1. Kapital und Arbeit

[169] Das Ergebnis, mit dem in den fortgeschrittensten hellenischen See- und Handelsstaaten des 6. Jahrhunderts ein langes Zeitalter der Revolutionen und der Diktatur abschloß, war ein doppeltes: eine neue politische und soziale Rechtsordnung, die wir im Gegensatz zu der alten, ständischen als die staatsbürgerliche bezeichnen können, und eine Verschiebung in den wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft.

In den gewaltigen Bewegungen jener Übergangsepoche hat die Basis der alten Gesellschaft, der Grundbesitz, häufig eine andere Verteilung erfahren; auch nimmt er jetzt, wo Tyrannis und Demokratie den Junkern die Krallen so gründlich beschnitten hatte, nicht mehr die allbeherrschende Stellung ein, wie in der älteren Zeit oder in den Staaten, die mehr einen agrarischen Charakter bewahrt haben. Neben ihm sind die neuen Formen des Güterlebens: gewerbliche Betriebsamkeit, Geld[169] und Warenhandel zur vollen Entfaltung gekommen. Die ökonomische und soziale Physiognomie der Seestaaten am Ägäischen Meere wird in steigendem Grade durch sie beeinflußt. Insoferne wird man die staatsbürgerliche Gesellschaftsordnung dieser Epoche zugleich als die industrielle bezeichnen dürfen. Und in dieser neuen Gesellschaft gewinnt dann natürlich auch die Bewegung des Güterlebens vielfach eine neue Gestalt. Es entstehen neue Formen des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, neue wirtschaftliche und soziale Gegensätze und Konflikte und mit ihnen neue Versuche zu ihrer Lösung, neue Ziele der unteren Volksklassen.

Gerade der ökonomische Differenzierungsprozeß ist es, der sich jetzt in mannigfaltigster Gestalt und mit steigender Intensität bemerkbar macht. Wie er die notwendige Begleiterscheinung der fortschreitenden wirtschaftlichen Kultur ist, so tritt er uns in besonders ausgeprägter Form eben da entgegen, wo diese Kultur die raschesten und glänzendsten Fortschritte gemacht hat. Hier hat er zu einer Herrschaft des Kapitalbesitzes über das gesamte Güterleben geführt, wie man sie in dieser Weise früher nicht gekannt hatte.

Auch im Handel der Griechen ist ja die kapitalistische Unternehmung ziemlich frühen Ursprunges. Der Fortschritt der Warenproduktion, den das von den Griechen schon im 7. Jahrhundert erschlossene große Handels- und Kolonialgebiet voraussetzt, ging naturgemäß Hand in Hand mit der Entwicklung der kapitalistischen, den Besitz größeren Betriebskapitals voraussetzenden Reederei und Kaufmannschaft, deren wirtschaftliche Bedeutung in dem mächtigen Emporblühen zahlreicher Handelszentren glanzvoll zutage tritt. Die kapitalistische Handelsunternehmung aber – soweit sie sich auf Handwerksprodukte bezieht – schließt ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem handwerksmäßigen Kleinbetrieb und dem Kaufmannskapital in sich. Wichtige Arbeitsgebiete wurden so der kapitalistischen Wirtschaftsweise untertan gemacht und die Zahl derselben wuchs, je mehr die mit der großartigen Entwicklung der hellenischen Kultur stetig fortschreitende gewerbliche Berufsteilung spezialisierte Gewerbszweige schuf,165 die auf einen größeren Markt und damit auf die Vermittlung des Kaufmanns166 angewiesen waren. Noch weiter[170] führte das mit der Ausdehnung des Marktes immer reger werdende Bestreben, die produktive Kraft der Arbeit möglichst zu steigern. Denn das wirtschaftliche Ergebnis dieses Bestrebens war eine ausgebildete Arbeitsteilung, die Kombination zahlreicher und verschiedener Arbeitskräfte und die Konzentration von Arbeitsmitteln in größeren einheitlichen Betrieben. Die kapitalistische Betriebsform bemächtigte sich eines Teiles der gewerblichen Produktion selbst. Zuerst wohl in den Nebengewerben der großen, über zahlreiche Arbeitskräfte verfügenden Gutswirtschaften emporgekommen, hat sie dann auch im städtischen Wirtschaftsleben immer weiter um sich gegriffen.167

Ein neues, überaus wirksames Ferment ökonomischer und sozialer Differenzierung! Wie über den Kleinhändler und Krämer der große Kaufmann, so erhebt sich über den Handwerksmeister der gewerbliche Unternehmer, und gleichzeitig damit entwickeln sich neue Formen der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit. Im Handwerk erscheint Arbeiter und Produktionsmittel, Arbeit und Besitz und somit auch Arbeits- und Besitzeseinkommen eng verbunden. Der Besitz selbst ist der Arbeit gewissermaßen unterworfen; er ist das Produkt der Arbeit. Daher hatte auf dem Boden des Handwerks auch derjenige, der zunächst nur über seine Arbeitskräfte verfügte, in der Regel die Möglichkeit, in den Besitz der Produktionsmittel und damit zu einem gewissen Maß von Besitz überhaupt zu gelangen. Anders aber gestaltete sich das Verhältnis in den Arbeitsgebieten, in welchen die kapitalistische Organisation durchdrang.[171] Hier begegnen wir ganz derselben Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln, der Arbeit von dem Besitz, wie in der kapitalistischen Agrarwirtschaft. Neben den Feldarbeiter trat der gewerbliche Lohnarbeiter, der nur geringe Aussicht hatte, zur Selbständigkeit und dadurch in die Klasse der Unternehmer aufzusteigen, der jedenfalls ernstlich mit der Wahrscheinlichkeit rechnen mußte, das ganze Leben hindurch ausschließlich auf die Verwertung seiner Arbeitskraft angewiesen zu sein. Wo der Betrieb einmal jene Größe erreicht hatte, mit der die eigentliche kapitalistische Produktion begann, da waren auch die Produktionsmittel zu einem selbständigen Faktor gegenüber der Arbeit, zum Kapital in der Hand des Unternehmers geworden, dem der Besitzlose seine Arbeitskraft verkaufen, dessen Herrschaft er sich unterwerfen mußte. Der Arbeitgeber (ἔργοδότης) und der Arbeitnehmer (ἐργολάβος) stehen sich als scharf getrennte Klassen gegenüber.

