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Die Verfassung

[214] Wie wir sahen, enthielt der Verzicht Platos auf die im philosophischen Staatsmann verkörperte Vernunftherrschaft zugleich den Verzicht auf eine der Gesellschaft selbständig gegenüberstehende Regierungsgewalt. Diese ideale Selbständigkeit würde eine Machtfülle in sich schließen, welche in der Hand minder hochstehender Geister eine allzu große Gefahr des Mißbrauches enthielte. Anderseits erschien die unter diesen Umständen unabweisliche Verstärkung des Einflusses der Gesellschaft auf die Staatsgewalt oder vielmehr des Einflusses der in der Gesellschaft herrschenden Klasse weniger bedenklich in einem Staatswesen, in dem, wie im Gesetzesstaat, diese Klasse dem Interessenkampf des Erwerbslebens möglichst entrückt war, wo eine das ganze Leben ergreifende und beherrschende staatliche Schulung und Disziplinierung alle Bürger ausschließlich für den Dienst des Staates erzog, die Mitarbeit an der Verwirklichung des Staatsgedankens recht eigentlich zu ihrer Lebensaufgabe machte.

Angesichts dieser systematischen Anpassung aller Bürger an den spezifisch politischen Beruf, die im Grunde einen jeden derselben zum staatlichen Funktionär erhob, glaubte Plato sich den Zuständen der Wirklichkeit soweit nähern zu dürfen, daß der Volksgemeinde ein Anteil an der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt und durch das Recht der Beamtenwahl auch ein Einfluß auf die Exekutive eingeräumt wird. Die veränderte Auffassung der Menschen und Dinge und die Rücksicht auf die Verhältnisse des Stadtstaates läßt ihm jetzt diese Zugeständnisse im Interesse der »Freiheit« unabweislich erscheinen.

Freilich werden zugleich auch im Interesse der Ordnung und des inneren Friedens777 starke Schutzwehren gegen den Mißbrauch dieser Freiheit aufgerichtet. Seine gesetzgebende Gewalt teilt das Volk mit allen im Staate überhaupt vorhandenen Autoritäten. Kein bestehendes Gesetz kann abgeändert werden, wenn neben dem Volke nicht auch alle anderen öffentlichen Körperschaften, alle in diesem Staate so überaus zahlreichen Behörden, auch die geistlichen, d.h. »alle Orakel«, ihre Zustimmung geben.778 Ja in all den Fällen, wo es sich nur um die Ausfüllung von Lücken in der Gesetzgebung und um solche Neuerungen handelt, welche keine Änderung des bestehenden Rechtes enthalten, liegt die legislative Gewalt ganz in den Händen der Magistratur.779

[215] Was die richterliche Gewalt betrifft, so steht über den reindemokratischen durch das Los bestellten Bezirksgerichten in Zivilprozessen als oberste Appellinstanz ein Gerichtshof (das κοινὸν δικαστήριον), der alljährlich auf Grund eines überaus sorgfältigen Wahlverfahrens von den Mitgliedern aller Behörden aus ihrer eigenen Mitte ernannt wird.780 In Staats- und Kriminalprozessen sind zwar für eine Reihe von Fällen Volksgerichte zugelassen, aber gerade für die wichtigsten und schwierigsten sind magistratische Gerichte zuständig, besonders der höchste Staatsgerichtshof, der aus jenen »auserlesenen« Richtern des κοινὸν δικαστήριον mit Zuziehung der sogenannten Gesetzesbewahrer gebildet wird.781 Auch gibt es von den Gerichten keine Appellation an das Volk. Von mehreren dieser Gerichte kann unter Umständen sogar die Todesstrafe verhängt und zum Vollzuge gebracht werden. – Plato geht eben nur so weit, als ihm unbedingt nötig erscheint, um in dem Volke das Bewußtsein lebendig zu erhalten, daß es von der »Gewalt, mitzurichten« nicht ausgeschlossen ist, weil es sich sonst dem gefährlichen Glauben hingeben könnte, vom Staate überhaupt ausgeschlossen zu sein.782

