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Die Koinzidenz von Sozialismus und Individualismus im platonischen Staatsideal

[84] Wir sind seit Hegel332 gewohnt, den platonischen Staat als das Prototyp eines Sozialismus anzusehen, aus dem alle und jede individualistische Tendenz in denkbar radikalster Weise ausgemerzt ist, in dem alles individuelle Leben und Streben durch die Allgemeinheit verschlungen wird.

»Der platonische Staat«, sagt Stahl, »opfert den Menschen, sein Glück, seine Freiheit, selbst seine sittliche Vollendung. Denn dieser Staat besteht nur um seiner selbst willen, um der Herrlichkeit seiner Erscheinung willen, und der Bürger ist nur dazu bestimmt, als ein dienendes Glied sich in die Schönheit seines Baues zu fügen.«333

[84] An Einwänden gegen diese Auffassung hat es zwar nicht ganz gefehlt, aber sie waren nicht überzeugend genug begründet, um die Herrschaft derselben zu erschüttern. Die verbreitetste moderne Darstellung, die von Zeller, steht in der Hauptsache noch ganz auf dem Standpunkte Hegels. Zeller sieht das Charakteristische der platonischen Staatsidee in der Unterdrückung aller, auch der berechtigtsten persönlichen Interessen, in der Rechtlosigkeit des einzelnen gegenüber dem Staat, in dem Prinzip, daß die Bürger um des Staates willen da seien, nicht der Staat um der Bürger willen.334 Der Vernunftstaat denkt nicht daran, die Rechte der einzelnen mit denen der Gesamtheit versöhnend zu vermitteln, weil hier der Mensch überhaupt auf alle persönlichen Zwecke verzichten soll, um nur für das Ganze zu leben.335 Im Gegensatz zu den Staatsromanen der neueren Zeit336 haben hier dem einen erzieherischen Zweck des Staates alle anderen Interessen sich unterzuordnen, er verlangt eine unbedingte Selbstentäußerung aller Bürger. Plato strebt nach Vollkommenheit des Ganzen, jene Neueren nach Beglückung des einzelnen.337

Auch die moderne Staatswissenschaft hat sich von dieser Anschauungsweise noch nicht loszumachen vermocht. Nach der Darstellung der Staats- und Korporationslehre des Altertums, welche wir Gierke verdanken,338 erstrebt die platonische Staatslehre die vollkommene Absorption des Individuums durch die Gemeinschaft, sie weiß nichts von einem Rechte der Persönlichkeit;339 der Staat ist hier kein Mittel für die Zwecke der Individuen, sondern sich selbst Zweck.340

Suchen wir uns unsererseits den Ideengang Platos zu vergegenwärtigen, so ist ja so viel ohne weiteres klar, daß das Sozialprinzip von ihm mit großer Entschiedenheit als das leitende Prinzip vorangestellt wird (τὸ κοινὸν ἡγούμενον!).341 Er macht nicht die Interessen und Wünsche des einzelnen zur Norm für Staat und Gesellschaft, sondern die Bedürfnisse der Gesamtheit. Nicht darauf ist nach Plato die wahre Staatskunst gerichtet, daß einzelne Klassen oder Individuen das höchste Maß menschlichen Glückes erreichen auf Kosten der übrigen, sondern daß das Glück und Gedeihen der Gesamtheit der Bürger ein möglichst vollkommenes[85] sei. Dieses Glück des Ganzen ist der Maßstab, nach welchem erst das der einzelnen Teile zu bemessen ist.

Daraus folgt, daß die Organe der Gemeinschaft mit einer Gewalt ausgestattet sein müssen, die stark genug ist, alle widerstrebenden Sonderinteressen dem Interesse der Gemeinschaft zu unterwerfen. Die Gemeinschaft, der Staat also entscheidet. Und diese Entscheidung ist die oberste Richtschnur für das Handeln des einzelnen, nicht das individuelle Urteil. Denn dieses Urteil der einzelnen ist nicht immer ein unbefangenes, weil die meisten einseitig an das eigene Glück denken. Es gibt keine genügende Bürgschaft dafür, daß das sich selbst überlassene Individuum das Glück der Gesamtheit als Richtschnur für seine Handlungen unentwegt festhalten wird.342 Daher kann der Staat nicht zugeben, daß »jeder die Richtung einschlage, die ihm behagt«.343 Eine solche Freiheit würde nur die Willkür des Individuums auf den Thron setzen, würde gleichbedeutend sein mit Anarchie und Desorganisation.

Damit erhält auch alles Glücksstreben von vorneherein eine bestimmte Richtung. Das Glück, welches der einzelne im Sozialstaat findet, kann nur ein solches sein, welches mit dem Interesse des Ganzen harmoniert. Es ist nicht ein möglichst intensives materielles Genießen, wie es der vorzugsweise auf das sinnliche Dasein gerichtete Egoismus erstrebt. Denn dadurch würde, wie Plato bemerkt, aus dem Beamten alles andere eher als ein guter Beamter, aus dem Landwirt oder Töpfer alles andere eher als ein guter Landwirt oder Töpfer werden.344 Überhaupt würde sich unter der Herrschaft eines einseitig materialistischen Eudämonismus das Verhältnis des einzelnen zur Gesamtheit der anderen in einer Weise gestalten, wie es mit den Lebensbedingungen der staatlichen Gemeinschaft unverträglich wäre.345 Diese Lebensbedingungen des Ganzen verbieten es, daß die einzelnen Bürger oder ganze Gesellschaftsklassen das Leben gewissermaßen als eine Festfeier (πανήγυρις) ansehen und demgemäß ihre Lebensführung einrichten. Der Staat kann nicht ein Tummelplatz für panegyrische Ungebundenheit sein, denn er ist eine Ordnung, welche nicht nur Rechte gibt, sondern vor allem Pflichten und damit Opfer auferlegt.346 Der Staat selbst ist ja nur das Glied eines höheren Organismus, dessen einzelne Teile bis zum denkbar kleinsten Atom herunter nach der Anordnung seines göttlichen Lenkers in dem, was sie wirken, wie in dem, was sie erleiden, der Erhaltung und Vervollkommnung[86] des Ganzen dienen.347 Wie der Staat, so ist auch der einzelne dem Universum gegenüber »nur ein Teilchen, welches, obwohl nur ein winziges Atom, doch stets auf das Ganze gerichtet mitwirkt«.348 Die Welt ist nicht um dieses Atoms willen entstanden, sondern die Teile entstehen, weil es die Lebensbedingungen des großen Ganzen so erfordern.349

So wird der Mensch von vorneherein zugleich als Glied der Gattung350 aufgefaßt, das als solches die Mitarbeit an der Vervollkommnung der menschlichen Gesamtheiten als seine naturgemäße und primäre Lebensaufgabe anzusehen hat. Da ferner der Erfolg dieser Mitarbeit wesentlich bedingt ist durch die Organisation der staatlichen Gemeinschaft, welche alle einzelnen Kräfte zur Erfüllung der menschlichen Kulturaufgaben zusammenfaßt, so werden die Pflichten gegen die Gattung von selbst zu Pflichten gegen diejenige Gemeinschaft, welche das Hauptorgan zur Erreichung der Gattungszwecke darstellt.

Soll nun aber diese opferwillige Hingebung, für die alles Recht zugleich eine Pflicht zu leisten und zu dienen ist, eine so unbedingte Selbstentäußerung und ein so völliges Aufgehen des einzelnen in der höheren Einheit des Staates bedeuten, daß daneben alles individuelle Zweckstreben verschwindet, der Mensch sich überhaupt nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel und Werkzeug für den Zweck des Ganzen fühlen kann?

Plato weiß von einer solchen Auffassung nichts. Seine Absicht wenigstens ist es nicht, die Menschen zu fleisch- und blutlosen Schemen der von ihm vertretenen Ideen zu machen. Selbst für die gewaltige Theodicee, die in dem oben angedeuteten Sinn den einzelnen Lebewesen ihre Stellung im Weltall anweist, ist das Individuum kein so völlig bedeutungsloser Punkt neben zahllosen anderen, daß es aufhören müßte, als Ich zu fühlen. Denn gerade diese Theodicee beruft sich gegenüber dem Widerstreben »starrsinniger« Zweifler ausdrücklich darauf, daß die Annahme ihrer Lehre durchaus nicht einen Verzicht auf alle persönlichen Zwecke fordere. Sie appelliert mit dürren Worten an das wohlverstandene [87] Eigeninteresse des Individuums, dem das, was dem Weltganzen frommt, soweit es die allgemeinen Gesetze des Werdens gestatten, notwendig mit zugute kommen müsse.351 Sie behauptet eine prästabilierte Harmonie zwischen dem richtig verstandenen Einzelinteresse und dem des Ganzen, dessen göttlicher Erhalter und Lenker jedem die ihm »gebührende«352 individuelle Lebensförderung zuteil werden läßt, also doch auch ein gewisses »Recht der Persönlichkeit« anerkennt.

