3. Ergebnisse

[392] Wenn selbst in dem altehrwürdigen Eurotasstaat, dem bis dahin unerschütterten Stütz- und Mittelpunkt aller konservativen Interessen, ein so radikaler Sieg der sozialen Revolution möglich war, so kann man sich denken, welch eine Kraft der Propaganda gerade von einem sozialrevolutionären Sparta ausgehen mußte. Die Zeitgenossen des Kleomenes hatten angesichts des »überall sich erhebenden Geistes der Neuerung« den Eindruck, als wenn die ganze Halbinsel »in ihren Grundfesten erzittere«.925

Sind doch die sozialen Mißstände, die dieses Sparta in die Revolution hineingetrieben hatten, bis zu einem gewissen Grade typisch für die Geschichte der Epoche überhaupt! Fast überall in Hellas dieselbe Tendenz zur Verschärfung der Klassengegensätze, in allen Schichten des Volkes eine die besseren Triebe mehr und mehr überwuchernde Begier nach Gewinn und Genuß, rücksichtslose Ausbeutung und ausschweifende Spekulation, Verbitterung und gegenseitige Entfremdung der verschiedenen Gesellschaftsschichten durch Klassenneid und Klassenhaß.

Dazu kam, daß diese Elemente der sozialen Zersetzung und Auflösung den freiesten Spielraum für ihre Betätigung hatten. So wie die Dinge in der republikanischen Staatenwelt von Hellas lagen, fehlte hier eine Organisation der Staatsgewalt, welche stark genug gewesen wäre, gegenüber den in der Gesellschaft vertretenen Sonderinteressen die Idee des Staates als des Vertreters des Gemeininteresses und der ausgleichenden Gerechtigkeit in genügender Weise zur Geltung zu bringen, den Egoismus der Gesellschaft den gemeinsamen Zwecken des Staatslebens zu unterwerfen. In dem auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhenden Staat, wo in Wirklichkeit die Souveränität der Gesellschaft oder vielmehr der jeweilig herrschenden Gesellschaftsklasse die eigentliche Grundlage der Staatsordnung bildet, sind ja die sozialen Mächte von vorneherein das ausschlaggebende Moment auch im öffentlichen Leben. Die Basis der Gesellschaftsordnung, der Besitz und seine Verteilung sind stets zugleich maßgebend für die staatliche Ordnung. Die ganze Entwicklung des politischen Lebens der hellenischen Republiken hing daher im letzten Grunde von der Entscheidung der Frage ab, welche von den verschiedenen sozialen Klassen – die kapitalistische Minderheit, der Mittelstand, die nichts oder wenig Besitzenden[393] – den vorwaltenden Einfluß auf die Staatsgewalt zu erlangen vermochte.

Und so kommen denn alle Gegensätze, welche die Gesellschaft erfüllten, stets auch in der politischen Arena zum Austrag.

Der Anspruch der politischen Parteien auf Beherrschung der Staatsgewalt war in der Regel nichts anderes als der Anspruch auf Durchsetzung sozialer Interessen, das mehr oder minder offen anerkannte Ziel des Parteikampfes kein anderes als die Ausnützung der Staatsgewalt im Sonderinteresse der einen Gesellschaftsklasse auf Kosten der anderen. Die Interessen des Güterlebens beherrschten vielfach fast mit derselben elementaren Gewalt, wie die Gesellschaft, so auch den Staat; auch er wurde zum Tummelplatz roher sozialer Begierden.

Wo der Staat in solchem Maße den Naturtrieben der Gesellschaft preisgegeben war, mußte der öffentliche Geist in der Tat wie von selbst in den Wahn hineingeraten, das politische Recht sei vor allem ein individuelles Recht ohne Verpflichtung gegen das Ganze, die politische Herrschaft keine Pflichterfüllung für die Gesamtheit, sondern ein Mittel zur Befriedigung sozialer Gelüste.926 Eine Erfahrung, die sich überall wiederholen wird, mag nun die kapitalistische Minderheit oder die Masse der Nichtbesitzenden durch die politische Macht die Möglichkeit erhalten, ihren Instinkten ungehindert zu folgen.