Auch dem wichtigsten Rechte der Volksgemeinde, dem Wahlrechte, wird eine Gestalt gegeben, welche den demokratischen Charakter wesentlich modifiziert, obgleich schon die Wähler eine Elite darstellen, welche in ihrer eigenen Intelligenz und moralischen Tüchtigkeit weitgehende Bürgschaften für eine richtige Wahl geben. Das Wahlverfahren ist für die verschiedenen öffentlichen Körperschaften und Behörden ein verschiedenes. Entweder wird die Bedeutung des allgemeinen Stimmrechtes durch künstliche Kombinationen mit dem System der indirekten Wahl und sonstige Komplizierung des Wahlmodus abgeschwächt; oder es wird dasselbe gar mit dem System der Klassenwahl verbunden, das passive Wahlrecht und die aktive Wahlpflicht in eigentümlicher Weise auf die oberen Zensusklassen beschränkt; oder es wird von vorneherein die Besetzung zahlreicher Beamtenstellen in die Hände der Behörden gelegt. Endlich wird jeder Gewählte einer Prüfung, einer »Dokimasie«, unterworfen, welche sich nicht bloß, wie in der Demokratie, auf seine äußeren Verhältnisse, sondern wesentlich auch auf seine persönliche Tüchtigkeit richtet und so jederzeit die Handhabe zur Korrektur der Wahl bietet.783[216]

Selbst der »Rat«, der ähnlich dem Rate der Fünfhundert in Athen die ganze Volksgemeinde repräsentiert und wahrscheinlich, wie dieser, die oberste Finanzbehörde ist, geht aus einem Wahlverfahren hervor, welches eine wesentliche Beschränkung des gleichen Stimmrechtes bedeutet. Auf die 360 Ratssitze haben nämlich nicht alle Bürger gleichen Anspruch. Die Verteilung der Ratsstellen erfolgt vielmehr nach dem Klassensystem, indem jeder der vier Zensusklassen dieselbe Anzahl (90) eingeräumt wird, trotz der naturgemäß geringeren Zahl der höheren Klassen. Die Wahl selbst erfolgt in der Weise, daß zunächst für jede der vier Klassen eine Kandidatenliste aufgestellt wird. Dies geschieht durch Volksabstimmung, doch so, daß nur die Mitglieder der zwei ersten Klassen bei Strafe verpflichtet werden, an den Wahlen teilzunehmen, während die der dritten nur die Kandidaten der drei ersten, die der vierten Klasse nur die aus den zwei ersten Klassen mitzuwählen brauchen. Aus dieser Kandidatenliste werden sodann durch eine allgemeine Wahl, an der alle Bürger ohne Unterschied teilnehmen müssen, für jede Klasse 180 Männer bezeichnet, von denen die eine Hälfte durchs Los784 ausgeschieden wird, die andere nach bestandener Prüfung zum Eintritt in den Rat berechtigt ist.785

Das sonst fast durchweg festgehaltene Prinzip, daß das Wahlrecht zugleich die Wahlpflicht in sich schließt, wird übrigens auch in einem anderen Falle modifiziert, wo es sich um Sachverständigenwahlen handelt. So sollen zur Teilnahme an den Wahlen der Ordner der musischen Wettkämpfe nur die Kunstverständigen verpflichtet sein.786