Diese Herrschaft des Kapitals über die Arbeit strebte nun aber alsbald eine Form anzunehmen, durch welche die Arbeit geradezu Eigentum des Kapitalisten, ein Teil des Kapitals selbst wurde. Die Regelmäßigkeit und Disziplin, welche der größere Betrieb forderte, das – schon durch die zunehmende Konkurrenz bedingte – Prinzip der Wirtschaftlichkeit, der Produktion mit den niedrigsten Produktionskosten, ließ sich um so rücksichtsloser durchführen, je mehr die Arbeitskräfte willenlose Werkzeuge in der Hand des Unternehmers wurden; »Hände«, wie der kapitalistische Jargon der neueren Zeit, »dienende Leiber« (σώματα οἰκετικά), wie der griechische Arbeitsherr sich ausdrückte.

In hohem Grade kam diesem Bestreben die relativ weit fortgeschrittene Teilung der Arbeit168 entgegen. Denn von den Handwerkern und Arbeitern,[172] die zeitlebens nur eine technische Teilfunktion verrichteten, waren viele für die Verwertung dieser ihrer spezialisierten Arbeitsleistung naturgemäß auf den Zusammenhang angewiesen, wie er eben durch den kapitalistischen Unternehmer zwischen den verschiedenen Teilarbeiten hergestellt wurde. In Gewerbszweigen, in denen die Herstellung von Halbfabrikaten in der Weise zunahm, wie es z.B. für die Schuhwaren- und Kleiderfabrikation bezeugt ist, mußte sich der unmittelbare Verkehr zwischen Produzenten und Konsumenten notwendig vermindern, der Spielraum für die Tätigkeit selbständiger Handwerker eine gewisse Einschränkung erfahren. Handwerker, die sich nicht einen Laden einrichten, d.h. selbst kapitalistisch werden konnten, mußten sich in solchen Arbeitsgebieten entweder dem Großgewerbe angliedern oder in die Abhängigkeit vom Handel geraten, d.h. Heimarbeiter werden. Diese Abhängigkeit vom Unternehmertum aber war eine um so größere, je mehr derartige Teilarbeiter die Fähigkeit verloren, ein Handwerk in seiner ganzen Ausdehnung zu betreiben. Man denke sich nur in die Lage von Leuten hinein, die zeitlebens mit dem bloßen Zuschneiden oder ebenso ausschließlich mit dem Nähen von Kleidern und Schuhen beschäftigt waren, wie es uns Xenophon schildert!169

Die Zerlegung der handwerksmäßigen Tätigkeit in eine Reihe von einfachen Teiloperationen, die oft zu ausschließlichen Funktionen besonderer Arbeiter wurden, verringerte nun aber, wenn sie eine gewisse Grenze überschritt, den Wert der einzelnen Arbeitskraft, ja sie ermöglichte eine so umfassende Verwendung ungelernter – oder im Vergleich mit dem Handwerk – wenig geschulter Arbeiter, daß in vielen Zweigen selbst die minderwertige Sklavenarbeit erfolgreich mit der freien Arbeit zu konkurrieren vermochte.170 Und hier ist dann in der Tat das eingetreten, was die moderne sozialistische Kritik übertreibend von jedem[173] industriellen Arbeiter behauptet: der Arbeiter, der als Sklave zur lebendigen Maschine, zum »ὄργανον ἔμψυχον« geworden war,171 gehörte nicht mehr sich selbst an. Er war dem Kapital »einverleibt« oder – wie Aristoteles es ausdrückt – gleichsam »ein Teil des Herrn selbst«.172 Er war in der Tat nichts als ein Werkzeug und Erwerbsorgan des Arbeitsherrn, das einzig und allein um der Produktion willen existierte. Als willenloses Glied eines Organismus, in dem seine Arme und Hände die Stelle unserer Spindeln und Räder vertraten, war er selbst nur eine besondere Existenzweise des Kapitals; die Produktivkraft, die er entwickelte, war Produktivkraft des Kapitals.173

Kein Wunder, daß das Kapital soweit als nur immer möglich die unfreie Arbeit auf Kosten der freien bevorzugte. Die Sklavenwirtschaft – durch den billigen Massenimport aus den Barbarenländern ohnehin begünstigt – griff in den verschiedensten Gebieten der nationalen Produktion in einer Weise um sich,174 daß es für manche Sozialtheoretiker gar kein so ungeheuerlicher Gedanke erschien, die ganze industrielle und handwerksmäßige Tätigkeit unter einheitlicher Leitung durch Unfreie vollziehen zu lassen.175 War es doch dank der Sklaverei nicht selten, daß einzelne Unternehmer durch kommerzielle Zusammenfassung oder technische Kombination mehrere Gewerbebetriebe in ihrer Hand vereinigten, indem sie zahlreiche in verschiedenen Gewerbszweigen ausgebildete unfreie Arbeiter gleichzeitig beschäftigten; – ein von der antikapitalistischen Sozialkritik der Zeit oft beklagtes, sehr wirksames Mittel der Konzentration des Kapitals.176

