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Zur Beurteilung des Gesetzesstaates

[226] Wir sahen, daß – nach der richtigen Beobachtung des Aristoteles – der Entwurf des zweitbesten Staates unwillkürlich wieder in die Bahnen des Vernunftstaates einlenkt. Es wird uns das nicht wundernehmen, wenn wir uns die Gesamtanschauung vergegenwärtigen, aus der heraus dieses Staatsideal als ein Ganzes gedacht ist.

Zunächst finden wir die naturrechtliche Metaphysik der Politeia auch hier wieder. Der alles beherrschende Maßstab ist hier wie dort die rein vernunftmäßige Erkenntnis und das Ziel des Erkennens eine möglichst »natürliche«, d.h. eben vernunftgemäße Ordnung des menschlichen Zusammenlebens.836 Daher auch ein ganz ähnlicher Absolutismus der Lösungen, wie in der Politie. Selbst auf die Gefahr hin, den Anschein zu erwecken, »als ob er Träume erzähle oder einen Staat und seine Bürger gleichsam aus Wachs formen wollte«,837 hält Plato auch hier daran fest, daß es sich bei der Konstruktion eines idealen Musterbildes einzig und allein um die Erreichung der höchstmöglichen »Schönheit« und Wahrheit handle.838 Alles kommt ihm hier wie dort auf die innere Wahrheit, d.h. auf die Übereinstimmung mit den dem Musterbilde zugrunde liegenden Ideen an, auf die logische Folgerichtigkeit des ganzen Gedankenbaues, die »ein in allen Stücken in sich selbst harmonisch zusammenstimmendes« und darum schönes Ganze ergibt.839[226] Erst dann, wenn so das Ideal die Gestalt eines vollendeten Kunstwerkes gewonnen, »wenn der Gesetzgeber seinen Entwurf ruhig zu Ende geführt hat«, kann und soll die Frage der Ausführung erwogen werden.840

Aber auch sonst zeigt sich zwischen Vernunft- und Gesetzesstaat eine enge Verwandtschaft. Wenn auch der zweitbeste Staat darauf verzichtet, die letzten und äußersten Konsequenzen des platonischen Sozialismus zu ziehen, an den grundlegenden Gedanken selbst wird doch zum Teil wenigstens entschieden festgehalten. Die Idee des »großen Menschen« in der individuellen Form des Volkes kehrt auch hier wieder. Auch hier wird der Staat als ein Organismus konstruiert, in den die Individuen als schlechthin abhängige Organe, als unbedingt untertänige Funktionäre und Werkzeuge des Gesamtzweckes sich einzugliedern haben, in dem Bewußtsein, daß sie mehr dem Staate angehören als sich selbst. Die Pflicht ist auch hier der soziale Primärbegriff, nicht das Recht der Individuen; und die Erziehung zur Sittlichkeit ist die erste und oberste Aufgabe, welche ein wahrhaft guter Staat zu lösen hat.

Eben darum verspricht aber derselbe Staat anderseits, zugleich dem wahren und bleibenden Interesse der einzelnen gerecht zu werden, sie glücklich und zufrieden zu machen. Als Erziehungsanstalt zur Tugend841 erhebt auch er den Anspruch, den Weg zur allgemeinen Glückseligkeit zu zeigen.842 Auch er verheißt dem Bürger: Laß dich vom Gesetz zum Guten leiten und du wirst das angenehmste und glücklichste Leben führen.843 Die Lehre von der Koinzidenz der Tugend und Glückseligkeit, in der so viele Illusionen der Politie wurzeln, ist auch hier ohne weiteres zugrunde gelegt und zum Staatsdogma erklärt.844 Auf ihr vor allem beruht auch hier die Hoffnung des »Gesetzgebers«, das Individuum für seine Staatsidee gewinnen und zu dem gewünschten[227] sozial-ethischen Verhalten bestimmen zu können.845 Auch hier besteht jene Harmonie zwischen dem wohlverstandenen Selbstinteresse und dem der Gesamtheit, welche mit dem Glücke des Ganzen zugleich das der einzelnen Glieder verbürgt.846 Und wenn auch nicht die vollendete Einheit des Vernunftstaates erreicht wird, so sind doch auch hier die Individuen mit ihrem gesamten Dasein in den Lebensprozeß des sozialen Ganzen verflochten. Sie vermögen sich in eine Form des Sozialismus hineinzuleben, von der Plato selbst gesagt hat, daß sie in bezug auf die Verwirklichung der Einheitsidee die nächste Stelle unmittelbar nach dem Vernunftstaat einnimmt.847 Ein Ergebnis, das anderseits wieder eine so ideale Verwirklichung der verteilenden Gerechtigkeit voraussetzt, wie sie eben nur im Vernunftstaat übertroffen werden kann. Es soll auf diese Weise ein Zustand erreicht werden, in welchem »die ganze Gemeinde im gleichen Genusse der gleichen Freuden stets unverändert dieselbe bleibt und alle Bürger in möglichster Gleichheit ein gutes und glückseliges Leben führen«.848 Und so darf denn der Gesetzesstaat mit Recht von sich sagen, daß er, wenn er wirklich ins Leben treten sollte, die engste Annäherung an das selige Dasein im Staate der »Unsterblichkeit« zur Folge haben würde.849

Man sieht, der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit ist auch hier noch ein unendlich großer, und der Gedanke einer Realisierung dieses Staatsideals fast ebenso utopisch, wie es der Traum vom Vernunftstaat gewesen. Es bedarf, um diesen Gedanken zu fassen, in der Tat der ganzen »göttlichen Begeisterung«, mit der auch bei minder hochgestecktem Ziele die ideale Bedeutsamkeit seiner Aufgabe die Seele des Philosophen erfüllt.850

Freilich muß er selbst zugeben, daß unter dem mächtigen Anhauch dieser göttlichen Begeisterung seine ganze Darstellung einer Dichtung[228] ähnlich geworden sei!851 Ja er bezeichnet sich geradezu als den Dichter eines Dramas.852 Und wenn er auf die Hoffnung, daß diese Dichtung jemals Wahrheit werde, nicht verzichten will, ja eine solche Hoffnung wiederholt ausspricht,853 – die Grundstimmung, in der der Verzicht auf den Vernunftstaat und die Idee eines nur relativ besten Staates selbst wurzelt, ist doch eine zu nachhaltige, als daß sie alle Bedenken und Zweifel zum Schweigen bringen ließe.

