Fünfter Abschnitt
Die Umbildung der politischen zur sozialen Demokratie

[227] Ist nun aber dieser Widerspruch dem Hellenen auch wirklich in dem Grade zum Bewußtsein gekommen, daß er zu einem Problem für sein Denken, zur sozialen Frage wurde?

Die Antwort kann für den nicht zweifelhaft sein, der sich erinnert, was wir uns bereits bei der Darstellung einer älteren Epoche als das unvermeidliche massenpsychologische Ergebnis der ganzen sozialen und politischen Atmosphäre des hellenischen Stadtstaates vergegenwärtigt haben. Wenn in dieser Atmosphäre schon die attischen Feldarbeiter des 6. Jahrhunderts durch die Konsequenz des eben erst auftauchenden demokratischen Gedankens dazu gekommen waren, die ganze bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen, wie kann dann Jahrhunderte später auf dem Höhepunkte der Demokratie unter Verhältnissen, die nach allen Seiten hin zur Vermehrung der gesellschaftlichen Spannungen beitrugen, der Masse die Empfindung für jene gewaltigen, das ganze soziale Leben erfüllenden Widersprüche gefehlt haben? Widersprüche, die doch selbst die Reflexion der Besitzenden als solche anerkannte.370

Auf der Höhe des demokratischen Bewußtseins, welches in der Bevölkerung der Industrie- und Handelsrepubliken des 4. Jahrhunderts lebte, war die Empfindlichkeit für alles, was dieses Bewußtsein verletzen konnte, gewiß eine ungleich größere als bei den gedrückten und über das Land hin zerstreuten Feldarbeitern der solonischen Zeit. Bei einem freien Volk wächst ja mit der Kultur die Sensibilität überhaupt. In[227] seinem Freiheits- und Persönlichkeitsgefühl hat es auch zahlreichere und intensivere Möglichkeiten zur Unruhe und Unglücksempfindung erhalten, eine steigende Fähigkeit des Leidens, die den Stachel des Widerspruchs zwischen Wunsch und Wirklichkeit immer stärker empfinden läßt. »Die Freiheitsliebe« – sagt Plato – »macht die Seele der Bürger so reizbar, daß sie, wenn jemand auch nur irgendetwas auf Sklaventum Hindeutendes ihr zumutet, ergrimmt und es sich nicht gefallen läßt; und sie kümmern sich zuletzt weder umgeschriebene noch ungeschriebene Gesetze, damit nur nichts in irgendeiner Weise ihnen gebiete.«371 Eine Charakteristik, bei der man unwillkürlich an die Worte Lamartines über Marat denkt: »L'égalité était sa fureur, parce que la supériorité était son martyre.« – Zudem wurde diese Nervosität des Freiheitsgefühls auf eine harte Probe gestellt, wenn der Proletarier und Arbeiter in den Zentren der städtischen Zivilisation seine Lage mit der jener glücklichen Minderheit verglich, die hier den Glanz und Genuß ihres Überflusses dicht neben seiner Armut und seinem Elend zur Schau trug.

Der Poet, von dem man gesagt hat, daß es zweifelhaft sei, ob er das Leben oder das Leben ihn nachgeahmt habe, hat auch den treffenden Ausdruck für das gefunden, was bei solchen Vergleichen in der neid- und haßerfüllten Seele des Proletariers vorging. »Wer arm ist« – heißt es bei Menander – »und in der Stadt leben will, der wünscht selber Trübsal auf sich herab. Denn wenn er auf die Leute sieht, die im Genusse schwelgen und ein Faulenzerleben führen können, dann kommt ihm so recht zum Bewußtsein, wie elend und jammervoll sein Dasein ist.«372

Man begreift bei dieser Reizbarkeit des Volksgemüts, wie ein Volksredner dem Demosthenes einen Vorwurf daraus machen konnte, daß er sich in einer Sänfte nach dem Piräeus tragen ließ und so die Not der Armen verhöhnt habe!373 Hat doch ein anderer (Lykurg) ein Gesetz durchgebracht, welches den Frauen verbot, im Wagen zur heiligen Schau nach[228] Eleusis zu fahren, damit bei dem festlichen Anlaß die Frauen des Volkes von den reichen Damen nicht in den Schatten gestellt würden!374

Insoferne ist es jedenfalls als Stimmungsbild gut erfunden, was von der Aufnahme eines euripideischen Stückes erzählt wird, in dem eine begeisterte Lobrede auf das Gold vorkommt. Das Volk habe sich wie ein Mann erhoben und stürmisch die Entfernung des Schauspielers und Schluß der Aufführung verlangt, bis der Dichter selbst hervortrat und bat, man möge doch abwarten, bis man sähe, wie es dem Bewunderer des Goldes noch ergehen werde!375

Am lebhaftesten reagierte natürlich der in Fleisch und Blut des Volkes übergegangene demokratische Gedanke gegen die Abhängigkeit und Unfreiheit, die uns auf dem Gebiete des Arbeitslebens entgegengetreten ist. Der freie Bürger, der, um mit Aristoteles zu reden, jedem anderen schlechthin gleich zu sein glaubte, weil er ihm in einer Hinsicht (vor dem Gesetz) gleich war,376 fügte sich nur widerwillig in die Abhängigkeit und Unterordnung, die nun einmal das Arbeitsverhältnis unvermeidlich mit sich brachte. Der Demokrat, der bewußt die Konsequenzen seiner Prinzipien zog, vermochte sich eben nicht als wirklich freier Mann in einem Verhältnis zu fühlen, in welchem ihm so vieles zugemutet werden konnte, was auf »Sklaventum hindeutete«.

Je mehr auf der einen Seite der kapitalistische Geist den materiellen Egoismus in Bewegung setzte, der in dem Arbeiter nur ein Werkzeug für sachliche Zwecke, ein Mittel zur höchstmöglichen Gütererzeugung erblickt, je klarer es zutage trat, daß so, wie die industrielle Gesellschaft sich entwickelt hatte, vielfach ein mit der Bestimmung der menschlichen Persönlichkeit unvereinbarer Verbrauch von Menschen, und zwar ein Verbrauch von Arbeitenden zugunsten des Kapitals, stattfand, um so lebhafter mußte sich in einem freien Gemeinwesen der Mensch in dem Arbeiter gegen eine solche Konsequenz des Arbeitsverhältnisses aufbäumen. Ein Sokrates mochte noch so entschieden betonen, daß der Arbeitende ja eine soziale Funktion ausübt, indem er etwas Nützliches schafft:377 solange nicht auch für die Anschauungsweise der Besitzenden und Gebildeten die Handarbeit eine solche soziale Tätigkeit war, sondern wesentlich nur Spekulationsobjekt des wirtschaftlichen Einzelinteresses,[229] solange konnte der freiheitsliebende Bürger die Empfindung nicht loswerden, daß er durch die Eingehung eines Lohn- und Dienstverhältnisses stets in Gefahr geriet, in gewissem Sinne ebenso als »Sache«, als beseeltes Werkzeug angesehen oder tatsächlich behandelt zu werden wie der Unfreie. Der besitzlose, nur auf seine Arbeitskraft angewiesene Bürger des hellenischen Volksstaates empfand daher, wenn er einmal auf der Höhe demokratischen Bewußtseins angelangt war, die ökonomische Abhängigkeit der Arbeit vom Kapital ebenso als ein Beförderungsmittel der »Knechtschaft«, als »Versklavung der arbeitenden Klasse unter die besitzende«, wie der demokratische Lohnarbeiter der Gegenwart. Wenn die Besitzenden und Gebildeten selbst es ganz ungescheut aussprachen, ja es geradezu als einen Fundamentalsatz der sozialen Theorie aufstellten, daß der freie Arbeiter ein Mann ist, der aus Armut sich um Geld zu sklavischen Diensten hergibt, so konnten sie sich in der Tat nicht wundern, wenn der als freier Mann empfindende Mitbürger, der ihnen solche Dienste leisten sollte, das Verhältnis genau ebenso ansah.