[174] Selbst kleine Handwerksmeister und Gewerbetreibende haben sich vielfach der Hilfe von Unfreien bedient.177 Ein Vorteil, der freilich für das Handwerk im Ganzen dadurch wieder teilweise aufgewogen ward, daß gerade das Institut der Sklaverei dem Kapital die Möglichkeit gab, mit dem gewerblichen Kleinbetrieb auch auf den Gebieten erfolgreich zu konkurrieren, die gegen den Wettbewerb der größeren Unternehmungen geschützt sind, weil sie durch fabrikmäßige Produktion nicht ersetzt werden konnten, in den sogenannten Qualitätsgewerben und den Gewerben für persönliche Dienstleistungen, in denen es auf individuelle Anpassung und Befriedigung individueller Ansprüche ankommt.

Wie man im Landbau dem Bedürfnis der feineren Kulturen dadurch entgegenkam, daß man unfreie Kolonen auf Teilbau ansetzte,178 so ermöglichte man es geschickten Sklaven, sich als selbständige Handwerker niederzulassen, indem man ihnen gegen Zahlung einer Abgabe an den Herrn179 eine freiere Verfügung über ihre Arbeitskraft zugestand. Ein Verhältnis, welches denselben Ansporn zur größtmöglichen Arbeitsleistung enthielt wie die freie Arbeit, ja sogar unter Umständen – ähnlich, wie dies bei starker Besteuerung der Fall ist – zu einer im Vergleich mit der freien Arbeit gesteigerten Leistung führen konnte. Auf diese Weise bemächtigte sich das Kapital auch noch eines Teiles desjenigen Einkommens, welches auf die kleingewerbliche Tätigkeit fiel.

Überhaupt ist diese ganze Entwicklung identisch mit einer starken Verschiebung in der Verteilung des Volkseinkommens zugunsten des Kapitals. Durch die Herrschaft über die an das Lebensminimum geschmiedete unfreie Arbeit verfügte es über einen ganz unverhältnismäßigen Anteil an dem Arbeitsertrag. Selbst auf den Gebieten, auf welchen bei freier Arbeit der volle Arbeitsertrag dem Produzenten zufällt, hat es – mit Hilfe des besteuerten Unfreien – einen Teil dieses Ertrages in Unternehmergewinn verwandelt. Je mehr daher der kommerzielle und industrielle Fortschritt die Produktivität der Arbeit steigerte, um so größer wurde der Anteil am Produktionsertrag, am Volkseinkommen und Volksvermögen, der der besitzenden Klasse zufiel. Die soziale Frage, die ja eben ganz wesentlich die Frage nach dem Anteilverhältnis der verschiedenen Volksklassen am nationalen Produktionsertrag ist, mußte sich hier über kurz oder lang immer wieder dem öffentlichen Bewußtsein aufdrängen.

[175] Lag doch in den geschilderten Verhältnissen vielfach geradezu die Tendenz, den Anteil der freien Arbeit zu verringern! Der Lohnarbeiter, der Handwerker, der ländliche Tagelöhner und der kleine Bauer sah durch die Sklavenwirtschaft die Nachfrage nach seiner Arbeit vermindert,180 seinen Nahrungsspielraum beschränkt. Und daß er diesen Wettbewerb als einen drückenden empfand, daß er sich des wirtschaftlichen Zusammenhanges zwischen Massenverarmung und Sklavenwirtschaft sehr wohl bewußt war, das zeigt z.B. die Erbitterung der phokischen Bevölkerung gegen den reichen Unternehmer Mnason, der für sich allein nicht weniger als tausend unfreie Arbeiter beschäftigte. Man warf ihm vor, daß er ebensoviele Mitbürger um ihr Brot brächte!181

Zu dieser unmittelbaren Schädigung der freien Arbeit kam dann aber auch noch die mittelbare Beeinträchtigung durch den moralischen Druck, den die Sklavenwirtschaft auf die Lage der arbeitenden Klasse überhaupt ausübte. Wo ausschließlich freie Arbeit herrscht, wird der Fortschritt der Kultur immer eine gewisse Tendenz zeigen, auch die Lebenshaltung der untersten Klasse zu erhöhen. Die Bedürfnisse derselben werden der steigenden Zivilisation wenigstens einigermaßen folgen; und wenn sich auch für die gemeine, ungelernte Arbeit der Lohn in der Regel kaum über den notwendigen Unterhaltsbedarf erhebt, so ist doch eben die Anschauung über das Maß dieses »Notwendigen« da, wo es sich um freie Menschen handelt, immer nur ein relatives. Sie hängt von der öffentlichen Meinung ab, die ihrerseits durch die allgemeine Höhe der Zivilisation bestimmt wird. Und es ist ja bekannt, wie sehr die einmal erreichte Höhe der Lebenshaltung die Tendenz hat, fortzubestehen, wie die Löhne – um mit Malthus zu reden – sich sträuben zu fallen. Wie aber, wenn die Zahl der freien Arbeiter nur einen Teil der arbeitenden Klasse bildet und der andere Teil, wenn nicht die Mehrheit, sich den denkbar ungünstigsten Lebensbedingungen fügen muß, wenn man sich gewöhnt hat, einer so großen Masse von Arbeitern die intensivste Arbeitsleistung für das geringste Maß menschlicher Bedürfnisbefriedigung abgezwungen zu sehen? Konnte unter solchen Verhältnissen, wie wir[176] sie wenigstens in den großen Industrie- und Handelszentren finden, der freie Arbeiter darauf rechnen, daß man ihm gegenüber einen sehr viel höheren Maßstab anlegte?