So gibt Plato ohne weiteres zu, daß wenigstens einzelne seiner Ideen die Probe auf ihre Ausführbarkeit möglicherweise nicht bestehen würden. Ja wenn er sich vergegenwärtigt, was er doch auch jetzt noch für Anforderungen an die Bürger eines idealen Gemeinwesens stellen muß, wenn er am Schlusse seiner Ausführungen über die grundlegenden Institutionen des zweitbesten Staates noch einmal all seine Vorschläge im Zusammenhange überblickt: die von der Wiege bis zur Bahre alles individuelle Leben beherrschende und regelnde Lebensgemeinschaft, die Beschränkungen des Erwerbes, den Verzicht auf das Gold, die künstliche Grundbesitzverteilung, die Zwangspolitik in bezug auf das eheliche Leben und so vieles andere, was ihn – wie gesagt – selbst gleich einem Traume anmutet –, so muß er sich geradezu gestehen, daß auf ein Zusammentreffen so günstiger Umstände, wie sie die vollständige Verwirklichung seines Entwurfes voraussetzen würde, wohl kaum jemals zu hoffen sei.854 Er ist darauf gefaßt, daß man bei der Ausführung das eine oder andere Stück werde fallen lassen müssen,855 und daß so das Endergebnis möglicherweise nur ein Musterstaat dritten Ranges sein könnte.856 Das ganze Projekt erscheint ihm wohl als ein verwegenes Wagestück,857 dessen Gelingen genau ebenso Glückssache sei, wie ein Wurf im Würfelspiel!858 Ja die ganze Erörterung wird[229] wiederholt selbst als ein Spiel, wenn auch als »verständiges« Spiel hingestellt, als edler Zeitvertreib, der über die Trübsal des Greisenalters hinweghilft.859

Wenn wir uns diese beiden Grundstimmungen vergegenwärtigen, die sich durch den gesamten Entwurf hindurchziehen, auf der einen Seite den heiligen Eifer »göttlicher Begeisterung«, der ganz in der Idee der radikalen Weltverbesserung aufgeht und die ersehnten Ideale um jeden Preis verwirklicht sehen möchte, auf der anderen das geschärfte Gefühl des Alters für die in der Schwäche der Menschennatur und in den Reibungswiderständen des Lebens selbst liegenden Schwierigkeiten der Ausführung, so wird uns eine weitere Eigentümlichkeit des Gesetzesstaates verständlich, die derselbe allerdings mit manchen anderen sozialistischen Systemen teilt: nämlich der Widerspruch zwischen der proklamierten Freiheitsidee und der Unterwerfung des ganzen individuellen Daseins unter eine bis ins äußerste Detail durchgeführte staatliche Bevormundung.

Der Bürger des Gesetzesstaates soll sich als ein freier Mann fühlen; die pädagogisch-didaktische Tendenz der gesamten Gesetzgebung ist darauf berechnet, daß die ideale sittliche Ordnung, welche hier verwirklicht werden soll, möglichst von innen heraus, aus der Harmonie der Einzelwillen, aus der innerlichen Einheit der Gesinnung der Bürger erblühe, daß die freie Selbstbestimmung den äußeren Zwang des Gesetzes tatsächlich überflüssig mache. Trotzdem und trotz der naiven Zuversicht auf die unwiderstehlich überzeugende Kraft des Gesetzeswortes fehlt doch der rechte Glaube an die Möglichkeit einer solchen Freiheit. Obwohl jeder einzelne weiß, daß er in einem Staate lebt, der ihm sein individuelles Glück, sein geistiges und materielles Wohlbefinden, wie kein anderer verbürgt, bedarf doch dieser Staat eines gewaltigen Beamtenheeres, einer in die persönlichsten Beziehungen eindringende Kontrolle, um des gesetzestreuen Verhaltens seiner Bürger sicher zu sein! Das Individuum wird in straffe Zucht genommen, die der Freiheit der eigenen Entschließung die allerengsten Grenzen steckt. Dem Worte des Gesetzgebers, dessen Idealismus bei aller zur Schau getragenen »Sanftmut« etwas Starres, Hartes und Herrschsüchtiges hat, kommt ein raffiniert ausgedachtes System mechanischen Zwanges zu[230] Hilfe, welches die Individuen mit unwiderstehlicher Gewalt zusammenschmiedet, ihr persönliches, wie ihr Familienleben, ihr Denken und Forschen, wie ihr künstlerisches und religiöses Empfinden, kurz ihr gesamtes äußeres und inneres Sein inhaltlich zu bestimmen und in die von dem Gesetzgeber gewünschte Richtung hinein zu zwingen sucht. Der ausgeprägt hierarchische Zug des Denkens, den der extreme Sozialismus seitdem nie wieder verleugnet hat, tritt uns hier in ganz besonders charakteristischer Form entgegen. Und ein solches Leben soll für den Kulturmenschen noch lebenswert, ja die Quelle des höchsten persönlichen Glückes sein!

Derselbe Mann, der individualistisch genug empfindet, um offen zuzugeben, daß, »wenn alles nach Vorschriften geschehen sollte, das Leben, das ohnehin schon schwer genug, völlig unerträglich würde«, derselbe Mann erscheint von einem unüberwindlichen Mißtrauen gegen jede Befreiung des Individuums von der Zwangsgewalt äußerer Normen beseelt. »Alles, was im Staate nach fester Ordnung und Satzung geschieht, bringt allen möglichen Segen, aber das gar nicht oder ungenügend Geordnete bringt meist einen Teil dieses Wohlgeordneten wieder in Verwirrung.«860 Als ob nicht gerade durch die äußerliche statutarische Regelung von Dingen, welche durchaus nur aus dem guten Willen der einzelnen hervorgehen können, das ideale Ziel der ganzen Gesetzgebung in Frage gestellt würde! In der engen Sphäre, welche dieser platonische Sozialstaat von solcher Regelung frei läßt, würde die geistige Spannkraft und Regsamkeit des Individuums, deren gerade dieser Staat zu seiner Erhaltung so notwendig bedürfte, systematisch gelähmt und untergraben; unter dem Zwange der Regulative, der ihn auf Schritt und Tritt begleitet, würde der einzelne schwerlich zu jener Selbständigkeit des Charakters und Geistes gelangen, ohne welche die von Plato selbst gewünschte wahrhaft freie Selbstbestimmung überhaupt nicht möglich ist.