Wo eine solche Unterscheidung zwischen den Wählern nicht möglich ist, soll wenigstens die wiederholte Sichtung der zu Wählenden eine gewisse Bürgschaft gewähren. So ist z.B. bei der Wahl der sogenannten Gesetzesbewahrer, einer der wichtigsten und einflußreichsten Regierungsbehörden, das Wahlverfahren ein äußerst verwickeltes. Es ist, wie allerdings jede Beamtenwahl, mit besonderer Heiligkeit umgeben:[217] Wahllokal ist der Tempel des höchsten Gottes. Die Stimmtafeln werden vom Altare entnommen und wieder daselbst abgegeben, die Wähler aber durch einen heiligen Eid verpflichtet, nur nach bestem Wissen und Gewissen ihre Stimme abzugeben.787 Die Wahl selbst ist insofern eine öffentliche, als jeder Wähler auf der Stimmtafel neben dem Namen des Kandidaten seinen eigenen anzugeben hat, und gleichzeitig jedem Wähler das Recht eingeräumt wird, diejenigen Tafeln, mit deren Inhalt er nicht einverstanden ist, einfach wegzunehmen und mindestens dreißig Tage auf dem Markte auszustellen! Eine Art Mißtrauensvotum gegen den Kandidaten und seinen Wähler, welches zu erneuter Prüfung des zu Wählenden auffordert. Dann werden von der Behörde die Täfelchen mit den Namen derjenigen dreihundert Bürger, welche die meisten Stimmen enthielten, ebenfalls der ganzen Bürgerschaft zur Ansicht vorgelegt und dieselbe zu einer neuen Wahl aus diesen dreihundert berufen. Die Namen der hundert Bürger, welche aus dieser engeren Wahl als die Meistgewählten hervorgehen, werden in derselben Weise publiziert, worauf in einem dritten Wahlakt aus diesen hundert Erlesenen die definitive Wahl der siebenunddreißig Mitglieder der genannten Behörde erfolgt.788

Eine ähnliche Sichtung der Kandidaten findet statt bei der Wahl der sogenannten Euthynen, vor welchen alle Beamten nach Ablauf ihrer Amtszeit Rechenschaft abzulegen haben, und welche daher Männer von ganz hervorragender sittlicher Tüchtigkeit sein müssen.789

Alljährlich nach der Sommersonnenwende versammelt sich die Bürgerschaft in dem Haine des Helios und Apollo, und jeder Bürger »nennt hier dem Gott« drei Männer – nicht unter fünfzig Jahren –, die er in jeder Beziehung für die Ausgezeichnetsten hält. Von den also Vorgeschlagenen[218] werden diejenigen, welche die meisten Stimmen erhielten, bis zur Hälfte der Gesamtzahl einer neuen Wahl unterworfen, aus der nur drei als die definitiv Gewählten hervorgehen.790 Natürlich trägt auch diese Wahl dasselbe religiöse Gepräge wie die vorhin beschriebene, worauf ja schon der Wahlort und die charakteristische Bezeichnung des Wahlaktes hinweist.

Wird doch in anderen Fällen die Entscheidung geradezu der Gottheit selbst anheimgegeben! So werden die »Exegeten der Kultussatzungen« zwar gewählt, dann aber aus den Gewählten – zum Teil wenigstens – eine Auslese durch das delphische Orakel vorgenommen.791

Bei anderen Ämtern, wie z.B. allen militärischen, ist das Wahlrecht beschränkt durch ein Vorschlagsrecht der Behörden. Bei der Wahl der höchsten Offiziere und Militärbeamten hat die mit der stärksten Exekutivgewalt bekleidete Behörde der Gesetzesbewahrer ein Vorschlagsrecht, während in bezug auf die Unterbefehlshaber die Vorgesetzten selbst ein Vorschlags-, ja zum Teil Ernennungsrecht besitzen.792 Überhaupt werden die Unterbeamten in der Regel von den oberen Behörden selbst ernannt, so die Gehilfen der mit der Polizeigewalt auf dem platten Lande betrauten Agronomen von diesen selbst,793 die weiblichen Aufsichtsbeamten über die Ehen von den Gesetzesbewahrern usw.794

Doch sind es auch sehr hohe Ämter, bei denen die Volkswahl ausgeschlossen ist. Das von Plato als das weitaus wichtigste der höchsten Staatsämter bezeichnete Amt des Unterrichtsministers, des »Vorstehers des Erziehungswesens« und obersten Zensors, sowie die Richterstellen an dem hohen Staatsgerichtshof der »auserlesenen Richter« werden von einem Wahlkörper besetzt, der nur aus Beamten besteht.795