Daß das demokratische Bewußtsein weniger der Handarbeit an sich widerstrebte, als vielmehr dem, was man Dienstsklaverei nannte: der Fesselung der freien Persönlichkeit im Arbeitsvertrag, das geht aus einer kleinen Geschichte hervor, welche Xenophon in seinen sokratischen Gesprächen erzählt. Eutheros, ein alter Freund des Sokrates, war infolge der Katastrophe des athenischen Reiches um seinen auswärtigen Grundbesitz gekommen und – da ihm sein Vater in Attika nichts hinterlassen – durch die Not gezwungen worden, als Handarbeiter sein Brot zu verdienen. Sokrates macht ihn darauf aufmerksam, daß ihm dies doch für sein Alter keine Sicherheit gewähre, da die Fähigkeit zu körperlicher Arbeit dann aufhöre und ihm dann auch niemand mehr werde Lohn geben wollen. Er würde besser tun, sich um eine Stelle bei einem begüterten Mann umzusehen, die er auch im Alter noch bekleiden könne, etwa als Verwalter oder Aufseher über die Arbeiter. Darauf gibt der stolze Proletarier die überraschende Antwort, es würde ihm schwer fallen, eine solche Sklaverei zu ertragen!378 Er zieht die gemeine körperliche Arbeit und die Lage des Lohnarbeiters der höheren Stellung vor, weil er in einem dauernden und zugleich verantwortungsvolleren Abhängigkeitsverhältnis dieser Art einer sein Selbstgefühl verletzenden Kritik weniger entgehen zu können glaubt als in der Stellung des Handarbeiters, die[230] weniger Anlaß zum Tadel gibt und es eher möglich macht, sich demselben durch den Wechsel des Brotherrn zu entziehen!379

Ein anderes lehrreiches Beispiel für die demokratische Empfindlichkeit der arbeitenden Freien enthält die Erzählung von Aristarch, einem anderen Bekannten des Sokrates. Der Mann hat in der schweren Zeit der »dreißig Tyrannen« in sein Haus eine Anzahl von weiblichen Verwandten aufgenommen, deren männliche Angehörige nach dem von den Demokraten besetzten Piräeus geflohen waren. Da er sich bald außerstande sieht, vierzehn freie Personen beschäftigungslos in seinem Haus zu ernähren, so läßt er sich, wenn auch nach längerem Widerstreben, von Sokrates bestimmen, dieselben an die Wollarbeit zu setzen, damit sie ihren Unterhalt sich selbst verdienen könnten. Der Erfolg ist ein ausgezeichter. Das erarbeitete Brot schmeckt allen noch einmal so gut. Heiterkeit und Frohsinn hat die trübselige Stimmung verscheucht, die vorher im Hause geherrscht. Nur mit einem können sich die arbeitenden Frauen nicht befreunden; daß nämlich alle arbeiten sollen, nur der Hausherr nicht, obwohl er den Ertrag der gemeinsamen Arbeit mitgenießt. Sie meinen: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«380 – Es ist, als ob sie Proudhons Philippika gegen den Eigentümer gelesen hätten, der »erntet, wiewohl er nicht säet, der verzehrt, wiewohl er nicht produziert, der genießt, wiewohl er nicht arbeitet«, – oder die Angriffe der Saint-Simonisten gegen das »Vorrecht, von der Arbeit anderer zu leben«, das »gottlose Privileg des Müßiggangs«!

Aristarch ist in Verlegenheit, wie er seinen Unternehmerlohn rechtfertigen soll. Er wendet sich an Sokrates, der ihm als Argument gegen die oppositionelle Theorie seiner Arbeiterinnen eine Fabel zum besten gibt: Die Schafe beklagen sich bei dem Menschen, daß sie, die so viel Nützliches, Wolle, Lämmer, Käse produzieren, sich ihre Nahrung selbst suchen müßten, während der Hund, der nichts der Art leiste, vom Herrn ernährt werde. Der Hund erwidert: »Meine Leistung ist der Schutz, den ich euch gewähre, indem ich über euch wache. Ohne mich würdet ihr ungefährdet nicht einmal auf die Weide gehen können, also überhaupt nicht existieren.« Dagegen wissen die Schafe nichts einzuwenden und erklären sich freiwillig damit einverstanden, daß dem Hunde eine Vorzugsstellung eingeräumt wird.381 – Daraus zieht dann Sokrates die Nutzanwendung,[231] der Freund solle seinen Arbeiterinnen sagen, daß er ihnen gegenüber eine ähnliche Hüter- und Verwalterrolle spiele wie der Hund, und daß sie es daher nur ihm, ihrem Patron, zu verdanken hätten, wenn sie – von niemandem beeinträchtigt – in Ruhe ihrer Arbeit und ihrem Erwerb nachgehen könnten.382

Wir hören nicht, welchen Erfolg Aristarch mit dieser sokratischen Argumentation bei seinem weiblichen Personal gehabt hat. Auf jeden Fall ist sie aber sozialgeschichtlich von hohem Interesse. Denn der große Bahnbrecher auf dem Gebiete der Ethik stellt sich damit grundsätzlich auf den Boden derselben Anschauungsweise, in der die Auflehnung der Arbeiterinnen gegen den Arbeitsherrn wurzelte! Er rechtfertigt das Unternehmereinkommen damit, daß es ebenso durch positive Leistungen erarbeitet ist, wie dasjenige des Arbeiters. Er gibt also den Arbeitern ohne weiteres zu, daß das Verhältnis von Herrschenden und Dienenden nur in so weit und nur so lange gerechtfertigt ist, als es auf Arbeitsteilung beruht, daß es also aufhört, sittlich haltbar zu sein, wenn Herrschen nicht mehr arbeiten, sondern nur noch genießen bedeutet.383

Wer denkt hier nicht an die von dem xenophontischen Sokrates vorgetragene Erzählung des Prodikos über Herakles am Scheidewege, dem das Laster verspricht: »Andere werden für dich arbeiten müssen, und du kannst die Früchte ihres Fleißes genießen«?384

Und Sokrates steht mit dieser Anschauung keineswegs allein! Denn das, was in der Seele jener Arbeiterinnen vorging, ist zugleich der Reflex einer weitverbreiteten Volksanschauung. In dem Werke, in welchem Aristoteles vielfach gerade auf solche Anschauungen Rücksicht nimmt, in der Rhetorik, bezeichnet er es als eine Zeitansicht, daß derjenige, welcher nur von der Arbeit anderer lebt, ein Unrecht begehe, daß als wahrhaft gerecht nur diejenigen gelten können, welche selbst arbeiten und unter ihnen wieder vor allem diejenigen, welche von der Arbeit ihrer Hände leben.385 Letzteres offenbar deswegen, weil[232] man eben bei dieser Art Arbeit ausschließlich nur »von sich selbst«, nicht »von anderen«, d.h. von der Ausbeutung anderer lebt, auf Kosten fremden Lebens gedeiht.

