2. Die ökonomische Ergänzung des politischen Prinzips der Demokratie

[266] An sich war es ja ein altes Recht des Bürgers, an etwaigen Überschüssen der Staatsverwaltung beteiligt zu werden.513 Aber dieses Recht ist von der Demokratie in einer ganz ungesunden Weise überspannt worden, so daß sich der einzelne förmlich an den Gedanken gewöhnte, die Sorge für seine Existenz möglichst auf den Staat abzuwälzen. Daher ist das Teilen in dem demokratischen Musterstaat Athen geradezu eine stehende Institution geworden! Hier bestand seit der Mitte des 4. Jahrhunderts eine eigene Kasse, in welche gewisse Staatseinnahmen flossen, um in Gestalt von Natural- und Geldspenden (σιτοδοσίαι, διανομαί, διαδόσεις) ans Volk zur Verteilung zu kommen. Wie der Demos an zahlreichen Festen regelmäßig auf Kosten der Gesamtheit »schmauste und die Opferbraten unter sich verloste«,514 so kam es auch, wenn es ihm beliebte, zu direkten Geldverteilungen, bei denen jeder Bürger Mann für Mann seinen Anteil erhielt. Was tut sich der Demagoge Demades darauf zugute, daß er dem Volke die frohe Botschaft melden kann, daß dank seiner Finanzgebarung für das nächste Kannenfest jedem Bürger eine Spende von 50 Drachmen in Aussicht stehe! Und wie bezeichnend für ihn und sein Publikum ist der Cynismus, mit dem er an die gemeine Habgier der Masse appelliert, um die Verwendung dieser Gelder für einen ihm nicht genehmen politischen Zweck zu verhindern!515[266]

Im Hinblick auf diese Austeilungen von gemeinem Gut hat einmal Äschines das treffende Wort gesprochen, die Athener kämen aus der Ekklesie nicht wie aus einer politischen Versammlung, sondern wie aus der Sitzung einer Genossenschaft, in der die Verteilung des Überschusses erfolgt ist.516 Der Bürger erscheint hier wie der Teilhaber eines Eranos (einer societas) im großen, einer Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft, die ein gemeinsames Kapital zum gemeinsamen Nutzen aller Mitglieder verwaltet!

Bernstein hat einmal in seiner Schrift über »die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« gesagt, daß das Wahlrecht der Demokratie seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaber am Gemeinwesen macht, und daß diese virtuelle Teilhaberschaft auf die Dauer zur tatsächlichen führen muß. Er hätte hinzufügen können, daß diese Teilhaberschaft sehr bald auch als eine ökonomische aufgefaßt wird. – Und mit welcher Eifersucht hat dann das souveräne Volk darüber gewacht, daß ihm sein Anteil nicht verkürzt oder gar entzogen werde! Die zum Verteilen bestimmten Fonds sind ihm ein noli me tangere, eine Art Heiligtum, dessen Antastung eine gefährliche Sache war, selbst dann, wenn ein ehrlicher Patriotismus zugunsten höherer Staatszwecke einen Verzicht forderte. Denn der Bürger hatte sich eben einmal daran gewöhnt, »in dem Gemeingut eine Hilfsquelle für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu sehen«.517

Daher kann sich der früher erwähnte biedere Ratgeber für arm und reich nicht genug tun in der Entrüstung über die »Blasphemien gewisser Leute gegen das Theorikon«. Was im Munde des Äschines bittere Ironie, ist ihm vollster Ernst! Er betrachtet die Verteilung dieser Fonds in der Tat als einen Eranos, als eine Beitragsleistung von seiten der Gemeinschaft, auf welche die Bürger »nach Gesetz und Naturrecht« einen Anspruch haben, nur daß hier natürlich nicht das gehässige Bild der Erwerbsgesellschaft, sondern ein freundlicheres gewählt wird, nämlich das Bild der Familiengemeinschaft, deren Mitglieder zur Alimentation der Eltern verpflichtet sind.518 Was letztere für den einzelnen, das sei die Gesamtheit der Bürger für die Stadt. Daher dürfe man den Bürgern[267] nicht nur nicht das Geringste von dem entziehen, was ihnen die Gemeinschaft zukommen lasse, sondern man müßte sogar, wenn diese Verteilungen nicht erfolgten, anderweitig dafür sorgen, daß sie in keiner Hinsicht Mangel leiden oder vernachlässigt werden.519 Die Wohlhabenden würden in ihrem eigenen Interesse gut tun, dies einzusehen. Denn wenn man eine Anzahl von Menschen des Notwendigen beraube, so werde man viele Mißvergnügte schaffen, die dem Staate feindlich gegenüberstehen!520 »Aber« – fügt der Redner hinzu – »wie könnte ein Athener so gottesjämmerlich und hartherzig sein, daß er den armen Leuten, die des Notwendigen entbehren, den Empfang jener Spenden mißgönnte!«521 – Als ob es sich bei dem Theorikon bloß um die Armenversorgung handelte!