Nun hat ja allerdings die freie Arbeit den Druck, der auf ihr lag, keineswegs immer widerstandslos über sich ergehen lassen. Es blieb gewiß nicht überall bei bloßen Protesten gegen den Wettbewerb des Sklaven, wie sie uns aus dem Phokis des 4. Jahrhunderts berichtet werden. Wir hören wenigstens aus späterer Zeit, daß Lohndifferenzen mit den Arbeitgebern zu förmlichen Arbeitseinstellungen führen konnten. Einem Beamten, der sich um die Beilegung solcher Streitigkeiten verdient gemacht, wird einmal von der Stadt Paros ein Ehrendekret bewilligt, das in Marmor verewigt ward! Es rühmte ihn, weil er als »Agoranom« darauf bedacht gewesen sei, daß den Arbeitern von den Arbeitgebern und umgekehrt kein Unrecht geschehe, weil er »die Arbeiter dem Gesetz gemäß veranlaßt habe nicht auszustehen, die Arbeitgeber aber, ihnen den gebührenden Lohn zu zahlen«.182 Also der Ausstand als Waffe im Lohnkampf! – Allein man darf das, was mit dieser Waffe für die Arbeit erreichbar war, nicht überschätzen. Wie konnte die freie Arbeiterklasse selbst bei der bestorganisierten Vereinigung ihrer Mitglieder hoffen, die Lohnbildung allgemein und dauernd zu beeinflussen, wenn sich ein großer Teil der vorhandenen Arbeitskräfte durch die Unfreiheit ihrer Einwirkung vollkommen entzog, wenn der Erfolg des einmütigsten Zusammenstehens wesentlich davon abhing, ob und inwieweit die durch Arbeitseinstellung geschaffenen Lücken durch unfreie Arbeitskräfte ausgefüllt werden konnten oder nicht?

Es kann kein Zweifel sein, daß das ganze Verhältnis der Arbeit zum Kapital, besonders die Unfreiheit des Arbeitsmarktes wie ein Bleigewicht an allen Bestrebungen hing, der freien Arbeit einen wachsenden Anteil am Volkseinkommen zu sichern. Die starke, dem antiken Kapital mehr noch als dem modernen zur Verfügung stehende Reservearmee sorgte dafür,[177] daß die Ware Arbeit nicht zu teuer wurde. Es gilt eben in gewissem Sinne auch für die antike Volkswirtschaft, was Marx einmal von Nordamerika gesagt hat. Hier »blieb jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete. Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.«183 Wie viel weniger noch vermochte sie es da, wo eine solche Brandmarkung selbst dem Volksgenossen gegenüber möglich war! Insbesondere konnte bei dieser Sachlage gar nicht der Gedanke aufkommen, daß der Arbeitslohn ein im besten Sinne des Worts selbständiges Glied der Einkommensbildung darstellt. Wo man in diesem Grade gewohnt war, in dem Arbeiter eben nur das notwendige Instrument zu sehen, da konnte man auch in dem Arbeitslohn nichts anderes erblicken, als einen Abzug vom Kapitalprofit, bezw. vom Unternehmergewinn.

Schon der Umstand, daß selbst in dem demokratischen Athen der gemeine Mann nicht besser gekleidet ging als der Sklave, überhaupt in seinem Äußern nicht vom Sklaven zu unterscheiden war, läßt auf eine recht niedrige Lebenshaltung der Masse schließen.184 Und dieser Eindruck wird bestätigt durch das, was wir über die Höhe der Arbeitslöhne wissen. Ein Tagelohn von 3 Obolen, wie wir ihn zu Athen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts für ungelernte Arbeiter finden,185 reichte selbst bei der Anspruchslosigkeit des Südländers nicht für den Unterhalt einer Familie hin.186 Trotzdem fanden sich für den kärglichen Lohn in den Zeiten des peloponnesischen Krieges Tausende bereit, den harten und gefährlichen Dienst als Ruderer auf den Galeeren zu übernehmen.187 Und[178] mit welcher Begierde drängten sich in Athen die kleinen Leute zu dem mit 2-3 Obolen gelohnten Geschworenendienst! Daher wird auch der Durchschnittslohn für die gelernte Arbeit den uns aus derselben Zeit überlieferten Betrag von 1 Drachme188 kaum wesentlich überschritten haben.189 Und was wollte selbst dieser Lohn für einen Familienvater viel bedeuten? Was ist ein Lohn, der nur die knappste Befriedigung der Existenzbedürfnisse ermöglichte, bei dem die Teilnahme an Kulturgütern fast gänzlich versagt blieb oder nur unentgeltlich genossen werden konnte, von Reservebildung oder gar neuer Vermögensbildung meist keine Rede war? Daher betrachtete man es auch als etwas ganz Selbstverständliches, daß der Handarbeiter im Alter, wenn seine körperliche Leistungsfähigkeit aufhörte und keine andere Hilfe zu Gebote stand, der Not anheimfallen müsse.190

