und der Wehrstand in wirtschaftlicher Hinsicht wirklich zu den übrigen Bürgern in Gegensatz gebracht werden, steht mit unserer Auffassung nicht in Widerspruch. Man könnte ja aus der Äußerung Platos, daß unter allen Bürgern allein den Angehörigen jener Stände die Berührung von Gold und Silber verboten sei,314 den Schluß ziehen, daß in dem Wirtschaftsleben der übrigen Klassen den edlen Metallen keine wesentlich andere[76] Rolle zugedacht war, als in der bestehenden Wirtschaftsordnung; und man würde darin ohne Zweifel ein Hauptbeweismoment für die herrschende Ansicht sehen, wenn nicht Plato selbst kurz darauf ausdrücklich erklärt hätte, daß der Gebrauch des Goldes und Silbers der Bevölkerung des Idealstaates überhaupt durch das geltende Recht versagt sei,315 – so daß also an jener ersten Stelle nur jenes Minimum von Gold- und Silbergeld gemeint sein kann, auf dessen Besitz die Volkswirtschaft eines Stadtstaates wegen des auf die Dauer kaum zu entbehrenden Importes notwendiger Bedürfnisse aus dem Ausland niemals vollkommen verzichten kann, welches aber im Inlandverkehr strenge verpönt ist.316

Während nun aber aus diesen Stellen über die Eigentumsordnung der wirtschaftenden Gesellschaft des Idealstaates nichts zu entnehmen ist, fehlt es anderseits keineswegs an Äußerungen Platos, welche uns zur Genüge erkennen lassen, daß er sich der volkswirtschaftlichen Konsequenzen seiner sozialpolitischen Grundanschauungen sehr wohl bewußt war.

Er erklärt nämlich ausdrücklich, daß die vollendetste Organisation von Staat und Gesellschaft da bestehen würde, wo die »meisten« von denselben Dingen sagen könnten: Das ist mein und das ist nicht mein.317 Und in voller Übereinstimmung damit bezeichnet er es in seinem späteren Werke als ein Grundprinzip der besten Verfassung, daß durch sie möglichst im ganzen Staate der alte Spruch in Erfüllung gehe, der da lautet: Unter Befreundeten ist in Wirklichkeit alles gemein.318 Der Staat kann sich nach Plato im Interesse seiner inneren Einheit319 und damit zugleich der Sittlichkeit seiner Bürger kein höheres Ideal vor Augen halten, als einen Zustand, wo alles, was Eigentum heißt, überall im menschlichen Leben durchaus beseitigt ist.320 Daß freilich dieses höchste seiner sozialökonomischen Ideale jemals vollkommen zu verwirklichen sei, das hat Plato offenbar selbst auf dem Höhepunkt seines Optimismus nicht zu hoffen gewagt. Er begnügt sich,[77] wie wir sahen, in dem Entwurf des Idealstaates ausdrücklich damit, daß die Bürger nach Möglichkeit oder, wie es an der anderen Stelle heißt, die meisten an dem Segen der Güter- und Interessengemeinschaft beteiligt würden.321

Auch ist Plato über die allgemeine Formulierung des Problems nicht hinausgegangen. Über alle Detailfragen, die sich dabei ergeben, wie sich denn diese Forderung in die gewünschte Neugestaltung der sozialen Verhältnisse umsetzen ließe – darüber und damit auch über das Maß des Erreichbaren überhaupt hat er sich eine klare und bestimmte Vorstellung nicht gebildet. Er gibt nur im allgemeinen die Richtung an, in welcher sich die Reform der Wirtschaftsordnung zu bewegen hat. Er will die Wirtschaftspolitik des besten Staates von dem Gedanken geleitet wissen, daß die Volkswirtschaft in möglichst weitem Umfang Staatswirtschaft werde. Allein die Entscheidung über das Maß der Verwirklichung dieses Gedankens überläßt er jener Einsicht, die sich als das Ergebnis der vollendetsten theoretischen und praktischen Schulung in der Person der philosophischen Herrscher verkörpern wird.