Es ist ein verhängnisvoller – freilich bis auf den heutigen Tag immer und immer wiederkehrender – Irrtum zu glauben, daß bei der Lösung sozialer Aufgaben die private Initiative möglichst auszuschließen und durch Rechtsnormen und gesetzgeberische Technik zu ersetzen sei; ein Prinzip, das folgerichtig durchgeführt, die öffentlichen[231] Institutionen zu einem geistlosen Mechanismus machen würde, der beständig der Direktion der Werkmeister bedürfte.

Gerade das Umgekehrte des genannten platonischen Satzes ist richtig! Nicht diejenige Organisation des Staates ist die idealste, welche das kunstreichste System der Regulative ausgebildet hat, sondern in welcher – unbeschadet der Lebensinteressen der Gesamtheit – der Zwang aus den menschlichen Beziehungen möglichst hat entfernt werden können. Je mehr die spontane Tätigkeit der einzelnen oder der kleineren Kreise eine befriedigende Lösung der staatlichen und gesellschaftlichen Aufgaben erwarten läßt, um so besser! »Jede Minderung der spontanen Tätigkeit des einzelnen ist Kraftverlust unter dem Gesichtspunkte der Gesamtheit und Verlust an Freude und eigentümlicher Bildung für den einzelnen.«861

Freilich ist gerade diese individuelle Bildung, die Mannigfaltigkeit individuellen Denkens und Empfindens ein Gegenstand des Mißtrauens für den sozialistischen Doktrinär, weil sie die Unterwerfung der Geister unter seine mit dem Anspruch auf alleinige Wahrheit verkündeten Satzungen in höchstem Grade erschwert, eine stete Quelle von Konflikten zwischen der starren Autorität dieser absoluten Normen und dem Bewußtsein des einzelnen werden muß. Um solchen Konflikten schon im Entstehen vorzubeugen und die für die Aufrechterhaltung des Systems unentbehrliche »Einheitlichkeit« der Gesinnung zu erzielen, sieht sich dieser Sozialismus zu der verhängnisvollen Konsequenz gedrängt, gerade in diejenigen Gebiete des menschlichen Daseins regulierend einzugreifen, welche recht eigentlich persönlicher Natur sind, und deren Wert ganz wesentlich auf ihrer Individualisierung beruht, – die aber eben deshalb auch der Überwachung und Beeinflussung durch Gesetz und Polizei am wenigsten zugänglich sind: die Gebiete geistigen und künstlerischen Schaffens, moralischen und religiösen Empfindens, Haus und Familie u. dgl. m.

Daß hier die geringste Überspannung staatlichen Zwanges wahrhaft verderblich und zerstörend wirken kann, daß das einseitige Ordnungsprinzip, von welchem Plato ausgeht, nichts weniger als geeignet ist, die erträumte Harmonie zwischen Staat und Individuum zu schaffen, das wird im Eifer der radikalen Weltverbesserung vollkommen verkannt. Was soll man vollends zu der ungeheuerlichen Verirrung sagen, Metaphysik, Glauben, Forschung zur Staatssache machen zu wollen? Nichts[232] könnte die Kulturwidrigkeit des doktrinären Sozialismus drastischer beleuchten als diese Seite des platonischen Staatsideals. Das ist in der Tat die letzte Konsequenz, bei welcher der sozialistische Staat notwendig angelangen muß: die Knebelung aller Geistesfreiheit. Daß der moderne Sozialismus dies leugnet, ist nur ein Zeichen seiner Unklarheit oder Unwahrhaftigkeit. Die unerbittliche Logik und unbestechliche Wahrheitsliebe des antiken Denkers läßt hier keine Illusion aufkommen.

Um so größer ist freilich die Illusion, in der er selbst sich befindet. Er sieht nicht, daß sich in dieser Frage der extreme Sozialismus in einem ewigen Zirkel bewegt. Der sozialistische Staat kann, ohne seinen eigenen Bestand zu gefährden, unmöglich Freiheit des Denkens und Glaubens gewähren; seine innerste Natur treibt ihn dazu, auch das geistig-persönliche Leben mit den Mitteln der allmächtigen Staategewalt zu regeln und zu beherrschen. Und doch lehrt anderseits die Geschichte auf tausend Blättern, daß dieses Bemühen auf die Dauer ein erfolgloses sein muß, weil es mit den Lebensbedürfnissen des Kulturmenschen in einem unversöhnlichen Widerspruch steht.

Dadurch daß der Kampf um ein Gesellschaftsideal zu einem Kampf um die Weltanschauung und um die Seelen der Menschen wird, steigert er sich mit psychologischer Notwendigkeit zu einer Leidenschaft, welche die idealsten Güter der Kultur gefährdet. Um seinem Ideal zum Siege zu verhelfen, scheut der »Gesetzgeber« Platos nicht davor zurück, die höchsten geistigen Errungenschaften des Hellenentums preiszugeben! »Aller Dinge Maß ist der Mensch«, so lautet ein Fundamentalsatz wissenschaftlichen Denkens, einer der bedeutsamsten Fortschritte in der Selbstbesinnung der Menschheit. All unser Erkennen – sagt dieser Satz – ist nur menschliches Erkennen. All unsere »Wahrheiten« sind menschliche Wahrheiten und als solche bedingt, d.h. von den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens oder von unseren Wertmaßstäben und Werturteilen abhängig. Alle sogenannten Dogmen, die ewige Wahrheiten sein wollen, sind geschichtlich geworden, sie sind unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen entstanden und Erzeugnisse bestimmter Entwicklungsphasen des menschlichen Geistes- und Gefühlslebens, die unter anderen Verhältnissen von selbst ihre Bedeutung verlieren. Und dieser Relativität unseres Wissens entspricht die Relativität und Wandelbarkeit der Normen, nach denen der Mensch sein Dasein gestaltet, die Wandelbarkeit menschlicher Einrichtungen selbst. Ein Ergebnis, das nun aber freilich dem Doktrinär, der sich[233] im Besitz einer zweifellosen absoluten Wahrheit glaubt, in innerster Seele widerstrebt. Er bedarf eines Maßstabes, der sein Ideal über alle Menschenmeinung hinaushebt und so gegen alle Anfechtung sicherstellt. Daher stellt Plato dem homo mensura-Satz als das Grundprinzip seines Gesetzesstaates die Lehre entgegen: »Gott ist das Maß aller Dinge«;862 und er findet die Existenzberechtigung dieses Staates und seiner Institutionen eben darin, daß sie diesem »göttlichen« Maßstab entsprechen.