So ist Plato unerschöpflich in der Erfindung immer neuer Sicherungsmaßregeln gegen den Demokratismus des allgemeinen Stimmrechtes. Er muß in dem der damaligen Wirklichkeit zugewendeten Gesetzesstaat diesem Demokratismus erhebliche Zugeständnisse machen; um so mehr ist er bemüht, Mittel und Wege zu zeigen, wie trotzdem der Staat Organe erhalten kann, welche eine Aristokratie der Intelligenz und Tugend darstellen. Er beschränkt daher den Einfluß der Wähler noch weiter dadurch, daß er für die höheren Ämter eine höhere allgemeine und eine besondere Bildung für das Fach fordert. Wie zum Aufzug andere Wolle genommen werde als zum Einschlag, so müsse[219] auch zwischen denen, welche hohe obrigkeitliche Würden im Staate bekleiden sollen, und denen, welche nur in geringem Maße die Proben ihrer Erziehung zu bestehen haben, ein wesentlicher Unterschied stattfinden.796

Eine Hauptbürgschaft für die Tüchtigkeit von Regierung und Verwaltung sieht Plato ferner auch hier in der möglichsten Steigerung der Autorität der Magistratur, in einer möglichst starken Amtsgewalt. Zu diesem Zweck wird für gewisse Beamte ein reiferes Alter vorgeschrieben, für die Gesetzesbewahrer z.B. und den Chef des Unterrichtswesens das fünfzigste Lebensjahr.797 Es wird allem Anscheine nach die längere Bekleidung desselben Amtes durch die einmal bewährten Männer begünstigt, – bei den eben genannten Beamten erscheint eine Amtsdauer von zehn bis zwanzig Jahren offenbar als nicht ungewöhnlich, – oder es wird von vorneherein eine längere Amtsdauer gesetzlich vorgeschrieben, so bei dem Vorsteher des Erziehungswesens fünf Jahre,798 bei den Mitgliedern des hohen Gerichtshofes der Euthynen geradezu Lebenslänglichkeit.799 Demselben Zwecke dient die Fülle von Gewalten, welche in den Händen der Magistrate vereinigt wird. Die Justizgewalt, die er einem Teile derselben einräumt, vergleicht Plato geradezu mit königlichen Machtbefugnissen.800

Vergegenwärtigen wir uns nur die imponierende Machtstellung, welche die von Plato als die eigentlichen Regenten des Staates, als ἄρχοντες schlechthin bezeichneten Gesetzesbewahrer einnehmen! Ihr amtlicher Einfluß erstreckt sich fast auf sämtliche Gebiete des Lebens. Sie haben in allen oben angedeuteten Fällen gesetzgeberische Gewalt, sie bilden – zusammen mit den auserlesenen Richtern – den höchsten Staatsgerichtshof in Kapitalsachen, haben auch sonst bedeutsame richterliche Befugnisse, z.B. bei Vergehungen religiöser Art,801 sowie die wichtige Jurisdiktion über einen Teil der Beamten, besonders über die bedeutendsten richterlichen Beamten.802 Sie haben durch ihr Vorschlagsrecht bei den Strategenwahlen einen starken Einfluß selbst auf die militärische Gewalt und durch ein ganz allgemeines Recht der Oberaufsicht803[220] auf das Beamtentum überhaupt. Sie greifen endlich mit ihrer ausgedehnten polizeilichen Gewalt nach allen Seiten hin in die Verwaltung ein. In ihrer Hand liegt die amtliche Statistik über die gesamten Vermögensverhältnisse der Bürger und Beisassen804 und im Zusammenhange damit die Fürsorge für die Aufrechterhaltung der Gesetze über den unverrückbaren Bestand der Landlose und der Bürgerzahl.805 Eben damit hängt noch zusammen ihr Oberaufsichtsrecht über das eheliche Leben der Bürger, das Recht zur Ernennung der Eheaufseherinnen, die Fürsorge für die Erbtöchter, überhaupt die Obervormundschaft806 und sonstige Befugnisse auf dem Gebiete des Familienrechtes.807 Derselben Behörde steht ferner die Handhabung der Luxusgesetze zu,808 sowie die Fürsorge für die Durchführung der Aus- und Einfuhrgesetze.809 Sie ist aber auch zugleich die literarisch-musische Zensurbehörde, überhaupt mit der Ausführung aller Gesetze über die musische Kunst betraut,810 sie gibt oder verweigert endlich die Erlaubnis zu Reisen ins Ausland.811

