Fünfter Abschnitt.
Das Fragment des aristotelischen Staatsideals

[245] Wie wir sahen, hatte die platonische Sozialphilosophie auf die Verwirklichung der letzten und äußersten Konsequenzen der sozialistisch-organischen Auffassung von Staat und Gesellschaft zwar so gut wie verzichtet, dieselbe aber doch grundsätzlich als das Ideal festgehalten, zu welchem die Idee der Gemeinschaft mit logischer Notwendigkeit hindrängt. Bei Aristoteles wird der tatsächliche Verzicht zu einem grundsätzlichen.

Obgleich auch er die Beurteilung der staatlichen Gebilde nach der Analogie physischer Organismen vollkommen billigt,875 ist er doch nicht gewillt, diesen Vergleich mit Plato bis zu der Schlußfolgerung zu überspannen, daß die Einheitlichkeit des physischen Organismus als Muster und Vorbild für die idealste Form staatlicher Gemeinschaft zu betrachten[245] sei. Für Aristoteles ist es von vorneherein eine naturwidrige Übertreibung des Gemeinschaftsprinzips, wenn Plato eine derartige Vereinheitlichung des sozialen Organismus für möglich oder auch nur für begehrenswert hält.

Aristoteles weist darauf hin, daß der Staat seiner Natur nach aus einer Vielheit besteht,876 die nur in gewissen Beziehungen zur Einheit werden kann und soll,877 weil sie aus Elementen zusammengesetzt ist, die unter sich verschieden sind; eine Verschiedenheit, welche die von Plato erträumte Einheitlichkeit des Fühlens, Denkens und Wollens unmöglich macht.878

Wenn Plato die soziale Harmonie (συμφωνία) seines Idealstaates mit dem Zusammenklang der Töne vergleicht, so meint Aristoteles, eine Einheitlichkeit, wie die platonische, würde die Symphonie zur Monotonie, die rhythmische Komposition zu einem einzigen Takt umwandeln,879 d.h. statt des harmonischen Zusammenwirkens individuell verschiedener und gerade dank dieser Verschiedenheit nach gegenseitiger Ergänzung strebender lebendiger Kräfte, würde eine rein mechanische Einförmigkeit, eine leblose Monotonie entstehen, während doch die Harmonie nicht darin besteht, daß immer derselbe Ton, sondern im Einklang viele Töne angeschlagen werden.

Vortrefflich hat diese aristotelische Anschauung Montesquieu formuliert: »Was man die Einheit eines Staatskörpers nennt – sagt er in der Schrift von den Ursachen der Größe und des Verfalles der Römer880 –, ist etwas sehr Zweideutiges. Die wahre Gestalt derselben ist eine Einheit der Harmonie, welche schafft, daß alle Teile, wie entgegengesetzt sie uns erscheinen mögen, zusammenwirken zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft, wie in der Musik Dissonanzen sich auflösen in der Harmonie des Hauptakkords. Es ist damit, wie mit den Teilen des Universums, die ewig verknüpft sind durch die Aktion der einen und die Reaktion der anderen.«

Wenn aber die individuelle Verschiedenheit der einzelnen Persönlichkeiten, aus denen die Gesellschaft sich zusammensetzt, eine Einheitlichkeit verbietet, in der – um mit Rodbertus881 zu reden – alles individuelle[246] Leben zu sozialem Leben zusammenschmilzt und die Gesellschaft personifiziert ist zu einem Willen, einer Einsicht, einer Gewalt – das Analogon des Menschen –, so verbietet dieselbe Artverschiedenheit nach der Ansicht des Aristoteles auch die mechanische Nivellierung, welche der platonische Sozialismus durch die Aufhebung des Individualeigentums und der Einzelehe herbeizuführen sucht, um jene Einheitlichkeit auf die denkbar höchste Ausbildungsstufe zu erheben. Die Bedürfnisse der einzelnen Individuen und die Arten des Genusses, in denen sie Befriedigung finden, sind überaus verschieden; und nicht minder ungleich sind die Leistungen und die Ansprüche, die der einzelne eben auf Grund dieser Ungleichartigkeit der Arbeitsleistung zu stellen berechtigt ist.882 Eine Schwierigkeit, die auf der Grundlage der Gütergemeinschaft niemals gelöst werden kann, ganz abgesehen davon, daß gerade die Gemeinschaft hier leicht zu einer Quelle von Entzweiungen werden kann, zu denen bei Individualwirtschaft und Individualbesitz kein Anlaß ist.883

Auch insofern wird die Gütergemeinschaft dem Individuum nicht gerecht, als »die von der Natur einem jeden eingepflanzte« und eben darum berechtigte Liebe zu sich selbst das Verlangen nach Erwerb und Besitz persönlichen Eigentums naturgemäß in sich schließt. Die Abschaffung des Privateigentums würde den Menschen des »unsäglichen Genusses« berauben, den es für ihn hat, irgendetwas sein eigen nennen zu können.884 Er würde überhaupt so vieler und so großer Güter verlustig gehen, daß es für ihn geradezu unmöglich sein würde, das Leben in einem solchen Zustande zu ertragen.885

Mit der gleichen Entschiedenheit, mit der hier auf sozialökonomischem Gebiet vom Standpunkt des Individuums aus der Überspannung des sozialistischen Gedankens entgegengetreten wird, kommt das individualistische Moment zur Geltung bei der Haupt- und Grundfrage aller staatlichen Organisation, der Frage nach dem Träger und der Ausübung der Souveränität.

Vom Standpunkt des Ganzen aus, im Interesse der Einheitlichkeit des Staates und einer technisch möglichst vollkommenen Staatstätigkeit[247] ist es jedenfalls besser, wenn »immer dieselben herrschen«, als wenn die Träger der Amtsgewalt beständig wechseln. Aristoteles gibt dies ausdrücklich zu.886 Trotzdem läßt er in seinem »besten Staat« alle Bürger in regelmäßigem Wechsel zur Regierung und zu den Ämtern berufen werden. Und welches ist das Motiv? Ein entschieden individualistisches!