Wenn nun aber nach Platos Ansicht schon im unendlichen All, das doch ausschließlich sich selbst Zweck und nicht um des Menschen willen da ist, der Mensch mehr bedeutet als ein bloßes Moment im ganzen, wenn selbst hier das Bedürfnis nach einer »versöhnenden Vermittlung« zwischen dem Ganzen und den Ansprüchen des Menschenherzens auf die Anerkennung seiner individuellen Lebenszwecke in einer Weise betont wird, welche ganz an die individualistischen Glückseligkeitstheorien des 18. Jahrhunderts und ihre Lehre von der angeblichen Identität des allgemein Nützlichen mit dem individuell Nützlichen erinnert,353 – wie kann da Plato die Berechtigung solcher Ansprüche gegenüber jenem Teilchen des Kosmos geleugnet haben, das sich Staat nennt und das in diametralem Gegensatz zu jenem recht eigentlich ein Organ sein soll für die Erreichung menschlicher Lebenszwecke, für die Verwirklichung eines möglichst hohen Maßes menschlichen Glückes?

Dagegen spricht schon die allgemein spekulative und religiöse Auffassung Platos. Sie stellt gerade der einzelnen Persönlichkeit rein individuelle Ziele, die weit über das staatliche Leben hinausragen. Indem sie dem strebenden Geist ein Reich der Wahrheit eröffnet, in welchem zu[88] verweilen sein höchstes Glück bildet, gibt sie gerade den Edelsten des Volkes die Richtung auf ein Ideal, welches ihr Fühlen und Denken über die »Schattenwelt der Erscheinungen«, also auch über den Staat weit hinausführt.

Die Erkenntnis, die sich hier dem einzelnen erschließt, wird ausdrücklich für wichtiger erklärt als alle irdischen Interessen,354 und ein der Erkenntnis geweihtes Leben für besser als das Leben im Staate und für den Staat.355 Nur der Not und der sittlichen Pflicht gehorchend steigen die zur Leitung des Staates Berufenen von den seligen Höhen wissenschaftlicher Betrachtung herab zu den Geschäften des Lebens. Auch tun sie das keineswegs bloß um des Staates willen, sondern ebensosehr um ihrer selbst willen, weil ein gut regierter Staat die unerläßliche Voraussetzung für das Gedeihen der Wissenschaft, für die erfolgreiche Pflege der idealen Interessen überhaupt bildet.356 Diese Interessen selbst aber weisen nach Plato immer und immer wieder gebieterisch auf ein höheres, unsterbliches Dasein, das eine Ausgleichung irdischer Mißverhältnisse in Aussicht stellt, wie sie selbst der vollendetste Staat nicht zu erreichen vermag. Daher endigt auch der Entwurf des Idealstaates sehr bezeichnend nicht etwa, wie der Sozialstaat Fichtes, mit einer Verherrlichung der durch ihn verwirklichten Zustände, sondern mit einem Ausblick auf den Pfad, der nach dem führt, »was droben ist«, und auf dem sich diejenigen, welche ihn unentwegt verfolgen, schon hienieden weniger als Bürger des irdischen Staates, denn als die künftigen Himmelsbürger fühlen. Denn sie leben der Überzeugung, daß nichts Irdisches das oberste Anrecht auf sie hat, sondern jene Macht, der »wir Sterblichen alle zu eigen gehören«, d.i. Gott.

Aber nicht bloß die Kosmologie und Religionsphilosophie, sondern auch die Psychologie und Ethik Platos steht mit der Ansicht seiner modernen Beurteiler in Widerspruch. Allerdings hat Plato im Staat eine theoretische Auseinandersetzung über das Verhältnis der egoistischen und altruistischen Triebe der Menschenseele nicht gegeben. Dagegen finden sich in den »Gesetzen« einige Andeutungen, die auf den Standpunkt Platos ein bedeutsames Licht werfen. Er beklagt es hier als das größte Übel, daß die Naturanlage der meisten Menschen eine tief selbstsüchtige sei. Die meisten dächten und handelten nach dem Prinzip, daß von Natur und Rechts wegen jeder Mensch von Liebe zu sich selbst erfüllt sei.357[89] Eine Bemerkung, die zunächst den Anschein erweckt, als würde hier Selbsthilfe ohne weiteres mit Selbstsucht identifiziert.

Daß das aber nicht die Meinung Platos ist, beweist der Einwand, den er gegen das erwähnte Durchschnittsurteil erhebt, daß nämlich »die übertriebene Selbstliebe«, ἡ σφόδρα ἑαυτοῦ φιλία, die Quelle aller Laster sei. Sie, also die Selbstsucht ist es, deren Überwindung von jedem gefordert wird, τὸ σφόδρα φιλεῖν ἑαυτὸν,358 nicht ein naturwidriger Verzicht auf jegliche Betätigung des Selbstinteresses. Nur dem selbstsüchtigen Individuum, nicht der Selbstliebe an sich tritt Plato feindlich entgegen.

Das zeigt sich recht klar in der Stellung des platonischen Menschen zum Sittengesetz. Hätte die bisherige Auffassung recht, so hätten demselben die sittlichen Normen einzig und allein in der Form des kategorischen Imperatives der Pflicht zum Bewußtsein kommen müssen, dem sich der einzelne blindlings zu unterwerfen hat. Plato müßte für den einzelnen keine andere Reflexion übriglassen als die eine, wie muß ich handeln, damit das Bestehen und das Wohl der Gesamtheit gefördert wird? Der Gedanke an das liebe Ich und an die Vorteile, welche ihm die Förderung des Gemeinwohles verspricht, hätte als treibendes Motiv des Handelns völlig in Wegfall kommen müssen.

Das ist nun aber durchaus nicht der Fall! Gerade der Entwurf des Idealstaats begnügt sich nicht damit, die sittlichen Normen als Naturbedingungen der menschlichen Gemeinschaft zu erweisen; er sucht vielmehr ihre Anerkennung von seiten des einzelnen zugleich dadurch zu sichern, daß er Impulse zu Hilfe ruft, welche aus den Tiefen der menschlichen Natur selbst stammen.

Der platonische Mensch handelt sittlich nicht bloß um der Gemeinschaft willen, sondern auch um seinetwillen. Er fühlt sich sogar zu der Frage berechtigt: Ist das Gerechte auch subjektiv nützlich,359 ist es vorteilhafter als die Ungerechtigkeit?360 Und er handelt sittlich, indem er zugleich überzeugt ist, daß die Tugend als »die Gesundheit der Seele« ebensosehr Grundbedingung des individuellen Wohlseins ist wie die Gesundheit des Körpers.361 Er denkt dabei allerdings zunächst nicht[90] an die äußeren Erfolge der Tugend, wie Lohn, Ehre usw., sondern an ihren idealen Wert, weil er eben »die Gerechtigkeit an und für sich schon als das für die Seele Beste erfunden«.362 Allein bleibt hier nicht immer ein selbstisches, wenn auch nicht im schlechtesten Sinne selbstisches Motiv als Triebfeder des individuellen Handelns bestehen? Die getreue Befolgung des Sittengesetzes erscheint als ein Mittel zur Steigerung des persönlichen Glückes. Das Glück, welches sich an das sittliche Handeln knüpft, die individuelle Vollkommenheit, wird dem einzelnen unzweideutig als Ziel vor Augen gestellt, in welchem er den Lohn der Tugend zu suchen hat.363 Er wählt das Gerechte, weil diese Wahl für ihn im Leben und im Sterben die beste ist,364 weil er so »die höchste Glückseligkeit erreicht«.365

Man könnte hier sogar die Frage aufwerfen, ob in dieser Anschauung nicht das subjektiv-individualistische Moment in einer Weise zur Geltung kommt, wie es der wahren Bedeutung des Sittlichen nicht entspricht. Doch begnügen wir uns mit der Feststellung der Tatsache, daß der soziale Eudämonismus Platos das subjektiv eudämonistische und subjektiv utilitarische Element keineswegs ausschließt.366 Geht doch Plato in seiner Rücksichtnahme auf den nimmersatten Glückseligkeitstrieb des Individuums so weit, daß er »neben den Gütern, welche die Gerechtigkeit selbst gewährt«,367 zuletzt doch nicht umhin kann, noch des »großen und herrlichen Lohnes« zu gedenken, den sie der Menschenseele bei Göttern und Menschen erwirbt im Leben, wie nach dem Tode!368

Der Gerechte im Sinne Platos begnügt sich nicht mit dem spinozistischen: beatitudo non praemium virtutis, sed ipsa virtus. Er erhebt vielmehr sehr entschiedene Ansprüche auf die besondere Gunst des Himmels. Er fühlt sich zu dem Glauben berechtigt, daß, »wenn er in Armut, Krankheit oder sonstiges Unglück verfällt, dies ihm im Leben oder[91] nach dem Tode zu irgendeinem Heile gereichen müsse«.369 Wird ihm doch – in der Regel wenigstens – selbst bei den Menschen der äußere Lohn seines Tuns nicht vorenthalten bleiben!