Und bei dieser schwächlichen Konnivenz gegen die kommunistischen Instinkte der Masse und mit dieser sophistischen Rechtfertigung ihrer Begehrlichkeit glaubt der Verfasser leichten Herzens über die Befürchtungen derer hinwegsehen zu können, welche die ganze Einrichtung als eine unheilvolle verurteilten!522 Ein Optimismus, der in seltsamem Widerspruch steht zu dem bedeutsamen Eingeständnis, daß allerdings diese Institution dazu beitrage, die kommunistische Begehrlichkeit der Menge zu reizen, daß es gewisse Leute gebe, welche die genannte Praxis »von dem öffentlichen Gut auch auf das Privateigentum übertragen«, d.h. ihre Lust am Teilen nur zu gerne auch diesem gegenüber betätigen möchten.523


Daß diese Seite des öffentlichen Lebens, die so viel Menschliches und nur allzu Menschliches zutage förderte, Anlaß zur schärfsten Kritik gab, ist begreiflich. Und sie hat in der Tat der politischen Komödie, deren Gegenstand ja recht eigentlich der Demos selbst ist mit all seinen Schwächen und Leidenschaften, einen unerschöpflichen Stoff zur Satire geliefert. Eine Satire, die wir uns zunächst als solche zu vergegenwärtigen haben, ohne der Entscheidung über ihr Verhältnis zur Wirklichkeit vorzugreifen.[268]

Wie köstlich ist die Szene in den »Rittern«, wo der »Paphlagonier« und der Wursthändler, um die Gunst des Herrn Demos (der Personifikation des Volkes auf der Bühne) zu gewinnen, wetteifernd um dessen Leibesnotdurft sich bemühen! Herr Demos soll um sein täglich Brot sich nicht mehr zu bekümmern haben.524 Seine Diener sorgen für frischgebackene Semmeln, schöne warme Knödel, Schöpsenbraten und allerlei auserlesene Leckerbissen. Denn »essen und nichts als essen heißt es jetzt«.525 Auch ist der Preis, der in diesem Dienst dem Eifrigsten winkt, kein geringer. Herr Demos wird dem, der ihm am meisten »Gutes getan«,526 oder, wie es später heißt, »sich um ihn und seinen Magen am besten verdient gemacht«,527 die Zügel der Pnyx anvertrauen. Szenen, von denen man glauben könnte, Aristipp habe sie im Auge gehabt, wenn er es – bei Xenophon – als allgemeine Erfahrung ausspricht: »Die Bürgerschaften haben nun einmal die Laune, ihre Regierungen anzusehen, wie ich meine Sklaven. Von diesen verlange ich, daß sie mich mit allem, was ich brauche, reichlich versehen, ohne etwas davon anzurühren. Und gerade so, meinen die Bürger, müssen es die Behörden machen. Ihnen sollen dieselben alles mögliche Gute zum Genuß zuführen, selbst aber von allem die Hand lassen.«528

Welch unübertroffene Ironie liegt in dem Lobspruch, den Herr Demos im Verlauf der letztgenannten Szene dem zu seinen Gunsten völlig ausgeleerten Kober des Wursthändlers spendet: »Der Kasten da hat als Volksfreund sich bewährt!«529 – und in dem Ingrimm, mit dem er die volle Kiste des diebischen Paphlagoniers mustert:


»Alles von guten Bissen voll!

Und was für 'nen Berg von Kuchen er sich beiseitegesteckt!

Und bröckelt mir nur hie und da ein Eckchen ab.«530


Ein Seitenhieb auf die Politiker und Sykophanten, die stets einen möglichst großen Teil der Beute an sich zu ziehen suchen; weshalb der Wursthändler auch gleich die Bemerkung hinzufügt:


»Dergleichen, glaube ich, hat er dir sonst auch schon getan.

Ein wenig gab er dir nur von dem, was er bekam.«[269]


Und was zieht Herr Demos aus diesem Gebaren seiner Leute für eine Moral?


»Gepäppelt so täglich sein,

Das tut mir behaglich sein.

Auch halt' ich so einen gern,

Der stiehlt, mir als meinen Herrn.

Hat der sich dann vollgestopft,

Leer wird er geklopft!«531


Sogar die Habgier seiner Organe wird eine Erwerbsquelle für den Demos.

Kein Wunder, daß selbst die Justiz eine melkende Kuh für ihn ist, daß man im Volksgericht »schmachtend ausschaut nach dem Zahlmeister«.532 Zu Hause wartet man ja mit Sehnsucht auf die paar Obolen, die so ein armer Schlucker aus dem Gericht mit nach Hause bringt!


»Doch das süßeste Glück für die trauernde Brust, beinahe vergaß ich's zu nennen,

Wenn ich komme nach Haus mit dem Sold vom Gericht, so eilen mir alle entgegen,

Liebkosen mich schön, denn ich habe ja Geld! Mein Töchterchen aber vor allen

Wischt ab mir den Staub und salbt mir die Fuß' und beugt sich über mich, küßt mich,

Sagt Herzenspapa! und fischt aus dem Mund den Triobolos mir mit dem Zünglein.

Auch kommt mein Frauchen und liebkost mich und bringt mir Plinzen mit Rührei

Und setzt sodann sich neben mich hin und nötigt mich: ›Alterchen, iß doch!

Da, koste doch mal!‹ Es freuet sich dann mein Herz.«533


Bei solchen Antrieben können diese Biedermänner für alles, was ihre Instinkte reizt, sehr gefährlich werden. Eine Gefährlichkeit, für die der Dichter ein überaus treffendes Bild gefunden hat:


»Allerseitigst uns betrachtet, findet ihr uns auf ein Haar

In Charakter und Gewohnheit ähnlich einer Wespenschar.