Unter den Vollbürgern des aristotelischen Idealstaates besteht in sozialökonomischer wie in sittlich-intellektueller Hinsicht ein hohes Maß von Gleichheit. Darin schließt er sich durchaus dem platonischen Gesetzesstaat an. Wie in diesem, so ist auch in ihm Bürger nur derjenige, welcher die volle Muße zur Entwicklung all seiner Anlagen und zu hingebender politischer Tätigkeit besitzt, während die Bebauer des Bodens Leibeigene oder Hintersassen von ungriechischer Herkunft sind887 und ebenso, wie auch die handel- und gewerbetreibenden Klassen, vom Bürgerrecht ausgeschlossen bleiben.888 Alle Bürger erfreuen sich der gleich gesicherten und ausreichenden wirtschaftlichen Existenz, indem jeder einen gleich großen Anteil am Grund und Boden des Landes besitzt.889 Alle haben das gleiche Ziel und den gleichen Beruf: die Ausbildung zu höchster sittlicher und geistiger Tüchtigkeit, zu welcher der Staat ihnen in seinem für alle gemeinsamen Erziehungs- und Unterrichtssystem die gleiche Möglichkeit gewährt.890

Die durchschnittliche Gleichwertigkeit nun der Individuen als Menschen und Bürger, welche der beste Staat auf diese Weise zu erzielen hofft, wird bei Aristoteles zum Ausgangspunkt für die Behandlung des ganzen Verfassungsproblems. Nicht einseitig aus dem Recht und dem Interesse des Ganzen leitet er bei der Konstruktion der Verfassung des besten Staates seine Deduktionen ab; er geht vielmehr aus von der angedeuteten Gleichwertigkeit der Individuen und ihrem daraus abgeleiteten Anspruch auf die gleiche Beteiligung aller an der Herrschaft.

Wo alle Bürger in wesentlichen Stücken von gleicher Beschaffenheit erscheinen, wie es im besten Staate in Beziehung auf allgemeine Bürgertugend der Fall ist, da fordert die Gerechtigkeit, kraft deren[248] Gleichen Gleiches zuteil werden muß,891 daß alle ohne Unterschied an der Herrschaft Anteil erhalten, mag dies nun für die Ausübung derselben ein Vorzug oder ein Nachteil sein.892

Nicht minder bezeichnend für die individualistische Tendenz dieser Organisation ist der Hinweis darauf, daß die genannte Gleichheitsidee zugleich der allgemeinen Anschauungsweise entspreche.893 In dieser Hinsicht besteht zwischen dem Verfassungsprinzip des besten Staates und dem der Oligarchie, wie der Demokratie kein Unterschied. Und es wird ausdrücklich anerkannt, daß eben durch dies Prinzip auch die letzteren Staatsformen »sich der wahren Gerechtigkeit nähern«. Wenn ihnen das nur bis zu einem gewissen Grade gelingt und sie nicht die ganze und volle Gerechtigkeit erfassen,894 so liegt dies nur daran, daß die Vertreter der Oligarchie wie der Demokratie sich über das, was die einzelnen gleich oder ungleich macht, in einer Täuschung befinden. Jene glauben, wenn gewisse Individuen in einer Hinsicht ungleich seien, nämlich an Besitz, so seien sie damit überhaupt schon ungleich; die Demokraten dagegen, wenn dieselben in einem Punkte gleich seien, nämlich in bezug auf persönliche Freiheit, so seien sie damit schon überhaupt gleich.895 Der beste Staat dagegen hat den richtigen Maßstab gefunden für das, was die Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen ausmacht, auf die es bei Verteilung der Rechte und Güter im Staate ankommt.896 In dieser richtigen Bestimmung des Inhalts des Gleichheitsprinzips, nicht in Beziehung auf den grundsätzlichen Ausgangspunkt selbst unterscheidet er sich von den unvollkommenen Staatsordnungen der Wirklichkeit.

Allerdings werden mit Rücksicht auf den Staatszweck im besten Staat die Ämter, überhaupt öffentliche Funktionen, nicht allen ohne Unterschied, sondern erst den Männern im reiferen Lebensalter zugänglich, das dem Staate eine größere Bürgschaft für Wissen und Können[249] gewährt.897 Allein gerade darin liegt auch wieder nur eine Verwirklichung des Gleichheitsprinzips, welches eben jedem das ihm Gebührende gewährt und daher die durch den Altersunterschied bedingte Verschiedenheit der Leistungsfähigkeit notwendig mit berücksichtigen muß. Auch ist diese Scheidung eine naturrechtlich begründete. Denn sie entspricht dem von der Natur selbst geschaffenen Gegensatz zwischen zwei Generationen, von denen es der älteren geziemt zu befehlen, der jüngeren zu gehorchen. Daher empfindet es auch niemand als eine Rechtsverletzung, um seiner Jugend willen gehorchen zu müssen, zumal wenn er weiß, daß er selbst einst den Ehrenvorzug zu befehlen erhalten wird, sobald er das geeignete Alter erreicht hat.898 Und das ist eben im besten Staate der Fall. Denn das Gleichheitsprinzip ist hier so strenge durchgeführt, daß die durch ihr Alter zum Amt Befähigten und insofern einander Gleichen stets einander weichen müssen, d.h. daß kein Amt dauernd in derselben Hand bleibt, sondern bald diesem, bald jenem Bürger zugänglich wird. »Alle haben in gleicher Weise Anteil am abwechselnden Herrschen und Beherrschtwerden.«899

Mit der Anerkennung des Gleichheitsprinzipes ist übrigens nur ein Teil der Ansprüche befriedigt, welche vom Standpunkt des Individuums aus an den Staat gestellt werden. An derselben Stelle, wo Aristoteles die Naturgewalt betont, welche die Menschen instinktiv in die staatliche Gemeinschaft hineinzwingt, fügt er die bedeutsamen – noch[250] keineswegs hinlänglich gewürdigten – Worte hinzu: »Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß nicht auch der gemeinsame Nutzen sie zusammenführt, insoferne ja auf jeden einzelnen ein Anteil an der Vervollkommnung und Glückseligkeit des Daseins kommt (welches eben nur im Staate erreichbar ist). Vielmehr ist dies gerade das eigentliche Ziel, welches sie alle in Gemeinschaft und jeder einzelne (in der staatlichen Vereinigung) verfolgen.«900 Das Streben nach Glück, nach Lust im weitesten Sinne des Wortes ist für Aristoteles ein alles durchdringender Naturtrieb. »Ganz augenscheinlich flieht die Natur das Schmerzhafte und begehrt das Angenehme.«901 – Das Mittel aber zur idealsten Befriedigung dieses Strebens nach dem »εὐ ζῆν« ist die Verfassung des besten Staates.902

Kann das individuelle Interesse klarer zum Ausdruck gebracht werden? Der Trieb des Individuums nach Erhaltung und Glückseligkeit ist es, dessen Befriedigung durch den Staat als das Ziel der Natur selbst erscheint. Derselbe Trieb, der die niedrigeren Formen menschlicher Gemeinschaft, Familie und Gemeinde, erzeugt hat, führt die Menschen zu einem umfassenden staatlichen Verband zusammen, weil erst der Staat die möglichst vollkommene Erreichung ihrer Lebenszwecke verbürgt.903 Daher erscheinen auch diejenigen staatlichen Institutionen, welche den Wohlfahrtszweck befriedigen, als gerecht, diejenigen, welche ihm widersprechen, als ungerecht.