Wie der tüchtige Läufer das Ziel erreicht, den Siegespreis empfängt und bekränzt wird, so wird es auch dem Gerechten ergehen; er wird gegenüber dem Ungerechten die Siegespreise bei den Menschen, Ansehen, Ehre usw. davontragen. Und vollends nach diesem Leben, da harren seiner Preise, Belohnungen und Gaben, die jeden irdischen Maßstab übersteigen,370 namenlose Wonnen,371 während der Ungerechte jede Schuld mit zehnfachen Qualen büßen wird! – Kurz, die Tugend wird ebenso als Quelle äußeren, wie inneren Glückes erstrebt.372 Darum werden wir – heißt es im Schlußwort der Politie373 – die Gerechtigkeit mit Überlegung auf alle Weise üben, damit wir so mit uns selbst, wie mit den Göttern uns befreunden, und solange wir hier verweilen und nachdem wir die Preise derselben davontrugen, ringsumher wie bekränzte Sieger unseren Lohn einsammeln,374 kurz damit es uns sowohl hier, wie dort wohl ergehe.

Es ist derselbe Standpunkt, den der sterbende Sokrates im Phädon vertritt. Die Herrlichkeit der Seligen (μακάρων εὐδαιμονία) ist das Motiv, »um dessentwillen (ἕνεκα!) man alles tun muß, damit man im Leben der Tugend und der Vernunft teilhaftig werde. Denn schön ist der Preis und die Hoffnung groß.«375

Kann es etwas geben, was individualistischer gedacht wäre als diese Lohn- und Straftheorie, diese den Gedanken der Resignation möglichst von sich weisende Moral der Hoffnung und Furcht, die so ganz und gar in dem Sehnen und Wünschen des egoistischen Menschenherzens wurzelt, bei der alles sittliche Handeln Gefahr läuft, zu einer Politik der verständigen Eigenliebe zu werden? Durch diesen Wechsel auf die Sterne, durch den Hinweis auf den Ausgleich im Jenseits, auf die Fürsorge der Gottheit für den durch die Sittlichkeit zur Gottähnlichkeit sich erhebenden Menschen wird der Mensch als »Liebling der Götter«376[92] zuletzt doch wieder zum Mittelpunkt der Welt gemacht. Es triumphiert das schrankenlose Glückseligkeitsstreben des Individuums, das es nicht fassen will, daß der Mensch zugleich ein Stück Natur ist und als solches in seinem Dasein natürlichen Gesetzen unterliegt, die nur allzuoft seinen edelsten Bedürfnissen, seinen idealsten Forderungen eine unübersteigbare Schranke setzen.

Wer so individualistisch zu empfinden vermochte, der konnte in der Tat gegen das, was am Individualismus unzweifelhaft berechtigt ist, also auch gegen das Streben nach dem eigenen Wohlsein an und für sich nichts einzuwenden haben. Demgemäß handelt auch der platonische Mensch, »damit es ihm wohlergehe« (ἵνα εὐ πράττοι). Wohlsein aber heißt nichts anderes, als ein Zustand befriedigter Lustgefühle oder der Befreiung von Unlustempfindungen;377 und die Theorie der Lustgefühle gewinnt daher auch für Plato eine solche Bedeutung für Ethik und Politik, daß selbst der Entwurf des Idealstaates auf die Frage nach dem subjektiven Wert der Lustgefühle eingeht, welche die Befriedigung der verschiedenen Triebe, wie z.B. des Wissenstriebes, der Ehrbegierde, des Erwerbstriebes gewährt.378 Die mannigfachen durch diese Triebe bedingten Lebensrichtungen werden daraufhin geprüft, welche von ihnen die angenehmste und von Unlustgefühlen freieste sei (τίς τούτων τῶν βίων ἥδιστος, τὸ ἥδιον καὶ ἀλυπότερον).379

»Etwas seiner Natur nach so recht Menschliches – heißt es in den »Gesetzen«380 – sind die Gefühle der Lust und des Leides und die Begierden. Das Sinnen und Trachten aller Sterblichen ist mit Naturnotwendigkeit durch sie bedingt und beherrscht.« Daher haben auch die Menschen, wenn sie an die Aufrichtung von Gesetzen denken, dabei fast ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Freuden und Schmerzen zu richten, wie sie sich im Leben der Gesamtheit und im Gemüte des einzelnen Individuums erzeugen. Denn die Art und Weise, wie man aus diesen beiden ewig fließenden Quellen[93] schöpft, bedingt das Glück des Staates, wie des einzelnen Bürgers.381

Es ergibt sich aus alledem die Berechtigung eines individuellen Lebensideales, d.h. des Strebens nach dem denkbar schönsten Leben, dessen Vorzug – neben der Ehre, die es bringt – darin besteht, daß es »was wir alle erstreben«, während seiner ganzen Dauer mehr der Freude als des Leides gewährt.382 Da wir mit Recht wünschen, daß uns Lust zuteil werde383 oder daß in unserem Leben wenigstens die Lustgefühle überwiegen,384 so muß sich in dem glücklichsten Leben, dessen der Mensch fähig ist, mit den unentbehrlichen sittlichen Gütern auch das verbinden, was uns »lieb und angenehm ist«.385 Gerade ein sittliches Leben bewährt sich von diesem Standpunkte aus als das Bessere und Begehrenswertere, weil es »in bezug auf Leib und Seele angenehmer ist als ein der Schlechtigkeit ergebenes, weil die Tugend bewirkt, daß der gute Mensch ein glücklicheres Leben führt als der Schlechte«.386 Und Ähnliches gilt von der Erkenntnis, von der in einem früheren, eine ausführliche Theorie der Lustgefühle enthaltenden Dialog gerühmt wird, daß durch die mit ihr verbundenen Genüsse (αἱ τῶν μαϑημάτων ἡδοναί) eine vollkommenere Befreiung der Lust von der Unlust zu erreichen ist, als durch irgendwelche andere Genüsse.387 Ein der Erkenntnis geweihtes Leben wird in der Politie zugleich als das angenehmste (αἱ τῶν μαϑημάτων ἡδοναί) bezeichnet, weil die mit ihm verbundenen Lustgefühle nach Inhalt und Dauer alle andere Lust überträfen.388 Ohne die Süßigkeit dieser Lustempfindungen würde selbst das Leben des Denkers nicht lebenswert sein.389

Ist es nach alledem zuviel gesagt, wenn wir den Satz aufstellen, daß für diese Anschauungsweise der Wert des Lebens sich wesentlich mit nach dem Reinertrag an Lustgefühlen bestimmt.390 Es ist daher eine völlige[94] Verkennung des Standpunktes Platos, wenn derselbe von Zeller als Vertreter eines rein sozialen Eudämonismus (des ausschließlichen Strebens nach der Vollkommenheit des Ganzen) in einen kontradiktorischen Gegensatz gesetzt wird zu seinen modernen Nachfolgern, wie Thomas Morus und Fichte, als den Vertretern eines rein individualistischen Sozialismus (des Strebens nach der Beglückung des einzelnen).