Der große Gegensatz zwischen dem Anspruch des freien Bürgers, sein persönliches Dasein, dessen Erhaltung und Förderung als Selbstzweck anerkannt zu sehen,386 und dem harten Zwang der wirtschaftlichen Lage, welche den Besitzlosen im Dienste fremder Wirtschaft zum Produktionswerkzeug macht, seine menschliche Persönlichkeit rein wirtschaftlichen Interessen, also einem unpersönlichen, sachlichen Moment unterordnet, dieser ewige Interessenkonflikt zwischen Mensch und Mensch tritt uns hier zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit klar ausgesprochen entgegen, wenn er auch natürlich schon einer weit älteren Zeit zum Bewußtsein gekommen war. Insoferne ist die Auflehnung der Arbeiterinnen des Aristarch gegen das arbeitslose Einkommen ihres Arbeitsherrn und die von Aristoteles bezeugte Opposition der Handarbeit überhaupt gegen die rein kapitalistische Aneignung des Arbeitsertrages eine Tatsache von eminenter sozialpsychologischer Bedeutung. Hier sehen wir an einem klassischen Beispiel, daß »die Geschichte des Sozialismus zugleich die Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins« ist.

Gegenüber der liberalen Wirtschafts- und Sozialphilosophie des perikleischen Staatsprogramms, die bei aller Volkstümlichkeit in der Praxis doch mehr dem Interesse des gebildeten Mittelstandes zugute kam,387 taucht hier aus den Tiefen der Gesellschaft eine neue Lehre auf, in der die Masse der kleinen Leute, der Arbeiter, der Nichtbesitzenden zum Worte kommt und mit einer neuen Forderung auf den Plan tritt, der Forderung der Gerechtigkeit in der Verteilung der Güter.

Jedenfalls sieht man aus alledem deutlich genug, daß der Widerspruch zwischen den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft und den im freien Volksstaat zum Siege gelangten Ideen dem Bürger dieses Staates in der Tat hinlänglich zum Bewußtsein gekommen, daß er auch für das volkstümliche Denken ein Problem, eine Frage geworden war. Wenn man daher die soziale Frage der Gegenwart definiert[233] hat als den »zum Bewußtsein gekommenen Widerspruch der volkswirtschaftlichen Entwicklung mit dem als Ideal vorschwebenden und im politischen Leben sich verwirklichenden Entwicklungsprinzip der Freiheit und Gleichheit«,388 so hat man damit auch die soziale Frage gekennzeichnet, welche sich als das Ergebnis der inneren Entwicklung des hellenischen Volksstaates ebenso notwendig einstellen mußte wie im modernen Staat.

Und wie heutzutage, so wurde damals die soziale Frage alsbald zu einer Klassenfrage. Die Ordnung des Güterlebens, aus der sie erwuchs, war dem Interesse eines Teiles der Gesellschaft ebenso günstig, wie dem eines anderen Teiles hinderlich. Ihr verdankte eine Minderheit der Gesellschaft auch ohne Arbeit den Genuß einer gesicherten Existenz. Ihr verdankte sie die Muße und die soziale Unabhängigkeit, welche ihr die volle ungeschmälerte Möglichkeit persönlicher Entwicklung gewährte, sie im wahrsten Sinne des Wortes »frei« machte. Daher waren die Besitzenden an der Aufrechterhaltung der geschilderten Güterverteilung auf das lebhafteste interessiert, und ihr Bestreben war naturgemäß darauf gerichtet, die Herrschaft des Kapitals über das Güterleben, auf der ihre eigene soziale Position beruhte, möglichst zu steigern. Die Abhängigkeit der besitzlosen Arbeit von dem Kapital, die soziale und ökonomische Ungleichheit, also die Fortdauer jenes Widerspruchs war hier recht eigentlich ein Klasseninteresse.

Auf der anderen Seite standen alle diejenigen, welche sich durch die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung von dem, was den einzelnen zur gesellschaftlich freien Persönlichkeit machte, von dem Besitz eines Kapitales oder der Möglichkeit, ein solches zu erlangen, ausgeschlossen sahen. Je bitterer es diese Elemente empfanden, daß ihnen die sachliche Unterlage für ein unabhängiges Bürgertum, für den Vollgenuß aller dem freien Bürger zustehenden Rechte fehlte, je weniger sie sich auf dem Boden der Gesellschaft als die Freien und Gleichen fühlen konnten, um so lebhafter mußte in ihnen der Wunsch sich regen, jenen Widerspruch möglichst beseitigt zu sehen.

Der Interessengegensatz zwischen reich und arm machte sich aber naturgemäß am intensivsten gerade da fühlbar, wo sich die Dinge am einseitigsten in kapitalistischem Sinne entwickelt hatten, weil dadurch das im Mittelstand verkörperte, mäßigende und ausgleichende Element,[234] die Klasse derjenigen, welche hoffen durften, durch ihre Arbeit auf der sozialen Stufenleiter stetig vorwärtszukommen, notwendig an Bedeutung verlor. Geriet doch eben dadurch das Großbürgertum in einen Gegensatz selbst zu dieser an der Erhaltung des Bestehenden interessierten Volksschicht! Denn ein einseitiges Vorwiegen kapitalistischer Tendenzen war ja auch der Emporentwicklung wenigstens des niederen Mittelstandes nicht günstig, und es verband daher denselben in diesem Punkte mit der besitzlosen Masse ein gemeinschaftliches Interesse gegen den Reichtum.

Dazu wurde diese Interessengemeinschaft noch weiterhin dadurch gefördert, daß die kapitalistische Minderheit vielfach, sei es offen oder versteckt, darauf hinarbeitete, dem Interesse des Kapitals durch eine Umbildung der Verfassung im plutokratischen Sinne auch die Staatsgewalt zu unterwerfen und ihm damit das absolute Übergewicht über alle anderen Interessen zu verschaffen. Während man in den niederen Schichten der Gesellschaft die Ausdehnung der im politischen Leben verwirklichten Prinzipien auf die sozialökonomische Sphäre, die möglichste Demokratisierung auch der Volkswirtschaft wünschen mußte, suchte sich hier umgekehrt die in der sozialen Sphäre vorherrschende Macht das politische Gebiet zu assimilieren, indem sie eben jenen Prinzipien selbst die Daseinsberechtigung absprach und das soziale Entwicklungsprinzip der Ungleichheit und Unfreiheit auch als das politisch maßgebende proklamierte.

Ein Konflikt, der unversöhnlich und unlösbar war! Denn er beruhte nicht bloß auf einem materiellen Interesse, sondern – teilweise wenigstens – zugleich auf einem ewigen, niemals zu eliminierenden Element des Menschenwesens selbst. Es handelte sich hier gleichzeitig um einen Kampf zwischen der aristokratischen, auf die Bedeutung der Distanz gerichteten Wertungsweise und der demokratischen, auf Nivellierung zustrebenden. Und dieser Kampf wird solange fortdauern wie die Verschiedenheit der Menschennatur; er kann – wie ein moderner Sozialphilosoph treffend bemerkt hat – im Praktischen nie definitiv, im Theoretischen nie objektiv entschieden werden. Und gerade das hat den Kampf von jeher so verbittert, ihm so oft das Gepräge von Glaubenskämpfen gegeben. Das instinktive Gefühl der Unmöglichkeit einer aufrichtigen Versöhnung und Ausgleichung der hier sich befehdenden Gegensätze erzeugt eine Stimmung, aus der sich die damals immer leidenschaftlicher werdende Opposition der Masse auf der einen und die[235] furchtbare, grundsätzlich volksfeindliche Losung der oligarchischen Geheimklubs auf der anderen Seite zur Genüge erklärt.