Nun begegnen wir ja allerdings etwa achtzig Jahre später Löhnen von 11/2 Drachmen für ungelernte, von 2–21/2 Drachmen für gelernte Arbeiter und Handwerker.191 Allein da in dieser langen Zwischenzeit die Zirkulationsmittel eine gewaltige Vermehrung erfahren hatten, die Kaufkraft des Geldes stark gesunken, die Preise gerade der notwendigen Lebensbedürfnisse gestiegen waren,192 so wird man in dieser Lohnsteigerung schwerlich ein Symptom dafür erblicken können, daß sich die Einkommensverhältnisse der unteren Volksklassen wesentlich gehoben haben. Die Löhne mochten, absolut betrachtet, eine namhafte Erhöhung aufweisen; dennoch konnte bei der Geldentwertung der steigende Geldlohn sinkender oder wenigstens gleichbleibender Reallohn sein. Wenn die mit den genannten Arbeitern gleichzeitig beschäftigten Sklaven für ihre Kost allein 1/2 Drachme pro Kopf erhielten,193 so können auch die Durchschnittslöhne194 [179] dieser Zeit höchstens eine recht niedrige Befriedigung der notwendigsten materiellen Bedürfnisse ermöglicht und kaum etwas als wirklich freies Einkommen übriggelassen haben.195

So wird auch durch das lohnstatistische Material, so dürftig es ist, unsere oben ausgesprochene Ansicht bestätigt, daß die arbeitende Klasse an der Steigerung des Wohlstands, die doch gerade in Athen im Laufe des 4. Jahrhunderts eine beträchtliche war, nur in ungenügender Weise teilnahm. Und wenn das selbst in der reichsten Stadt des damaligen Hellas der Fall war, wird sich auch anderwärts die materielle Lage der freien Arbeit kaum viel günstiger gestaltet haben.196

Aber nicht bloß im gewerblichen Arbeitsleben machen wir die Beobachtung, daß die zunehmende Produktivität der Arbeit oft in einseitiger Weise den Besitzenden zugute kam. Die geschilderte kapitalistische Entwicklung der Gesellschaft machte sich naturgemäß auch bald in der Agrarwirtschaft fühlbar und führte hier zu ähnlichen Ergebnissen in dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Besitz und Nichtbesitz, wie sie uns innerhalb der städtischen Mauern entgegengetreten sind.

Im Altertum hat eben dasjenige Kapital, welches in Industrie, Handel und Geldgeschäft erworben wurde, stets einen überaus starken Drang nach Investierung in Grundbesitz gezeigt.197 Die größere Sicherheit, das[180] größere gesellschaftliche Ansehen, die Vorliebe für den Genuß der Villeggiatur, die aus der geringeren Entwicklung der Kreditwirtschaft sich ergebende Nötigung zu Kapitalanlagen in Grund und Boden, all dies trug dazu bei, dem Erwerbssinn der Städter eine höchst intensive Richtung auf den Besitz oder wenigstens auf die finanzielle Ausbeutung von Grund und Boden zu geben. Insbesondere kommt hier in Betracht, daß dem antiken Kapitalisten nicht in der Weise wie dem modernen die Anlage beweglichen Vermögens in Wertpapieren möglich war. Diese Funktion versah in gewissem Sinn der Sklave, der ja auch ein jederzeit übertragbares, eine bestimmte Rente abwerfendes Vermögensobjekt darstellte. Aber der Sklave konnte in größerem Maßstab außer dem Gewerbe nur noch durch die Verwendung in der Landwirtschaft oder sonstige Ausbeutung des Bodens (Montanindustrie) ertragfähig gemacht werden. Ein Moment, welches die Nachfrage des Kapitals nach Grund und Boden und die Tendenz zur Konzentrierung des Bodeneigentums wesentlich verstärkte.

Nicht nur, daß reiche Bürger einen Kranz glänzender Landsitze um die Stadt zogen,198 auch das kleingewerbliche Kapital suchte und fand eine relativ sichere Verwertung im ländlichen Grundeigentum, das der Bürger durch seinen Sklaven, Freigelassenen oder Pächter bewirtschaftete.199 Wir sehen, wie das Kapital überall in die Dörfer eindringt, so daß es z.B. in Attika eine offenbar ganz gewöhnliche Erscheinung war, daß wohlhabende Bürger ihre Grundstücke in den verschiedensten Gemeinden zerstreut besaßen.200 Die Landwirtschaft wird auch in dieser Hinsicht immer mehr industrialisiert. Sie ist für viele Bürger in derselben Weise lediglich Spekulationsgebiet wie Gewerbe und Handel. Wir sehen das recht deutlich an der Leichtigkeit, mit der sich der attische Bürger des 4. Jahrhunderts, wenn einmal infolge niedriger Wein- oder Getreidepreise der Landbau nicht lohnend genug war, dem Geschäft des Händlers, des Geldverleihers, des Krämers oder Schankwirts zuwandte.201 Ein[181] Berufswechsel, der recht drastisch zeigt, wie wenig diese Art von Bodenbesitzern echte und rechte Bauern mehr waren.