Die Menschen des platonischen Idealstaates sind von demselben energischen Glücksbedürfnis erfüllt wie die Utopier des Morus und die Bürger des geschlossenen Handelsstaates. Sie denken gar nicht daran, gegenüber der Gesamtheit »allen persönlichen Wünschen zu entsagen« oder gar sich »zur Darstellung eines allgemeinen Begriffes zu läutern«. Ihr Empfinden und Handeln erscheint keineswegs ausschließlich altruistisch motiviert. Sie wissen zwar, daß das menschliche Einzelleben nicht schlechthin Selbstzweck sein darf, allein sie halten ebenso entschieden daran fest, daß es auch nicht schlechthin Mittel für die Förderung der Gattung oder eines menschlichen Gattungsverbandes, d.h. des Staates, sein könne. Daher beantwortet der platonische Mensch z.B. die Frage nach der Entstehungsursache des Staates mindestens ebensosehr vom Standpunkt des Individuums aus, wie von dem der Gattung. Er gibt nicht einmal zu, was doch selbst Individualisten, wie Grotius und Locke, annehmen, daß es ein uninteressierter Trieb, das Gattungsgefühl, der Sozialtrieb gewesen sei, welcher die Menschen zur staatlichen Gemeinschaft zusammengeführt habe. Der Staat entsteht ihm vielmehr recht eigentlich aus dem Selbsterhaltungsbedürfnis des Individuums, »da keiner von uns für sich selbst existieren kann, sondern jeder vieler anderer bedarf«.391 – »Indem der eine den anderen für verschiedene Zwecke zu Hilfe nimmt, versammelten wir – vieler Dinge bedürftig – viele Genossen und Helfer an einem Wohnort und legten diesem Zusammenwohnen den Namen Staat bei.«392 – Es ist also das Interesse, um »dessentwillen« – wie es ausdrücklich heißt – »wir einen Staat gründeten«.393 Die Individuen treten zu einer Gemeinschaft zusammen,[95] um einen Verkehr zu organisieren, der es ihnen ermöglicht, einander die Früchte ihrer Arbeit mitzuteilen;394 eine Mitteilung, bei der jeder – sei es als Gebender oder als Empfangender – eben am besten sein Interesse zu befriedigen glaubt.395 Die Individuen fügen sich in einen staatlichen Verband, weil sie wissen, daß »es so für sie selbst besser ist«.

Man sieht, Platos Politie zwingt durchaus nicht zu einem Verzicht auf die Frage: Was leistet der Staat für die Beglückung des einzelnen? Ebensowenig denken die Bürger des Gesetzesstaates an einen solchen Verzicht. Mit der Frage, wie der Staat am zweckmäßigsten einzurichten sei, verbinden sie unmittelbar die andere, wie der einzelne als solcher am besten zu leben vermöge.396 Und wenn selbst Fichte, »der strenge Moralphilosoph«, den Bürgern eines Sozialstaates verkündet, daß jeder »so angenehm leben soll, als er vermag«,397 so glauben auch die Bürger Platos Anspruch zu haben auf den βίος ἥδιστος, zu dem ihnen eben der Vernunftstaat der sicherste Führer zu sein verspricht, weil er mit dem öffentlichen zugleich das individuelle Glück verbürgt.398 Vom Standpunkt des platonischen Eudämonismus ist das Individuum genau ebenso zu der Frage berechtigt, in welchem Maße es seine Rechnung im Staate finde, wie etwa von dem Standpunkt des in dieser Hinsicht ganz individualistisch gedachten Systems des gesellschaftlichen Utilitarismus in der Formulierung Jherings. »Bekomme ich für meinen Einschuß ein entsprechendes Äquivalent, macht sich das, was ich dem Staate leiste, bezahlt in dem, was ich von ihm erhalte? Bekommen nicht andere im Verhältnis zu mir mehr, als ihnen gebührt, entspricht die Verteilung der Vorteile der staatlichen Gemeinschaft über sämtliche Mitglieder den Grundsätzen der Gerechtigkeit?«399 – all diese Fragen nach dem »Zweck im Recht« stellt sich auch der platonische Mensch.

Allerdings hat dieser individualistische Eudämonismus Platos nichts von vulgärem Hedonismus an sich. Alles Glücksstreben des einzelnen erhält hier unbedingt Regel und Richtschnur durch die Forderungen der Vernunft und Sittlichkeit. Allein ist das etwa bei Morus oder gar Fichte weniger der Fall? Und gehört nicht gerade das frohsinnige von dem gesundesten Individualismus erfüllte Völkchen der Utopier zu den eifrigsten[96] Verehrern Platos? Seine Schriften sind die gelesensten in Utopien, doch wohl ein Beweis dafür, wie nahe sich ihr Inhalt mit den Lebensidealen des Volkes berührt. In der Tat handelt und empfindet dasselbe in vielen Dingen ganz platonisch, und wenn auch in seiner Moralphilosophie und Lebenspraxis unter den Bedingungen menschlichen Glückes die äußeren Güter mehr zur Geltung kommen als in der theoretischen Wertung derselben bei Plato, so sind die Utopier doch weit entfernt, die Glückseligkeit im Sinne des Hedonismus der Sinnenlust gleichzusetzen. Vielmehr wird von ihnen ebenso entschieden wie von Plato der sehr verschiedenartige Wert der einzelnen Lustformen und der weitaus überwiegende sittliche Wert der geistigen Genüsse anerkannt. Auch sie »mischenden Honig der Lust mit dem klaren nüchternen Wasserquell der Einsicht«.400

Nichts könnte auf die ganze Tendenz des platonischen Staatsideals ein bedeutsameres Licht werfen als die Tatsache, daß der Vater des modernen Sozialismus und die Bürger seines Idealstaates – weit entfernt, sich in einem prinzipiellen Gegensatz zu Plato zu fühlen, wie man fälschlich angenommen hat – sich mit Begeisterung gerade zu den platonischen Lebensidealen bekennen. Wäre das nicht ein psychologisches Rätsel, wenn diese Ideale an sich schon und prinzipiell eine systematische Ertötung alles individuellen Lebens und Strebens bedeutet hätten?

In der Tat enthält denn auch die platonische Staatstheorie individualistische Züge genug, welche man nur darum übersehen hat, weil man unter dem Einfluß des extremen Individualismus der Aufklärung und des Naturrechtes die Grundanschauungen Platos von vorneherein in Bausch und Bogen verwarf und zu einem unbefangenen Durchdenken des einzelnen nicht fähig war. Die Menschen der Renaissance, welche die Antike noch nicht durch diese Brille ansahen, hatten auch dafür[97] ein scharfes Auge. So konnte es z.B. einem Thomas Morus unmöglich einfallen, sich deswegen, wie z.B. Zeller,401 im Gegensatz zur »hellenischen Staatsidee« zu fühlen, weil die Griechen »sich ein menschenwürdiges Dasein überhaupt nur im Staate zu denken wissen«, oder weil dieselben eine »Verletzung berechtigter Interessen der einzelnen überall da nicht anerkennen, wo das Staatsinteresse dieses fordert (sic!), überhaupt den Staat nicht für verpflichtet hielten, seinen Angehörigen ein größeres Maß von Rechten zu gewähren, als es seine eigenen Zwecke mit sich bringen«.402 In allen diesen Punkten hat eben Morus die Anschauung der Antike durchaus geteilt, ebenso wie die moderne Staatslehre. Wer dagegen noch so sehr im Banne des naturrechtlichen Individualismus steht, daß er, wie Zeller, dem Staate das Recht zur Beschränkung der Interessen und Rechte des Individuums in dem eben angedeuteten Umfang prinzipiell abspricht, wer mit Zeller von der »naturwüchsigen« Entwicklung der einzelnen und der Gesellschaft ein so befriedigendes Ergebnis erwartet, daß er sich ohne weiteres auf den »aus der freien Bewegung der einzelnen sich erzeugenden Gemeingeist« verlassen zu können glaubt und daher »eine selbständige Repräsentation der Staatsidee« für unnötig erklärt,403 wer sich sogar ein menschenwürdiges Dasein außerhalb des Staates denken kann,404 bei dem ist es nicht anders zu erwarten, als daß er bei Plato eben nur den denkbar extremsten Sozialismus zu sehen vermag, der das Individuum in jeder Beziehung grundsätzlich dem Staatsgedanken geopfert habe.

Hätte diese Auffassung recht, dann würde es überhaupt keinen Staat geben, der nicht auf einer Vergewaltigung des Individuums beruhte. Denn wo ist ein Staat, der ein »berechtigtes« Interesse der einzelnen gegen das Staatsinteresse, ein »Recht« des einzelnen gegen den Staat in Wirklichkeit anerkennt? Der Vorwurf, den Zeller vom Standpunkte einer falschen naturrechtlichen Metaphysik z.B. gegen Fichte erhebt, daß sein ganzes sozialistisches Gebäude einer »naturrechtlichen Grundlage« entbehre,405 ist gar kein Vorwurf. Denn der Staat kann ein »Recht« nur im Staat und durch den Staat anerkennen, kein »Gesetz«, das »mit uns geboren«; er kann nicht zugeben, daß ihm die einzelnen Individuen als souveräne Inhaber von ursprünglichen »Rechten« gegenüberstehen, die der Staat bereits vorgefunden und die er als[98] absolute Grenze seines Rechtes anerkennen müsse, zu dessen Schutz er von den einzelnen ins Leben gerufen sei. Der Staat würde sich selbst negieren, wenn er nicht grundsätzlich seine Befugnisse ebenso, wie die Pflicht des einzelnen zum Gehorsam als rechtlich unbegrenzt setzen würde, mag der Spielraum, den er der individuellen Selbstbestimmung gestattet, ein noch so ausgedehnter sein.406 Es kann also auch beim platonischen Staat nicht die Rede davon sein, daß er deswegen, weil er sein Recht als das höhere setzt, das Individuum grundsätzlich geopfert habe.