Man nahm es zuletzt wie etwas Selbstverständliches hin, politische Machtverhältnisse als soziale Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse aufgefaßt und ausgeübt zu sehen. Die bekannte Schrift über die athenische Demokratie erklärt die Klassenherrschaft des Demos von dessen Standpunkt aus als völlig naturgemäß, da man es ja niemand übelnehmen könne, wenn er vor allem für sich selbst sorge;927 und mit der offenherzigsten Unbefangenheit wird zugestanden, daß im umgekehrten Falle die Reichen ihre Herrschaft in demselben Geiste ausnützen würden.928 Eine Auffassung, der es vollkommen entspricht, wenn Aristoteles die beiden Grundformen des damaligen Verfassungslebens, Oligarchie und Demokratie, als Regierungssysteme definiert, von denen das eine zum Vorteile der Reichen, das andere zum Vorteile der Armen geübt[394] wird.929 Denn, wie Aristoteles weiter bemerkt, der Kampf zwischen arm und reich, zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, der das hellenische Volks- und Staatsleben zerrüttete und vergiftete, konnte kein anderes Ergebnis haben, als daß die jeweilig siegreiche Partei viel mehr auf die Begründung einer Klassenherrschaft bedacht war, als einer die gemeinsamen Interessen aller schützenden, die Sonderinteressen ausgleichenden staatlichen Ordnung (πολιτεία κοινὴ καὶ ἴση).930 Insoferne ist es wohlberechtigt, wenn Plato die auf solcher Grundlage erwachsenen Verfassungen geradezu als eine Negation der Staatsidee, als Werkzeuge der Zersprengung, nicht der Erhaltung der bürgerlichen Gemeinschaft bezeichnet.931

Das ist es offenbar, was Mommsen im Auge hat, wenn er von jenem griechischen Wesen spricht, das dem einzelnen das Ganze, dem Bürger die Gemeinde aufopferte. Das letzte Ergebnis ist in der Tat ein extremer Individualismus, der bis zu einer förmlichen Verneinung von Staat und Recht fortschritt und das Interesse des Individuums als das einzig wahre Interesse proklamierte.932 Eine Theorie des Egoismus, des ethischen Materialismus933 und Nihilismus, für die die Lebenszwecke des isolierten Individuums die einzigen Zwecke alles menschlichen Tuns sind.

[395] Den als ideologisch verlachten Ideen von Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz wird ein angebliches Naturrecht entgegengestellt, welches dem einzelnen in der Befriedigung seiner selbstsüchtigen Triebe keine andere Grenze steckt, als das Maß der eigenen Kraft. Wie im Kampfe ums Dasein, in der Tierwelt, immer der Stärkere es ist, der die Oberhand über den Schwachen gewinnt, so ist nach dieser Dogmatik des Egoismus das Recht stets auf dessen Seite, der die Macht hat; es ist identisch mit dem Interesse des Stärkeren.934 Die Regierungen machen mit vollem Rechte das zum Gesetz, was ihnen nützt. Was man »gerecht« nennt, ist nichts anderes, als der Vorteil der Machthaber.935 Nur Toren und Schwächlinge werden sich daher durch das positive Gesetz verhindern lassen, stets ihren eigenen Nutzen zu verfolgen.