Eine jener in der Geschichte der Menschheit so häufigen metaphysischen Erscheinungen, welche menschliche Ansichten über die Gottheit ohne weiteres mit der Gottheit selbst identifiziert und mehr oder minder unverhohlen als göttlich inspiriert hinstellt. Ein ungeheuerer Denkfehler, der geradezu verhängnisvoll wird, wenn der »Inspirierte« in die Lage des platonischen »Gesetzgebers« kommt und den Menschen mit unfehlbarer Autorität vorschreiben kann, sich die Glaubensvorstellungen anzueignen, die er für die »richtigen« hält, und »sich die Gottheit gerade so vorzustellen, wie es das Gesetz gebietet«.863 Dieser platonische Gesetzgeber, der im Namen der Gottheit spricht, ist ja gewissermaßen der irdische Stellvertreter Gottes; und was er in »göttlicher Begeisterung« schafft, ist ein Reich Gottes auf Erden,864 dessen Bürgern, weil sie »in der Nachfolge Gottes« stehen (ἀκόλουϑοιϑεῷ) zugleich das ewige Heil verheißen ist.

Wie freilich ein solches »Reich Gottes« auf Erden in Wirklichkeit aussehen würde, hat die europäische Menschheit zur Genüge in all dem namenlosen Jammer der blutigen Jahrhunderte erfahren, in denen sie ihr irdisches und ewiges Heil in die Hand eines solchen »göttlichen« Gesetzgebers legte. Die Universal theokratie des römischen Papsttums, deren Spruch den mittelalterlichen Menschen in die Hölle hinabstieß oder zu himmlischen Wonnen emporhob, hat nur zu sehr die Prophezeiung des jüngeren Plato bestätigt, daß die »verderblichen Fabeln« über die Schrecken des Hades die Geister entnerven und zur Feigheit erziehen würden;865 und sie hat mit furchtbarer Deutlichkeit den späteren Plato ad absurdum geführt, der die Angst vor diesen Schrecknissen als einen Hauptfaktor in seinen politischen Kalkul mit einstellt. Denn diese Furcht der vor der Verdammnis zitternden Menschenseele und die Dogmen, die nach der Absicht des platonischen Gesetzgebers[234] die Menschen von zarter Kindheit an sich »wie Zauberformeln einsingen« und gewissermaßen »einzaubern« sollen, sowie die auf göttlichen Ursprung zurückgeführten Überlieferungen, die ein festes Bollwerk gegen unerwünschte Neuerungen bilden sollen, sie sind in der Form, die Dogma und Tradition durch das mittelalterliche Seitenstück des platonischen Gesetzgebers erhalten haben, das Hauptwerkzeug geistigseelischer Knechtung und barbarischer Mißhandlung geworden, vor deren Verheerungen selbst der greisenhafte Starrsinn des den Ketzer mit Kerker und Tod bedrohenden platonischen Gesetzgebers zurückgeschaudert wäre!

Hier ist die Saat blutig aufgegangen, welche die vom Platonismus so stark beeinflußte kirchliche Doktrin der Folgezeit in die Herzen der Menschheit gestreut hat. Echt hellenische Religion war keine statutarische und keine Buchreligion; sie ließ den Vorstellungen über das Göttliche einen sehr freien Spielraum und hat sich nie von einer Theologie in Fesseln schlagen lassen. Sie hatte daher auch wenig Anlaß zur Verfolgung von sogenannten Ketzereien, zur Vergewaltigung geistiger und religiöser Freiheit. Wie ganz anders, als der Geist siegte, der uns in Platos letztem Werk entgegentritt! Der »gottbegeisterte« Gesetzgeber, den er in diesem seinem »Testament« der Mit- und Nachwelt vor Augen stellt, beansprucht eine Hirten- und Lehrgewalt, wie sie kein Priester des klassischen Hellenentums zu fordern gewagt hätte. Die Dogmatik, die er in seinem Gesetzbuch niedergelegt hat, wird geradezu kanonisiert, als allverbindliche göttliche Wahrheit proklamiert. Das ganze zehnte Buch der Gesetze gibt eine solche Glaubenslehre, ganz ähnlich wie die heiligen Schriften des Orients. Es hat ja etwas Ergreifendes, wenn der Greis von den Mythen spricht, die wir gewissermaßen mit der Muttermilch eingesogen, die die Herzen der Kinder gleich Zaubersprüchen gefangen genommen, und von denen sie immer wieder aufs neue bei Opfern und Gebeten gehört hätten. Aber was soll man dazu sagen, daß ihm jedes Verständnis für eine Entwicklungsphase des Denkens abhanden gekommen ist, in der dieser Kinderglaube eben dem Manne nicht mehr genügt, daß er die Menschen, die »nicht mehr an die Mythen glauben«, geradezu für hassenswert erklärt?866 Ein Standpunkt, der jeglichem Fanatismus Tür und Tor öffnet, wenn er auch immer noch besser ist als jene widerliche pfäffische Sophistik, die den Mord Andersdenkender »aus Liebe« fordert.

[235] So steht der platonische Gesetzesstaat am Anfang einer Bewegung, die das zeitlich Bedingte verewigen und zu einer zwingenden Norm für alle kommenden Geschlechter machen wollte, die die Menschheit am Ende in das Joch einer Macht zwang, die wie mit tausend Polypenarmen in alles irdische Leben und Streben hineingriff und eine Gewalt »nicht nur über den Willen, sondern auch über den Verstand« der Menschen beanspruchte; eine Macht, die das platonische Bild von den »göttlichen Hirten«867 durch die Herabdrückung des denkenden Menschen auf das Niveau eines Herdendaseins zur traurigen Wirklichkeit gemacht hätte, wenn sich nicht der europäische Geist trotz alledem wieder zur Fähigkeit freien Denkens erhoben und gegen alle Versuche, sein Denken inhaltlich zu bestimmen und in eine Richtung zu zwingen, den Anspruch der individuellen Vernunft und des individuellen Gewissens auf volle Autonomie und damit wissenschaftliche Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit wenigstens in den geistig höherstehenden Schichten siegreich zur Geltung gebracht hätte.868