So werden geflissentlich gesetzgeberische, richterliche, exekutive Gewalten in bunter Fülle auf ein und dieselbe Regierungsbehörde gehäuft. Die Allgewalt des alles menschliche Leben und Streben seiner Bevormundung unterwerfenden Staates soll sich, soweit es ohne die Gefahr des Absolutismus möglich ist, in der Magistratur widerspiegeln. Wenn auch auf demokratischer Grundlage erwachsen, soll dieselbe doch die Einheitlichkeit, Festigkeit und Autorität monarchischen Regimentes nicht vermissen lassen.812

Auch der glänzende Nimbus äußerer Ehren fehlt der Magistratur nicht. Dasjenige Amt, dessen Übertragung zugleich die Zuerkennung des höchsten Preises für Bürgertugend voraussetzt, die Mitgliedschaft des hohen Rechenschaftsrates der Euthynen gewährt wenigstens im Tode Anspruch auf wahrhaft fürstliche Ehren, welche den Gefeierten weit über das Maß gewöhnlicher Sterblicher hinausheben. In weiße priesterliche Gewänder gehüllt, werden die verstorbenen Euthynen aufgebahrt allem Volke zur Schau. Knaben- und Mädchenchöre umstehen die Bahre, den ganzen Tag über in Wechselgesängen den Toten selig preisend. Mit Anbruch des nächsten Tages findet das feierliche Leichenbegängnis[221] statt: voran die ganze waffenfähige Bürgerschaft zu Fuß und zu Roß in voller Waffenrüstung, dann die Bahre von hundert Jünglingen getragen und geleitet von Knaben, die die Volkshymne (τὸ πάτριον μέλος) singen, dann Jungfrauen und Matronen, endlich alle Priester und Priesterinnen. Die Beisetzung erfolgt in einem Hain in Steinsärgen und in steinernen wie für die Ewigkeit gebauten Grabgewölben, über welche ein Hügel aufgeschüttet wird, – an die alten Königsgräber erinnernd! – Endlich wird das Andenken der hier Bestatteten alljährlich durch musische und gymnische Wettkämpfe verherrlicht, gleich dem der Heroen.813

Aber Plato geht noch weiter! Trotz der materiell und ideell so bedeutsamen Ausstattung der Amtsgewalt sucht er ihr noch einen ganz besonderen Rückhalt zu schaffen in einer Institution, deren Bedeutung er sich zunächst allerdings mehr als eine ideale denkt, in der er aber die stärkste Bürgschaft für die allseitige und dauernde Verwirklichung seines Staatsgedankens erblickt.