Die Mehrheit weiß recht wohl, daß sie schwach ist und daß die einzige Bürgschaft für ihr Wohlsein in der Einschränkung der Starken liegt. Zu diesem Zwecke hat sie durch das »willkürlich ausgedachte« Gesetz das Naturrecht verdrängt. Die von Natur Stärkeren aber nimmt man von Jugend auf – wie junge Löwen – in Zucht, solange ihr Gemüt noch weich ist, und sucht sie durch allerlei Vorspiegelungen zu betören und zur Anerkennung der Gleichberechtigung der andern zu erziehen. Wenn aber einer, der eine ausreichend kräftige Natur besitzt, zum Manne wird, dann schüttelt er das alles ab, durchbricht den magischen Ideenkreis, in den man ihn künstlich gebannt hatte, sowie alle der Natur widerstrebenden Gesetze, um als Herr und Meister der vielen[396] aufzutreten und zu glanzvoller Erscheinung zu bringen, was von Natur Recht ist.936

Ganz besonders gilt dieses antisoziale Räsonnement dem Gebiete der wirtschaftlichen Konkurrenz, den Machtentscheidungen des sozialen Daseinskampfes, den es ganz in derselben Weise nach den Tatsachen der Tierentwicklung beurteilt, wie jene Modernen, welche die ausschließliche Souveränität des Egoismus als unabweisbares Postulat der natürlichen Zuchtwahl hinstellen. Es ist die einfache Übertragung des wilden Gewalt- und Überlistungskrieges im Tierreich auf die Interessenkämpfe der bürgerlichen Gesellschaft, wenn es als Naturrecht proklamiert wird, daß »das Besitztum der Schwächeren und Geringeren eigentlich den Stärkeren«, d.h. den »Besseren oder Fähigeren« gehöre, daß jene mit dem zufrieden sein müssen, was ihnen diese übrig lassen.937 So wird der selbstsüchtige Wille des Individuums auf den Thron gesetzt, die Gesellschaft in ihre Atome aufgelöst. Und was sich hier als Theorie gibt, das erscheint in seiner verhängnisvollen Bedeutung für die Praxis des Lebens in dem furchtbaren Urteil, welches ein so nüchterner Beobachter, wie Aristoteles, im Hinblick auf den Egoismus seines Zeitalters gefällt hat: »Immer sind es nur die Schwachen, welche nach Recht und Gleichheit rufen, die Starken aber fragen nichts nach diesen Dingen.«938

In den wirtschaftlich und politisch fortgeschrittensten Staaten der hellenischen Welt finden wir auf der einen Seite eine plutokratisch gesinnte Minderheit, welche das Prinzip der Volkssouveränität, der Gesetzgebung[397] durch das Volk, als eine unnatürliche Knechtung der Stärkeren, der sozial und geistig Höherstehenden, auf das drückendste empfand und stets bereit war, sich derselben mit allen Mitteln zu entledigen, auf der anderen Seite das »Volk«, dessen demokratisches Bewußtsein ebenso einseitiger Individualismus im Interesse der Massen war, wie das oligarchische Prinzip in dem der Reichen. Wollte die Geldoligarchie überall die Emanzipation vom staatlichen Zwang, wo derselbe ihren Gewinntrieb beengte, so wollte der radikale Teil des Demos alles durch den Staat für die Masse. Ein Gegensatz, der sich immer mehr verschärfen mußte, je mehr dasjenige Volkselement, welches berufen gewesen wäre, den schlimmsten Ausschreitungen und gewaltsamen Ausbrüchen des Klassenegoismus entgegenzuwirken, der besitzende Mittelstand, im Rückgang begriffen war und die Kluft zwischen der begüterten Minderheit und dem an Zahl und Begehrlichkeit stetig wachsenden Proletariat eine immer größere wurde.

Nichts könnte die vernichtenden Wirkungen dieser Verschärfung und Verbitterung der Klassengegensätze greller beleuchten, als das frevelhafte Losungswort der geheimen oligarchischen Klubs der Zeit: »Ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und durch meinen Rat nach Kräften schaden.« Hier war die Zerstörung der geistig-sittlichen Gemeinschaft der Volksgenossen, die Zersetzung der gemeinsamen Ideen und Gefühle, welche das Volkstum zusammenhalten, in der Tat vielfach bis zu jenem Punkte gediehen, wo man in Wahrheit sagen konnte, was die moderne Demagogie der Gegenwart den Massen predigt, daß die höheren Stände im Vaterland wie in Feindesland lebten als die geborenen Gegner des kleinen Mannes.