Dazu kam, daß das Kleinbürgertum, das arbeiten mußte, um zu leben, dadurch in einen gewissen Gegensatz nicht bloß zum Reichtum geriet, sondern zu der ganzen höheren Schicht, deren Besitz groß genug war, um ein arbeitsloses Einkommen und damit volle bügerliche Unabhängigkeit zu gewähren. Wer dem Ideal bürgerlicher Lebensführung, das dem Bürger des hellenischen Stadtstaates vor Augen stand,389 den Maßstab für die Wertung der sozialen Position des einzelnen entnahm, dem mußte in der Tat auch die Lage dieser breiten Volksschicht als eine politisch unbefriedigende erscheinen.390

Daher die weite Ausdehnung des Begriffes »Armut«, die für die gesellschaftliche Physiognomie der hellenischen Welt so bezeichnend ist! Wie bedeutsam erscheint es von diesem Gesichtspunkt aus, daß bei Xenophon Sokrates gelegentlich einer Erörterung über den Begriff der Volksherrschaft auf die Frage, was denn eigentlich unter dem »Volk«, dem Athen beherrschenden »Demos« zu verstehen sei, die Antwort erhält: »Es sind die Armen unter den Bürgern«,391 und daß dann auf die weitere Frage nach dem Wesen dieser Armut als »arm« alle diejenigen bezeichnet werden, deren Besitz nicht groß genug ist, um davon leben zu können.392 Eine Auffassung, nach der nicht bloß das Proletariat, sondern auch das ganze Kleinbürgertum in einem politischen Gegensatz gegenüber dem Reichtum und dem bloßen Renteneinkommen überhaupt erscheint.

Diese ganze tiefgehende soziale Zerklüftung des hellenischen Volkstums muß man sich vor Augen halten, um Aussprüche wie denjenigen Platos zu begreifen, daß der Staat nicht nur durch den Gegensatz von[236] arm und reich gewissermaßen in zwei feindliche Staaten auseinandergerissen werde, sondern daß auch diese beiden Teile wieder durch den Kampf um den Besitz in viele feindliche Interessenkreise gespalten seien.393 Ökonomische Momente sind es, der Gegensatz von Besitz und Nichtbesitz, von großem und kleinem Kapital, von Kapital und Arbeit, die – wie das ganze Volksleben – so auch die Scheidung der politischen Parteien und den Kampf auf der politischen Arena mächtig beeinflussen. Es handelt sich hier längst nicht mehr bloß um Fragen des formalen Rechtes, um Verteilung rein politischer Gerechtsame und Gewalten, sondern um wirtschaftliche Interessengegensätze, um die großen Widersprüche des sozialen Lebens.

Je mehr sich aber so die Erkenntnis aufdrängte, daß alle politischen Reformen nicht imstande seien, diese Widersprüche zu beseitigen, je mehr die soziale Erwägung die formal-politische zurückdrängte, um so energischer schritt der hellenische Geist über die politischen Probleme hinaus zur Analyse und Kritik der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Ordnung. Eine geistige Bewegung, die ihren prägnantesten Ausdruck in dem Satze der eudemischen Ethik gefunden hat, daß »der Mensch nicht bloß ein politisches, sondern auch ein wirtschaftliches Wesen ist.«394

Geradezu typisch ist in dieser Hinsicht die Art und Weise, wie Plato in der großartigen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft den organischen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Pauperismus und das gegenseitige Verhältnis der politischen und wirtschaftlichen Organisationsformen dargelegt hat.395 Die denkbar gründlichste Zerstörung der Illusionen des Bourgeoisliberalismus, wie er uns in dem Programm der bürgerlichen Demokratie entgegengetreten! Zugleich ein überaus bedeutsames Beispiel dafür, wie in dieser Entwicklungsphase der Gesellschaft die höchste Bildung und die über den Klassengeist sich erhebende Intelligenz von den Parteien des Besitzes sich lossagt! – Ebenso gehören hierher die Erörterungen der aristotelischen Politik zur Pathologie und Therapie der hellenischen Verfassungszustände, die stets zugleich auf den sozialen Körper, auf die Totalität des gesellschaftlichen Lebens gerichtet sind. An einer Fülle von Tatsachen wird hier dargetan, welche gewaltige Bedeutung für die inneren Wandlungen und Umwälzungen der[237] hellenischen Staatenwelt das sozialökonomische Moment, insbesondere die Ungleichheit des Besitzes gehabt hat. Diese letztere ist es, welche nach der Ansicht des großen Beobachters vor allem die Masse zum Kampf gegen das Bestehende anreizt und in die soziale Revolution hineintreibt.396

Kein Wunder, daß dieses Zeitalter der sozialen Bewegung in der Politik die soziale Ökonomik so bedeutsam in den Vordergrund rückte, daß hier die Staats- und Gesellschaftstheorie die Herstellung einer möglichst befriedigenden Verteilung der wirtschaftlichen Güter als ein Haupt- und Fundamentalproblem aller Staatsweisheit proklamiert hat!397 Was man von der Gegenwart gesagt hat, daß hier »bewußt und unbewußt in den verschiedensten Abstufungen des Wollens und Begehrens die soziale, d.h. die den Staat den materiellen Gesellschaftszwecken unterordnende, Lebensanschauung die gesamte Politik durchzieht,«398 das gilt recht eigentlich für die letzten Jahrhunderte der hellenischen Staatengeschichte. Ist doch diese Richtung sogar bis zu jenem einseitigen Ökonomismus überspannt worden, wie er uns in der sogenannten materialistischen Geschichtstheorie des Marxismus als Reflex der modernen sozialen Bewegung entgegentritt!

Wenn die politischen Kämpfe der Zeit ihren Grund in den Sonderinteressen der verschiedenen Gesellschaftsklassen hatten, und wenn das, was den Klassengegensatz unmittelbar erzeugte, die Verschiedenheit des Besitzes war, so lag ja für eine nicht bis auf die letzten Gründe zurückgehende Betrachtungsweise der Gedanke nahe – und derselbe ist auch, wie Aristoteles berichtet, von verschiedenen Theoretikern unumwunden ausgesprochen worden –, daß die eigentliche Ursache alles bürgerlichen Zwistes eben in dem Besitz, in den Eigentumsverhältnissen gelegen sei.399 Das Schwergewicht der politischen Bewegung erscheint hier aus der Politik ganz in die Volkswirtschaft verlegt. Und es war nur eine weitere, unvermeidliche Konsequenz derselben ökonomistischen Einseitigkeit, wenn zuletzt die soziale Theorie die wirtschaftliche Differenzierung der Gesellschaft, den Gegensatz von arm und reich für die sozialen und sittlichen Krankheitserscheinungen der Zeit überhaupt verantwortlich machte und von einer Umgestaltung des Wirtschaftslebens, von einer[238] Lösung des Verteilungsproblems nichts Geringeres als die radikale Beseitigung all dieser Übel erwartete. Eine Hoffnung, welche der von Aristophanes auf die Bühne gebrachte proletarische Kommunismus ebenso für sich geltend machte400 wie der idealistische Sozialismus eines Plato.401

Und wie in der Theorie, so ist es in der praktischen Politik! In der späteren griechischen Geschichte tritt die soziale Frage in der Tat immer drohender in den Vordergrund. Was sich in dieser Epoche auf der politischen Schaubühne abspielt: die Kämpfe der führenden Staaten um die Vormachtstellung, das Aufwerfen der nationalen Frage gegenüber der nordischen Monarchie, der gewaltige Aufwand von geistiger Energie, welche ein Demosthenes in den Dienst dieses für ihn zugleich nationalen und freiheitlichen Interesses stellte, – all das wird an innerer Bedeutsamkeit überragt von der sozialen Bewegung der Zeit.