Denn zum ersten, kein Geschöpf gibt's, das gereizt, wodurch auch immer,

Mehr wie wir jähzornig ist und in seinem Zorne schlimmer.

Aber auch das andere alles machen wir den Wespen gleich.

Denn vereinigt Schwarm und Schwarm, wie ein Honigbienenreich,

Ziehn die einen wir zum Archon, andere zu den Eilfgerichten,

Andere zum Odeion, andere an die Mauer, dort zu richten.« –

»Und für unsere Lebensnotdurft haben wir Mittel mannigfalt;

Denn wir stechen los auf jeden, schaffen uns so Unterhalt.«


Allerdings wird die Freude einigermaßen dadurch beeinträchtigt, daß


»Auch Drohnen unter uns, die schnell sich mehren,

Drohnen, die nicht Stachel führen, die ohn' Arbeit und Beschwerden

Unserer Müh'n Ertrag erlauern und von unserem Fleiße zehren.«534[270]


Aber man sieht, es bleibt – in der Dichtung wenigstens – doch noch genug, um das Wort des Wursthändlers zu rechtfertigen:


»O Volk, die Göttin schützt und schirmt dich sichtbarlich,

Da sie also über dich einen Topf Fleischbrühe hält.«535


Die Prophetin des sozialdemokratischen Zukunftsstaates bei Aristophanes, die ihre Leute kennt, sagt es ihnen auf den Kopf zu:


»Des Staates Gelder braucht ihr auf zu Sold und Lohn,

Stets sorgend, was der eignen Kasse Vorteil bringt.«536


Es sei schwer, so mißgewöhntem Volk den Sinn zu lenken, nachdem die Volksversammlung zur Tagelöhnerei, zum Erwerbszweig geworden.537 Jeder will eben – wie es später in der köstlichen Proletarierszene heißt – »irgendwie am Gemeinbrei mitlöffeln«.538 Wo es etwas zu teilen gibt, ist er gleich bei der Hand. Denn »nach Kräften mitnehmen muß am Vaterland der Gutgesinnte«, wie der plebeische Tartüffe, der hier das Wort führt, mit frivoler Ironie dem Genossen erklärt.539

Aber – könnte man fragen – sind wir denn berechtigt, diese Gestalten der Dichtung für die Charakteristik des psychischen Habitus der Demokratie zu verwerten? Aristophanes ist ja Komödiendichter und kein Geschichtschreiber. Das Bild, das er mit so derben Pinselstrichen von dem Leben des Volksstaates entwirft, hat zwar scheinbar handgreifliche Realität und wirkt in dieser seiner lebendigen Anschaulichkeit mit unmittelbarer Überzeugungskraft; aber es ist eben doch in Wirklichkeit ein großartiges Zerrbild und will nichts anderes sein. »Die Welt, die uns der Dichter darstellt mit all ihrem Fleisch und Blut, ist eine phantastische verkehrte Welt, eine absichtlich von ihm verkehrte, in der Sinn und Unsinn, Verstand und Unvernunft, Wirklichkeit und Unmöglichkeit in tollem Übermut und karnevalartiger Ausgelassenheit friedlich miteinander verkehren.«540

Der Einwand ist berechtigt; und niemand wird das, was Volk und Richter auf der komischen Bühne tun und reden, ohne weiteres auf die Demokratie und das Volksgericht der Wirklichkeit übertragen. Eine andere Frage aber ist es, ob der Demos, »der sich in seinem komisch[271] idealisierten Bilde auf der Bühne wiedererkannte, über sich selbst lachte, über sich selbst spottete und an sich selbst erfreute«, – ob der wirklich Veranlassung hatte, sich »im Gefühle seines Wertes« über seinen possenhaften Doppelgänger auf der Bühne in dem Grade erhaben zu fühlen, wie ein falscher politischer Doktrinarismus dies behauptet hat.541

Die unter Grotes Einfluß stehende Geschichtsauffassung, welche diesen rein negativen, ablehnenden Standpunkt gegenüber der politischen Komödie einnahm, geht dabei von einer falschen Analogie aus. Ihr schwebt bei der Beurteilung der hellenischen Demokratie stets diejenige Englands vor. Unbedingter Maßstab und Richtschnur sind ihr die »praktischen Erfahrungen«, die man auf englischem Boden in bezug auf die Wirkungen »freier« Institutionen, d.h. »unbedingter Öffentlichkeit, ungehemmter Meinungsäußerung und unbevormundeter Selbstverwaltung« gemacht hat.542 Und weil sich nun hier das öffentliche Leben in Formen bewegt, auf welche die aristophanische Satire allerdings nicht anwendbar ist,543 so soll auch jedes andere »freie Gemeinwesen«, insbesondere die gefeierte athenische Demokratie hoch über dieser Satire stehen. Aber hat sich die »erziehende Macht freiheitlicher Institutionen« wirklich hier wie dort so ganz gleichartig betätigt? Und sind die Träger dieser Institutionen hier wie dort so wesensgleich, daß man ohne weiteres eine solche Identität der Wirkungsweise annehmen könnte?