Übrigens ist ja Plato selbst so sehr ein Kind seiner Zeit und ihres sozialpolitischen Rationalismus, steht selbst so durchaus auf dem Boden einer naturrechtlichen Metaphysik, daß er, wenn auch kein Recht gegen den Staat, so doch naturrechtlich begründete Ansprüche des Individuums an den Staat entschieden anerkennt, wie bereits aus dem bisher Gesagten hervorgeht und später bei der Analyse seines Gerechtigkeits-, Freiheits- und Gleichheitsprinzipes noch deutlicher werden wird.

Nun ist freilich auch das Maß freier Betätigung, welches der Vernunftstaat dem einzelnen tatsächlich einräumt, überaus eng begrenzt. Er zwingt mit unwiderstehlicher Gewalt die Individuen in die festbestimmten Bahnen, welche durch die Staatsidee vorgezeichnet sind. Die Auffassung des Staates als eines einheitlichen Organismus ist bis zu der utopischen Forderung überspannt, daß ein absoluter Sozialwille die einzelnen Individuen zu einer sozialen Lebensgemeinschaft verschmelze, in der das Streben und Handeln selbständig empfindender und denkender Wesen genau ebenso harmonisch ineinandergreifen soll, wie die Funktionen der seelenlosen Teile eines organischen Naturganzen. Und dieses Ziel wird durch eine zentralisierte Staatsleitung zu erreichen versucht, welche alle Fragen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens von oben und von einer Stelle aus lösen, alles individuelle Sein und[99] Tun in die Sphäre staatlichen Einflusses und staatlicher Ordnung hineinziehen soll.

Allein selbst diese extrem-sozialistische Organisationsform, die sich zu ihrer Verwirklichung und Vervollkommnung des Individuums als unbedingt abhängigen Werkzeuges bedient, ist – was ihren Endzweck betrifft – keineswegs so konsequent anti-individualistisch gedacht, wie man gewöhnlich annimmt. Wenn man einmal von Fichte gesagt hat, »er sei zu sehr vom germanischen Geist entsprossen, um das Individuum ganz untergehen zu lassen in dem Getriebe der Maßregelung«,407 so kann man in ähnlichem Sinne auch von Plato sagen: Er ist viel zu sehr Hellene, er steht selbst zu sehr auf dem Boden der die ganze hellenische Ethik und Sozialphilosophie beherrschenden eudämonistischen Grundanschauung,408 als daß er sich eine vollendete Organisation des sozialen Ganzen zu denken vermöchte ohne die gleichzeitige Befriedigung des individuellen Glücksstrebens und der berechtigten Lebenszwecke der einzelnen, der allein wirklich lebenden, bedürfenden, fühlenden menschlichen Individuen. Es ist einer der Grundgedanken seines ganzen Systems, daß im Vernunftstaat stets der äußerste Zwang nur ein Zwang zum Glücke sein wird, – auch für den einzelnen!

Nun hat man allerdings im Sinne der herrschenden Auffassung gemeint: Der Sokrates der Politeia erkläre ja selber ausdrücklich, daß es in der Tat gar »nicht seine Absicht sei, einzelne glücklich zu machen, sondern das Ganze«.409 Allein kommt in dieser Formulierung der Sinn der betreffenden Stelle wirklich genügend zum Ausdruck?

Es handelt sich hier um die Widerlegung des Einwandes, daß die Philosophen und Krieger des Vernunftstaates nicht eben sehr glücklich (πάνυ τι εὐδαίμονες) zu nennen seien, da sie zwar den ganzen Staat in ihrer Gewalt, aber infolge ihres Verzichtes auf materiellen Besitz und Genuß keinen Vorteil von der Herrschaft hätten.410 Wäre die herkömmliche Beurteilung des platonischen Staates die richtige, so müßte Sokrates auf diesen Einwand einfach erwidern: »Da der Staat nur Selbstzweck, das Individuum einzig und allein dienendes Mittel für die Zwecke des sozialen Körpers ist, so hat es überhaupt keinen Anspruch auf Befriedigung seines eigenen Glücksstrebens im Staat und durch den Staat.« Wie lautet nun aber die Antwort in Wirklichkeit?

[100] Zunächst wird entschieden bestritten, daß von einem besonderen Glück der genannten Klasse nicht die Rede sein könne. Es wäre im Gegenteil unter solchen Lebensbedingungen nicht zu verwundern, wenn sie sogar des allerhöchsten Glückes teilhaftig würde! Es wird also die Aufwerfung des individuellen Glücksproblems keineswegs als unzulässig abgelehnt, sondern als berechtigt anerkannt. Was zurückgewiesen wird, ist nur eine einseitige Lösung dieses Problems zugunsten einer bestimmten Zahl von Individuen. Insoferne wird die Frage als falsch gestellt bezeichnet, als sie sich auf das Glück einer besonderen Klasse bezieht. Denn »nicht in der Absicht«, fährt Sokrates fort, gründen wir unseren Staat, daß ein einzelner Stand (ἕν τι ἔϑνος) vor allen (διαφερόντως!) beglückt sei, sondern daß es möglichst die ganze Gemeinde sei (ὅ τι μάλιστα ὅλη ἡ πόλις)411 d.h. die ganze Bürgerschaft.412 Es dürfen nicht einige wenige als Träger des im Staate zu verwirklichenden Glückes ausgeschieden werden.413 Daher wird die Frage noch bestimmter dahin formuliert: Soll die Hüterklasse so gestellt sein, daß in ihr das höchste Glück erwachse oder sollen wir mit Rücksicht auf den ganzen Staat erforschen, ob es in diesem sich finde?414 Der Staat soll nicht ein einseitig ausgebeutetes Machtmittel in der Hand der herrschenden Klasse sein, sondern eine möglichst allgemeine Glückseligkeit verwirklichen. Denn – so heißt es weiter – so wird er am meisten den Forderungen der Gerechtigkeit entsprechen;415 allerdings nicht in dem Sinn, daß jedermann einem schrankenlosen Genußstreben folgen kann, – das würde die bürgerliche Gemeinschaft selbst unmöglich machen,416 – sondern daß jedem einzelnen das zuteil wird, was ihm gebührt (τὰ προσήκοντα).417 Und an einer späteren Stelle, an der Plato wieder auf diese Erörterung zurückkommt, heißt es: Damit nicht ein Übermaß des Glückes auf eine Klasse sich häufe, sondern daß das Glück im ganzen Staate sich finde, müssen die Bürger so erzogen werden, daß sie einander gegenseitig an dem Nutzen teilnehmen lassen, den ein jeder der Gesamtheit bringen kann.418

[101] Wie groß allerdings der Anteil der einzelnen Klassen an der allgemeinen Glückseligkeit sein wird, läßt Plato dahingestellt. Er erklärt seine Aufgabe für gelöst, wenn es ihm gelungen ist, für den Staat die Organisationsform zu finden, welche diese allgemeine Glückseligkeit zu erzeugen vermag.419 Allein es wird dadurch an der ganzen Auffassung nicht das Geringste geändert. Denn dieser Verzicht liegt ja in der Natur der Sache selbst, d.h. in den unvermeidlichen Schranken, welche allem geschriebenen Recht gesetzt sind. Der »Gesetzgeber« ist eben von vorneherein nicht in der Lage, für die Verwirklichung der distributiven Gerechtigkeit im einzelnen genaue Normen aufzustellen, welche jede einmal fixierte rechtliche Ordnung zu sehr auf den Durchschnitt berechnet, zu wenig elastisch ist, um das suum cuique in idealer Weise verwirklichen zu können.420

Der Gesetzgeber, der seine Satzungen »für alle insgesamt« gibt, ist nicht imstande, genau jedem einzelnen das ihm Gebührende zuzuteilen« (ἀκριβῶς ἑνὶ ἑκάστῳ τὸ προσῆκον ἀποδιδόναι).421 Also nicht, weil er dem individuellen Glücksstreben jeden Anspruch auf Berücksichtigung abspricht, sondern im Gegenteil, um eine gerechte Befriedigung desselben zu ermöglichen, läßt der Verfassungsentwurf des Idealstaates die Frage seinerseits ungelöst. Denn sie soll deshalb nicht etwa überhaupt ungelöst bleiben! Gerade dazu hat ja der Vernunftstaat seine idealen Staatsmänner, die frei von den Fesseln des Irrtums und starrer Satzung jederzeit allen Bürgern »das nach Vernunft und Kunst Gerechteste zu gewähren«422 und jene Harmonie des öffentlichen und individuellen Glückes herbeizuführen vermögen, welche den Vernunftstaat zum besten Staate macht.