Das Verlangen nach Glückseligkeit, »die ja das höchste Gut ist«, beherrscht so sehr alles Leben und Streben der Menschen im Staat, daß man geradezu sagen kann: In ihm ist die letzte Ursache davon zu suchen, daß es verschiedene Arten von Staat und von Staatsverfassung[251] gibt. »Denn indem die Menschen auf verschiedene Weise und mit verschiedenen Mitteln jenem Zwecke nachjagen, rufen sie dadurch auch eine Verschiedenheit der Lebensrichtungen und der Staatsverfassungen hervor.«904 Das Kriterium des besten Staates aber wird demgemäß darin bestehen, daß er seine Bürger auf den richtigen Pfad zum Glücke führt und so eben das erreicht, was die anderen mehr oder minder vergeblich erstreben. Wie die wahre Gleichheit, so verwirklicht er auch das wahre Glück. In ihm ist es in der Tat »mit jedem einzelnen aufs beste bestellt, führt ein jeder ein glückliches Leben«.905

Ja dieser individualistische Ideengang wird von Aristoteles soweit verfolgt, daß da, wo eine weitgehende Gleichheit zwischen den einzelnen Bürgern besteht – wie in der Vollbürgerschaft des besten Staates –, ein Recht auf möglichst gleichmäßige Befriedigung ihres Glückstrebens anerkannt wird. Das äußere materielle Substrat eines glücklichen Daseins, der Besitz, ist unter sie gleich verteilt, nicht bloß weil es im Interesse der Erhaltung des Staates ist,906 sondern ebensosehr deshalb, weil es die Gleichheit und damit die Gerechtigkeit so erfordert.907 »Die Glieder der staatlichen Gemeinschaft verdienen entweder gar nicht den Namen von Staatsbürgern oder aber sie müssen auch alle den Mitgenuß an den Vorteilen derselben haben.«908

Trifft auf diese Anschauung nicht in gewissem Sinne eben das zu, was man neuerdings als spezifisches Kennzeichen eines »individualistischen Kommunismus« hingestellt hat?909 Verlangt nicht Aristoteles ebenso wie dieser Kommunismus, daß der Staat für die Individuen Ursache[252] eines bestimmten Lebensinhaltes werde, ein Gemeingut, an dessen realen Nutzungen alle Individuen einen gleichen Anteil haben sollen, ein gleiches Mittel für alle zur möglichst gleichen Befriedigung der Interessen aller? Wird nicht auch hier aus der Gleichwertigkeit der Individuen direkt ein Anspruch auf ein bonheur commun gefolgert? Daß der Kreis der Individuen, für welche diese letztere Deduktion gilt, ein beschränkter ist, weil die im besten Staate erstrebte Glückseligkeit von vorneherein nur für die Bürger desselben erreichbar erscheint, macht doch für die prinzipielle Auffassung keinen Unterschied. Die ganze Schlußfolgerung ist darum nicht minder individualistisch. Und ebensowenig verliert sie diesen Charakter dadurch, daß das Glücksziel hier ein hohes und ideales und ein wesentlich anderes ist, als der vulgäre Hedonismus, um den es sich bei jenem Kommunismus handelt.

Insoferne besteht allerdings ein bedeutsamer Unterschied, als Aristoteles natürlich sehr weit von der einseitigen und ausschließlichen Deduktion aus dem Individualinteresse entfernt ist, wie sie die eben nur im Individualismus wurzelnde Anschauungsweise jenes modernen Kommunismus kennzeichnet. Mit der Deduktion aus dem Einzelinteresse geht überall diejenige aus dem Sozialinteresse Hand in Hand.

Wenn der Staat den Anspruch des Individuums auf die Befriedigung seines Gleichheits- und Glückstrebens anerkennt, so tut er dies nicht allein deswegen, weil er damit eben dem einzelnen gerecht wird, sondern zugleich im Interesse des Ganzen, weil diese Gerechtigkeit gegenüber dem einzelnen zugleich »ein Gut für den Staat und dem Gemeinwohl förderlich« ist.910 Der Staat selbst »will möglichst aus gleichen oder ähnlichen Gliedern bestehen«,911 er will eine Herrschaft über Freie und möglichst Gleiche sein.912 Denn nur zwischen solchen ist jene »Befreundung« möglich, welche die Grundlage jeder wahren Gemeinschaft und insbesondere der »vollendetsten und höchsten«, der staatlichen Gemeinschaft ist.913

[253] Wenn ferner der beste Staat allen Bürgern das gleiche Recht der Mitbestimmung gewährt, so tut er dies nur, indem er ihnen zugleich Pflichten auferlegt. Er weiß, daß hier »jeder die ihm gestellte Aufgabe gut erfüllen wird«, weil im besten Staate jeder einzelne mit der individuellen Tüchtigkeit zugleich die des guten Bürgers verbindet, der die Fähigkeit und den Willen hat, sich regieren zu lassen und zu regieren zum Zwecke eines Lebens in geistiger und sittlicher Tüchtigkeit.914 Auch fühlen sich hier die einzelnen nirgends in einem Gegensatz zum Ganzen, sondern stets als lebendige Glieder der Gemeinschaft. Alle Erziehung ist darauf gerichtet, dieses Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, damit der Staat – unbeschadet seiner natürlichen Vielheit – in sich eins werde.915 Und wenn es auch zur Herstellung dieser Gemeinschaft und Einheit nicht des Kommunismus bedarf, so wird doch bei den Bürgern des besten Staates eine so vollkommene »Ausgleichung der Begierden«,916 eine so intensive soziale Gesinnung vorausgesetzt, daß keiner mehr sein und mehr haben will als der andere,917 daß aller Besitz – wenn auch Privateigentum – so doch »durch den Nießbrauch zum Gemeingut« gemacht wird.918 Sogar das Grundprinzip der sozialen Ethik Platos, daß der Bürger selber »nicht sich, sondern dem Staate gehört«, wird, wie wir sahen, von Aristoteles wörtlich wiederholt.919 Und ebenso wird aus der Anschauung, daß die Stellung des einzelnen im Staate die eines Gliedes im Organismus ist, hier wie dort der Schluß gezogen, daß »die richtige Fürsorge für den einzelnen (als Glied des Staates) immer nur diejenige ist, welche dabei die für das Ganze im Auge hat«.920