Die Grotesche Geschichtsauffassung übersieht bei ihrer beständigen Parallelisierung englischen und althellenischen Lebens, daß der antike Hellene und der moderne Engländer ganz verschiedene Volkstypen repräsentieren. Man wird hier unwillkürlich an das erinnert, was Viktor Hehn einmal von dem Italiener im Gegensatz zu dem heutigen Engländer sagt: »Völlig fremd ist ihm und ganz undenkbar das Temperament jener phantasielosen und wohlmeinenden Söhne der Gewohnheit, die mit allen Tugenden der Gewöhnlichkeit ausgestattet, ehrenwert durch die Mäßigkeit der Ansprüche, langsam in der Auffassung ... die von den Vätern überkommene Last bürgerlicher Vorurteile mit rührender Geduld ihr Leben lang weiterschleppen.« Diese Charakteristik ist einseitig und nur teilweise zutreffend, aber so viel ist doch gewiß, daß dem englischen Volksgeist der althellenische ebenso ferne steht wie der romanische. Man vergleiche nur die nüchterne Verständigkeit des Briten, insbesondere seine zurückhaltende kühle Skepsis in allen Dingen, die das Verhältnis zwischen[272] Staat und Individuum betreffen, mit dem impulsiven Naturell des Griechen, der – gewöhnt, mit seinen Ideen und Phantasien in die Weite zu schweifen, und erfüllt von dem Aberglauben an die Allgewalt der politischen Macht – oft mit erschreckender Leichtigkeit zu bestimmen war, zur Erreichung seiner Ziele auch in der inneren Politik den Weg des Zwanges und der Gewalt zu beschreiten. Welch ein Unterschied zwischen einem Land, in dem – nach dem eigenen Urteil eines radikalen Arbeiterblattes – »der Revolutionarismus aufgehört hat, mehr als eine affektierte Phrase zu sein,«544 und dem seit dem Zeitalter des peloponnesischen Krieges in zahllosen Revolutionen sich erschöpfenden Hellas!

Aber sind denn auch nur die Institutionen hier wie dort gleichartig und gleichwertig? Kann man wirklich im Ernste das englische Parlament und die englischen Selbstverwaltungskörper mit dem auf der Pnyx tagenden tausendköpfigen Demos, die englische Geschworenenbank mit dem nach Hunderten zählenden athenischen Massengericht, die Organisation des öffentlichen Dienstes in England mit dem erlosten Beamtentum der radikalen Demokratie Athens auf eine Linie stellen? Parlament und Selbstverwaltung sind im modernen England trotz des demokratischen Stimmrechts weitaus überwiegend in den Händen der besitzenden und gebildeten Klassen, die durch eine günstige soziale Stellung vor anderen befähigt sind, sich für das öffentliche Leben auszubilden und in unentgeltlicher Arbeit für das Gemeinwohl zu wirken. Dagegen hat die autokratische Volksherrschaft der Hellenen, in der die Souveränität unmittelbar von der Gesamtheit der Staatsbürger ausgeübt ward, die großen öffentlichen Körperschaften im weitesten Umfang auch denjenigen Volksschichten zugänglich gemacht, die zur Übernahme öffentlicher Funktionen in psychischer wie ökonomischer Hinsicht am wenigsten befähigt waren, die sich dafür bezahlen ließen und als Kostgänger des Staates das öffentliche Wirken des Bürgers zu einer Sache des Erwerbes machten. Also auf dem Boden der englischen Demokratie bei aller politischen Freiheit eine ausgesprochene aristokratische Gestaltung des Staatslebens, in Athen und im hellenischen Volksstaat überhaupt eine starke Beteiligung ochlokratischer Elemente, welche der schon als große Massenversammlung wesentlich anders gearteten Volks- und Gerichtsversammlung jener Zeit ein soziales Gepräge gab, das von dem des Parlaments und der Jury doch recht beträchtlich abwich. Auf diesem Boden, auf dem sich die Roheit und das Ungestüm des elementaren[273] Volkswillens unmittelbar betätigen konnte, haben sich in der Tat – wenngleich in anderer Form, so doch denen auf der Bühne innerlich nicht unähnlich – auch auf der Pnyx und in den Hallen der Gerichtshöfe nur zu oft echte und rechte Proletarierkomödien abgespielt.

Die einseitige formal-politische Betrachtungsweise der Groteschen Schule, die sich auf ihren »Sinn für Politik« soviel zugute tut,545 verkennt eben durchaus, daß es sich hier überhaupt nicht bloß um ein politisches, sondern zugleich um ein sozial-psychologisches Problem handelt.546 Sie hat keine Ahnung davon, was es für die ganze bürgerliche Gesellschaft zu bedeuten hatte, daß im hellenischen Volksstaat Recht und Gesetz von Massenaktionen und damit von Trieben und Instinkten abhängig waren, welche das seelische Kollektivleben großer, zu gemeinsamen Machtentscheidungen berufener Massen beherrschen.

Diese demokratischen Massenhandlungen haben etwas von einer Naturerscheinung an sich. Nur zu oft kommt in ihnen die elementare Natur des Menschen,547 das »große Tier« (μέγα ϑρέμμα) wie es Plato treffend genannt hat,548 in verhängnisvoller Weise zum Durchbruch. Und insoferne hat das geniale aristophanische Bild von der Wespenschar eine tiefe innere Wahrheit. Es kennzeichnet eben an der Massenpsyche und an den demokratischen Aktionen, welche ein Produkt massenpsychologischer Vorgänge sind, das, was an ihnen Naturphänomen ist.