Und beruht nicht eben darauf auch die ganze Hoffnung Platos, den einzelnen auf dem Wege vernunftgemäßer Überzeugung zu freiwilliger Unterwerfung unter die Prinzipien des Vernunftstaates bestimmen zu können? Man vergegenwärtige sich nur das Argument, welches ihm als das überzeugungskräftigste erscheint. Es ist ein entschieden individualistisches!

Plato geht nämlich dabei von dem Satze aus, daß alle individuelle Fürsorge am meisten demjenigen gewidmet wird, was man liebt. Vor allem aber – meint er – lieben wir das, womit uns die engste Interessengemeinschaft[102] verbindet, oder – um mit Plato zu reden – für welches wir eben dasselbe ersprießlich halten, wie für uns selbst, und wovon wir glauben, daß es bei seinem Wohlergehen zumeist auch uns wohl ergehe und im gegenteiligen Falle schlecht.423 Das gilt aber nach Plato recht eigentlich vom Staat. Es ist also nicht einseitig die starre, nur Opfer heischende Pflicht, welche den einzelnen an das Gemeinwesen kettet, sondern zugleich die Sympathie, die aus der Zuversicht erwächst, daß er, indem er sich in den Dienst des Ganzen stellt, am besten zugleich für die eigene Wohlfahrt sorgt. Der Bürger des platonischen Staates ist überzeugt, daß es für ihn persönlich ebenso nützlich sei, wie für den Staat, wenn es vor allem mit dem letzteren gut bestellt ist.424

Selbst bei dem opferfreudigsten und idealgesinnten Element des Vernunftstaates, bei den philosophischen Regenten hält es Plato für notwendig, an die menschliche Selbstliebe zu appellieren. Es ist allerdings ein Opfer, welches der philosophische Denker bringt, wenn er von den seligen Höhen der Erkenntnis herabsteigen muß, um das, was er dort erblickt, auf die Sitten der Menschen zu übertragen, statt bloß der eigenen Vervollkommnung zu leben.425 Allein er bringt dieses Opfer doch nicht bloß aus Pflichtgefühl, sondern auch deswegen, weil er mit seinem persönlichen Glück in hohem Grade dabei interessiert ist.426 Auch auf diesem Wege findet er ja Freuden, die zur Vervollkommnung seines Daseins dienen. Denn eine isolierte Existenz, wie sie der Philosoph notgedrungen im Staate der Wirklichkeit führt, kann für ihn niemals die Quelle höchster Vollkommenheit und höchsten Glückes werden.427 Dazu bedarf es der Ergänzung durch eine glückliche Organisation der bürgerlichen Gemeinschaft, welche ihn selbst persönlich fördert, ihn »größer« macht, indem sie ihm eine erfolgreichere Arbeit an der eigenen Vervollkommnung, wie derjenigen der Allgemeinheit ermöglicht. Unter den bestehenden[103] Staaten gibt es nach Platos Ansicht auch nicht einen, der für die Entwicklung eines echt philosophischen Kopfes der rechte Boden wäre. Das hat zur Folge, daß die Philosophie selbst unter den bestehenden Verhältnissen am schwersten leidet. Sie artet aus und wird ihrem ursprünglichen Wesen entfremdet. Es geht ihr wie einem ausländischen Gewächs, das – in ein anderes Erdreich verpflanzt – endlich den üblen Einflüssen der neuen Heimat erliegt.428 Nur unter den Verhältnissen des Vernunftstaates findet die Philosophie den geeigneten Boden für ihr Gedeihen.

Der Vernunftstaat aber hat eine politische Organisation, die undenkbar ist, wenn nicht die »Philosophen« als die einzigen wahrhaft Befähigten die Regierung übernehmen. Und sie werden das um so lieber tun, weil sie damit zugleich schweres Unheil von sich selbst abwenden. Denn würden sie die Regierung minder Würdigen überlassen, so würden sie ein Leid über sich heraufbeschwören, das ihnen nur als eine schwere Züchtigung erscheinen könnte, nämlich den unerträglichen Zwang, Schlechteren gehorchen zu müssen, ihrem Haß und ihrer Verfolgung ausgesetzt zu sein.429 Die Vermeidung dieses Zwanges, überhaupt all der Übel, von denen sie im bestehenden Staat bedroht sind,430 wird geradezu als der Lohn bezeichnet, der für sie, wie überhaupt für alle zum Dienste des Staates Berufenen, das mit Recht begehrte Äquivalent ihrer Dienste bildet.431 Ja Plato geht sogar soweit anzuerkennen, daß ohne solch individuellen Antrieb die Besetzung der Ämter im besten Staat ihre Schwierigkeiten haben würde, weil sonst jeder es vorziehen würde, von anderen Nutzen zu ziehen, als sich selber durch deren Förderung Unruhe zu bereiten!432

Wie läßt sich mit dieser ganzen Anschauungsweise die Ansicht vereinigen, Plato habe es auf eine prinzipielle Negierung aller persönlichen Interessen abgesehen, er wisse nichts von einem Rechte der Persönlichkeit? Erkennt er nicht gerade ein solches »Recht der Persönlichkeit« ausdrücklich an, indem er sich selbst den Einwand macht, ob sein Staat den Regierenden nicht etwa ein Unrecht zufügt, dadurch daß er sie nötigt, statt des besseren Lebens, zu dem sie befähigt sind, ein schlechteres zu führen?433

[104] Die Gesetzgeber des Staates werden redend eingeführt, wie sie den einzelnen zu überzeugen suchen, daß eben das, was sie von ihm fordern, sein gutes Recht nicht beeinträchtigt.434 Sie stellen ihm vor, daß im bestehenden Staate allerdings von Natur und Rechts wegen die Philosophen sich nicht am politischen Leben zu beteiligen brauchen. »Denn hier erwachsen sie von selbst ohne Pflege von seiten der jeweiligen Regierung; und das Selbstwüchsige, das niemanden seine Ernährung verdankt, ist auch berechtigt (δίκην ἔχει), sich der Zahlung von Atzungskosten zu entschlagen. – Wir aber (d.h. die Gesetzgeber) ließen euch zu euerem eigenen und des Staates Besten,435 zu Weiseln und Königen wie im Bienenstock heranwachsen, besser und vollkommener ausgebildet, als jene (selbstwüchsigen Philosophen), und besser befähigt, euch an beidem (d.h. an Philosophie und Politik) zu beteiligen.« – So wandelt sich der gesetzliche Zwang in eine freiwillig übernommene Leistung, weil eben nur »Gerechtes Gerechten«436 anbefohlen wird, und diese unmöglich einen Anspruch an ihre Person zurückweisen können, den sie selbst als einen gerechtfertigten anerkannt haben.437

Aber auch der Beamte und Soldat ist keineswegs ein aller Subjektivität beraubtes blindes Werkzeug der Staatsgewalt. Auch sein Gehorsam wird wesentlich mit durch die Überzeugung verbürgt, daß das, was von ihm verlangt wird, nicht bloß dem Staat, sondern auch ihm selbst am nützlichsten ist,438 daß ihm ein Leben zuteil wird, weit schöner und besser, als das der Sieger von Olympia.439 Ein Leben, das frei ist von Nahrungssorgen und der entwürdigenden Abhängigkeit vom Reichtum,440, das er daher jedem anderen Leben vorziehen muß, wenn er nicht eine unverständige und jugendlich unbesonnene Ansicht von den Bedingungen der eigenen Glückseligkeit hat.441 So bringt auch der Beamte und Soldat aus freier Entschließung jedes[105] Opfer, weil er dafür nur größeres Glück eintauscht. Für ihn ist in der Tat, um mit Hesiod zu reden, die Hälfte mehr als das Ganze.442 Gerade durch den Verzicht gelangt er zur höchsten Glückseligkeit.443

Und was für die Organe des Staates gilt, das trifft nicht minder auch für die Regierten zu. Sie wissen, daß sie in einem Staate leben, in welchem das Gesetz allen Staatsangehörigen »verbündet« ist (πᾶσι τοῖς ἐν τῇ πόλει ξύμμαχος),444 daß es das Glück eines jeden und zwar ganz besonders der Regierten will445 und daß hier das Wohl und Wehe des einzelnen, seine Lust und sein Schmerz der sympathischen Teilnahme aller sicher sein darf. Sie wissen, daß sie das Mittel zur Herstellung der allgemeinen und damit ihrer eigenen Glückseligkeit, eine gute Regierung, nicht selbst zu erzeugen vermögen, und sie sind daher, soweit sie nicht Verblendung und Leidenschaft an der Erkenntnis ihrer wahren Interessen hindert, freiwillig damit einverstanden, daß ihnen diese Regierung durch andere zuteil wird. Eben deswegen, weil die richtige Einsicht in ihr eigenes Interesse den Bürgern dieses Staates sagt, daß es für jeden das Beste ist, sich der in der Regierung verkörperten Herrschaft der Vernunft unterzuordnen,446 entsteht hier jene allgemeine Überzeugung von der inneren Berechtigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung, jene spontane Hingebung an das Ganze, welche dem staatlichen und sozialen Leben sein harmonisches Gepräge gibt.