Allerdings meint dies Aristoteles ebensowenig wie Plato in dem Sinne, daß das Individuum sich nur noch als Organ des Staatsinteresses fühlen und gänzlich aufhören soll, sich selbst Zweck zu sein. Für eine Staatsauffassung, die in der Anerkennung des Individualinteresses soweit geht wie die aristotelische, kann eben der einzelne unmöglich nur um eines Ganzen willen da sein, welches ohne Rücksicht auf Wohl und Wehe des Individuums seiner eigenen Vollendung zustrebt. Wenn daher hier auch die Gemeinschaft den einzelnen als dienendes Organ in Pflicht nimmt, so geschieht dies nicht, weil für sie allein die Gesellschaft[254] Zweck, das Individuum nur Mittel, das soziale Ganze alles, das Individuum nichts ist, vielmehr darf jeder Bürger des besten Staates überzeugt sein, daß er, indem er den Zwecken des Ganzen dient, zugleich die eigenen Lebensziele am besten fördert.

Genau so wie im platonischen Staat löst sich im besten Staate des Aristoteles der Gegensatz von Individualismus und Sozialismus in einer höheren Einheit auf, in der Koinzidenz des Individual- und des Sozialinteresses. Der Endzweck der staatlichen Gemeinschaft – die Glückseligkeit, welche in der vollendeten Betätigung geistiger und sittlicher Tüchtigkeit besteht – ist hier wirklich ein und der nämliche wie der des individuellen Daseins.921

Daher ist das, was für den Staat das Beste ist, zugleich auch das Beste für den einzelnen und umgekehrt (ταὐτὰ γὰρ ἄριστα καὶ ἰδίᾳ καὶ κοινῇ).922 Und wenn es, wie im vollkommenen Staat, dem Gesetzgeber gelingt, diese Überzeugung den Seelen der Menschen einzuflößen,923 kann sich der einzelne kein anderes Ziel stecken als die Gesamtheit. Das »Interesse aller« (intérêt de tous, der πάντες ὡς ἕκαστος!) findet hier ebenso seine Befriedigung wie das Interesse der Gemeinschaft als solcher (intérêt general, der πάντες ὁμοίως!). »Es ist undenkbar, daß das Ganze glückselig sei, wenn nicht von allen oder doch den meisten oder bestimmten Teilen924 das gleiche gilt. Denn mit der Glückseligkeit ist es nicht wie mit der geraden Zahl: diese kann recht wohl dem Ganzen zukommen, während keiner von den Teilen eine solche ausmacht, aber bei der Glückseligkeit ist so etwas unmöglich.«925 – Wenn daher »die beste Verfassung diejenige ist, durch welche der Staat am glücklichsten wird,926 so ist diese Glückseligkeit zugleich diejenige aller Bürger.927

Man sieht, so entschieden Aristoteles das Recht der Gemeinschaft[255] und die Pflicht des Individuums ihr gegenüber zur Geltung bringt, ein Sozialismus in dem Sinne, wie ihn der moderne Erfinder des Wortes im Auge hatte, d.h. ein Sozialismus, welcher das Individuum der Gemeinschaft opfert und zwar grundsätzlich opfert,928 wird auch von dem aristotelischen Staat nicht beabsichtigt. Allerdings unterwirft auch er seine Bürger einer mehr oder minder komplizierten Ordnung, welche die Freiheit des einzelnen aufs äußerste einschränkt und ihm die weitgehendsten Pflichten auferlegt. Allein es geschieht das nicht bloß um der Entfaltung und Vollendung des sozialen Ganzen willen, sondern ebensosehr darum, weil diese Ordnung ein besseres und sicherer funktionierendes Mittel sein soll, um dem naturrechtlich begründeten Interesse des Individuums an der Vervollkommnung und dem Glücke des eigenen Daseins zu dem Rechte zu verhelfen als die Freiheit der bestehenden Gesellschaftsordnung. Der Zwang, der an dem einzelnen geübt wird, rechtfertigt sich auch hier vor dem individuellen Bewußtsein damit, daß er sich zugleich als der Weg zum Glück, zum »möglichst wünschenswerten« Leben darstellt.929

Wie freilich eine politische Gemeinschaft möglich sein soll, in welcher das Interesse der einzelnen mit dem des Ganzen regelmäßig zusammenfällt, dafür kann von der aristotelischen Sozialphilosophie ebensowenig ein Beweis erbracht werden wie von Plato. Es sind dieselben unerwiesenen und unbeweisbaren Axiome, dieselben Illusionen, auf denen die aprioristische Konstruktion der abstrakten Gesellschaft hier wie dort beruht. Die aristotelischen Ausführungen bestätigen nur die schon bei der Darstellung des platonischen Staatsideals gemachte Beobachtung, daß im Rahmen dieser Dogmatik jeder theoretisch bedeutsame Fortschritt von vorneherein ausgeschlossen ist.