Am nächsten liegen ja der Massenmehrheit die rein natürlichen, sinnlichen Lebensinteressen. Wo sie entscheidet, können gerade diejenigen das Gewicht ihrer Zahl in die Wagschale werfen, die – um mit dem »Pöbelschmäher« Heraklit zu reden – nichts Besseres wissen, als sich den Bauch zu stopfen.549 Und dabei gilt hier einer soviel wie der andere! Die Zahl der Köpfe entscheidet, d.h. in diesem Falle häufig nichts anderes als die Zahl der Mägen! Die Magenfrage, die schon aus wirtschaftlichen Gründen im Mittelpunkt des Lebensinteresses des Durchschnittsmenschen steht, mußte hier mit psychologischer Notwendigkeit aufgerollt werden.

Auch darin hat die politische Komödie Athens vollkommen recht. Ihre Auffassung ist in diesem Punkt aus einer richtigen Anschauung von der Natur der Masse und ihrer gesamten Lage herausgewachsen. Schrankenloser[274] Demokratismus bedeutet in der Tat schrankenlosen materiellen Individualismus, weil die Neigung des Individuums, sich ausschließlich den Antrieben des sinnlichen Egoismus und dem Klassengeist hinzugeben, in den breiten Massen naturgemäß mit am stärksten entwickelt ist. Er ist darin durchaus das Gegenstück des extremen atomistischen Kapitalismus. Der plutokratischen entspricht die ochlokratische Souveränität der materiellen Interessen. Die doktrinäre Naivität, welche an die republikanische »Tugend« und den »Wert« dieser noch tief im sinnlichen Begehren steckenden Masse glaubt, entfernt sich daher wahrlich von der Wirklichkeit noch mehr als die Satire der Komödie, die jedenfalls darin recht hat, daß da, wo die Massenaffekte freie Bahn erhalten, überall die bête humaine zum Vorschein kommt.

Aber nicht bloß deswegen, weil sie die Masseninstinkte entfesselte, trat es in der Demokratie mit so drastischer Deutlichkeit zutage, daß der Mensch nicht nur ein politisches, sondern vor allem ein wirtschaftliches, d.h. wirtschaftlich bedürftiges und begehrendes Wesen ist.550 Diese Erfahrung konnte der Demokratie schon um ihres Prinzipes willen nicht erspart bleiben.

Indem sie für die Gesamtheit des Volkes eine Idee zu verwirklichen suchte, zu der die tatsächliche soziale Lage vieler Volksgenossen in schroffem Widerspruch stand, mußte es mit innerer Notwendigkeit dahin kommen, daß man auf eine ökonomische Ergänzung des politischen Prinzipes der Demokratie bedacht war, um diesen Widerspruch zu beseitigen. Die Idee des Lebens für den Staat verlangte den Dienst des Bürgers von seinen persönlichen, wie von seinen ökonomischen Kräften. Wo diese letzteren fehlten, mußte man sie also aus den Mitteln der Allgemeinheit ersetzen.551 Der Bürger wurde vom Staate alimentiert, damit er seine verfassungsmäßigen Pflichten und Rechte in Volksgericht und Volksversammlung wahrnehmen konnte.552 Eine sozial-politische Betätigung der Demokratie, die natürlich auch wesentlich dazu beigetragen hat, daß das an sich ja sehr alte System der Verteilung von öffentlichen Mitteln durch die stetige Vermehrung solcher staatlicher Zuwendungen (wie z.B. Getreidespenden, Theatergelder, außerordentlicher Geldverteilungen)[275] in einer Weise ausgebildet wurde, die man als ausgeprägt staatssozialistisch bezeichnen darf.

Schon in dem Regierungssystem des perikleischen Athens tritt diese staatssozialistische Tendenz stark in den Vordergrund. Die athenische Reichspolitik dieser Zeit ist ganz wesentlich Wohlfahrtspolitik im Interesse des Demos. Das Reichsgebiet wird in den Dienst einer Kolonialpolitik gestellt. (Kleruchien!), die Tausenden zum Besitz eines Landloses verhalf, die Reichsfinanzen in den Dienst einer Bau- und Verschönerungspolitik, die weiteren Tausenden Arbeitsgelegenheit und lohnenden Erwerb sicherte.