Man sieht, der platonische Idealstaat will seine Bürger nicht automatenhaft durch einen fremden Willen, d.h. ausschließlich durch die Zwangsgewalt des Staates bestimmen, sie zu bloßen Triebrädern im Mechanismus des Ganzen machen. Der Wille des Bürgers soll vielmehr ebensogut, wie durch die Gesamtheit, Inhalt und Richtung aus seinem eigenen Innern empfangen, das objektive und subjektive Moment zur Gestaltung des sozialen Lebens harmonisch zusammenwirken.

Diese Tendenz zeigt sich ja von Anfang an darin, daß neben der Idee der Gemeinschaft, die dem Ganzen das Seine zuweist und die Forderungen des Ganzen über die Ansprüche der Teile stellt, ein anderer wesentlich entgegengesetzter Gedanke sich wie ein roter Faden durch den ganzen Entwurf des Idealstaates hindurchzieht: die Idee der Gerechtigkeit, welche jedem einzelnen das Seine geben will.

Ein Kenner des menschlichen Herzens, wie Plato, sah sehr wohl ein,[106] daß keine große soziale oder wirtschaftliche Reform einzig und allein durch den Hinweis auf ihre Zweckmäßigkeit und gesellschaftliche Nützlichkeit den trägen Widerstand zu überwinden vermag, der sich ihr naturgemäß überall entgegenstellt. Er wußte, daß solche Forderungen, um zu zünden und die Geister in Bewegung zu setzen, an Empfindungen anknüpfen müssen, aus denen das Individuum selbst seine Lebensideale, die Vorstellungen über das »Seinsollende« zu schöpfen pflegt. Daher sucht sich der Idealstaat vor dem Bewußtsein der einzelnen durch den Hinweis darauf zu legitimieren, daß er mit seinen Forderungen möglichst dem entsprechen will, was sie selbst im innersten Herzen als das Seinsollende, d.h. als das Gerechte fordern müssen.

Indem er so die Idee der Gerechtigkeit als ein Fundamentalprinzip seiner eigenen Ordnung anerkennt, nimmt der Idealstaat ein unverkennbar individualistisches, wenn auch durchaus berechtigt- individualistisches Element in sich auf. Die Frage, ob bestimmte Einrichtungen und Handlungen gerecht oder ungerecht sind, bildet ja geradezu den Angelpunkt alles Individualismus. Vom individualistischen Standpunkt aus verlangen wir Gerechtigkeit, Proportionalität der Pflichten und Rechte, während die Gesamtheit und ihr Interesse in erster Linie Opfer fordert und nicht selten genötigt ist, die Folgerungen, die sich aus jenem Grundprinzip des Individualismus ergeben, zu bekämpfen oder abzuschwächen.447

Individualistisch, wie diese Idee der Gerechtigkeit, ist auch die der Freiheit, welche sich mit ihr in der Anschauungsweise Platos auf das innigste verbindet. Indem Plato sich bemüht, seine Forderungen vor dem Forum der individuellen Vernunft als eine Konsequenz der Gerechtigkeit zu erweisen, damit sie von allen Verständigen als Recht anerkannt und gewollt werden, zeigt er zugleich, daß der staatliche Zwang nicht sein letztes Wort ist, daß es ihm vielmehr um eine freiwillige Unterordnung des einzelnen unter das Ganze zu tun ist. Der rechtlich bestehende Zwang soll für alle einsichtsvollen Elemente des Idealstaates tatsächlich entbehrlich werden, indem die äußere gesetzliche Norm zu einem freiwillig befolgten Glaubenssatz wird, der im Gemütsleben[107] des Volkes selbst Wurzel geschlagen hat. Der platonische Staat will über freie Geister herrschen, nicht über knechtische.

Daher heißt es von der wahren Staatskunst im »Staatsmann«, daß sie, im Gegensatz zum Despotismus eine Herrschaft über Freiwillige sei (ἐπιμέλεια ἑκούσιος καὶ ἑκουσίων);448 sie soll eine Herrschaft sein, die mit Lust geübt und der mit Lust gehorcht wird (ἑκόντων ἑκοῦσα ἄρχει), während in den gegenwärtigen Staaten das Bestehen jeder Regierung stets mit einem gewissen Zwang (σὺν ἀεί τινι βίᾳ) verbunden sei und nur die Regierenden selbst zu befriedigen vermöge, bei dem Beherrschten dagegen nur Empfindungen des Widerwillens erwecke.449 Die Aufgabe aller Gesetzgebung geht daher dahin, daß der Staat ein wahrhaft freier werde, d.h. von aller Zügellosigkeit ebensoweit entfernt sei, wie von jeder Überspannung staatlichen Zwanges, die auch nach Platos Ansicht nur schädlich wirken kann.450

Plato lehnt ausdrücklich den Vorwurf ab, daß der Zwang, den die Verwirklichung seiner Staatsidee dem Individuum auferlegt, weniger berechtigt sei, als derjenige, welchen die bestehenden Staatsordnungen, sei es Plutokratie oder Demokratie, ausüben. Ist etwa der Zwang – fragt er –, den ein unwissender Reicher oder Armer übt, mehr oder weniger gerecht oder ungerecht, als wenn er von dem sachverständigen Staatsmann kommt? Ist nicht vielmehr dies das Entscheidende, daß die staatliche Praxis das Richtige trifft, daß die Wohlfahrt der Regierten den Händen einer weisen und guten Regierung anvertraut ist?451

Indem eben die Regierung das Bedürfnis der großen Mehrheit, die nicht selbst herrschen kann, wahrhaft befriedigt, wird ihre Herrschaft nicht als ein Zwang empfunden. Die einsichtsvollen Bürger des Vernunftstaates würden sich auch bei freier Wahl keine andere Regierung geben, als eben diese, so daß hier das tatsächliche Endresultat kein anderes ist, als wenn die Regierung aus dem Willen aller hervorgegangen wäre, vorausgesetzt, daß der Wille der Verständigen für die Mehrheit bestimmend ist. Der Staat wird zu einem freien Staat, weil hier die Staatsgewalt und die Staatsordnung gestützt und getragen wird durch den einheitlichen Gesamtwillen des Volkes, weil sie der freiwilligen Zustimmung (ξυμφωνία) aller Klassen, der Starken wie der Schwachen, der geistig Höchststehenden wie der Niedrigsten sicher sein darf.452 Den Gehorsam, den der einzelne der Staatsgewalt leistet, leistet er in dem Bewußtsein, daß ihm nichts auferlegt wird, was nicht auch durch den[108] Willen aller Verständigen gefordert, ja durch die Vernunft und die Natur der Dinge selbst vorgezeichnet ist.453

Da der einzelne nur das will, was seiner Individualität angemessen ist (τὸ προσῆκον), so kommt er im Idealstaat nicht in Konflikt mit der wahren Freiheit, sondern nur mit der inneren Unfreiheit, der Verblendung durch Selbstsucht und Leidenschaft, welche den Menschen über die Postulate seiner eigenen sittlich-sozialen Natur täuscht. Denn aller Zwang wirkt ja hier genau in derselben Richtung wie die wahrhaft freie Selbstbestimmung.454 Jeder einzelne wird durch den staatlichen Machtwillen in der Verfolgung der seinem eigensten Wesen und Beruf entsprechenden Ziele in keiner Weise gehemmt, sondern vielmehr systematisch gefördert. Indem hier jedem nach seinen physischen und geistigen Anlagen der Beruf zugänglich gemacht wird, der seiner Individualität am besten entspricht, in dem er daher auch seine Befriedigung findet, wird recht eigentlich jede Individualität auf den ihr ausschließlich zusagenden Weg geleitet und dadurch wahrhaft frei gemacht. – »Denn, – um ein schönes Wort von Lagarde zu gebrauchen, – frei ist nicht, wer tun kann, was er will, sondern wer werden kann, was er soll.«

Enthält die im Idealstaat verwirklichte Unterwerfung aller unter die Herrschaft der Vernunft schon negativ eine Befreiung insoferne, als sie den Menschen von der Herrschaft der Leidenschaft, der zweck- und ziellosen sich selbst unklaren Willkür befreit, so verwirklicht sich hier anderseits eben jene positive höhere Freiheit, indem jeder einen inhaltsvollen und in seinem Werte anerkannten Kreis der Tätigkeit erlangt, in welchem er sein individuelles Wesen entfalten kann, soweit es der Anspruch der anderen auf gleiche Entfaltung ihrer Persönlichkeit gestattet. Da endlich die Bürger zugleich gelernt haben, diesen individuellen Beruf als einen sozialen aufzufassen, so bedarf es für alle verständigen, der vernünftigen Überredung (πειϑώ) zugänglichen Elemente nicht des äußeren Zwanges. Sie stellen sich freiwillig in den Dienst dieses Berufes. Das, was ihre Bestimmung ist, wird, wie schon Hegel treffend bemerkt hat,455 zum eigenen Wollen der Individuen.