Und auf der anderen Seite stand der Demos, der Erzsophist und Jugendverderber, wie ihn Plato genannt hat,939 zum großen Teil eine dem Pauperismus verfallene Masse, »gleichgültig gegen das Gemeinwesen, wenn sie nur Brot hatte,«940 und stets geneigt, in der Ausnützung der Macht, welche das gleiche Stimmrecht und das Gewicht ihrer Zahl verlieh, bis zur äußersten Grenze zu gehen.

Kein Wunder, daß der politische Parteikampf immer mehr zu einem Kampf um den Besitz und daher mit der ganzen Leidenschaftlichkeit geführt wurde, die diesem Kampfe eigen zu sein pflegt. Ein Kampf, dessen blutige Gewaltsamkeit den überall aufgespeicherten Zündstoff des Klassenhasses immer wieder zu hellen Flammen entfachte. »Das[398] Volk von Argos«, sagt Isokrates, »macht sich ein Vergnügen daraus, die reichen Bürger umzubringen, und freut sich, indem es das tut, so sehr, wie andere nicht einmal, wenn sie ihre Feinde töten.«941 Von den Zuständen im Peloponnes überhaupt heißt es an einer anderen Stelle: »Man fürchtet die Feinde weniger als die eigenen Mitbürger. Die Reichen möchten ihren Besitz lieber ins Meer werfen, als den Armen geben, den Armen dagegen ist nichts ersehnter, als die Beraubung der Reichen. Die Opfer hören auf, an den Altären schlachten sich die Menschen. Manche Stadt hat jetzt mehr Emigranten, als früher der ganze Peloponnes.«942 So scheiden die sozialen Gegensätze die Gesellschaft in zwei feindliche Teile, von denen der eine dem andern stets den Rückhalt streitig macht, den er am Staat für seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz, für seinen Besitz und seine Freiheit hätte haben sollen.943 Die Elemente der Einheit sind soviel schwächer geworden als die der Trennung, daß nicht selten die einander bekämpfenden Klassen sich zuletzt innerlich ferner stehen, als ganz Fremden und Feinden.

Das Bestehende hat mehr und mehr allen materiellen und moralischen Halt verloren. Die heillose politische Zerrissenheit, die zahllosen Fehden und wilden Parteikämpfe führten zu einer stetig fortschreitenden wirtschaftlichen Zerrüttung, die nun zu alledem noch dadurch gesteigert wurde, daß Hellas im Zeitalter des Hellenismus seine verkehrspolitische Stellung verlor und in kommerzieller Hinsicht auf die Stufe eines Nebenlandes herabzusinken begann. Ein wirtschaftlicher Niedergang, der in Verbindung mit dem massenhaften Abströmen der Bevölkerung nach dem Osten zugleich eine Abnahme der nationalen Lebenskraft, sowie eine Schwächung der Energie und der Mittel zur Bekämpfung der fortwuchernden sozialen Krankheit bedeutete, die ihrerseits durch die wirtschaftliche Stagnation in verhängnisvoller Weise verschlimmert wurde. Obgleich die Bevölkerung an Zahl rapid[399] zurückging und besonders das platte Land verödete, gab es doch noch genug Hände, für die es an Arbeit und lohnendem Erwerb fehlte. Zustände, die die Verarmung und Verschuldung der Massen, wie die Tendenz zur Konzentration von Grundbesitz und Kapital nur verschärfen konnten und der ochlokratischen wie der plutokratischen Verwilderung direkt in die Hand arbeiteten.