Es liegt auf der Hand, daß in einer Zeit, in welcher sich die sozialen Probleme mit solcher Wucht dem allgemeinen Bewußtsein aufdrängten, die früher geschilderten staatssozialistischen Tendenzen des hellenischen Stadtstaates wieder intensiver hervortreten mußten. In einem Staat, der niemals bloß eine Organisation zu politischen Zwecken sein wollte, sondern grundsätzlich seine Souveränität über das Gesamtgebiet des wirtschaftlichen Lebens ausdehnte, bei einem Volk, das so sehr wie das griechische in dem Glauben an die Wunderkraft des staatlichen Gesetzgebungsapparates lebte, lag es in der Natur der Dinge, daß alles, was einen Ausweg aus den sozialen Nöten und Konflikten der Zeit suchte, im Namen der Volkswohlfahrt an das Gemeinwesen appellierte, daß der Ruf nach einer umfassenden sozialpolitischen Betätigung der Staatsgewalt, einer möglichsten Verstärkung und Ausdehnung ihrer gesellschaftlichen Funktionen immer lauter und allgemeiner wurde. Was wir schon früher als das logisch notwendige Entwicklungsergebnis der ganzen sozialen Physiognomie des demokratischen Stadtstaates erkannt haben, das bestätigt sich auch hier wieder. Wie schon in den Anfängen, so nehmen jetzt auf der Höhe der Demokratie die Ideen der sozialen Reform eine sozialistische Färbung an.

Wie intensiv diese Tendenz auf verstärkte Geltendmachung der öffentlichen Gewalt in wirtschaftlichen Dingen gewesen ist, das zeigt schon der bedeutsame Umstand, daß sie selbst Leute ergriffen hat, die in sozialer Hinsicht höchst konservativ dachten und weit davon entfernt waren,[239] die Grundlagen der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung irgendwie in Frage zu stellen.

Ein typischer Vertreter dieses konservativen Staatssozialismus ist der Verfasser der Flugschrift über die Staatseinkünfte.402 Ein Literaturerzeugnis,403 das sozialgeschichtlich von höchstem Interesse und in dieser seiner Bedeutung noch keineswegs erkannt und gewürdigt ist.

Schon der Grundgedanke, von dem der Verfasser ausgeht, der Satz: »Wie die Regierenden, so der Staat,«404 – ist überaus charakteristisch für den ganzen Standpunkt, der hier zum Worte kommt. Es ist die wohlbekannte, in der Geschichte des Sozialismus zu allen Zeiten wiederkehrende Illusion, daß, wenn die Regierenden nur ehrlich wollten und die nötige Intelligenz besäßen, das Haupthindernis für eine befriedigende Gestaltung der Dinge beseitigt sei. Was sollen aber die Regierenden, d.h. hier zunächst die von Athen, nach der Meinung des Verfassers wollen? Sie sollen sich zu dem einseitigen Ökonomismus bekehren, den wir bereits als das hervorstechendste Symptom der hier geschilderten geistigen Bewegung kennen gelernt haben: also Verzicht auf jede politische Machtentfaltung nach außen, auf alles, was irgendwie den Frieden gefährden könnte. Das Kriegsbudget muß möglichst verschwinden, damit die Mittel frei werden zur Verwirklichung eines umfassenden sozialpolitischen Aktionsprogramms, von dem sich der Verfasser nichts Geringeres verspricht als die radikale Beseitigung des Pauperismus, und das er zugleich als den sichersten Weg zu einer neuen Friedensära bezeichnet. Denn die Armut der Masse, welche die Staatsmänner Athens immer wieder verführt habe, die Macht des Staates im Interesse dieser Volksmasse zur finanziellen Ausbeutung schwächerer Staaten zu mißbrauchen,405 sei zugleich eine stetige Gefahr für den Bestand des Friedens.406 Diese Quelle ewigen Mißtrauens, der Ungerechtigkeit und des Bruderkrieges würde für immer verstopft werden, und der Friede die ganze Fülle seines Segens über Athen ausgießen, wenn es gelänge, die Produktivkräfte Attikas so[240] zu entwickeln, zu organisieren und den Ertrag so zu verteilen, daß alle Bürger im Lande selbst genügende Nahrung fänden.407

Damit dies Ziel erreicht werde, verlangt der Verfasser – neben »menschenfreundlichen« Gesetzen408 zur Heranziehung fremder Handels- und Gewerbetreibender – eine großartige Ausdehnung der Gemeinwirtschaft des Staates für die Zwecke des Verkehrs und der Produktion. Er meint, da die Blüte der attischen Volkswirtschaft auf Schiffahrt und Handel beruhte, so könne sich der Staat eine bedeutende Einnahmequelle verschaffen und zugleich diese wirtschaftlichen Interessen fördern, wenn er an den Häfen und in der Stadt staatliche Herbergen und Kaufhäuser für den Großhandel, Wohnräume und Buden für die Kleinhändler errichte und sie dann verpachte, wenn er ferner durch Ankauf und Bau von Handelsschiffen einen Teil der wichtigsten Betriebsmittel des Handels und durch Vermietung derselben einen Teil des Handelsgewinnes selbst ins Gemeingut hinüberführe. In noch größerem Umfang aber soll der Staat an Stelle des Privatkapitals oder vielmehr neben demselben auf dem Gebiete der Industrie als Unternehmer auftreten.

Der Verfasser weist darauf hin, wie sehr in der Montanindustrie das Privatkapital sich bereichere, indem einzelne große Kapitalisten Hunderte von unfreien Arbeitern zusammenkauften und dieselben für die Arbeit in den Silberminen vermieteten. Dieses Beispiel solle der Staat im größten Stile nachahmen, wodurch der Ertrag der nach der Ansicht des Verfassers unerschöpflichen Silberbergwerke in ungeahnter Weise gesteigert und diese ohnehin der Gesamtheit gehörigen Produktionsanlagen in ganz anderer Weise als bisher dem Volkswohl nutzbar gemacht werden könnten.

Zwar vollzieht sich dieses Hineinwachsen in die kollektivistische Organisation, diese staatliche Zentralisierung des wichtigsten Arbeitsmittels nach der Meinung des Verfassers nur allmählich, aber doch mit vollkommener Sicherheit. Er beantragt, zunächst nur 1200 Sklaven zu kaufen – nicht viel mehr, als sie bisher schon gelegentlich im Besitz von einzelnen Kapitalisten gewesen409 – und sie an Unternehmer in die Bergwerke zu vermieten. Der Ertrag – ein Obolos auf den Kopf und Tag – würde hinreichen, um die Zahl in fünf bis sechs Jahren auf[241] 6000 zu bringen, welche ein jährliches Einkommen von 60 Talenten abwerfen würden. Allmählich soll dann die Zahl so vermehrt werden, daß zuletzt auf jeden athenischen Bürger 3 Sklaven kommen: also ein Arbeiterheer von mindestens 60000 Mann!