Auf die Invasion des städtischen Kapitals in den Grundbesitz fällt ein bedeutsames Licht durch die Angaben, welche wir über die Vermögensverhältnisse eines der großen athenischen Bankiers des 4. Jahrhunderts besitzen. Der Mann hatte neben einer Fabrik Grundstücke im Werte von 20 Talenten, zum großen Teil gewiß nichtstädtischen Grund und Boden. Ebenso werden unter den 50 Talenten, die er als Leihkapital ausstehen hatte, viele Hypothekenkapitalien gewesen sein. Von einem Betrag von II Talenten ist es ausdrücklich bezeugt, daß er auf Grundstücke und Häuser ausgeliehen war. Der Grundbesitz, den er hinterließ, gab einen Ertrag von etwa I Talent.202 – Demosthenes hat es einmal vor einem der – nach Hunderten zählenden – athenischen Gerichtshöfe als ein bedenkliches Symptom der sozialen Entwicklung beklagt, daß alle Mitglieder des Gerichtes zusammengenommen nicht so viel Grundeigentum besäßen, wie gewisse reiche Emporkömmlinge für sich zusammengekauft hätten,203 – mehr, als sie je im Traume zu hoffen gewagt, fügt an anderer Stelle ein Nachahmer des Redners hinzu.204 Und daß es in der Tat damals an Latifundienbildungen nicht gefehlt hat, beweist das – ebenfalls in einer Gerichtsrede erwähnte – Landgut, das einen Umfang von 40 Stadien hatte und seinem Besitzer einen jährlichen Ertrag von mehr als 1000 Medimnen Gerste und 800 Metreten Wein im Werte von 7000 bis 27600 Drachmen, sowie an Waldrente etwa 40 Minen abwarf.205 Und dabei gehörte dieser Grundbesitzer noch nicht einmal zu den dreihundert Höchstbesteuerten! Auch fehlt es endlich nicht an Symptomen jenes für den Anhäufungsprozeß des Grundeigentums so charakteristischen Arrondierungsbestrebens, der libido agros continuandi.206 Kein Wunder, daß Politiker, die das Heil der Gesellschaft in einem gesunden Bauernstand erblickten, mit Sehnsucht auf die früheren Beschränkungen des Anhäufungsrechtes, der Veräußerlichkeit und[182] Verpfändbarkeit des Grundbesitzes zurückblickten und für deren Wiedereinführung das Wort ergriffen.207

Durch dies Umsichgreifen des mobilen Kapitals auf dem platten Lande teilte sich auch diesem etwas von der Beweglichkeit des Verkehres mit, die dem gewerblichen Leben eignet. Eine Beweglichkeit, die noch dadurch gesteigert wurde, daß ja die Bodenwirtschaft selbst seit langer Zeit eine innere Wandlung in dieser Richtung durchgemacht hatte. Denn mit dem Fortschritte der städtischen Kultur und Geldwirtschaft war auch der Landbau rationalisiert und bis in die bäuerlichen Betriebe hinein immer mehr industriell, sein Absatz kommerziell geworden.

Eine Entwicklung, die ja an und für sich dem mittleren und kleinen Besitz keineswegs ungünstig war! Denn je mehr die Stadt für das Land als Markt bedeutete und das Einkommen der Landbevölkerung steigerte, je mehr ferner durch die wachsende Intensität der Landwirtschaft und den gartenmäßigen Anbau der Faktor der persönlichen Arbeit an Bedeutung gewann, um so leichter war für den kleineren Betrieb die Konkurrenz mit dem größeren; und so ist mit der intensiven Entwicklung des Anbaues von Gemüsen und Gartengewächsen, der Öl-, Wein- und Feigenkultur ohne Zweifel das Emporblühen eines zahlreichen und kräftigen Standes mittlerer und kleiner Besitzer Hand in Hand gegangen. Allein es barg diese Kultur der Handelsgewächse für den kleineren Winzer, Gärtner und Baumzüchter doch auch wieder gewisse Gefahren. Die Produktion für den Handel machte ihn von allen Schwankungen des Marktes abhängig, denen der Bauer nur zu oft – wie z.B. der obenerwähnte Berufswechsel beweist – ratlos gegenüberstand, während der geschäftsgewandtere Spekulant und der größere Besitzer mit Krisen und Absatzstockungen ganz anders zu rechnen wußte und denselben ja auch infolge seiner größeren Kapitalkraft ganz anders gewachsen war. Und wie sehr waren hier von diesem Besitz reicherer Mittel, von der Fähigkeit zur Ertragung größeren Risikos Produktionsverbesserungen abhängig, die oft schon der mittlere Besitzer, geschweige der kleine Bauer nicht wagen konnte! Wie viel leichter endlich ertrug der große Grundbesitzer die Abhängigkeit von dem Ernteausfall, der im Öl- und noch mehr im Weinbau so großen Zufälligkeiten unterliegt und für den kleinen Mann um so verhängnisvoller werden kann, je größer die Vorlage von Kapital ist, die z.B. der Weinbau im Verhältnis zur Ackerwirtschaft erfordert. Keine Frage, daß für einen Stand, für den seinem[183] ganzen Wesen nach so sehr wie für den Bauern ein stetiger und fester Erwerb Lebensbedingung ist, die Möglichkeiten des ökonomischen Verfalls sich vervielfältigten, je mehr seine Tätigkeit diesen merkantilen und spekulativen Charakter annahm und mit einem raschen Steigen und Fallen der Erwerbsverhältnisse zu rechnen hatte. Wie oft mag da der kleine Weinbauer und Ölproduzent in eine Lage geraten sein, die sich von einer proletarischen kaum noch unterschied, und wie mancher mag den Schein der wirtschaftlichen Selbständigkeit dahingegeben haben, um als Kolone oder Thete in den Dienst eines größeren Produzenten zu treten!