Wie enge sich das aristotelische Staatsideal in den sozialen Grundprinzipien an Plato anschließt, zeigt recht deutlich die Art und Weise, wie sich Aristoteles seinen besten Staat im einzelnen gestaltet denkt. »Er ist kaum irgendwo sonst so sehr Platoniker wie hier.«930

Auch hier erhält die staatliche Gemeinschaft, die κοινωνία πολιτική,[256] eine Organisation, in welcher die persönliche Freiheit der einzelnen durch die Gesamtheit ebenso verschlungen wird wie im platonischen Staat. Der Staat wird auch hier das oberste kausale Agens zur Gestaltung des Lebensinhaltes der Individuen, indem er mit seiner Allgewalt ihr gesamtes Dasein in feste, obrigkeitlich vorgezeichnete Bahnen einzwängt. Die auf der Grundlage des individualistischen Gleichheitsprinzipes beruhende Regierungsgewalt wird in durchaus sozialistischem Sinne gehandhabt. Ja der Geist des Polizeistaates tritt uns hier in mancher Beziehung noch abstoßender entgegen als bei Plato.931

Auch im aristotelischen Staat ist die gesamte Volkswirtschaft einer zentralisierten Staatsleitung unterworfen; sie soll durch eine systematische Regelung des Umlaufes und der Verteilung der Güter zu einer in sich möglichst einheitlichen, d.h. von einem Willen gelenkten Wirtschaft werden.

Wie sich freilich Aristoteles diese Organisation der Volkswirtschaft vorgestellt hat, wie er sich seine bereits ausführlich besprochene antikapitalistische Wirtschaftstheorie932 in die Praxis umgesetzt dachte, darüber erfahren wir nur sehr wenig, sei es, daß Aristoteles selbst nicht mehr dazu kam, das Wirtschaftssystem seines besten Staates darzulegen, sei es, daß uns die betreffende Partie der Politik verloren gegangen ist. Immerhin genügt jedoch das wenige, was wir erfahren, um die angedeutete enge Verwandtschaft des aristotelischen und platonischen Sozialismus klar zu erkennen.

Ganz platonisch sind die Vorschläge zur Beschränkung des internationalen Handelsverkehrs,933 die Forderung einer strengen Fremdenpolizei, d.h. von Gesetzen gegen die Freizügigkeit, »durch welche man bestimmt, welche Personen beiderseits miteinander verkehren dürfen und welche nicht«,934 endlich die Vorschläge zur Herstellung der Gütergleichheit[257] unter den Bürgern935 und des gemeinsamen Haushaltes der Speisegenossenschaften, bei denen Aristoteles das gemeinwirtschaftliche Prinzip sogar noch strenger durchgeführt wissen will als Plato, indem er die Syssitien nicht, wie dieser, auf Beiträge der einzelnen Bürger basiert, sondern von vorneherein einen großen Teil des Grund und Bodens als Gemeingut erklärt wissen will, um aus dem Ertrag desselben die Kosten der Syssitien zu bestreiten.936 Nur darin ist er minder radikal als Plato, daß er auf die Beteiligung des weiblichen Geschlechtes verzichtet.

Was die Stellung zum mobilen Kapital betrifft, so findet sich darüber in der uns erhaltenen Darstellung des Idealstaates nichts als die bekannte Forderung, daß aller Besitz dadurch gewissermaßen ein gemeinsamer werden müsse, daß man sich desselben wie unter Freunden bedient. Wie sehr jedoch Aristoteles auch hier ein systematisches Eingreifen der Staatsgewalt für notwendig hielt, zeigt die Kritik der Vorgänger, welche er der Ausführung seines eigenen Staatsideals vorausschickt.

An der Stelle, wo er über die Gütergleichheit im Idealstaate des Phaleas spricht, macht er es diesem zum Vorwurf, daß er sich auf die Ausgleichung des Grundbesitzes beschränkt und das gesamte bewegliche Kapital, den Besitz an Sklaven, Vieh, Geld, Hausrat usw. bei seiner Reform außer acht gelassen habe. Aristoteles meint, entweder lasse man alles gehen, wie es will, oder man muß – wenn man nämlich wirklich einen durchgreifenden Erfolg erzielen will – auch in Beziehung auf das bewegliche Kapital nach einer gleichen Verteilung oder wenigstens nach einem fest bestimmten mittleren Maße streben.937 Damit wird eine sozialistische Regelung der Verhältnisse des mobilen Besitzes, wie sie Plato im Gesetzesstaate im Auge hatte, grundsätzlich als berechtigt anerkannt, wenn wir auch nicht wissen, welche Konsequenzen Aristoteles aus dieser prinzipiellen Anerkennung für den sozialen Aufbau seines eigenen Idealstaates gezogen hat.

[258] Daß er aber vor den äußersten und letzten Konsequenzen des einmal angenommenen Standpunktes nicht zurückschreckte, das sehen wir an der Art und Weise, wie er die Gleichheit und Stabilität der Eigentumsverhältnisse in seinem Staate aufrecht erhalten wissen will. Er geht wie Plato von dem Gedanken aus, daß diese Stabilität des Besitzes als ihr Korrelat notwendig auch eine solche der Bevölkerung fordert. Würde die Zahl der Bürger jemals die für alle Zeit fixierte Zahl der Familiengrundstücke überschreiten, so würden bei der Unteilbarkeit derselben die Überzähligen in eine Notlage geraten und ein besitzloses Proletariat entstehen,938 während doch im besten Staate kein Bürger des notwendigen Lebensunterhaltes entbehren, jeder ein Recht auf Existenz haben soll.939 Die unvermeidliche Folge würde Aufruhr und Verbrechen sein;940 jedenfalls wäre unter solchen Umständen das ganze System einer staatlich geregelten und gebundenen Grundeigentumsordnung nicht aufrecht zu erhalten; es müßte unvermeidlich der Auflösung anheimfallen.941

Mit welchen Mitteln läßt sich nun aber verhüten, daß ein solches Mißverhältnis zwischen den durch das Wirtschaftsrecht geschaffenen Lebensbedingungen und der Bevölkerungszahl entstehe? Plato hatte geglaubt, durch moralische Einwirkung auf die einzelnen und durch systematische Regelung der Auswanderung die Bevölkerungszunahme des Gesetzesstaates genügend in Schranken halten zu können. Er hatte aber damit freilich auch zugegeben, daß auf diesem Wege eine radikale Verhütung jeder, auch temporären Übervölkerung nicht möglich sei; daß man sich damit zufrieden geben müsse, wenn man einer etwaigen Übervölkerung mit einem sicher wirkenden Mittel begegnen könne, wie er es eben in der Kolonialpolitik zu besitzen glaubte. Seinem großen Schüler erscheint dieser Standpunkt ungenügend und zwar so sehr, daß er die platonische Lösung der ganzen Frage nicht scharf genug verurteilen kann und schroff bis zur Ungerechtigkeit im Eifer des Widerspruches dieselbe fälschlich so charakterisiert, als hätte sich Plato hier mit dem Prinzip des absoluten Gehenlassens begnügt und die Illusion gehegt, daß »die Sache sich schon von selbst genügend ausgleichen werde«.942