Ist einmal diese gewaltige Summe von Produktivkräften in der Hand des Staates vereinigt, dann hat er einen Rentenfonds, der es ihm ermöglicht, jedem erwachsenen Bürger wenigstens das Existenzminimum zu gewähren. Alle Bürger sind zu Staatsrentnern geworden, indem von nun an jeder aus dem Gemeingut täglich drei Obolen bezieht (den täglichen Mietsertrag von drei Staatssklaven), die ihn gegen den Hunger schützen. Dazu kommt, daß dann vielen altgewordenen Handwerkern und Arbeitern und anderen, die zu körperlicher Arbeit nicht geneigt oder nicht befähigt sind, aber gerne in einem Beruf, der nur Kopfarbeit verlangt, ihr Brot verdienen würden, von Staats wegen die nötigen Produktionsmittel erreichbar werden.410 Sie brauchen nur die gebotene Gelegenheit zu benützen, Staatssklaven zu mieten und in den Silberminen gewinnbringend zu verwerten, so können auch sie es zu einer lohnenden Unternehmerstellung bringen. Da ferner infolge des allgemeinen volkswirtschaftlichen Aufschwunges, den der unverwüstliche Optimismus des Verfassers von der Annahme seines Projektes erwartet, auch der Arbeitsverdienst von Handwerkern und Lohnarbeitern sich bedeutend steigern wird, so kann man sagen: Materielles Elend und wirtschaftliche Not ist aus dem Staate nahezu verschwunden; und der Urheber dieses Glückes ist offenbar der Ansicht, die soziale Frage überhaupt gelöst zu haben. Er meint: Wenn nur einmal die ganze Organisation durchgeführt ist, so ist es möglich, allen Athenern aus dem Gemeingut genügende Nahrung zu gewähren!411

Wie nun aber die enormen Mittel beschaffen, welche diese großartige Ausdehnung des Gemeinbesitzes und der Gemeinwirtschaft erforderte? Den Verfasser setzt der Einwand nicht in Verlegenheit. »Es gibt ja genug Kapitalien im Lande!«412 – Und wie er in seinem kollektivistischen Radikalismus nicht davor zurückscheut, durch die Entfesselung eines übermächtigen Wettbewerbes von seiten des Staates das Arbeits- und Spekulationsgebiet des Privatkapitals empfindlich zu beschränken, so bedenkt[242] er sich keinen Augenblick, das Privatkapital selbst für die Verwirklichung seines sozial-ökonomischen Ideals in Anspruch zu nehmen.

Der demokratische Staatssozialismus ist hier schon bei ähnlichen despotischen Eingriffen in das Privateigentum angelangt, wie sie in dem Schlachtruf der modernen Sozialdemokratie gegen die bestehende Gesellschaft, in dem kommunistischen Manifest als Mittel für die Umwälzung der Produktionsverhältnisse gefordert werden. Hier wie dort wird eine starke progressive Besteuerung der besitzenden Klasse in Aussicht genommen. Sie hat für die gesamten Kosten des Reformwerkes aufzukommen.

Allerdings meint es unser Autor bei weitem nicht so schlimm wie das Manifest. Er ist ja konservativer, nicht revolutionärer Sozialist. Er hofft, die Reform auch den Besitzenden vom Standpunkte ihres Interesses plausibel zu machen. Was sie opfern, soll ihnen reichlich wieder ersetzt werden. Denn die Steuer bezweckt nichts weniger als eine allmähliche Expropriation der Besitzenden; sie ist vielmehr im Grunde nur eine Anleihe, welche sich für die Besitzenden als eine ausgezeichnete Kapitalanlage herausstellt. Da der Höchstbetrag der Steuer 10 Minen = 6000 Obolen nicht übersteigen soll, und anderseits jedem Bürger, auch dem reichsten, die tägliche Rente von 3 Obolen, also ein Jahreseinkommen von 1080 Obolen zuteil wird, so bekommt auch der Höchstbesteuerte alljährlich fast den fünften Teil des dem Staate geopferten Kapitals wieder zurück; er erfreut sich einer Jahresrente von 18%. Nach unten zu wird aber das Verhältnis noch günstiger. Wer 5 Minen (3000 Obolen) beisteuert, erhält schon mehr als den dritten Teil des Kapitals, nämlich 36% in Form der Staatsrente als Jahreszins. Die meisten Bürger aber würden jährlich mehr als ihr eingelegtes Kapital zurückbekommen! Wer z.B. eine Mine gäbe, beinahe das Doppelte (nahezu 200%).413 Eine Wertsteigerung des mittleren und kleinen Vermögensbesitzes, die zugleich eine erhebliche wirtschaftliche Kräftigung des Mittelstandes bedeutet hätte.

Der Verfasser meint, wenn man die Summen bedenke, welche die Bürgerschaft bisher oft für einzelne Feldzüge und Flottenexpeditionen aufgebracht habe, ohne die geringste Aussicht auf den Ersatz ihrer Opfer, so sei die Hoffnung berechtigt, daß jetzt die Besitzenden, von Kriegssteuern befreit und einen so sicheren großen Gewinn vor Augen, auf das bereitwilligste ihre Beiträge leisten würden! Sei doch das Gelingen[243] des Planes auch insofern im Interesse der Besitzenden, als damit zugleich die beste Bürgschaft des Friedens gewonnen wäre. Denn wenn alle Bürger zu Staatsrentnern geworden sind, so sind sie alle am Frieden gleich interessiert, der ihnen allein den ungestörten Genuß ihrer Rente ermöglicht. Auch brauchen sie sich ja jetzt nicht mehr, wie früher, durch eine ausbeuterische Macht- und Eroberungspolitik ein Einkommen zu verschaffen.

Übrigens will auch unser Autor keineswegs darauf verzichten, die Taschen der athenischen Bürger auf Kosten des Auslands zu füllen. Er schlägt nur einen anderen Weg ein als die Vertreter der Machtpolitik, freilich einen Weg, der wieder recht drastisch zeigt, wie sehr der einseitige Ökonomismus alle anderen Erwägungen, selbst das Gefühl für nationale Ehre und staatliche Würde, in den Hintergrund drängen kann. Der Verfasser rechnet nämlich bei der Ausführung seines großen Projektes nicht bloß auf die – nötigenfalls mit Gewalt zu erzwingende – Beihilfe des heimischen Kapitals, sondern auch auf freiwillige materielle Unterstützung von seiten des Auslandes! Die Aussicht, ihre Namen als die von »Wohltätern« des athenischen Volkes inschriftlich verewigt zu sehen, werde nicht nur viele fremde Privatleute, sondern auch manche Stadtgemeinde, ja sogar fremde Könige, Tyrannen und Satrapen bestimmen, Beiträge zu leisten.414 Kann man sich eine bequemere und billigere Lösung der Magenfrage vorstellen als diesen Bettel im großen Stile?

Ein Bedenken allerdings drängt sich auch dem Autor auf! Die Verwirklichung des Planes setzt nämlich die Erschließung vieler neuer Minen voraus, und es ist zu befürchten, daß es nicht genug Privatleute geben würde, die geneigt wären, dies Risiko auf sich zu nehmen. Aber auch dafür weiß der Verfasser Rat. Seine Panacee heißt auch hier: Assoziation und Gemeinwirtschaft. An die Stelle des einzelnen Unternehmers tritt hier einfach die Gesamtheit. Jeder der zehn Bergwerksverbände (Phylen), in welche der Staat zerfällt, konstituiert sich als eine große Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft, welche mit den ihr vom Staate zugewiesenen unfreien Arbeitern neue Zechen in Betrieb setzt. Damit aber die einzelne Bezirksgenossenschaft das Risiko nicht allein zu tragen hat, erfolgt der Betrieb auf gemeinsame Rechnung und Gefahr. Der Ertrag wird unter alle Phylen gleichmäßig verteilt, so daß das, »was eine findet, allen zugute kommt«.415 Diesem Beispiel mögen dann auch die Privaten folgen,[244] Genossenschaften bilden und so »auf gemeinschaftliches Glück mit größerer Sicherheit es wagen«.416 Wie Verbündete, je mehr ihrer zusammentreten, einander stärker machen, so werde es auch bei diesem wirtschaftlichen Unternehmen gehen. Der Gewinn werde um so größer sein, je mehr Teilnehmer gleichzeitig die Arbeit in Angriff nehmen würden.417