Wir haben eine Reihe von Sittenbildern aus dem sozialen Leben des 3. und 2. Jahrhunderts, welche auf diesen gesellschaftlichen Zersetzungsprozeß interessante Streiflichter fallen lassen und trotz mancher tendenziöser Übertreibungen eine lehrreiche Vorstellung von der traurigen Wirklichkeit gewähren.

So heißt es in einer leider nur als Fragment erhaltenen Schilderung des damaligen Hellas944 von Theben: »Seine Bewohner lieben es, großartig aufzutreten, und sind von wunderbarer Elastizität in allen Lebenslagen, aber dabei frech, übermütig und gewalttätig, immer bereit, loszuschlagen – sei es gegen Fremde oder Mitbürger – und gründliche Verächter des Rechtes. Die Prozesse dauern bei ihnen mindestens dreißig Jahre. Denn wenn einer vor dem Volke davon redet und sich nicht schleunigst aus Böotien fortmacht, sondern nur noch eine kurze Frist in der Stadt verweilt, so wird er sicher bei Nacht von denen umgebracht, die den Prozeß nicht zu Ende kommen lassen wollen. Mordtaten passieren aus jedem Anlaß. Doch gibt es einige anständige und ehrenwerte Leute, mit denen man Freund sein kann.« (!) Auch ein anderer Zeuge, Polybios, schildert die Verhältnisse Böotiens im 2. Jahrhundert als reine Anarchie.945 Er bestätigt, daß in dem langen Zeitraum eines Vierteljahrhunderts von einer Rechtsprechung in öffentlichen wie privaten Dingen keine Rede mehr gewesen sei.946 Der kommunistischen Begehrlichkeit des Proletariats kam die Staatsgewalt selbst wiederholt durch Aufteilung öffentlicher Mittel weit entgegen, ohne dadurch freilich etwas anderes zu erreichen, als daß die Masse die Ämter mit Vorliebe an solche vergab, von denen sie eine Verhinderung der Strafjustiz und der Schuldprozesse, sowie immer neue Verteilungen von Staatsgut erhoffen durfte.947 Als ein besonders erfolgreicher Förderer dieses ochlokratischen Zerstörungswerkes wird ein gewisser Opheltas[400] genannt, der nach dem Urteil des Polybios »immer etwas Neues der Art zu ersinnen wußte, was für den Augenblick dem Interesse der Masse zu dienen schien, aber nachher um so sicherer zum Verderben ausschlug«; wofür Polybios ebenfalls drastische Belege anführt.

Aber auch der Geist der besitzenden Klasse war tief gesunken. »Kinderlose Leute« – sagt Polybios – »pflegen ihr Vermögen nicht den nächsten Erben zu hinterlassen, sondern zu Gastmählern und Trinkgelagen für Freunde zu bestimmen; und auch viele, die Kinder haben, hinterlassen den Hauptteil des Vermögens ihrer Tischgenossenschaft, so daß es viele Böoter gibt, die den Monat mit mehr Trinkgelagen besetzt haben, als derselbe Tage hat.«948

In einem anderen Stimmungsbild desselben Autors heißt es von der hellenischen Welt überhaupt: »Zu unserer Zeit ist in ganz Griechenland Kinderlosigkeit und Menschenmangel allgemein geworden. Dadurch sind die Städte verödet und die Erträge der Volkswirtschaft zurückgegangen, obwohl wir (seit Beginn des 2. Jahrhunderts) weder unter längeren Kriegen, noch unter Epidemien zu leiden hatten.«949 Die Ursache aber davon dürfe man nicht bei den Göttern suchen. »Einzig und allein die Menschen sind schuld, da sie aus Leichtsinn und Habgier nicht mehr heiraten und, wenn sie heiraten, keine Kinder mehr aufziehen wollen, sondern in der Regel kaum eines oder zwei wirklich aufziehen, damit das im schwelgerischen Überfluß geschehen kann und nach ihrem Tode die Kinder reiche Leute seien.« Dabei lebe man meist über die Verhältnisse, weil jeder ohne Rücksicht auf seine Mittel es dem andern im Glanz und Flitter der äußeren Lebenshaltung zuvorzutun suche.950