Hinter dem, was Aristoteles fordert, bleiben die platonischen Vorschläge freilich weit zurück! Aristoteles spricht es mit dürren Worten aus, daß eine staatliche Regelung der Vermögens- und Einkommensverteilung, wie er und Plato sie im Auge hatte, nur unter der Voraussetzung[259] durchführbar ist, daß der Staat auch die Freiheit der Volksvermehrung aufhebt, d.h. »jedem Bürger vorschreibt, nicht mehr als eine bestimmte Anzahl von Kindern zu erzeugen«.943 – »Wer für die Größe des Einzelbesitzes ein bestimmtes Maß aufstellen will, der muß auch die Größe der zulässigen Kinderzahl gesetzlich festlegen«;944 und Aristoteles zögert nicht, die unabweisbare, furchtbare Konsequenz dieses logisch unanfechtbaren Satzes zu ziehen! Eingriffe von empörender Härte und Inhumanität, die allerdings in den tatsächlichen Lebensgewohnheiten der antiken Welt ihr Vorbild fanden und die ja zum Teil auch von Plato im Vernunftstaat zugelassen worden waren, sie werden hier ohne weiteres als berechtigt, ja wie etwas Selbstverständliches anerkannt. Findet eine Empfängnis statt, durch welche die für den einzelnen zulässige Normalzahl von Kindern überschritten zu werden droht, so wird die Abtreibung der Leibesfrucht durch das Gesetz vorgeschrieben.945 Auch die Aussetzung wird nicht gänzlich zurückgewiesen. Nur »Gewohnheit und Sitte«, also nicht das Gesetz verbietet es, zur Beschränkung der Kinderzahl Neugeborene auszusetzen; und bei körperlicher Untauglichkeit wird die Aussetzung geradezu gefordert.946

Wie das freilich im einzelnen praktisch durchführbar ist, wie ein System der Überwachung möglich sein soll, das die Verwirklichung dieser Forderung verbürgt, darüber hören wir nichts. Ein Machtwort genügt – darin ist der Schüler ebenso doktrinär wie der Lehrer –, um die schwierigsten Probleme mit einem Schlag zu erledigen.

Nur eine Frage wird wenigstens berührt, woher nämlich der Maßstab für die Aufstellung eines Normaletats der Bevölkerung zu entnehmen sei. Es werden statistische Erhebungen vorgeschlagen über das Verhältnis zwischen Geburten und Todesfällen, zwischen kinderreichen und kinderlosen Familien und nach dem sich ergebenden Durchschnitt[260] soll das Maß der zulässigen Kindererzeugung berechnet werden.947 Allein so fruchtbar der Gedanke an sich wäre, sozialpolitische Maßregeln auf systematische Massenbeobachtungen zu begründen, in der Form, in der er hier auftritt, ist er ebensowenig ausgereift wie die anderen Vorschläge. Sein Urheber hat sich offenbar von den technischen Einzelheiten des statistischen Problems, von dem höchst zweifelhaften Wert der etwa gefundenen mathematischen Formeln und den Schwierigkeiten ihrer Anwendung auf das praktische Leben eine klare Vorstellung nicht gebildet. Jedenfalls würde ein Staat, der nach diesem Rezept eine Regelung der Bevölkerungsbewegung ins Werk setzen wollte, sehr bald zu der Erkenntnis kommen, daß es von vorneherein unmöglich ist, Verhältnisse, die von so vielen und so veränderlichen Faktoren abhängen, in einer einfachen mathematischen Formel zusammenzufassen, die Wachstumstendenzen oder die Wachstumsfähigkeiten einer Bevölkerung und danach das Maß der zulässigen Volksvermehrung mathematisch zu bestimmen.

Um so mehr wird man jedoch auf der anderen Seite die Unbefangenheit anerkennen, mit der Aristoteles zugibt, daß das Wirtschaftssystem seines Sozialstaates einen viel engeren Bevölkerungsspielraum haben würde als die Eigentumsordnung der bestehenden Gesellschaft; daß in ihm das Schreckgespenst der Übervölkerung nicht verschwinden werde, wie es der moderne Sozialismus von seiner Verteilungsordnung erhofft, sondern sich gerade erst recht fühlbar machen werde. Aristoteles denkt auch insofern nüchterner wie jener, als er in seiner neuen Gesellschaft keineswegs eine so völlige Umwandlung der physisch-sinnlichen und geistig-sittlichen Natur des Menschen erhofft, daß man alles der moralischen Selbstbeschränkung anheimstellen könnte. Das Wirtschafts- und Verteilungssystem seines Idealstaates wäre in der Tat nicht aufrecht zu erhalten ohne administrative Hemmungsmittel der Volksvermehrung, ohne Repression und Zwang. Daß der aristotelische Sozialismus dies offen anerkennt, daß er sich nicht vor der Gefahr verschließt, sondern rücksichtslos die letzten Konsequenzen seines Standpunktes zieht, das ist ein Verdienst.948 Freilich zeigen gerade die bevölkerungspolitischen Konsequenzen des aristotelischen Gesellschaftsideals, wie unhaltbar dieses Ideal selbst ist.

[261] Daß sich mit dieser Kontrolle der Kindererzeugung im besten Staate auch weitgehende Beschränkungen der Eheschließung verbinden würden, wäre von vorneherein zu erwarten, auch wenn es nicht der uns erhaltene Text ausdrücklich bezeugte. Das Grundprinzip des im platonischen Gesetzesstaat geltenden Eherechtes wird als durchaus berechtigt anerkannt und die wichtigste Konsequenz desselben ohne weiteres angenommen. Der Staat hat dafür zu sorgen, »daß die Leiber der jungen Bürger nach seinem Wunsch und Willen ausfallen«,949 und beschränkt daher den (fruchtbaren) Geschlechtsverkehr auf dasjenige Lebensalter, welches die beste Bürgschaft für einen physisch und geistig tüchtigen Nachwuchs gewährt. Das Weib darf nicht vor dem achtzehnten, der Mann nicht vor dem siebenunddreißigsten Jahre in die Ehe treten.950 Anderseits darf die Kindererzeugung nicht über die Zeit hinaus fortgesetzt werden, in welcher »der Geist seine höchste Entwicklungsstufe erreicht«. Wer das vier- oder fünfundfünfzigste Lebensjahr überschritten hat, »muß darauf verzichten, Kinder zu zeugen, welche wirklich das Licht der Welt erblicken sollen«;951 mit anderen Worten, es tritt auch hier der Zwang zur Vernichtung des werdenden Lebens ein! Endlich ist den Ehegatten – zumal während der zur Kinderzeugung bestimmten Zeit – jeder außereheliche Geschlechtsverkehr bei Androhung schwerer Strafe untersagt.952