»Perikles« – heißt es bei Plutarch – »stellte dem Volke vor, man müsse den Überfluß auf solche Werke verwenden, von denen man Ruhm für die Ewigkeit, für die Gegenwart aber allgemeinen Wohlstand erwarten könne. Jegliche Kunst ermunternd, jede Hand in Anspruch nehmend, allerlei Bedürfnisse erzeugend, würden sie zu Erwerbsquellen für die ganze Stadt, die sich dergestalt zugleich verschönere und ernähre. Verschaffte der Kriegsdienst denen, welche wehrfähig waren, Unterhalt aus den Mitteln des Staates,553 so ging des Perikles Absicht anderseits dahin, auch der nichteingereihten, von der Handarbeit lebenden Masse – gegen entsprechende Arbeitsleistung – Anteil an solchem Verdienst zu gewähren.554 So regte er die Aufführung großer Bauten an, welche nicht nur viel Kunst, sondern auch Zeit zur Vollendung erforderten, damit die Daheimbleibenden nicht minder, als die auf den Schiffen, in den Garnisonen und auf Feldzügen Abwesenden Gelegenheit hätten, aus dem Staatsschatz Vorteil zu ziehen und auch ihren Anteil zu bekommen (!).555 Die Materialien waren Stein, Erz, Elfenbein, Gold, Eben- und Zypressenholz; zu deren Verarbeitung gehörten Bau- und Zimmerleute, Bildhauer, Kupferschmiede, Steinmetzen, Färber, Goldarbeiter, Elfenbeindreher, Maler, Sticker, Drechsler; um sie zu holen und herbeizuschaffen, brauchte man zur See Kauffahrer, Matrosen, Steuerleute, zu Lande Wagner, Fuhrleute, Maultierhalter, Seiler, Leinenweber, Sattler, Wegearbeiter und Bergleute. Jedes Gewerbe aber hatte noch, wie ein Feldherr sein Heer, eine Masse ungelernter Lohnarbeiter unter sich, die bei der Arbeit als Handlanger dienten. So konnten diese mannigfaltigen[276] Aufgaben über jedes Alter und jede Art von Tätigkeit reichlichen Gewinn ausstreuen.«556

Bei dieser Auffassung der Reichspolitik ist es keine tendenziöse Übertreibung, wenn Aristoteles in seiner athenischen Verfassungsgeschichte als treibendes Motiv derselben die Absicht bezeichnet, der großen Menge ein reichliches Auskommen zu verschaffen. Die statistische Übersicht, die er zur Beleuchtung dieses Versorgungssystems mitteilt, liefert den Beweis, daß »aus den Matrikularbeiträgen, den Gefällen und den sonstigen Leistungen der Bundesgenossen über 20000 athenische Männer Unterhalt bezogen«. »Da waren die 6000 Mitglieder des Volksgerichts, die 1600 Bogenschützen nebst 1200 Reitern, 500 Ratsherrn, 500 Mann Besatzung in den Werften und 50 Burgwächter; ferner gegen 700 Beamte in Attika und etwa ebensoviele außerhalb der Landesgrenzen. Dann ein Normalstand von 2500 Schwerbewaffneten und eine Schiffsmannschaft von 2000 Köpfen; endlich das Prytaneion mit seinen Pensionären, die vom Staate erzogenen Waisen und die Gefangenenwärter. Aller dieser Menschen Haushalt war auf das Gemeinwesen angewiesen und aus diesem zog das Volk seinen Unterhalt.«557

Wie nun aber, wenn dies Füllhorn des Segens versiegte, wenn es für die Ernährung des Demos keine Untertanen mehr zu besteuern gab? Mußte da nicht die Gewöhnung, im Staate eine Versorgungsanstalt zu sehen, die schlimmsten Folgen nach sich ziehen?

Eine einseitig individualistische Auffassung, welche die Geschichte der Demokratie nicht als den Entwicklungsprozeß einer Massenerscheinung zu begreifen vermag, hat im Hinblick auf diese unvermeidlichen Wirkungen des Systems seinem Urheber Perikles rein persönliche Motive untergeschoben. Sie verweist auf die Rivalität des Perikles mit Kimon, der seinen Reichtum förmlich zum Gemeingut gemacht habe, indem er täglich Speisungen für die Armen veranstaltete, die älteren Leute kleidete und die Zäune seiner Grundstücke einlegen ließ, damit jedermann von den Früchten nehmen könne. Darin habe es Perikles dem Gegner nicht gleichzutun vermocht und er habe ihn deshalb in echt demagogischer Weise dadurch übertrumpft, daß er als dauernde Institution die Verteilung von Staatsgut einführte.558 – Diese Auffassung tut dem großen Volksmann insoferne unrecht, als sie verkennt, daß derselbe nur die logisch unabweisbare Konsequenz des Prinzips der unmittelbaren Volksherrschaft[277] gezogen hat, und daß daher das genannte System sich auch außerhalb Athens in den fortgeschrittenen Demokratien findet.

Ebenso gewiß ist es freilich, daß die Demokratie damit vor ein Problem gestellt ward, welches in der Tat der demagogischen Ausnützung der Masseninstinkte nur zu viele Handhaben bot und die aus dem demokratischen Kollektivleben ohnehin sich ergebende Tendenz, die Politik als Magenfrage zu behandeln, gewaltig verstärkte.