In einer solchen Zeit klingt es wie der reine Hohn, wenn die satte Bourgeoisie den nach ihrer Habe lüsternen Proletarier auf den Weg der Arbeit und des Erwerbes verwies. Eine Anschauungsweise, die mit besonders charakteristischer Naivität in dem Grundsatz zum Ausdruck kommt, den Polybios mit sichtlichem Behagen als eine Maxime Philopömens erwähnt: »Wer sich fremden Gutes enthalten soll, der muß ein Eigentum erwerben.«951 Als ob das Erwerben jedermann freistünde, noch dazu inmitten einer sinkenden Volkswirtschaft und unter dem[401] Druck von Mammonismus, Pauperismus und Sklavenkonkurrenz, und als ob mit diesem billigen Rat das ganze soziale Problem gelöst wäre!

In der Tat zeigte sich der Proletarier dieser Zeit weniger als je geneigt, solchem Rate zu folgen.952 Er hatte sich längst an den rascheren Weg der Gewalt gewöhnt und der Gedanke der wirtschaftlichen Ausgleichung durch einfache Expropriation von Kapitalrente und Bodeneigentum war ihm förmlich in Fleisch und Blut übergegangen. Schon Flamininus nahm aus Griechenland den Eindruck mit hinweg, daß hier überall die Masse auf den Umsturz des Bestehenden lauere.953 Was Polybios von einer arkadischen Stadt erzählt: unaufhörlicher Bürgerzwist, gegenseitige Massenhinrichtung und Austreibung, Raub an Hab und Gut und schließlich die Bodenaufteilung954 (worauf dann natürlich über kurz oder lang ein Rückschlag folgt), das ist der hoffnungslose Kreislauf, in dem sich die Geschichte zahlreicher Gemeinden bewegt.

So hat z.B. in dem benachbarten Messenien der Sieg der Demokratie die Folge gehabt, daß der Landbesitz der verjagten Gegner durch das Los unter die Masse aufgeteilt wurde.955 Noch schlimmer tobte der Klassenkampf bei den Ätolern, wo die durch wüste Genußsucht noch gesteigerte wirtschaftliche Zerrüttung und allgemeine drückende Verschuldung mit ihren Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Die Verfeindung zwischen arm und reich, zwischen Schuldnern956 und Gläubigern stürzte hier in Verbindung mit der politischen Parteizerrissenheit das ganze Land in ein Chaos blutiger Greuel und wahnsinniger Vernichtungskämpfe und führte zuletzt zu dem revolutionären Versuch einer sozialen Neuordnung, der aber infolge seines Radikalismus und der Unlauterkeit der Führer eine Reaktion und den Sturz der von der Masse auf den Schild erhobenen »Gesetzgeber« Dorimachos und Skopas herbeiführte.957 – Abgesehen von der beabsichtigten Kassation der Schulden[402] erfahren wir nichts Näheres über die Ziele dieser sozialen Umwälzung. Ihr Hauptgegner Alexander, der »reichste aller Hellenen«,958 nennt sie bei Polybios eine Tat, »die sich nicht mehr gut machen läßt, ohne vorher ihren Urhebern schweres Unheil gebracht zu haben«.959 Auch aus Thessalien wird die Ausbreitung der »ansteckenden Seuche« gemeldet, wie Livius die sozialen Nöte und Kämpfe der Zeit bezeichnet,960 die hier in dem Lande der großen Rittergüter und einer zahlreichen abhängigen Kleinbauernschaft einen wesentlich agrarischen Charakter gehabt zu haben scheinen.