Aristoteles hat daher den Standpunkt Platos nicht ganz richtig erfaßt, wenn er in seiner Polemik gegen den Idealstaat meint, Plato lasse es völlig unentschieden, ob die Lebensordnung des dritten Standes auf der Grundlage des Kommunismus oder des Privateigentums beruhen solle.322 Die Frage, welche Plato offen läßt, lautet nicht: Privat- oder Gesamteigentum, Privat- oder Gemeinwirtschaft? Sondern so: »In welchem Umfange wird man das Privateigentum und die Privatwirtschaft neben dem als ideales Ziel aufgestellten Prinzip des Gesamteigentums und der Gemeinwirtschaft notgedrungenerweise noch zulassen müssen?«

Immerhin ist Aristoteles in dieser Frage der Auffassung seines Lehrers ungleich näher gekommen als die modernen Beurteiler, welche ihm ein völliges Mißverständnis Platos vorwerfen, weil er auch nur die Möglichkeit zugibt, daß Plato in der Tat an eine mehr oder minder weitgehende sozialistische Organisation des dritten Standes gedacht habe. Aristoteles soll mit der Erwägung dieser Möglichkeit eine Unfähigkeit an den Tag gelegt haben, sich in den Gedankenkreis des Bekämpften zu[78] versetzen, wie sie stärker nicht wohl gedacht werden könne.323 In der Tat, wenn Plato das gewollt und gesagt hat, was ihm die moderne Auffassung der Politie unterschiebt, wenn er seinen idealen Vernunftstaat auf der Grundlage einer rein individualistischen Volkswirtschaft aufgebaut wissen wollte, dann ist die aristotelische Kritik eine so stümperhafte und oberflächliche, so allen Verständnisses bare, daß ihr Urheber von vorneherein unfähig erscheint, in der Frage mitzureden.

Nun ist es ja richtig, daß diese Kritik infolge ihres einseitig polemischen Charakters mehrfach auch zu höchst einseitigen und schiefen Ergebnissen gekommen ist und die – allerdings nur gelegentlichen – Äußerungen Platos im »Staat« und in den »Gesetzen« unbeachtet gelassen hat, welche einen Fingerzeig für die richtige Beurteilung enthalten. Allein diese Mängel, die er ja zum Teil auch mit der neueren Kritik gemein hat, berechtigen uns doch noch lange nicht, bei Platos größtem Schüler eine so kindliche Verständnislosigkeit vorauszusetzen, wie es die moderne Anschauungsweise notgedrungen tun muß. Liegt hier nicht vielmehr der Gedanke nahe, daß die moderne Auffassung des platonischen Staates, die zu solchen Konsequenzen in Beziehung auf Aristoteles führt, von falschen Voraussetzungen ausgeht?

Jedenfalls kann es nur zur Bestätigung der hier entwickelten Ansicht dienen, daß bei ihr allein uns auch Aristoteles und seine Kritik der Politie verständlicher wird.


Wenn wir uns nach alledem noch einmal die Momente vergegenwärtigen, auf welche sich unsere Auffassung des platonischen Staates und seiner Stellung zum dritten Stande stützt, so werden wir über die ganze Stellung Platos zum Grundproblem der sozialen Ethik richtiger und gerechter urteilen, als es der bisherigen Anschauungsweise möglich war.

Die Wege, auf denen man die Lösung des genannten Problems sucht, führen – heute, wie in Platos Zeit – nach zwei diametral entgegengesetzten Richtungen auseinander. Auf der einen Seite finden wir die Vertreter einer aristokratisch-exklusiven, auf der anderen die einer demokratisch-egalitären Gesellschaftsmoral. Die ersteren gehen davon aus, daß immer nur eine kleine Minderheit zu höherer geistiger Kultur erzogen werden könne und in ihrer Kultur den Fortschritt repräsentiere. Sie stellen den Kulturzweck und das höhere Recht der glücklicher Begabten[79] auf die Geltendmachung ihrer Überlegenheit allen anderen Rücksichten voran und legen demgemäß das entscheidende Gewicht auf die möglichste Differenzierung und möglichst aristokratische Gliederung der Gesellschaft, welche der Betätigung dieser Überlegenheit den günstigsten Boden darbietet.324