Selbst in die individuellsten Lebensgewohnheiten dringt der Gesetzgeber ein, wenn es gilt, seinen Zweck zu erreichen. Um z.B. die Frauen, »denen die Ehre der Schwangerschaft zuteil geworden«, daran zu verhindern, daß sie sich einer trägen, für die Leibesfrucht schädlichen Ruhe hingeben, schreibt ihnen das Gesetz direkt vor, daß sie täglich einen Gang zu den Heiligtümern der Götter machen und denselben ihre Verehrung darbringen sollen!953 Eine Ausdehnung des staatlichen Zwanges, die sogar noch das von Plato gewollte Maß überschreitet.

Wie sich freilich diese durchaus anti-individualistische Gesetzgebung, die in letzter Instanz nur aus dem Interesse der Gemeinschaft begründet werden kann, in den Rahmen einer Auffassung fügen soll, welche auch den Wünschen und Bedürfnissen des Individuums gerecht werden will, das ist schwer zu sagen. Was Aristoteles beibringt, um die Vorteile seiner Vorschläge für den einzelnen zu erweisen954 und so auch hier die Lehre[262] von der Koinzidenz des Gemeinschaftsinteresses und des wohlverstandenen Interesses der Individuen zu retten, erscheint doch recht unzulänglich und jedenfalls nicht entfernt ausreichend, die letzteren mit einem solchen Zwangssystem innerlich zu versöhnen. Immerhin wird hier doch wenigstens ein Versuch gemacht, das Sozialrecht des besten Staates zugleich auch vor dem individuellen Bewußtsein zu rechtfertigen. Ein Versuch, der bei der einzigen in unserem Text der Politik noch behandelten Frage nicht wiederholt wird.

Diese Frage betrifft die Erziehung der Bürger des besten Staates, die wichtigste Aufgabe, welche es nach dem Urteile des Aristoteles für den Staat überhaupt geben kann. Ihre Lösung wird durchweg aus dem Gesichtspunkt des Staates, aus dem Bedürfnis des sozialen Ganzen zu begründen versucht. Das Organisationsprinzip und die Organisationsform des sozialen Ganzen, die »Verfassung«,955 fordert unbedingt eine ihr genau entsprechende Form der Erziehung.956 Denn nur wenn dem eigentümlichen Geiste der Verfassung auch der Charakter der Bürgerschaft entspricht, trägt sie in sich die Gewähr der Dauer. Die besten Gesetze helfen nichts, wenn die Jugend nicht im Sinne und im Geiste der Verfassung auferzogen ist. Sie in solchem Geiste zu erziehen, ist daher das wichtigste und wirksamste Mittel zur Erhaltung der ganzen staatlichen Ordnung.957

Diese Erziehung muß für alle Staatsbürger ein und dieselbe sein. Denn der Zweck der staatlichen Verbindung ist für alle ein und derselbe (allen gemeinsam). Die Erziehung muß daher auch eine gemeinsame[263] und Sache des Staates sein. Was gemeinsame Angelegenheit aller ist, das muß auch gemeinsam betrieben werden. Es kann unmöglich so, wie es in den meisten Staaten der Fall ist, jedem einzelnen überlassen bleiben, für seine Kinder in dieser Hinsicht selbst zu sorgen und sie auf eigene Hand erziehen zu lassen, wie es ihm gut dünkt.958 Das Recht der Gemeinschaft aber auf solche staatliche Regelung des gesamten Erziehungswesens unterliegt keinem Zweifel. Es beruht auf der Anschauung, daß jeder ein Glied des Staates ist, daß daher kein Bürger nur sich selbst, sondern alle dem Staate angehören und für jeden der Satz gilt, nach welchem die richtige Sorge für das einzelne Glied eben immer nur diejenige sein kann, welche dabei zugleich das Ganze im Auge hat.959

Wie bei diesem alles umfassenden und alles regelnden Erziehungssystem auch das Individuum zu seinem Rechte kommt, darauf erhält man keine Antwort. Freilich ist für den Bürger des besten Staates die Frage bereits beantwortet, ja sie existiert im Grunde für ihn gar nicht. Er weiß, daß das, was dem Ganzen frommt, zugleich auch für ihn das Beste ist, daß die Durchführung des Gemeinschaftsprinzips in der Erziehung eben nur der naturgemäße Ausdruck dieser Identität der Interessen und Ziele ist. Und so kann das Bewußtsein einer Unterdrückung seiner Persönlichkeit und seiner individuellen Wünsche in ihm gar nicht aufkommen, wenn er nur sein Interesse richtig versteht.

Was die Einzelheiten dieses staatlichen Erziehungssystems betrifft, so macht sich dasselbe für den Bürger schon im zarten Kindesalter fühlbar. Wenn auch nicht wie in den Kindergärten Platos die öffentliche Erziehung bereits mit dem dritten Lebensjahre beginnt, sondern wie in Sparta erst mit dem siebenten, so wird doch die häusliche Erziehung einer strengen staatlichen Aufsicht unterworfen, welche sorgfältig darüber wacht, daß den Kindern dieses Alters eine zweckentsprechende Beschäftigung zuteil werde, und daß ihnen alles ferne bleibe, was sie in moralischer Hinsicht schädigen könnte.960 Vom siebenten bis[264] einundzwanzigsten Jahre nimmt dann der Staat selbst die Jugend in seine Schule. Er bestimmt, was Gegenstand des Unterrichtes zu sein hat (Gymnastik, Grammatik, Musik, Zeichenkunst), was als unvereinbar mit dem Ziele der Staatsschule: der Erziehung zum vollendeten Bürgertum, grundsätzlich auszuschließen ist. Er schreibt genau vor, in welchem Sinn und Geist die einzelnen Studien zu betreiben sind, damit sie die gewünschte ethische Wirkung haben können.961