Selbst in die letzte große politische Krisis der Nation (147/6) spielt die sozialdemokratische Bewegung mächtig hinein. Eine allgemeine Hetze gegen die Reichen, die ihren Rückhalt gegen diesen Ansturm eben bei dem plutokratischen Rom suchten, Suspension der Schuldgesetze und die Predigt des Umsturzes, das sind die Mittel, mit denen heruntergekommene Demagogen das arme und verschuldete Volk in den Krieg hineintrieben, in dem die Freiheit und Unabhängigkeit der Nation für immer verloren ging.961

Aber selbst die Furcht vor der grundsätzlich mit dem Kapitalismus und dem Interesse der Besitzenden verbündeten römischen Weltmacht hat die zähe Lebenskraft der in den Tiefen der Gesellschaft fortwühlenden Elemente des Umsturzes keineswegs völlig zu ersticken vermocht. Kaum versiegen die Nachrichten von den Orgien des freien Proletariats, so hören wir aus den verschiedensten Teilen der hellenischen Welt von Aufständen der unfreien Arbeiter, der Ärmsten der Armen, auf denen der Druck des bestehenden gesellschaftlichen Systems am furchtbarsten lastete. In den dreißiger Jahren des 2. Jahrhunderts erhoben Sich kurz nacheinander die Sklaven auf Delos, dem großen internationalen Sklavenmarkt, die Arbeiter in den attischen Silbergruben und in den Bergwerken Makedoniens, sowie die unfreie Bevölkerung des Reiches Pergamon.962

[403] Inwieweit freilich bei diesen Arbeiterrevolutionen kommunistische und sozialistische Tendenzen zutage traten, darüber läßt sich aus den unglaublich dürftigen und einseitigen Notizen, welche die erhaltene Literatur der Bewegung widmet, irgend etwas Bestimmtes nicht entnehmen. Doch ist das Vorhandensein solcher Tendenzen kaum zu bezweifeln. Indem der Sklave der herrschenden Gesellschaft den Krieg erklärt, gewinnt ein Produktionsfaktor, der bis dahin nur eine besondere Existenzweise des Kapitals, beseeltes Werkzeug gewesen war, mit einem Schlag eine grundsätzlich veränderte Bedeutung;963 er erhebt sich als Teil der Gesellschaft, der zu selbständigem Leben erwacht ist und eine selbständige, bewußte, der Ordnung der Gesellschaft mit bestimmter Absicht entgegentretende Gewalt repräsentiert. Der Sklave, der die Kette gebrochen, will aufhören, eine bloße Sache und Erwerbsorgan des Herrn zu sein. Es ist ein Kampf der recht- und besitzlosen Arbeit mit dem Besitz; und wie konnte der Sklave sein Ziel vollkommener erreichen, als wenn er dem Herrn ökonomisch und sozial möglichst gleich zu werden suchte, wenn er sich womöglich selbst an dessen Stelle setzte? Wo wir dem Sklaven bis dahin im Dienste der sozialen Revolution begegneten, handelte es sich immer zugleich um einen Vernichtungskampf gegen die höheren Klassen, um die Beteiligung der Sklaven an Hab und Gut, ja oft auch an Weibern und Kindern der Besitzenden. Das Endziel ist daher gewiß auch bei diesen letzten großen Massenerhebungen des unfreien Proletariates, genau so wie bei denen des freien, eine andere wirtschaftliche Zusammensetzung der Gesellschaft, eine von der bisherigen abweichende Verteilung der Lebensgüter im Sinne der Gleichheit und Brüderlichkeit, erzwungen und durchgeführt durch die von den Massen eroberte Staatsgewalt.964

Daher sehen wir auch z.B. in Pergamon (133/2) das freie Proletariat mit den Sklaven gemeinsame Sache machen; und allem Anscheine nach ist es eben diese auf Begründung einer neuen, glücklicheren Gesellschaft gerichtete Tendenz, wenn der Führer der pergamenischen Bewegung, Aristonikos,965 die Scharen seiner Anhänger als Heliopoliten, als »Bürger des Sonnenstaates«, bezeichnete.966