Dem gegenüber betonen die Anhänger des anderen Standpunktes den Anspruch der großen Mehrheit, ihrerseits an den Errungenschaften der Kultur und an den Gütern mitbeteiligt zu werden, welche das für den einzelnen erreichbare Maß menschlichen Glückes zu erhöhen vermögen. Über dem Kulturzweck steht ihnen der Glückszweck oder – um mit Bentham zu reden – das größtmögliche Glück der größten Anzahl.325

Beide Anschauungen enthalten einen berechtigten Kern, beiden haftet aber auch eine gewisse Einseitigkeit an. Während hier eine starke Tendenz zu kulturwidriger Nivellierung hervortritt, wird dort nur zu leicht die sittliche Forderung vergessen, daß der Mensch im Menschen niemals bloß ein Mittel sehen soll. Der »Herrenmoral« erscheint unwillkürlich die bevorzugte Stellung der Hervorragenden als Selbstzweck, sie nimmt es geradezu mit Befriedigung hin, daß »die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch«, das »Wohl der meisten« dem »Wohle der wenigsten« geopfert wird. Die Masse, das nützliche und arbeitsame Herdentier, erscheint nur dazu da, um die Folie zu bilden für die Entfaltung der feinsten Blüten der Kultur, wie bei einem Baum nur der Wipfel dazu da ist, Blüten und Früchte zu treiben, während der Stamm die Last zu tragen hat. Der Gesellschaftszweck ist einzig und allein der, den ganzen Menschen das Feld zu bereiten. »Man lege einen solchen Menschen – sagt Nietzsche – in die eine Wagschale und die breite wogende Masse, die Herde, in die andere, so wird diese letztere abstürzen bis an die Grenze der Möglichkeit. Denn, was sie faßt, sind nichts als Nullen.« Daher Untergang oder Knechtung aller Minderbegabten!

[80] Wem fällt bei dieser Auffassung nicht sofort das Bild ein, welches man von dem Gesellschaftsideal Platos zu zeichnen liebt? In der Tat ist wiederholt auf den Ideenzusammenhang hingewiesen worden, der zwischen Plato und dieser Sozialphilosophie des modernen Aristokratismus bestehen soll. Und sie selbst hat sich mit Vorliebe auf ihn berufen. Ein so ausgezeichneter Kenner des Altertums wie Nietzsche hat sogar die Onckensche Ansicht von dem angeblich oligarchischen Grundzug des platonischen Denkens zu der seinigen gemacht. »Unter jeder Oligarchie« – sagt er – »liegt das tyrannische Gelüst versteckt. Jede Oligarchie zittert beständig von der Spannung her, welche jeder einzelne in ihr nötig hat, Herr über dieses Gelüst zu bleiben. So war es z.B. griechisch. Plato bezeugt es an hundert Stellen. Plato, der seinesgleichen kannte – und sich selbst!«326

Daß diese Ansicht auf den Standpunkt Platos ein falsches Licht wirft, kann nach den Ergebnissen unserer eingehenden Analyse des platonischen Staates nicht zweifelhaft sein. Allerdings ist Plato lebhaft von der Notwendigkeit überzeugt, daß – um ein bekanntes Wort von Treitschke zu gebrauchen – die Millionen ackern, schmieden und hobeln müssen, damit einige Tausend forschen und regieren können. Und er hat auf Grund dieser Überzeugung eine sehr starke Differenzierung der Gesellschaft gefordert – eine zu starke, wie wir ohne weiteres zugeben –, allein die Art und Weise, wie er sich die Stellung der hervorragenderen Elemente des sozialen Organismus denkt, ist doch unendlich von jener Gedankenwelt der »oberen Zehntausend« entfernt, von der Herbert Spencer (the Man versus State) gemeint hat, daß sie heute noch im wesentlichen durch die Gesellschaftsanschauungen des klassischen Altertums bestimmt werde.