Aber auch damit ist die erzieherische Tätigkeit des Staates nicht beendigt. Er will ebenso, wie der platonische Staat, den Bürger nicht nur auf den richtigen Pfad führen, sondern ihn auch fernerhin auf demselben erhalten. Er schreibt daher ganz im Geiste Platos jedem Lebensalter, auch den Erwachsenen, bestimmte Normen der Lebensführung durch das Gesetz vor.962 Die Erziehung und Überwachung des einzelnen durch den Staat hat durch das ganze Leben fortzudauern, und eine eigene Behörde ist zu dem Zwecke eingesetzt, um darüber zu wachen, »daß niemand eine der bestehenden Staatsordnung zum Schaden gereichende Lebensweise führe«.963 Freilich gehört auch diese Frage zu den vielen anderen, welche in unserer fragmentarischen Darstellung nicht mehr zur Erörterung kommen.964

[265] Dieser fragmentarische Charakter der Überlieferung ist um so mehr zu bedauern, als gerade einige der wichtigsten Punkte, so z.B. die Frage nach der Ausführbarkeit des Staatsideals, die Frage nach der Regelung von Produktion und Verkehr, nach den für die Erwerbsstände geltenden Rechtsnormen unbeantwortet bleiben.

Angesichts der früher geschilderten Anschauungen des Aristoteles über Handel und Geldverkehr,965 angesichts der im Entwurfe des Idealstaats mit besonderer Entschiedenheit betonten Ansicht, daß im Interesse einfacher und maßvoller Sitte die Produktion und der Volksreichtum gewisse Grenzen nicht überschreiten dürfe,966 wird man ja im allgemeinen nicht darüber zweifelhaft sein können, daß die Lage der wirtschaftenden Klassen im aristotelischen Idealstaat eine ganz ähnliche gewesen wäre, wie im Gesetzesstaate Platos. Allein es wäre doch von hohem Interesse, wenn wir die Erörterung, die er selbst wiederholt über diese Dinge in Aussicht gestellt hat,967 noch besäßen. Sie würde uns sicherlich manche Züge bieten, die wir bei dem Vorgänger nicht finden.

So hat Aristoteles – unter Hinweis auf eine spätere ausführliche Behandlung der Frage – ganz gelegentlich die Bemerkung gemacht, daß der beste Staat allen Hörigen und Sklaven als Lohn für gutes Verhalten die Freiheit in Aussicht stellt.968 Schon aus dieser bedeutsamen, – wie gesagt – ganz gelegentlich hingeworfenen reformatorischen Idee, einer Idee, die – in ihren Konsequenzen durchdacht – gewiß von größter Tragweite erscheint, können wir den Schluß ziehen, daß der aristotelische Staat auch für die anderen wirtschaftenden Klassen in sozial-reformatorischer Hinsicht nicht unfruchtbar bleiben sollte, trotz der untergeordneten Stellung, die er ihnen anweist. Und eben darauf führt uns noch eine andere Erwägung!

Aristoteles nennt einmal unter den Mitteln, durch welche eine fortgeschrittene Demokratie sich am besten aufrechterhalten lasse, die Begründung eines dauernden Wohlstandes der großen Masse des Volkes;969 und er schlägt zur Erreichung dieses Zieles überaus weitgehende und tiefeingreifende, ja geradezu utopische Maßregeln vor. Wenn es nach[266] Lassalle der Staat sein soll, der mit seiner Kapitalmacht den Besitzlosen in ihrem Ringen nach wirtschaftlicher Selbständigkeit zu Hilfe kommt, wenn nach Louis Blanc der Staat der Bankier der Armen sein soll, so ist es etwas ganz Ähnliches, in gewissem Sinne nur noch Radikaleres, was Aristoteles von dem demokratischen Staatsmann verlangt, daß er nämlich die Überschüsse der Staatseinkünfte verwende, um möglichst vielen Besitzlosen die Mittel zum Erwerb eines Gütchens oder wenigstens zur Begründung eines Kramhandels, zur Übernahme einer kleinen Feldpachtung zu gewähren.970 Eine Politik, zu deren Unterstützung er weiterhin die Besitzenden auffordert, die noch übrige Masse der Unbemittelten »unter sich zu verteilen« und jedem durch Überlassung eines kleinen Betriebskapitals den Anreiz und die Möglichkeit zu selbständiger wirtschaftlicher Tätigkeit zu geben!971 Endlich wird auf das Beispiel der besitzenden Klasse Tarents verwiesen, die durch die Beteiligung der Armen an der Nutznießung ihrer Güter die letzteren gewissermaßen zu einem Gemeingut mache.972

Nun hat allerdings Aristoteles – wie bereits angedeutet – diese Vorschläge in dem Teile seines Werkes gemacht, der von den Lebensbedingungen der radikalen Demokratie handelt, und es wäre daher durchaus unberechtigt, aus dem hier von ihm eingenommenen Standpunkt ohne weiteres darauf schließen zu wollen, wie er sich zu der genannten Frage im besten Staate gestellt haben würde, der ja von dem Volksstaat durch eine weite Kluft getrennt ist und derartiger Maßregeln zu seiner Erhaltung überhaupt nicht bedürfte. Allein ganz ohne Fingerzeig läßt uns die Ausführung des Aristoteles doch nicht! Es werden nämlich jene Forderungen keineswegs ausschließlich als solche hingestellt, denen sich die besitzenden Klassen im Volksstaat eben nur aus politischer Klugheit und in ihrem wohlverstandenen Interesse fügen müssen, um sich vor den noch weitergehenden Gelüsten des souveränem Pöbels zu schützen; die Opfer, die von ihnen verlangt werden, erscheinen nicht bloß als ein auf dem Boden der Demokratie unvermeidliches Übel, sie werden vielmehr von Aristoteles zugleich als der Ausfluß[267] einer edlen »liebreichen« Gesinnung, als etwas Schönes und Nachahmenswertes hingestellt.973

Kann Aristoteles bei dieser Auffassung das sozialreformatorische Interesse des besten Staates bloß auf die herrschende Klasse beschränkt haben? Gewiß nicht! Wir dürfen angesichts des optimistischen Doktrinarismus seiner Ratschläge für die Demokratie wohl vermuten, daß wir ihm auch hier auf den Wegen Platos begegnen würden, wenn auch auf minder utopischen.[268]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2.
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