Damit ist ein Haupt- und Grundgedanke des platonischen Gesetzesstaates, die kulturwidrige Idee der »gesetzmäßigen« Glaubenseinheit aller Volksgenossen, durch die Geschichte für immer gerichtet. Derselbe Mann, der einst die Herrschaft der Wissenschaft im Staate gefordert hatte, degradiert den Staat zu einer mit Zwangsgewalt ausgestatteten Anstalt zur Unterwerfung der Wissenschaft und Vernunft unter das Dogma! Sein Gesetzgeber, der sogar die nach diesem Dogma »irrigen« Vorstellungen über die Sternenwelt als irreligiös verfolgt, ist der direkte Vorläufer der Kerkermeister des Galilei und jener theologischen Gesetzgeber der Gegenwart, die noch im 20. Jahrhundert der Wissenschaft verbieten wollen, eine bestimmte Art von religiöser Literatur »außerhalb eines jeden Zusammenhanges mit irgendeiner göttlichen (d.h. ihrer eigenen) Autorität ausschließlich nach den Grundsätzen der Wissenschaft und mit jener Unabhängigkeit des Urteils zu interpretieren, die man beim Studium irgendeines profanen Dokumentes anzuwenden pflegt«. Der bewußte Verzicht auf wissenschaftliches, d.h. vernunftgemäßes Denken: der Tod der Wissenschaft in der Umarmung des Orients! Man denkt dabei unwillkürlich an das platonische Bild von[236] den menschlichen Marionetten, die an allerhand Fäden und Drähten, darunter gar starken und selbst eisernen, gezogen werden;869 wobei es freilich eine seltsame Illusion Platos ist zu glauben, daß der »goldene Faden der Vernunft« den Vorrang behaupten wird, wenn der »Gesetzgeber« den Menschen des unabhängigen Gebrauches seines Urteils beraubt.

Das ist das Erbe jener geistigen Dekadenz, die sich in der Zeit vom platonischen Gesetzesstaat bis zum »Gottesstaat« Augustins vollzogen hat, d.h. bis zum völligen Triumph einer Weltanschauung, die mit ihrer kindlichen Hilflosigkeit gegen orientalische Mythendichtung und mit ihrem krassen Wunderglauben jedes wissenschaftliche Begreifen von Natur und Geschichte auf ein Jahrtausend hinaus nahezu unmöglich machte. Die Rückbildung der hellenischen Hochkultur zum geistigen Habitus der Halbkultur, zum Typus des mittelalterlichen Menschen! Die Rückbildung auch des Staates auf ein Niveau, das der klassische Hellene als barbarisch bezeichnet hätte. Denn für diesen ist der Staat eine Gemeinschaft freier Männer, der Staat dagegen, der sich zum »Scharfrichter« eines »göttlichen« Gesetzmachers macht und in blindem Gehorsam (caeca obedientia) und mit »geschlossenen Augen« (oculis clausis) dessen Blutbefehle zu vollstrecken hat, wäre für ihn identisch gewesen mit der schlechtesten Form eines Staates, mit der Herrschaft eines Gewalthabers, der »den Nomos bei sich selber hat«, d.h. mit der Tyrannis, und zwar einer Tyrannis allerschlimmster Art, da sie zugleich eine Knechtschaft der Seelen bedeutet.

Kurz, es ist das Zerrbild eines Staates, zu dem die Prinzipien des platonischen Gesetzes- oder richtiger gesagt Polizei- und Kirchenstaates mit unerbittlicher Konsequenz führen müssen; eine politische Mißbildung, auf die man in gewissem Sinne wenigstens anwenden könnte, was Goethe in der »Italienischen Reise« unterm 23. Oktober 1786 von dem unglücklichen Kirchenstaat gesagt hat: »Dieser Staat des Papstes scheint sich nur zu erhalten, weil ihn die Erde nicht verschlingen will.« Ein Gegenstand des Ekels und des Grauens!

Aber auch damit ist das traurige Kapitel menschlicher Dekadenz nicht erschöpft, an die wir durch die letzte Phase des platonischen Denkens gemahnt werden. Der nagende Schmerz über die Reibungswiderstände des Lebens gegen die Ideale, die seine ganze Seele erfüllten, hat noch eine andere schwere Verirrung zur Folge gehabt. Unter dem[237] überwältigenden Eindruck der Macht des Bösen in der Welt, die seinem glühenden Reformerdrang so fühlbare Enttäuschungen bereitet hatte, ist dem alten Mann der düstere Gedanke gekommen, daß der Idee des Guten eine negativ wirkende Kraft entgegenstehen müsse, sozusagen eine böse Weltseele, die eine verdächtige Ähnlichkeit mit einer der schlimmsten Ausgeburten menschlichen Aberwitzes hat: mit dem Gespenst des »Teufels«, das der europäische Geist bis auf den heutigen Tag noch nicht völlig zu bannen vermocht hat. In der Tat, Wilamowitz hat recht, wenn er von dieser letzten Lebensphase Platos sagt: »Sie muß jedem, der ihn liebt, ins Herz schneiden.«870

Günstiger liegt die Sache für den platonischen Standpunkt auf volkswirtschaftlichem Gebiete. Im wirtschaftlichen Verkehr, in der wirtschaftlichen Produktion handelt es sich nicht entfernt in dem Grade, wie auf geistig-ethischem Gebiete um die Betätigung des individuellen und persönlichen Lebens, sondern – in weitem Umfange wenigstens – um gleichartige und unpersönliche Tätigkeit. Wirtschaftliche Handlungen, wirtschaftliche Leistungen sind daher in ungleich größerem Umfang kontrollierbar und erzwingbar als Meinungen, Überzeugungen und Lebensgewohnheiten, und demnach auch die Bedenken gegen staatliche Regulierung weit geringer.