Indem aber so jedem die Möglichkeit erschlossen wird, nach seiner[109] besonderen Anlage und Neigung zum Werke des Ganzen beizutragen und damit zugleich den Platz innerhalb der Gemeinschaft zu erringen, der seinem Werte für das Ganze entspricht, wird mit der wahren Freiheit zugleich auch die wahre Gleichheit verwirklicht. Auch die Idee der Gleichheit hängt, wie die der Freiheit, aufs engste mit der Gerechtigkeitsidee zusammen. Der spezifische Begriff der Gerechtigkeit, der hier vor allem in Betracht kommt, ist der der verteilenden Gerechtigkeit. Derselbe verlangt Verhältnismäßigkeit zwischen den Leistungen und den Gütern, die zu verteilen sind. Sie will das Gleiche gleich, das Ungleiche ungleich behandelt wissen, so daß kein einzelnes Glied der Gemeinschaft zu viel, das andere zu wenig erhält. Dieser Forderung unseres individuellen Bewußtseins wird Plato dadurch gerecht, daß er die Gleichheit der Demokratie, welche »Gleichen und Ungleichen in demselben Maße Gleichheit zuteil werden läßt«, als eine Vergewaltigung des Individuums verwirft456 und ein Gleichheitsprinzip proklamiert, »welches dem Überlegenen mehr, dem Schwächeren weniger, d.h. jedem das seiner Natur Angemessene zuteilt« und zu gleichen Funktionen nur Gleiche, zu ungleichen aber nur Ungleiche beruft.457 Jene absolute Gleichheit würde dem Prinzip der Gerechtigkeit widersprechen, welche eben nur eine relative Gleichheit kennt, – relativ der ungleichen Individualität. – So wird auch hier die Individualität nach den Intentionen Platos wenigstens wieder in ihr Recht eingesetzt.

Wer wollte verkennen, daß in diesen Punkten die platonische Staatslehre sich mit der Rechtstheorie des modernen Individualismus berührt? Wie diese bekleidet auch die platonische Sozialphilosophie das Individuum mit unveräußerlichen und unzerstörbaren Rechten, mit Naturrechten und ebenso mit Naturpflichten. Die Stellung, welche das Individuum im Staate einnimmt, sei es herrschend oder dienend, ist eine naturrechtlich begründete (προσήκει φύσει!). Auch die allgemeine Rechtsordnung des Vernunftstaates legitimiert sich vor dem individuellen Bewußtsein dadurch, daß sie von der Vernunft als naturgemäßes Recht erkannt wird, als νόμος κατὰ φύσιν,458 daß sie der natürlichen Gerechtigkeit entspricht, deren Verwirklichung geradezu als der Endzweck des Vernunftstaates bezeichnet wird (οὗ ἕνεκα πάντα ζητοῦμεν!).459

[110] Mit diesem Gerechtigkeitsprinzip verwirklichen sich von selbst auch die grundlegenden Ideale des Naturrechts: die »wahre« Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Auflösung der Interessengegensätze in einer vollendeten Interessenharmonie, die Rückkehr zu der paradiesischen Welt der Eintracht, welche die Geschichtsphilosophie Platos ja genau ebenso an den Anfang der Geschichte stellt und genau ebenso als ideales Ziel derselben festhält, wie Grotius und Locke. Allerdings sieht Plato das Mittel zur Verwirklichung dieser Ideale nicht in der politischen Emanzipation des Individuums, sondern in einer absoluten Staatsgewalt; allein diese grundsätzliche Verschiedenheit darf uns doch über die tatsächlich vorhandenen individualistischen Elemente seiner Staats- und Sozialtheorie nicht hinwegtäuschen.

Man sieht, eine unbefangene Erwägung aller in Betracht kommenden Momente führt zu Ergebnissen, welche mit den bisherigen Anschauungen über den platonischen Staat vielfach in Widerspruch stehen. Sie zeigt, daß der Sozialismus Platos keineswegs in einem kontradiktorischen Gegensatz zum Individualprinzip an sich steht, dasselbe vielmehr innerhalb gewisser Schranken als berechtigt anerkennt. Zwar geht Plato von den Pflichten gegen die Gesamtheit aus, aber er sucht auf der anderen Seite auch dem Individuum und den Forderungen des individuellen Bewußtseins gerecht zu werden. Er wendet sich nicht bloß an das sittliche Gefühl, sondern zugleich an den Intellekt, indem er den prinzipiellen Wert seines Idealstaates darin erblickt, daß hier jeder, indem er für das Ganze sorgt, am besten zugleich für sich selber sorgt. Es ist mit einem Wort die Koinzidenz der beiden Prinzipien, – des sozialistischen und des individualistischen, – das sich als das letzte Ergebnis der platonischen Staatstheorie herausstellt. Von der Übereinstimmung der Bürger über das, »was das Herrschende sein soll im Staat und in der Seele des einzelnen« erwartet Plato, daß hier alle Verständigen das, was ihre Pflicht gegenüber der Gesamtheit ist, freiwillig tun werden, daß sie wollen werden, was sie sollen.460 Eine Koinzidenz von Freiheit und Zwang, bei der jeder seinen Vorteil findet, weil er ihn eben richtig versteht. Die Grundlage des ganzen Staatsgebäudes ist die durch die systematische Erziehung und Belehrung der Regierenden und der Regierten erzielte moralische und intellektuelle Bildung, welche nötig ist, um jene Koinzidenz herbeizuführen.

[111] Damit bestimmt sich auch die Stelle, welche der platonische Idealstaat in der Geschichte der sozialpolitischen Idealbilder einnimmt.

Er berührt sich durch dieses sein Grundprinzip aufs engste mit einer der ältesten und erhabensten Utopien, der Schilderung eines goldenen Zeitalters, wie wir sie bei Jesaja lesen.461 Wenn die Herrschaft des Mammons gebrochen, wenn der Herr die Tarsisschiffe der reichen Kauffahrer vernichtet haben wird, dann wird er ein Reich des Glückes und des Friedens ins Dasein rufen, dessen Verwirklichung eben darauf beruht, daß »von Zion ausgeht Belehrung und das Wort Jehovas von Jerusalem«. »Nichts Böses und nichts Verderbliches tun sie auf meinem ganzen heiligen Berge, denn voll ist das Land von Erkenntnis Jehovas, wie die Wasser das Meer bedecken.«

Ist es nicht genau dieselbe utopische Voraussetzung, auf der sich dieses Ideal des Sehers, wie der von der Erkenntnis beherrschte Vernunftstaat Platos aufbaut? Die Voraussetzung, daß die Menschheit, wenn sie die wahren Wege, die sie wandeln soll, erkannt hat, notwendig auch zu einem glückseligen Dasein gelangen muß?

Ja noch der modernste sozialistische Utopismus, der sich die Gesellschaft auf der Grundlage von Arbeiterassoziationen organisiert denkt, ist mit psychologischer Notwendigkeit gezwungen, an die platonische Koinzidenz von Sozial- und Individualprinzip zu appellieren. Wenn diese Assoziationen überhaupt leistungsfähig sein sollen, muß jedes ihrer Mitglieder von der Überzeugung durchdrungen sein, daß sein persönliches Interesse mit dem der Gemeinschaft durchaus identisch ist. Jeder Genosse muß der selbstgewählten Leitung ebenso freiwillig gehorchen und die Pflicht zu höchstmöglicher Leistung ebenso bereitwillig auf sich nehmen wie der Bürger des – platonischen Idealstaates. Eine Forderung, hinter der das heutige intellektuelle und moralische Niveau der Masse ebensoweit zurückbleibt, wie hinter der Ethik des Vernunftstaates.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 84-112.
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