Der Verfasser ist so erfüllt von den glänzenden Aussichten, die sich ihm hier eröffnen, daß er sich der Hoffnung hingibt, wenn nur sofort Hand ans Werk gelegt würde, werde noch die lebende Generation die Glückseligkeit von Volk und Staat schauen! Die Götter selbst ruft er als Helfer für sein Werk auf. Delphi und Dodona sollen ihm bezeugen, daß das nach seinen Ideen gestaltete Gemeinwesen einer immer besseren und glücklicheren Zukunft entgegengehen werde.418 Man denkt dabei unwillkürlich an die Prophezeiung, welche Aristophanes der Prophetin seines Zukunftsstaates in den Mund legt!419

In der Tat! Es ist nicht schwer zu erkennen, daß dies ganze Projekt eine Utopie ist, so sehr sich der Verfasser auch auf Erfahrung und Geschichte beruft. Die Voraussetzungen, von denen er ausgeht, die falsche merkantilistische Grundanschauung, als ob der Volksreichtum nur auf der Menge des Bargeldes beruhe, der Glaube, daß man an den Silberminen ein unerschöpfliches Patrimonium der Armut besitze, die ganz doktrinäre Anschauung, daß das Silber auch bei der stärksten Produktion an seinem Werte nichts einbüße, der naive Optimismus, mit dem auf die Beteiligung aller Kreise gerechnet wird, endlich die zahllosen Schwierigkeiten der Ausführung, über die der Verfasser spielend hinweggleitet, all das läßt keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß wir es hier mit einer ideologischen Träumerei zu tun haben, die eine gewisse Verwandtschaft mit den seit dem 4. Jahrhundert ja so zahlreich auftauchenden sozialen Zukunftsbildern nicht verleugnet.420 Doch wird das Interesse,[245] welches uns die merkwürdige Schrift einflößt, dadurch nicht vermindert. Gewährt sie uns doch einen Einblick in das Werden und Wachsen der sozialistischen Gedankenwelt, wie er uns bis dahin noch nicht möglich war!

Hier sehen wir, wie auf dem Boden der Demokratie aus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung selbst mit einer gewissen psychologischen Notwendigkeit der Sozialismus herauswuchs.

Der Urheber unseres Projektes weist mit Recht darauf hin, daß dasselbe gar nicht schwer zu ersinnen gewesen sei, denn es knüpfe nur an Verhältnisse an, die jedermann täglich vor Augen habe.421 Die Auffassung der sozialen Frage als einer großen gesellschaftlichen Organisationsfrage, wie sie uns hier entgegentritt, war in der Tat durch die bestehende Wirtschaftsordnung selbst außerordentlich nahegelegt. Erinnern wir uns der großen gewerblichen Produktionsstätten, die an hundert und mehr Arbeitskräfte beschäftigten,422 ganz besonders der Montanindustrie mit ihren Tausenden von Arbeitern, so haben wir hier ein für den engen Rahmen der Stadtstaatwirtschaft schon recht beträchtliches Stück sozialisierter Wirtschaft vor uns. Indem die kapitalistische Produktion eine große Arbeiterzahl gleichzeitig in demselben Arbeitsprozeß beschäftigte, hatte sie den Arbeitsprozeß selbst vielfach in einen gesellschaftlichen verwandelt. Soziale Zusammenziehung vieler Arbeiter unter dem einen Geschäftsherrn, planmäßiges und zentralistisch organisiertes Zusammenwirken derselben in größeren einheitlichen Betrieben, kurz das Kollektivarbeitertum war ein bemerkenswerter Faktor im Wirtschaftsleben der Zeit geworden. Dazu kommt jene andere Form sozialisierter Wirtschaft, wie sie uns in den zahlreichen Sozietätsverhältnissen und genossenschaftlichen Verbänden entgegentritt, die auch wieder recht eigentlich das Produkt eines hochentwickelten Verkehrs- und Wirtschaftslebens sind. Hier sehen wir die Kapitalien selbst zusammentreten, um einen wirtschaftlichen Nutzeffekt zu erzielen, den der einzelne für sich nicht zu erreichen vermocht hätte, – wie Industrielle und andere Unternehmer förmliche Ringbildungen organisierten, um die Preise einer Ware oder eines ganzen Gewerbszweiges[246] zu steigern, den Verkauf oder Betrieb zu monopolisieren, – wie endlich die verschiedensten Berufsstände sich zu Vereinen verbanden, die eine dauernde Interessengemeinschaft zwischen ihren Mitgliedern begründeten. Und was ist nicht sonst noch alles auf dem Wege des genossenschaftlichen Zusammenschlusses (der κοινωνία!) erstrebt und erreicht worden!423

Wo soviel Produktion gesellschaftlich, soviel Eigentum genossenschaftlich geworden war, lag in der Tat der Gedanke einer noch weitergehenden Sozialisierung der Wirtschaft sozusagen in der Luft. Wenn schon dem einzelnen und privaten Verbänden eine so erfolgreiche Konzentration von Arbeitskräften und Produktionsmitteln möglich war, was mußte da nicht alles für den größten Unternehmer und den mächtigsten Verband, für den Staat, erreichbar erscheinen, wenn er die Besitzergreifung und Organisation der Produktivkräfte mit zielbewußter Energie in die Hand nahm? So überraschend die Idee sein mochte, eine Stadtrepublik zur Herrin und Leiterin eines Arbeiterheeres zu machen, das die Bürgerzahl um das Dreifache überstieg, so waren doch zur Ausführung dieses Planes, wie der Verfasser selbst wiederholt hervorhebt, keine anderen wirtschaftlichen Organisations- und Betriebsformen nötig, als diejenigen, welche in kleinerem Maßstab längst bestanden. Wie ein roter Faden zieht sich durch unsere Schrift der Gedanke hindurch: Was die Privaten und das Privatkapital zu leisten vermocht haben, das vermag der Staat auch und noch mehr. Er darf nur dieselbe Richtung weiterverfolgen, welche jene vor ihm eingeschlagen. So sind z.B. die großen Bergwerksgesellschaften (der κοινωνοῦντες μετάλλου), die den Abbau mit vereinten Kapitalien und geteiltem Gewinn betrieben, das unmittelbare Vorbild der großen Assoziationen, in welche der Verfasser rein staatliche Verbände, die Stammesphylen, umwandeln möchte. – Privatbetrieb, gesellschaftlicher Betrieb, Staatsproduktion, eines folgt hier aus dem andern!

Und warum nicht noch mehr als das, was gerade unserem bürgerlichen Reformer angezeigt erschien? Wenn die Gesellschaft einmal das Steuer der ökonomischen Gewalt mit solcher Energie und solchem Erfolg in die Hand genommen, was hätte sie verhindern sollen, in der Besitzergreifung der produktiven Kräfte der Volkswirtschaft noch weiter zu gehen?

[247] War einmal in einem großen Industriezweig die Produktion und die Verteilung ihres Ertrages unter alle Mitglieder der Gesellschaft staatlich geregelt, der Staat als großer Geschäftsverband organisiert, so war es ja eine gar nicht abzuweisende Konsequenz, diesem Verbande noch andere Zweige des Erwerbslebens anzugliedern, wenn die große Silberdecke sich zu kurz erwies, wenn die Sozialisierung eines Wirtschaftsgebietes nicht ausreichte, den Zweck der ganzen Organisation, die Beseitigung der Armut, zu erreichen. Der Verfasser selbst hält es für nötig, der Besorgnis entgegenzutreten, daß, wenn der Stein einmal ins Rollen gekommen, kein Halt mehr sein werde, daß da, wo der Staat einmal als Großunternehmer im Sinne des Verfassers auftrete, der einzelne Kapitalist seine Rolle häufig ausgespielt haben werde.