Freilich ist hier eben deshalb die Versuchung zu einer übermäßigen Ausdehnung der Staatssphäre und der staatlichen Bevormundung eine besonders große. Und in der Tat ist auch Plato dieser Versuchung erlegen. Sein Ordnungsprinzip, welches »womöglich nichts ohne Aufsicht« lassen möchte, ist selbst in seiner Anwendung auf das volkswirtschaftliche Gebiet eine großartige Verirrung. So recht er mit seiner Forderung hat, daß die Vernunft auch diese Dinge übersehen und beherrschen, sie nicht einfach dem blinden Zufall überlassen soll, so verkehrt ist es, daß er Zwang und Regulative, die ohne Schädigung der individuellen Energie doch immer mehr nur als Ausnahme und Nachhilfe eintreten können, auch hier zur Regel erhebt und an die Stelle eines lebendigen Organismus eine Maschine, einen von einer Stelle aus zu lenkenden Mechanismus setzt.

Die Art und Weise, wie im Gesetzesstaat alle sozialökonomischen Probleme von Staats wegen und von oben her gelöst werden, die planmäßig zentralisierte Staatsleitung von Produktion, Konsumtion und Verkehr, welche über die gesamte Volkswirtschaft wie über eine große[238] Hauswirtschaft schaltet, die rücksichtslose Unterwerfung aller Individualwirtschaften unter ein System allgemeiner Normen, die nicht aus den Bedürfnissen der lebendigen Wirklichkeit, sondern aus den Abstraktionen einer absoluten Doktrin erwachsen sind, die abschreckenden polizeistaatlichen Mittel, mit denen diese ganze Politik der Zentralisation und Nivellierung ins Werk gesetzt wird, – all das kann gewiß nicht als ein wünschenswertes Ziel erscheinen, ganz abgesehen davon, daß nicht einmal die Möglichkeit der Durchführung erwiesen ist.

Es genügt doch nicht, wenn der Gesetzgeber auf dem Papier den Anteil bestimmt, der nach seinen theoretischen Überzeugungen den Grundbesitzern, Kaufleuten, Handwerkern usw. am Volksvermögen und -Einkommen gebührt! Er muß auch zeigen, wie der Apparat beschaffen sein und fungieren soll, der die systematische Regulierung aller Besitz- und Einkommensverhältnisse zu verwirklichen hat.

Darauf erwartet man vergeblich eine befriedigende Antwort. Plato begnügt sich, die Wahlen zu der betreffenden Behörde mit gewissen Kautelen zu umgeben und dieselbe mit weitgehenden Machtbefugnissen auszustatten. Als ob damit eine hinlängliche Bürgschaft für die genügende Durchführung der ihr gestellten unendlich schwierigen Aufgabe gegeben wäre! Nicht einmal dafür ist der Nachweis erbracht, wie es möglich sein soll, in einem Wirtschaftssystem, in welchem dem Haupthebel aller wirtschaftlichen Kraftäußerung, dem individuellen Interesse ein so unendlich bescheidener Spielraum zu seiner Betätigung übrig bleibt, auch nur den ungestörten Fortgang und eine genügende Leistungsfähigkeit des Produktions- und Verkehrsprozesses zu erhalten. Solche Fragen lassen sich eben nicht so einfach beiseite schieben, wie dies hier geschehen ist, – wenigstens dann nicht, wenn man Vorschläge für das praktische Leben machen will. Und darauf verzichtet ja Plato keineswegs, obwohl er die Frage der Ausführbarkeit als eine sekundäre behandelt.

Die hier geschilderte Gesetzgebung würde schon darum Gefahr laufen, ein toter Buchstabe zu bleiben oder in unlösbare Widersprüche mit den tatsächlichen Verhältnissen zu geraten, weil sie in unerträglicher Weise schematisiert und generalisiert. In das ideale Schema seines Systems gebannt, kennt Plato die Rücksichten nicht, welche der Gesetzgeber auf die Mannigfaltigkeit der Daseinsbedingungen menschlicher Wirtschaft, auf die Vielgestaltigkeit der Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Interessenkreisen zu nehmen hat. Er sieht nicht,[239] daß jede Wirtschaftspolitik um so erfolgreicher sein wird, je mehr sie individualisiert, um so wirkungsloser, je mehr sie verallgemeinert.

Man vergegenwärtige sich nur das Agrarrecht des Gesetzesstaates, auf welchem der soziale Aufbau des ganzen Staatskörpers beruht! Dasselbe ist offenbar das Ergebnis einer Reaktion gegen die Zustände, wie sie sich in Platos Zeit im Zusammenhange mit der Mobilisierung des Grundeigentums, der Bodenzersplitterung und der Aufsaugung des Grundbesitzes durch das Geldkapital herausgebildet hatten. Das Urteil, das sich Plato auf Grund dieser lokalen Beobachtungen über die Erfordernisse einer rationellen Agrarpolitik gebildet hatte, wird echt doktrinär ohne weiteres zur Höhe einer allgemein gültigen Wahrheit erhoben. Das Kennzeichen einer gesunden Agrarverfassung kann von diesem Standpunkte aus nur die strengste Gebundenheit sein: absolute Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit des Grundbesitzes, sowie ein die ungeteilte Vererbung und den wirtschaftlichen Bestand der Anwesen sicherndes Zwangserbenrecht. Damit soll die Panacee für die Heilung oder Verhütung der schlimmsten sozialen Krankheitserscheinungen gefunden sein! Daß die Stabilisierung einer gewissen Größe der Landgüter nur unter der Voraussetzung eines ganz bestimmten, genau und gleichförmig festgehaltenen Betriebes richtig sein kann, daß eine schematische Festsetzung dieser Größe durch die Gesetzgebung niemals den Verschiedenheiten von Boden, Klima und Anbauverhältnissen genügend Rechnung tragen könnte, daß nicht der Gesetzgeber, sondern nur der Landwirt selbst am besten weiß, wie groß sein Gut sein muß, um der Volkswirtschaft die besten Dienste zu leisten – kurz, daß die ganze Frage der Freiheit und Gebundenheit des Grundeigentums überhaupt nur bedingt, d.h. nur für bestimmte Gegenden und mit Rücksicht auf die gegebenen Wirtschafts- und Kulturverhältnisse beantwortet werden kann,871 das kommt Plato nicht zum Bewußtsein.