War der Bürger einmal daran gewöhnt, für sein öffentliches Wirken, ja immer häufiger auch ohne jede Gegenleistung aus der Staatskrippe gefüttert zu werden, so war es psychologisch unvermeidlich, daß er an seinem Bürgerrecht mehr und mehr eben diese Seite schätzen lernte, und daß viele in der Ausübung desselben – um mit Isokrates zu reden – nicht einen Dienst, sondern ein Geschäft sahen,559 welches Gelegenheit gab, »aus dem öffentlichen Gut der eigenen Lage aufzuhelfen«,560 d.h. besser zu essen und zu trinken und weniger zu arbeiten. Die mit der Verschärfung der sozialökonomischen Gegensätze gewiß stetig zunehmende Masse derer, die so empfanden und einhellig zusammenstimmten, wenn es galt, »aus dem Gemeinbrei mitzulöffeln«, gewährt in der Tat das Bild einer Erwerbsgenossenschaft, die entschlossen war, die ihr günstige politische Konjunktur wirtschaftlich möglichst auszunützen. Diese Masse sah innerlich dem aristophanischen Herrn Demos gewiß gar nicht so unähnlich, wenn auch der Dichter darin übertreibt, daß er sie ohne weiteres mit dem Volke überhaupt identifiziert. Und jedenfalls haben Plato und Plutarch vollkommen recht mit der Behauptung, daß das System der staatlichen Natural- und Geldverteilungen und die Bezahlung der öffentlichen Funktionen ein faules, räsonierendes, nach (fremdem) Gelde lüsternes Gesindel großgezogen habe,561 das es, wie Aristoteles bemerkt, als selbstverständlich betrachtete, daß jeder, der ein gewisses Einkommen nicht erreichte, einfach vom Staate ernährt wurde.562

Das, was man die Raubtiernatur des Menschen genannt hat, mußte hier immer unverhüllter zum Vorschein kommen. Denn das sinnliche Begehren, zumal da, wo es die Armut in enge Grenzen bannt, ist wie ein[278] ausströmender Dampf. Es strebt in die Weite und wird, wo es keinen genügenden Widerstand findet, immer unbescheidener und unverständiger.563 Die Gier hat recht eigentlich die Eigenschaft, daß sie nie zu stillen ist. Je mehr man hat, je mehr man will! »Die Schlechtigkeit der Menschen« – sagt Aristoteles – »ist unersättlich: zuerst genügen ihnen zwei Obolen;564 sind diese aber erst herkömmlich geworden, so fordern sie immer mehr und steigern so ihre Ansprüche bis ins Unendliche. Denn die Natur der Begierde kennt keine Grenzen und ihrer Befriedigung lebt nun einmal die große Masse der Menschen.«565

Dazu kam, daß die genannte Praxis, welche Demades als den »Kleister der Demokratie« bezeichnet hat (κόλλαν τῆς δημοκρατίας), auf die Dauer ihren Zweck doch nicht erreichte. Der mühelos erworbene Gewinn, der dabei dem Proletarier zufiel, konnte nur demoralisierend wirken. Für eine dauernde wirtschaftliche Verbesserung seiner Lage ohnehin nicht genügend, ging er in der Regel im Genuß des Augenblicks wieder verloren und reizte nur die Begierden des Pöbels, ohne sie je befriedigen zu können. »Eine solche Art von Hilfe« – sagt sehr treffend Aristoteles – »ist für die Leute wie ein durchlöchertes Faß. Kaum haben sie etwas bekommen, so fordern sie schon von neuem!«566 Das bloße Mitlöffeln genügt ihnen schon bald nicht mehr. Sie wollen sich aus der allgemeinen Schüssel auch wirklich satt essen.

Dies Mißverhältnis zwischen den Ansprüchen der Masse und dem, was der Staat für ihre Befriedigung tat, sowie die Hetze, die dieses Mißverhältnis agitatorisch ausnützte, ist von Aristophanes in einer Szene der Wespen vortrefflich persifliert worden.

Hier wird dem alten Heliasten von seinem Sohne vorgerechnet, wie wenig er doch eigentlich von der Stellung habe, auf die er sich so viel zugute tue. Der Sohn fordert den Alten auf, einmal auszurechnen, wie hoch sich die athenischen Staatseinkünfte in runder Summe beliefen. Als Resultat ergibt sich eine Summe von ungefähr 2000 Talenten. Darauf berechnet er, wieviel davon in der Form des Richtersoldes auf die Geschworenen kommt. Es sind 150 Talente. »Wie?« – schreit der Alte – »nicht einmal der zehnte Teil kommt auf uns?« – »Und wo in der[279] Welt« – erwidert der Sohn – »kommt all das übrige Geld hin?« Natürlich fließt es in die Taschen derer, die in Amt und Würden sind und den Demos um das Seine betrügen. Während der Demos reich sein könnte, wird er mit drei Obolen abgespeist!


»Der du über die Städte von Pontos' Strand bis Sardo herrschst und gebietest,

Nichts hast du davon, als einzig den Quark von Gerichtssold, den man dir zumißt

Höchst homöopathisch, die tägliche Not dir zu lindern, wie Öl auf die Wolle (d.h. tropfenweise).

Denn sie wollen es ja, daß du arm seist, glaub's! Und warum? Das will ich dir sagen:

Daß den Herrn, der dich füttert und zähmt, du erkennst und sogleich, wenn wider die Feinde

Er die Koppel dir löst und dich jagt: Hetz, Hetz! blutlüstern du gegen sie anspringst.

Denn wollten dem Volke zu leben im Ernst sie verschaffen, so wär' es ein leichtes!

Denn die Städte, die jetzt an euch den Tribut einzahlen, sind etwa ein Tausend:

Wenn jede von ihnen beauftragt wär', zu beköstigen zwanzig Athener,

So schwelgten die zwanzig Tausend vom Volk ja in lauter gebratenen Hasen

Und festlichen köstlichen Kränzen zum Mahl und in Milch und Honig die Fülle,

Und genössen das Leben, wie attisches Volk, marathonische Sieger verdienen.