Um als Repräsentant dieser Gesellschaftsanschauungen zu gelten, müßte Plato vor allem die fortschreitende Differenzierung der Gesellschaft auf Grund einer möglichst weitgehenden Verschiedenheit der materiellen Lebenslage gefordert haben. Denn das ist es eben, was von dem geschilderten Aristokratismus mehr oder minder offen als begehrenswertes Ziel der sozialökonomischen Entwicklung hingestellt wird: die mit der Konzentrierung des Reichtums gegebene Möglichkeit einer raffinierten aristokratischen Geisteskultur, einer üppigen Entfaltung aller Blüten höheren Lebensgenusses, freieste Bahn für jene Virtuosen des[81] Genusses, die zugleich Virtuosen des Geistes seien, und die, wie z.B. ein W. v. Humboldt, Gentz und Heine, ihre Kräfte eben nur in der Luft eines verfeinerten sinnlichen Daseins zu entwickeln vermöchten.327 Ein Kulturideal, dessen volle Verwirklichung das »Opfer einer Unzahl von Menschen« voraussetzt, welche, wie Nietzsche meint, um jener »Glücklichen« willen zu unvollständigen Menschen, Sklaven und Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen.

Wie ganz anders Plato! Er verlangt für die Aristokratie seines Idealstaates überhaupt keine äußere Stellung, welche mit der materiellen Ausbeutung des wirtschaftenden Volkes oder gar mit dem Massenelend erkauft werden müßte. Er deutet selber an, daß für einen Standpunkt, bei dem das materielle Moment eine entscheidende Rolle spielt, das Los der Hüterklasse im Idealstaat »nicht eben als ein sehr glückliches« erscheinen könne.328 Er verlangt ja für sie nichts, als was für die Erhaltung ihrer physischen und geistigen Leistungsfähigkeit notwendig ist: Befreiung von gemeinem Mangel und von körperlicher Arbeit.329 Es ist das bescheidene Lebensideal, zu welchem sich einmal Schiller in den Worten bekannt hat: »Um glücklich zu sein, muß ich in einem gewissen sorgenfreien Wohlstand leben, und dieser muß nicht von den Produkten meines Geistes abhängig sein.« Das wirtschaftende Volk des Idealstaates nimmt seinen Regenten, Beamten, Soldaten die Sorge für das tägliche Brot ab, indem es ihnen einen Lohn zuteil werden läßt, bei dem sie »nicht notleiden, der ihnen aber auch nichts übrig läßt«.330 Es ist das Minimum von Opfern, welche die Gesellschaft nun einmal bringen muß, wenn sie sich eine ihren eigenen Bestand sichernde Elite der Intelligenz und Wehrhaftigkeit erhalten will. Ein Opfer jedenfalls, für welches die Gesamtheit nach den Intentionen Platos in den Leistungen dieser Elite vollkommenen Ersatz findet, und welches sie daher im letzten Grunde nicht dieser, sondern in ihrem eigenen Interesse bringt.

Denn nicht darum wird hier ja ein Teil der Gesellschaft über alle anderen erhoben, weil ihm seine höhere Veranlagung als solche ein Recht darauf gibt, sondern darum, weil ihn diese Veranlagung zu den[82] höchsten Leistungen für den Dienst des Ganzen befähigt. Keineswegs bloß um seiner selbst willen gelangt der einzelne in den Kreis dieser Auserlesenen, sondern zugleich um aller anderen willen. Sowenig daher die Aristokraten Platos von dem beseelt sind, was der Vorkämpfer des modernen Aristokratismus als »Willen zur Macht« bezeichnet hat, und sowenig ihre Existenz die rücksichtslose Opferung und den »totalen Verbrauch« der anderen verlangt, sowenig fühlen sich die letzteren als die Vergewaltigten und Gedrückten, als die Leidenden und Unfreien. Sie opfern sich für jene nicht in höherem Grade als jene für sie. Nicht »Herren- und Sklavenmoral« stehen sich hier in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber, vielmehr ist es die Idee der gegenseitigen sozialen Verpflichtung, welche Regierende und Regierte in harmonischer Eintracht verbindet.