Und was für die Bodenwirtschaft, das gilt auch für den Bodenbesitz. Wie der Bauer durch die allgemeine ökonomische Entwicklung eine wesentliche Wandlung erfahren hatte, so war auch die Rechtsstellung des Bodens, auf dem er saß, eine andere geworden. Das immer allgemeiner zur Geltung gekommene Recht der freien Teilbarkeit und Veräußerlichkeit hat der ursprünglichen Eigenart des Grundeigentums manchen Abbruch getan. Hier wurde das Landgut nicht mehr, wie in den älteren Rechten, als soziale Position behandelt, als die Grundlage einer selbständigen wirtschaftlichen Berufserfüllung, sondern wie eine Ware. Und diese Mobilisierung des Grundes und Bodens steigerte sich jetzt vielfach in einem Grade, daß der Grundbesitz – in den Strudel der kapitalistischen Bewegung hineingezogen – seine spezifische Natur und den Charakter eines stabilen Elementes im Organismus der Gesellschaft vielfach verlor. Er wurde nicht selten geradezu Objekt für bloß spekulativen Besitzwechsel, schwunghafter Handelsartikel; so daß es begreiflich erscheint, wenn wohlmeinende Patrioten darüber klagten, daß »das Land nicht mehr betrachtet werde als die Mutter der Menschen, als der Herd der Götter und das Grab der Väter, sondern nur als ein Werkzeug der Bereicherung«. Eine Klage, die ja insoferne unberechtigt war, als die Mobilisierung des Bodens für die Entwicklung der Produktivkräfte der Landwirtschaft unentbehrlich ist, und anderseits gewiß auch jetzt noch ein großer Teil der bäuerlichen Bevölkerung sein Land nicht als Gegenstand von Spekulationsgewinsten, sondern als Stätte der Berufsarbeit betrachtete, die man den Nachkommen in möglichst gutem Stand hinterlassen wollte. Allein soweit jener kapitalistische Geist in die Bodenwirtschaft eindrang, enthielt er in der Tat eine soziale Gefahr. Denn die Behandlung des Bodens als Handels- und Spekulationsobjekt führte nur zu leicht zu seiner Überschuldung, da sie stets die Tendenz[184] hat, den Preis der Grundstücke über den Betrag der kapitalisierten Grundrente nebst Zins von den zugehörigen notwendigen Produktivkapitalien hinaufzutreiben.208 Überschuldung aber bedeutet Verminderung der Widerstandsfähigkeit gegen das Umsichgreifen des mobilen Kapitals!

Dazu kam, daß die Aufsaugungs- und Auskaufsbestrebungen des Kapitals begünstigt wurden durch den Verschuldungszwang, den die Gleichheit des Erbrechtes, die unbeschränkte Teilbarkeit usw. dem Grundbesitz auferlegte. Je mehr die Bevölkerung wuchs – und daß sie trotz aller Kriege im großen und ganzen zunahm, zeigt der Bevölkerungsüberschuß, den das europäische Hellas im Zeitalter des Hellenismus an den Orient abzugeben vermochte209 –, um so mehr mußte die Belastung des Grundbesitzes mit Erb- und Aussteuergeldern, mit rückständigen Kaufgeldern usw. zunehmen.

Kein Wunder, daß die verhaßten Hypothekensteine, deren Verschwinden einst Solon in begeisterten Versen gepriesen hatte, gerade seit dem 4. Jahrhundert so zahlreich sich wiederfinden.210 Eine schwere Gefahr angesichts der üblichen – auch wieder durch die kapitalistische Entwicklung bedingten – Verschuldungsform,211 der gemäß der Grundbesitz – ein immobiler Fonds – wie ein mobiler, wie ein »Kapital« verpfändet wurde, das in seinem Werte ganz anders reproduzierbar und flüssiger zu erhalten ist als der so viel schwerer sich umsetzende, erst durch die Rente seinen Wert erhaltende Grund und Boden. Wurde vollends der Druck dieser kündbaren Kapitallasten gesteigert durch einen hohen Zinsfuß – und dieser betrug bekanntlich im 4. Jahrhundert durchschnittlich mindestens 12 Prozent – oder durch wirtschaftliche Krisen und Notlagen, so war gewiß häufig ein Herabsinken des Bauern ins Kleinpächter- und Feldarbeiterproletariat, die Verwandlung von freiem bäuerlichen Eigen in Pacht- und Kolonengut (ἐπίμοτρος γῆ!) unabwendbar; besonders da, wo die aus dem 5. Jahrhundert überkommene[185] weitgehende Parzellierung des Grundes und Bodens zu einer übermäßigen Güterzersplitterung geführt und die daraus erwachsende soziale Verderbnis die ökonomische und moralische Widerstandsfähigkeit eines Teiles der bäuerlichen Bevölkerung untergraben hatte. Was bedeutete in Notlagen die Widerstandskraft von Zwergwirtschaften, auf denen schon in normalen Zeiten häufig nur noch ein Proletarier vegetierte!212

Das aber war es ja eben, worauf es bei der Invasion des Kapitals in den Bodenbesitz im letzten Grunde abgesehen war: das Kapital suchte sich außerhalb der städtischen Mauern genau so der sachlichen und persönlichen Produktionskräfte zu bemächtigen wie im gewerblichen Leben. Der Bauer mußte ausgekauft oder ausgewuchert werden, zum Arbeiter des Kapitalisten gemacht werden, wenn der volle Genuß der Grundrente dem Kapital zufallen sollte. Gegenüber armen Zeitpächtern ließ es sich ja leicht durchsetzen, daß die Steigerung des Produktionsertrages überwiegend dem Kapitalisten zugute kam, da der Zeitpächter, um nicht entfernt zu werden,213 sich gewiß oft genug mit einem möglichst niedrigen Anteil am Ertrag begnügt hat.214