Obgleich die Volkswirtschaft eines Staates, der in seiner Isolierung »sich selbst genügen« muß, notwendig alle Formen der landwirtschaftlichen Produktion, Viehzucht, Ackerbau und gartenmäßige Kulturen umfaßt und daher schon durch das Produktionsinteresse auf eine Individualisierung des Wirtschaftsrechtes hingewiesen ist, wird doch die ganze Agrarpolitik des Gesetzesstaates auf rein doktrinären Erwägungen und Schlagworten aufgebaut; und danach wird das ganze agrarische[240] Wirtschafts- und Verkehrsleben ohne Rücksicht auf die Verschiedenartigkeit der Existenzbedingungen in streng uniformer Weise geregelt, eine starre Unbeweglichkeit der einmal gegebenen Besitzverhältnisse erzwungen. Ebensowenig werden die schwerwiegenden sozialpolitischen, privat- und volkswirtschaftlichen Momente gewürdigt, welche auf dem Gebiete des Erwerbsrechtes einer doktrinären Gleichheitsmacherei entgegenstehen. Die Mißstände, welche die allgemeine und ausschließliche Durchführung der Individualsukzession (des Anerbenrechtes) unvermeidlich zur Folge haben würde, scheinen für den platonischen Sozialstaat nicht vorhanden zu sein. Über die Schwierigkeiten z.B., welche im Anerbenrecht die Gestaltung der Abfindungsnormen macht, hilft er sich mit einer ganz schablonenhaften Regelung der Frage hinweg. Der in der Natur dieses Rechtsinstitutes liegende Interessengegensatz zwischen Anerben und Geschwistern kommt hier so wenig zum Bewußtsein, der Gemeinsinn und die Überzeugung von der Notwendigkeit des Institutes ist eine so starke, daß zugunsten des Anerben die Erbanteile der Geschwister auf ein ganz kümmerliches Maß herabgedrückt werden können, ohne den Familienfrieden und die soziale Harmonie irgendwie zu stören! Ja der leichtherzige Optimismus, mit dem der Gesetzgeber hier der Entwicklung der Dinge entgegensieht, versteigt sich sogar zu der naiven Erwartung, daß die durch die Geschlossenheit des Grundbesitzes immer wieder von neuem notwendig werdende Abstoßung eines Teiles der nachwachsenden Generation sich ohne jeden Zwang werde bewerkstelligen lassen, daß die Enterbten in die Entfernung von der heimatlichen Erde sich allezeit freiwillig fügen würden! Welchen Wert Rechtsnormen haben, welche nur unter solchen utopischen Voraussetzungen realisierbar sind, bedarf keiner Ausführung. Hier gewinnt man in der Tat den Eindruck, als handle es sich um ein Spiel mit Wachsfiguren, nicht um Menschen, die von Leidenschaften und Interessen bewegt sind.

Und was für das Agrarwesen gilt, trifft auch für alle anderen Gebiete der Wirtschaftspolitik zu: überall derselbe Geist der Schablone und der Schematisierung, welche den Dingen und Menschen, wie sie nun einmal in Wirklichkeit sind, fortwährend Gewalt antut und daher in der Praxis fast durchweg an unüberwindlichen technischen und psychologischen Schwierigkeiten scheitern würde. Die ideale Republik Magnesia würde ihrem »Gesetzgeber« wahrscheinlich dasselbe Schicksal bereitet haben, welches Cabet, der Erfinder, Gesetzgeber und Patriarch[241] Ikariens erfuhr, der nach endlosen Streitigkeiten und allgemeiner Enttäuschung von seinen Ikariern vertrieben, von seinen Freunden verlassen in Armut und Einsamkeit gestorben ist! – So zeigt schon dieser erste Entwurf einer einseitig sozialistischen Organisation der Volkswirtschaft die Unfähigkeit des extremen Sozialismus, mit seinen einfachen logischen Formeln der sozialen Probleme wirklich Herr zu werden. Ein Mißerfolg, der uns übrigens nicht abhalten darf, die großen und fruchtbaren Gedanken anzuerkennen, die doch auch hier keineswegs fehlen.

Man hat im Hinblick auf den »geschlossenen Handelsstaat« von Fichte gesagt, derselbe sei der erste gewesen, der die Moral in die Nationalökonomie einführte.872 In Wirklichkeit ist dies das Verdienst des platonischen Staates, der gewiß nicht mit geringerer Energie als der Sozialstaat Fichtes das hohe Ziel verfolgt, daß auch in allen ökonomischen Beziehungen immer mehr Recht und Billigkeit, Vertrauen und reelle Offenheit an die Stelle von Täuschung, Betrug und Schwindel trete.

Auch darin ist Plato ein Vorläufer Fichtes, daß er in den Grundzügen seines ökonomischen Systems Aufgaben zeichnet, die in der Tat als das wahre Ideal einer richtigen Ökonomie des Güterlebens anzuerkennen sind. Wenn die Wirtschaftspolitik des Gesetzesstaates ihr Augenmerk vor allem darauf richtet, daß die Bevölkerung nach den verschiedenen Erwerbszweigen richtig verteilt sei und daß die Ökonomie des Gattungslebens im Gleichgewicht mit der wirtschaftlichen Existenzmöglichkeit bleibe, so erscheint sie von einer richtigen Einsicht in die Grundbedingungen einer gesunden Volkswirtschaft geleitet. Ebenso ist ihr Bestreben, eine allzu große Ungleichheit des Besitzes zu verhüten, an und für sich ein durchaus berechtigtes. Wenn auch das gegenseitige Verhältnis der Stände in diesem Staate keineswegs idealen Anforderungen entspricht und die Lage der gewerbetreibenden Klasse z.B. eine geradezu unhaltbare und unerträgliche ist, darin liegt doch ein zukunftsreicher Gedanke, daß in einem gesunden Gemeinwesen die Bedingungen für die Existenz und das Gedeihen eines zahlreichen befriedigten, sittlich und politisch tüchtigen Mittelstandes vorhanden sein müssen – als der besten Schutzwehr gegen das Entstehen einer Übermacht[242] der Extreme, gegen Mammonismus und Pauperismus, Oligarchie und Ochlokratie und gegen die Tyrannis. Ein Gedanke, der durch die klassischen Ausführungen der aristotelischen Politik über die soziale Mission des Mittelstandes zum Gemeingut der politischen Wissenschaften geworden ist.873 Mit Recht wird ferner in dem Gesetzesstaat der größte Wert darauf gelegt, daß der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung ein möglichst sicherer sei, daß der Verkehrsprozeß sich möglichst regelmäßig und gleichmäßig gestalte, Wert- und Preisschwankungen und sonstige, Hab und Gut des einzelnen gefährdende Störungen immer seltener werden, daß endlich durch dies alles ein möglichst hoher Grad von Sicherheit des Besitzes und der Existenz der einzelnen erreicht werde. Das sind in der Tat wahre Aufgaben der wirtschaftlichen Tätigkeit jedes Volkes und Staates.