Diese Einrichtung besteht in einem Staatsrat, der – aus der geistigen Elite der Bürgerschaft zusammengesetzt und durch die Befugnis der Selbstergänzung völlig unabhängig – recht eigentlich dazu berufen ist, die Repräsentation des Staatsgedankens κατ᾽ ἐξοχήν darzustellen, wo es gilt, durch die in ihm verkörperte Einsicht in Wesen und Ziele des Staates auf die öffentliche Meinung aufklärend zu wirken, durch seinen Einfluß alle Glieder des Staates, Regierende und Regierte, auf dem rechten Wege zum »gemeinsamen Ziele aller Gesetze«814 zu erhalten. Erst durch diesen Erhaltungsrat, den νυκτερινὸς σύλλογος, wie er nach der Zeit seiner Sitzungen genannt wird, erscheint der Bestand des Staates gesichert, weil der Staat in ihm unter allen Umständen ein Organ besitzt, welches den Zweck desselben (den σκοπὸς πολιτικός) lebendig erfaßt hat, die dem Staate immanente Vernunft in sich verkörpert.815 Die »nächtliche Versammlung« besteht aus einem festen Kern lebenslänglicher Mitglieder: nämlich all denen, welche den Preis der Tugend erhielten, d.h. den Mitgliedern des Rechenschaftsrates, allen, welche das Unterrichts- und Erziehungswesen geleitet, sowie denjenigen Bürgern, welche mit Erfolg politische Studien im Ausland gemacht und nach sorgfältiger Prüfung von der Versammlung würdig erfunden worden,[222] ihr für immer anzugehören. Dazu kommen, um den nächtlichen Rat in stetiger Fühlung mit den maßgebenden Behörden zu erhalten, die zehn ältesten Gesetzesbewahrer und der jeweilige Vorstand des Unterrichtswesens.816 Allgemeine Voraussetzung der Aufnahme ist der Besitz einer höheren wissenschaftlichen, insbesondere philosophischen Bildung,817 die Zurücklegung eines längeren, genau vorgeschriebenen Studienganges,818 der »ein wahrhaftes Wissen von allen wichtigen Dingen« gewähren soll.819

Die täglich in den frühesten Morgenstunden auf der Akropolis tagende Versammlung dieser erlesenen Männer kann alle Fragen staatlicher Gesetzgebung und Verwaltung zum Gegenstand ihrer Beratung und Beschlußfassung machen und so für die praktische Entscheidung derselben durch die zuständigen öffentlichen Gewalten wenigstens ein sehr gewichtiges Präjudiz schaffen.820 Ferner soll die Fülle des Wissens, welche in dieser Versammlung konzentriert ist, für die Heranziehung jüngerer Staatsmänner verwertet und damit die Versammlung zu einer hohen Schule gemacht werden, welche eben jene vorhin genannte höhere Bildung vermittelt.821 Zu dem Zweck ist jedes Mitglied berechtigt, besonders begabte und tüchtige jüngere Bürger im Alter von dreißig bis vierzig Jahren in die Versammlung einzuführen. Dieselben erhalten hier nicht nur Gelegenheit, zu lernen, sondern auch Proben ihres Könnens abzulegen, die ihnen, wenn sie der Versammlung genügend erscheinen, eine wertvolle Anwartschaft für die Zukunft gibt. Denn diese Anerkennung der höchsten Autoritäten ist dazu bestimmt, die Blicke der gesamten Bürgerschaft auf sie zu lenken,822 sie ihr als die geeignetsten Kandidaten für die höheren Ämter zu empfehlen. Eine Empfehlung, deren zwingender Gewalt sich die Bürgerschaft kaum entziehen kann. Denn hier werden ihr von der höchsten und ehrwürdigsten Autorität im Staate diejenigen bezeichnet, durch welche der Staat selbst wohlberaten sein würde,823 weil sie dank ihrem Wissen »klar über alles sehen, was die Gesetze angeht«,824 – während diejenigen, welche nicht durch diese Schule gegangen sind oder die genannte Approbation nicht erhalten haben, damit als solche charakterisiert erscheinen, welche dieser Klarheit mehr oder minder entbehren,825 durch die daher der Staat schlecht beraten sein würde. Wird der Bürger, der öffentlich wählt und durch einen Eid verpflichtet ist, nur die »Besten« zu[223] wählen, gegen diese von einer unantastbaren Autorität eben als die Besten Gekennzeichneten zu stimmen oder sie zu übergehen wagen? Gerade bei den wichtigsten Ämtern ist dies übrigens auch rechtlich unmöglich. Zum Gesetzesbewahrer z.B. und zum Mitglied des Oberrechenschaftshofes kann von vorneherein überhaupt nur derjenige gewählt werden, welcher sich ein höheres Wissen erworben, also durch die Schule der nächtlichen Versammlung gegangen ist und deren Approbation erhalten hat.826

Aber auch damit ist die Bedeutung des nächtlichen Rates noch keineswegs erschöpft. Plato behält sich vor, ihn noch mit ganz besonderen Vollmachten auszustatten, wenn er nur erst nach Wunsch konstituiert sein würde.827 Worin diese Machtsteigerung bestehen soll, wird allerdings nicht gesagt. Aber über ihre allgemeine Tendenz kann kein Zweifel sein. Wenn irgendwo, so trifft hier die Behauptung des Aristoteles zu, daß der Gesetzesstaat allgemach wieder in den Verfassungsplan des Vernunftstaates einlenke.828 Das absolute Philosophenregiment ist für ihn unerreichbar, so sucht er wenigstens einen Ersatz, der diesem Ideale möglichst nahekommt.