Es wiederholte sich hier eine Erscheinung, ganz analog derjenigen, welche wir bereits innerhalb der städtischen Mauern beobachtet haben. Die Rente des Kapitals wuchs auf Grund des der Arbeit entzogenen und dem Besitz zuwachsenden Teiles des Produktionsertrages. Ja, der Anteil der Arbeit, soweit sie vom Kapital abhängig war, dürfte hier eher noch geringer gewesen sein, da die Entlohnung des ländlichen Teilarbeiters und Tagelöhners wahrscheinlich noch niedriger war als die des gewerblichen Arbeiters. Zudem hat ja das Kapital, um das Teilungsverhältnis möglichst zu seinen Gunsten zu gestalten, auch auf dem platten Lande reichlich von dem Mittel Gebrauch gemacht, durch welches sich in Handel und Gewerbe sein Übergewicht so gewaltig gesteigert hatte. Es hat gewiß, soweit es sich wirtschaftlich lohnte, den freien Landarbeiter und Pächter durch den unfreien Arbeiter ersetzt. Das beweist[186] nicht nur die tatsächliche Ausdehnung der Ackersklaverei,215 sondern auch die soziale Theorie des 4. Jahrhunderts, für welche die freie Arbeit im Landbau keineswegs als ein notwendiges wirtschaftliches Erfordernis seines Gedeihens galt.216

Auch im agrarischen Arbeitsleben steigerte sich so vielfach der soziale und ökonomische Druck, den das Kapital mit seinen unfreien Arbeitsinstrumenten überhaupt auf die freie Arbeit ausübte.

Kam doch hier zu den geschilderten rein wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen noch ein Moment hinzu, welches die Wirksamkeit derselben noch wesentlich verstärkte. Es ist die Ungunst der allgemeinen geschichtlichen Lage der Nation, welche zeitweilig besonders auf dem platten Lande schwer lastete und gerade hier der Verschärfung der sozialökonomischen Gegensätze in die Hand arbeitete. Wie mächtig hat insbesondere die Kriegführung der Epoche, in der von 85 Jahren (seit Beginn des peloponnesischen Krieges bis zum Einzug König Philipps in Delphi) nicht weniger als 55 schwere hellenische Kriegsjahre waren, zur Vermehrung der Armut beigetragen! Diese Kriegführung ging ja sehr häufig mit rücksichtsloser Härte gerade auf die ökonomische Schädigung des Gegners aus. Die bei dem gartenmäßigen Anbau und der Eigenart der klimatischen und Bodenverhältnisse auf die Landeskultur nicht selten geradezu vernichtend wirkende Zerstörung des[187] Bewässerungssystems und der Baumpflanzungen217 mußte zu Notständen führen, aus denen sich der mittlere und kleine Besitzer oder Pächter gewiß oft genug nicht mehr emporzuarbeiten vermochte. »Sie wüten gegen ihre eigene Ernährerin und Mutter«, klagt Plato im »Staat«,218 und – hätte er hinzusetzen können – gegen das Mark der Nation, die festeste Stütze des Gemeinwesens, wie sie nach dem Urteil des Euripides die Nation eben an dem von der eigenen Arbeit lebenden Bebauer des Bodens besaß.219

Zwar wurde auch das Kapital durch solche Krisen stark in Mitleidenschaft gezogen; aber es hat dieselben doch ungleich rascher und leichter zu überwinden vermocht, wie es denn Aristoteles als eine allgemeine Erfahrung hinstellt, daß in Kriegszeiten ein Teil der Bevölkerung übermäßig reich, ein anderer übermäßig arm wird.220 Wie glänzend ist der gewerbliche und kommerzielle Aufschwung Athens in dem Jahrhundert nach den schweren Zeiten des peloponnesischen Krieges,221 während jenes starke und ehrenfeste Bauerntum, wie es uns in den Prachtgestalten des Dramas und in der älteren Komödie entgegentritt, »hart wie Eichenholz, spröde wie Ahorn«, in derselben Zeit entschieden im Niedergang begriffen war, überhaupt das platte Land sich von den verheerenden Wirkungen des Krieges nie wieder völlig erholt hat!222 Anderseits kamen derartige Krisen der Landwirtschaft zum Teil auch wieder gerade dem städtischen Kapital zugute. Nur der Kapital besitzer war imstande, nach solchen Krisen die Mittel für die notwendigen Meliorationen zu beschaffen, Anlagen, die erst nach Jahren einen Ertrag abwarfen, wie Wein- und Ölpflanzungen, wiederherzustellen. Während daher in solchen Zeiten zahlreiche mittlere und kleine Landwirte zur Veräußerung ihres Grundbesitzes gezwungen waren, erscheint es als eine beliebte Spekulation des Kapitals, die herabgekommenen zu[188] billigen Preisen erworbenen Landgüter wieder ertragsfähig zu machen und teurer wieder zu verkaufen.223 Auch ist der Bauer da, wo er sich auf seiner Scholle behauptete, vielfach in der Form der Verschuldung vom städtischen Kapital abhängig geworden;224 oder der Bauer ist auf dem vom Kriege verheerten Gebiete überhaupt verschwunden und die kapitalistische Plantagen- oder Weidewirtschaft an die Stelle der bäuerlichen getreten, wie es in den letzten Jahrhunderten der griechischen Geschichte allem Anscheine nach immer häufiger der Fall war.225


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 169-189.
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