Worin Plato irrt, das sind – ähnlich wie bei Fichte – die Mittel der Ausführung; und häufig besteht sein Irrtum nur darin, daß er unter dem Banne seines einseitigen Ordnungsprinzipes eine Aufgabe für den Staat in Anspruch nimmt, welche dieser nicht von sich aus lösen kann, sondern nur die Gesellschaft von dem einzelnen aus, wobei Staat und Recht höchstens mittelbare Beihilfe gewähren können.

Ja selbst die Mittel, welche Plato zur Herstellung gesunder sozialökonomischer Verhältnisse empfiehlt, sind wenigstens teilweise und unter der Voraussetzung, daß sie eben nur bedingte Geltung beanspruchen können, in hohem Grade beherzigenswert. Und ebenso verdienen die allgemeinen Gesichtspunkte, in denen diese Vorschläge ihren Rechtfertigungsgrund finden, die größte Beachtung.

Ein Agrarrecht z.B., welches die ungeteilte Erhaltung der Heimstätten im Erbweg sichert, kann unter Umständen sehr wohl durch das Bedürfnis der Produktion und im Interesse der Gesamtwohlfahrt des Volkes gefordert sein. Und daß in diesem Falle der Staat berufen ist, mit seiner Zwangsgewalt einzugreifen, daß es eine Illusion wäre, sich auf einen freiwillig richtigen Eigentumsgebrauch zu verlassen, das hat die Geschichte zur Genüge gezeigt.

Von wahrhaft vorbildlicher Bedeutung ist es, wie die Gesetzgebung des platonischen Gesetzesstaates den Grund und Boden als das Wertvollste proklamiert, was ein Volk sein eigen nennt, wie sie den innigen Zusammenhang zwischen Bodenbesitz und Bodenwirtschaft einerseits und den wichtigsten Lebensinteressen des Volkes anderseits erkennt und[243] mit rücksichtsloser Energie das Recht des Staates geltend macht, dahin zu wirken, daß der Grundbesitz im Einklang mit den Bedürfnissen der Gesamtheit genutzt und bewirtschaftet werde. Sowenig man sich mit dem Monopole der Vollbürger auf die Grundrente und mit dem Lose befreunden kann, welches den Bebauern des Bodens auferlegt wird, so sympathisch berührt es, daß das öffentliche Rechtsbewußtsein des Gesetzesstaates dieses Renteneinkommen nur in der Voraussetzung anerkennt, daß es von seinen Empfängern als die Grundlage für eine dem öffentlichen Wohle gewidmete rastlose Tätigkeit, für die Übernahme wichtiger öffentlicher Funktionen benützt wird, daß sie nicht faule Drohnen, sondern Männer der strengsten Arbeit und Pflichterfüllung sind.

Nicht minder vorbildlich ist die Art und Weise, wie aus diesen Grundanschauungen heraus alles Privateigentum zugleich unter den öffentlich rechtlichen Gesichtspunkt gestellt wird, wie insbesondere das Grundeigentum nirgends als ein bloß privatrechtliches, sondern als ein sozialrechtliches Institut aufgefaßt und behandelt wird. Während die rein individualistischen Privatrechtssysteme Inhalt und Umfang des Privateigentums einseitig durch den individuellen Willen des Eigentümers bestimmt werden lassen und durch die unvermeidlichen Ausnahmen, in denen sie das staatliche Eingreifen »im öffentlichen Interesse« zulassen müssen, eine Art Kriegszustand zwischen öffentlichem und Privatrecht herbeiführen, wird hier der Privateigentumsordnung ein Rechtsprinzip zugrunde gelegt, welches die dem Privateigentum zustehenden Rechte von vorneherein so umgrenzt, wie es dem Bedürfnis der Gemeinschaft entspricht.874

Eine andere Idee von größter Tragweite ist das Prinzip der Öffentlichkeit des Geschäftslebens, das eines der wichtigsten Hilfsmittel der Wirtschaftspolitik des Gesetzesstaates bildet. So wenig an die extreme Durchführung dieses Prinzipes im Sinne Platos zu denken ist, darüber kann doch kein Zweifel bestehen, daß er hier mit genialer Intuition einen Gedanken erfaßt hat, dem noch eine große Zukunft bevorsteht. Schon ist Vieles und Hochbedeutsames in dieser Richtung geschehen. Der moderne Staat fordert unbedingte Publizität für die Banken und Aktiengesellschaften, öffentliche Hypothekenbücher, offene über die Kreditbasis des Kaufmanns orientierende Handelsregister.[244] Kurszettel und Dividendenberichte haben nicht bloß über die Betriebe, die sich der Form der Aktiengesellschaft bedienen, sondern auch über alle verwandten Betriebe und über den Ertragreichtum von Handel und Industrie überhaupt ein so ungeahntes Licht verbreitet, daß das Bedürfnis der Gesellschaft, genau und gut über das Tun und Treiben ihrer einzelnen Mitglieder unterrichtet zu sein, in hohem Grade gewachsen ist. Wir haben erkannt, daß die Möglichkeit, die besitzenden und namentlich die gewerbetreibenden Klassen ihrer vollen Leistungsfähigkeit entsprechend zu Opfern für soziale Reformen, zu staatlichen und sozialen Leistungen heranzuziehen, wesentlich davon abhängt, wieweit wir in der Offenlegung des gewerblichen Lebens fortzuschreiten vermögen. Auch der moderne Staat arbeitet an der stetigen Vervollkommnung einer amtlichen Statistik, welche unsere Einsicht in die Verhältnisse der Produktion, der Besitzes- und Einkommensverteilung stetig erweitert und vertieft und so ein immer wirksameres Hilfsmittel staatlicher Wohlfahrtspolitik werden wird.

All das muß man sich vergegenwärtigen, wenn man das hier geschilderte Gesellschaftsideal in seiner vollen geschichtlichen Bedeutung erkennen will. So vielfach die von Plato gewiesenen Wege in Irrsal und Abgründe führen, immer gelangt man doch auch wieder auf lichte Höhen und zu Ausblicken, die »voll sind von Zukunft«.

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 226-245.
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