Doch jetzt, wie die Taglohndrescher im Herbst, so lauft ihr mit dem, der den Lohn zahlt.«567


Warum hätte man sich auch auf die Dauer damit bescheiden sollen? Warum hätte insbesondere der, für den am Bankett der Natur kein Kuvert gedeckt war, die Möglichkeit, hier zum Zuge zu kommen, nicht weidlich ausnützen sollen?

Der Demos war ja im Volksstaat »Herr über alles«, selbst über das Gesetz.568 Das souveräne Volk – die Quelle alles Rechtes – »hatte die höchste Verfügung über alle Dinge im Staat und das Recht zu tun, was es immer wollte«;569 es konnte den Staat wie sein Eigentum betrachten. »Ist nicht meine Macht« – ruft der Heliast in den »Wespen« befriedigt aus – »so groß wie die irgendeines Königs,570 ja wie die des Zeus selbst?«571

Mit psychologischer Notwendigkeit mußte sich hier der Gedanke einstellen, daß mit Hilfe einer solchen Macht die Gleichheit, die man besaß, wohl dazu dienen könne, die Gleichheit zu gewinnen, die man entbehrte,[280] und daß die Herrschaft über das Stimmrecht wohl imstande sei, auch die Herrschaft über die Güter zu verschaffen.572 Auch mußte ja dieses Machtgefühl schon dadurch aufreizend wirken, daß Leute, die sich selbst fortwährend als das souveräne Volk umschmeichelt, ihr Wohlbehagen als höchstes Staatsinteresse gepriesen sahen, naturgemäß den Abstand eigener Dürftigkeit und fremden »Vermögens«, den Stachel des Widerspruches zwischen Wunsch und Wirklichkeit besonders bitter empfanden.

Diese Stimmung ist uns ja schon sehr charakteristisch in der grimmigen Schadenfreude der Proletarier und Kleinbürger über die Demütigung der Reichen im Volksgericht entgegengetreten. Und wie fein beobachtet ist es und wahrhaft der Wirklichkeit abgelauscht, daß der erste Gedanke, der in der Komödie dem Volksrichter bei der selbstgefälligen Reflexion über seine Macht kommt, eben der ist: Jetzt kann ich es die vornehmen und reichen Leute nach Herzenslust fühlen lassen, was ich bin und vermag! Und wenn nun dieses Machtgefühl und die Ausnützung der Macht zugunsten der materiellen Gelüste der Kanaille tatsächlich dazu geführt hat, die größte zivilisatorische Errungenschaft der Demokratie, die theoretische und praktische Begründung des Rechtsstaates, illusorisch zu machen, wenn es der durch die »Freiheit« entfesselten Begierde des großen Haufens gelang, die auf die Vernunft und auf die Idee der Persönlichkeit begründeten Normen des Rechtsstaates und die durch diese Normen dem Sonderwillen gesetzten Schranken mit Hilfe der vergewaltigten Justiz zu durchbrechen, wo gab es da für die Begehrlichkeit der Masse überhaupt noch eine rechtliche oder sittliche Schranke?

Unter der Parole: »Greift nur hinein in die Taschen, in denen etwas ist,« war der Kampf gegen das Eigentum eröffnet, dem Glücke der Reichen der Krieg erklärt.573 Die demokratische Gleichheit war zu einem sozialen Machtmittel der stimmberechtigten Mehrheit gegenüber der Minderzahl, zu einer sozial-demokratischen Waffe gegen die sozial-aristokratische Gestaltung des Wirtschaftslebens geworden. Wie hätte diese ökonomische Seite der Rechtsordnung, die den Instinkten und Begierden der Masse die am schwersten empfundene Entsagung auferlegte, in den Gemütern den Charakter der Unantastbarkeit behaupten können?

[281] So gut man gelernt hatte, durch widerrechtliche Expropriierung und Aufteilung sich an die Stelle des einzelnen Eigentümers zu setzen, so gut konnte man auch daran denken, mit den »Reichen« überhaupt aufzuräumen, wenn man nur die nötige Anzahl von Fäusten hinter sich hatte. »Ist meine Willkür das Prinzip der Rechtsordnung, so kann auch mein Genuß das Prinzip der Vermögensverteilung sein.«574 Und nachdem einmal die Ausbeutung der politischen Macht auf Kosten der Besitzenden in manchen Staaten soweit gediehen war, daß Aristoteles geradezu von einer unvermerkten Aufteilung des Einkommens aus dem Besitze spricht, warum hätte diese Begehrlichkeit vor der Substanz des Vermögens selbst haltmachen sollen?575

Die stetige Gewöhnung, dem Ganzen gegenüber die Ansprüche der einzelnen, nicht deren Pflichten hervorzukehren, führte mit innerer Notwendigkeit zu einer zersetzenden Kritik, welche an die bestehende Gesellschaftsordnung einfach den Maßstab der individuellen Bedürfnisse und Begierden anlegte. Eine Kritik, die um so kühner und rücksichtsloser war, je mächtiger gerade die Demokratie den kritischen, autoritätsfeindlichen Sinn entwickelt und ausgebreitet hatte.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 266-282.
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