Aber hatte denn nicht das Kapital selbst schon dieser weiteren Ausdehnung der kollektivistischen Volkswirtschaft vorgearbeitet? Wir haben ja gesehen, wie sehr die Konzentration des Kapitales dadurch gefördert worden war, daß der Kapitalismus bis zur kommerziellen Zusammenfassung und technischen Kombination verschiedener Gewerbsbetriebe in einer Hand fortschritt. Man durfte sich diesen Prozeß nur folgerichtig weiter entwickelt denken, und es war durchaus kein so fernliegender Gedanke, daß der mächtigste Unternehmer, der Staat, schließlich auf demselben Wege das gesamte gewerbliche Kapital konsolidieren, und so die Gesamtheit aller gewerblichen Betriebe zu einem gemeinwirtschaftlichen Unternehmen der Allgemeinheit werden könne, an dessen Gewinn und Ersparnis alle Bürger Anteil hätten. Die Industrie, nicht mehr durch Privatpersonen und private Vereinigungen nach eigener Laune und zum eigenen Nutzen geleitet, sondern von einer das Volk repräsentierenden wirtschaftlichen Zentralinstanz im Interesse und zum Nutzen aller geregelt, das ist das logische Endergebnis, bei dem in der Atmosphäre des Stadtstaates der radikal-soziale Demokratismus mit innerer Notwendigkeit angelangen mußte, wenn das von ihm proklamierte Prinzip der Organisierung sozialwirtschaftlicher Vorgänge durch Zentralisierung derselben rücksichtslos bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt wurde. Und daß in der Tat die soziale Theorie nicht davor zurückgeschreckt ist, eine derartige Ausdehnung der staatlichen Kollektivwirtschaft zu fordern, das zeigt das Staatsideal des Phaleas von Chalcedon, der ja die gesamte Industrie verstaatlicht wissen wollte.424 Auch sei, was die Demokratie betrifft, auf das in seinen Einzelheiten freilich nicht bekannte Projekt[248] des athenischen Staatsmannes Diophantos425 hingewiesen, der, wenn nicht mehr, so doch wenigstens eine staatliche Organisation der unfreien Arbeit für die Befriedigung aller staatlichen Bedürfnisse beabsichtigt hat.426

Wie hätte nun aber eine Gedankenrichtung, welche die Hinüberführung der kapitalistischen in die sozialistische Wirtschaft, die gesellschaftliche Leitung des Produktions- und Umlaufsprozesses in solchem Umfang für möglich hielt, gerade an diesem Punkte Halt machen können?

So sehr in Gewerbe und Industrie die Entwicklung großer Betriebsformen und genossenschaftlichen Eigentums der Idee der kollektivistischen Volkswirtschaft vorgearbeitet hatte, so fehlte es doch auch auf dem Gebiete der Urproduktion keineswegs an Ansätzen, an welche der sozialistische Gedanke mit seinen Kombinationen anknüpfen konnte. In der Agrarverfassung Spartas und der kretischen Staaten hatte man ja bereits das Bild einer Volkswirtschaft vor Augen, in der das wichtigste Produktionswerkzeug, die Arbeitskraft der Feldarbeiter, gesellschaftliches Eigentum war und zugleich ein großer Teil des Bodenertrages regelmäßig der Hinüberführung in gesellschaftliches Eigentum unterlag. Der Gedanke einer Vergesellschaftung des Bodens selbst behufs einer radikalen Änderung der ganzen sozialen Struktur des Volkes war hier und in Attika längst ausgesprochen und zur Parole der sozialen Revolution geworden. Wie hätte da die sozialdemokratische Doktrin des 4. Jahrhunderts für ihren Zukunftsstaat nicht auch eine stärkere Sozialisierung des Agrarwesens in Aussicht nehmen sollen?

Wenn daher Aristophanes die große Liquidation der bestehenden Gesellschaft, die er uns in seiner Kommunistenkomödie schildert, damit beginnen läßt, daß der Grund und Boden als Gemeingut erklärt wird,427 so liegt dies durchaus in der Richtungslinie, welche die sozialistische Gedankenbewegung in seiner und in der Folgezeit tatsächlich eingeschlagen hat. Ebensowenig ist die in der Komödie proklamierte Befreiung des[249] Bürgers von der Feldarbeit und Übertragung derselben an unfreie öffentliche Arbeiter eine Erfindung des Dichters. Nachdem die Möglichkeit einer solchen Organisation im Stadtstaat bereits durch eine Reihe von Vorbildern feststand, nachdem ohnehin zahlreiche Kapitalisten und Gewerbetreibende am Ackerbau mittels der Sklavenwirtschaft beteiligt waren, lag der Gedanke durchaus nahe, den unfreien Feldarbeiter und Kolonen, statt für den einzelnen Bürger, für Rechnung der Gesamtheit arbeiten zu lassen.

Eine Gesellschaft, wie die damalige, die in den beseelten Arbeitsinstrumenten, in den Sklaven, ebensoviele Werkzeuge der eigenen sozialen Befreiung, das willenlose Material für die planmäßige Organisierung der sozialisierten Wirtschaft besaß, konnte die letztere in der Tat einer unbegrenzten Ausdehnung für fähig halten. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß phantasievolle Köpfe, die diesen Weg bis ans Ende verfolgten, zuletzt in der Tat bei dem Gedanken einer Verstaatlichung aller Produktions- und Konsumtionsmittel anlangen mußten, wie ihn Aristophanes durch die Prophetin seines kommunistischen Zukunftsstaates verkündigen läßt.

Erinnern wir uns der Energie, mit der unser staatssozialistisches Pamphlet nicht nur an das Produktionsproblem, sondern auch an das Problem der Wertverteilung herantritt! Der demokratischen, d.h. korporativen Regelung eines Teiles des Erwerbslebens durch die Gesamtheit soll nach den Intentionen des Verfassers eine ebenso demokratische Verteilung der Produktionserträge folgen. Die Produktivgenossenschaft des ganzen Volkes, von der er träumt, soll der Wohlfahrt aller in völlig gleichem Maße dienen. An ihren Wohltaten soll jeder einzelne als bloßes Mitglied des Gemeinwesens ohne jede Rücksicht auf Bedürfnisse, Würdigkeit, Leistung nach einem für alle absolut gleichen Maßstab beteiligt werden.

Wenn selbst ein Vertreter der bürgerlichen Demokratie, der nur auf der Basis der bestehenden wirtschaftlichen Rechtsordnung reformieren wollte, vor einer derartigen Ausdehnung des abstrakten Gleichheitsprinzipes auf das wirtschaftliche Gebiet nicht zurückschreckte, wie mag sich da erst in radikaleren Köpfen die Zukunft ausgemalt haben! Hatte, wie es hier geschah, die politische Gleichheitsidee einmal einen rein ökonomischen Inhalt gefunden, war einmal die formale Gleichheit, wenn auch nur in der sehr bescheidenen Gestalt der Dreiobolenrente, zur materiellen Gleichheit geworden, so war es ja gar kein so fernliegender[250] Gedanke mehr, die teilweise verwirklichte materielle Gleichheit zu einer radikalen wirtschaftlichen Ausgleichung zu steigern.

Nachdem in Staaten wie Athen die politische Frage im Sinne des fortgeschrittensten Demokratismus gelöst war, war es ein naiver Optimismus zu glauben, daß man durch eine Rente, die zum Leben zu klein und zum Verhungern zu groß war, und ohne die soziale Übermacht des Besitzes irgendwie ernstlich anzutasten, die soziale Frage aus der Welt schaffen könne.

Daran war um so weniger zu denken, als so, wie die Dinge lagen, der soziale Demokratismus sehr bald auch in das Denken und Empfinden der Masse Eingang gefunden hat.

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 227-251.
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