Der nächtliche Rat soll für den staatlichen Organismus wenigstens annähernd die Bedeutung gewinnen, wie sie der denkende Kopf für den menschlichen Körper besitzt. Er soll es ermöglichen, daß im Zentrum des Staatskörpers ebenso wie im individuellen Organismus ein Wille, d.h. ein in all seinen Äußerungen auf einen obersten Zweck gerichteter einheitlicher Wille vorhanden sei,829 der – wenn auch nicht allmächtig, wie im Vernunftstaat – so doch einen über das ganze politische und soziale Leben sich erstreckenden Einfluß zu üben vermag.

Gegenüber der Vielheit der individuellen Willen, welche nun einmal durch die Zulassung des allgemeinen Stimmrechtes und der Ämterwahl[224] als Machtfaktor im staatlichen Leben anerkannt war, soll der nächtliche Rat die Einheit des Staates vertreten. Er hat die Aufgabe, dahin zu wirken, daß auch die Magistratur sich dauernd auf den staatlichen Bodenstelle und in ihrem öffentlichen Tun nur als Organ der Allgemeinheit fühle. Er soll ferner eine technisch möglichst vollkommene Durchführung der staatlichen Aufgaben von seiten der Magistratur verbürgen, indem er der qualifizierten berufsmäßigen Arbeit die ihr gebührende Stellung in Verwaltung und Regierung verschafft; und er soll damit endlich zugleich für die möglichst weitgehende Verwirklichung des Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzipes Gewähr leisten, welches dem geistig und sittlich Höherstehenden auch höhere Ehre zuerkennt.830 Kurz der nächtliche Rat ist dazu bestimmt, das ideale Zentrum des ganzen staatlichen Organismus, das für den Sozialismus unentbehrliche Zentralorgan zu werden,831 und die Rechte, welche Plato für ihn in Aussicht nimmt, können daher nur einen Ausbau der Verfassung im zentralistischen Sinne bedeuten.

Plato deutet das selbst in dem Bilde an, in welchem er den ganzen Rat mit dem menschlichen Haupte, die greisen Mitglieder der Versammlung mit dem »Geist« (νοῦς) und die jüngeren mit dem Sehvermögen vergleicht. Die durch Energie und Schärfe der Beobachtung ausgezeichneten jüngeren Genossen sollen »gleichsam auf der Höhe des Hauptes (gleichsam wie die Augen des Staates) ringsumher den ganzen Staat beobachten und was sie so wahrgenommen, ihrem Gedächtnisse einprägen, um so von allem, was im Staate vorgeht, den älteren Mitgliedern Kunde zu geben. Diese erwägen als der νοῦς, was die Augen gesehen, und nachdem sie mit den jüngeren zu Rate gegangen und ihre Beschlüsse gefaßt, bringen sie dieselben durch jene zur Ausführung und erhalten so den ganzen Staat.« Es wird also ein[225] Recht der Versammlung zu Eingriffen in die Exekutive anerkannt, durch welches sie eine Stellung über allen Behörden erhält.832

Durch all das wird die »götterähnliche Versammlung« (ὁ ϑεῖος ξύλλογος) geradezu zum »Anker des Staates«.833 »Ihrer Obhut kann man getrost den Staat übergeben und es wird sich dann in Wahrheit vollenden, was eben noch wie ein Traum erschien.«834 Mit dieser Verheißung endet der Entwurf des zweitbesten Staates.835


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 214-226.
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