Wir haben mit einem Wort in dem platonischen Staat einen Versuch vor uns, das Kulturziel und das »Wohl der wenigsten« in Einklang zu bringen mit dem Glücksziel und dem »Wohl der meisten«.

Der platonische Staat huldigt dem Aristokratismus durch die Schaffung seiner Hüterklasse, anderseits aber gibt er dieser Aristokratie ein allgemein staatliches Gepräge, indem dieselbe alle für den Dienst des Staates ungeeigneten Elemente abstößt und sich hinwiederum durch Heranziehung der Talente aus dem Volke beständig erneuert. So scharf ferner der durch die Verschiedenheit der Aufgaben bedingte Unterschied von Individuen und Klassen in sozialaristokratischem Sinne ausgebildet erscheint, so bedeutsam tritt in der überaus bescheidenen ökonomischen Ausstattung der höheren Klasse die Tendenz hervor, die Ungleichheit nicht über das Maß dessen emporwachsen zu lassen, was die Harmonie des Gesamtlebens erfordert. Der platonische Staat will keine Ungleichheit, welche eine große Anzahl von Händen nötigt, – statt für notwendige Bedürfnisse aller – für die unverhältnismäßige Erhebung einzelner über die sozialökonomische Lage ihrer Mitmenschen tätig zu sein. Er ist weiterhin volksfreundlich, indem er gleichzeitig das Benthamsche Prinzip der Fürsorge für alle oder möglichst viele auf seine Fahne schreibt und als Richtschnur für das gegenseitige Verhalten aller Bürger die Moral des gemeinsamen Mitleidens und der gemeinsamen Mitfreude proklamiert, welche die Sozialphilosophie des Aristokratismus, die Herrenmoral des Stolzes, der Eigenmacht und Härte331 als sozialistische Bruderschaftsschwärmerei jedenfalls weit von sich weisen würde.

[83] Hat doch Plato aus dem Glücksprinzip sogar noch radikalere Folgerungen gezogen als selbst der ebengenannte moderne Vertreter dieses Prinzips, Bentham. Auch dieser ist der Ansicht, daß die Summe der Glückseligkeit um so größer sei, je mehr sich das Verhältnis des Besitztums der Bürger der Gleichheit nähere. Allein der hohe Wert, den er auf den Besitz der materiellen Güter als Grundlage persönlicher Wohlfahrt legt, hindert ihn, diesen Gedanken bis zu seiner letzten Konsequenz, bis zur Forderung des Kommunismus zu verfolgen. An Stelle gleichheitlicher Verteilung des Besitzes tritt bei ihm eine gleichheitliche Verteilung der Rechte und der Macht, von der er ein hinlänglich befriedigendes Ergebnis für die Wohlfahrt der Gesamtheit erhofft, weil die Wohlfahrt, nach welcher die souveräne Gesamtheit der Bürger streben würde, stets diejenige von allen sein werde. Plato, der diese Hoffnung nicht teilt und der gleichen Verteilung der Rechte nicht bedarf, um dasselbe Ziel zu erreichen, schreitet um so kühner auf der Bahn der ökonomischen Gleichheit vorwärts. Da für ihn das höchste individuelle Glück nur ein geringes Maß von materiellen Gütern voraussetzt, erscheint ihm die Ausgleichung des Interesses der Minderheit an der möglichsten Intensität des für sie erreichbaren Glückes und des Interesses der Mehrheit an der möglichst extensiven Ausbreitung des Glückes als ein gerade auf dem Boden der Volkswirtschaft lösbares Problem und damit die soziale Harmonie zwischen Mehrheit und Minderheit zur Genüge verbürgt.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 25-84.
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