[404] Mommsen will den Namen dieser »seltsamen Heliopoliten« dahin verstanden wissen, daß die befreiten Sklaven als Bürger einer ungenannten oder auch vielleicht für jetzt nur gedachten Stadt Heliopolis sich konstruierten, die ihren Namen von dem in Syrien hochverehrten Sonnengott empfing.967

Wenn aber der Ruf des Aristonikos an die Gedrückten und Beladenen des ganzen Landes erging, und zwar nicht bloß an Sklaven, sondern auch an die Freien, wie hätten diese Massen auf den Gedanken kommen sollen, sich auf das Gebiet einer einzigen Stadt zu beschränken? Ihr Führer trat auf als legitimer Erbe der Landeskönige, und sein Ziel war die Herrschaft über das ganze Reich Pergamon, deren Segnungen allen Armen und Elenden im ganzen Lande zugute kommen sollten. Ganz Pergamon sollte zu einem Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit umgeschaffen werden und der für die Träger dieser großen Revolution gewählte Name bezeichnet dieselben als die Bürger eines von dem alten grundsätzlich verschiedenen neuen Reiches sozialer Glückseligkeit. Eine Annahme, der die Bedeutung des Wortes Heliopolis in keiner Weise entgegensteht, da für die damalige Anschauung die Begriffe Stadt und Staat noch immer leicht ineinander übergingen und ja auch schon der bisherige Name der Landeshauptstadt zugleich der des ganzen Reiches gewesen war. Und der Mittelpunkt dieses neuen Reiches sollte doch gewiß nach den Intentionen des Aristonikos die Burg seiner Väter, die Akropolis von Pergamon, werden. Von der Exedra des Attalos auf der Burghöhe sollte ein Volkskönig herabsehen können auf ein Land von Brüdern.

Wenn der Zukunftsstaat der Heliopoliten gleichzeitig in dem Kultus des Sonnengottes einen religiösen Mittelpunkt erhalten sollte, so ist auch das in sozialpolitischer Hinsicht nicht ohne Bedeutung. Wo wir diese Naturkulte gepflegt finden – und sie begegnen uns selbst im eigentlichen Hellas schon seit Jahrhunderten –, wirkten sie als ein Element der sozialen Ausgleichung und Verbrüderung. In den zahlreichen Vereinen und religiösen Bruderschaften, welche Träger dieser Kulte waren, verschwanden gegenüber dem Zweck der Genossenschaft die Unterschiede von Hellene und Barbar, von frei und unfrei, von Mann und Weib, von arm und reich. Für das gesteigerte und erregte Gefühlsleben, welches der Dienst dieser uralten Naturreligion hervorrief,[405] verloren die Schranken, welche den Menschen vom Menschen scheiden, ihre Bedeutung. Ihre Bekenner kehrten gewissermaßen selbst zum verlorenen Stand der Natur und ihrer Gleichheit zurück.

Eine Übertragung dieser ausgleichenden Tendenz auf das wirtschaftliche Gebiet, der Gedanke, solch brüderlicher Gleichheit der Menschen auch durch die Gleichheit der Güter, wenn nicht durch die Gütergemeinschaft, Ausdruck zu verleihen, lag hier überaus nahe.968 Und nun erinnern wir uns, wie bedeutsam gerade in dem sozialen Utopismus des hellenistischen Zeitalters die Beziehungen zur Sonne und zum Sonnenkult hervortreten! Der Sozialstaat des Euhemeros, das Land Panchäa, wird von den Fluten des Sonnenstroms bespült, und das selige Wunschland des Jambulos – die reinste Verkörperung des sozialistischen Gedankens in der Welt des Hellenismus – ist ja geradezu der Sonne geweiht, die seine Bewohner als die höchste Gottheit verehren.969 Hier haben wir in einem der verbreitetsten Romane der Zeit die Heliopolis und die Heliopoliten in leibhaftiger Gestalt vor uns. Sollte zwischen diesen Erscheinungen in der utopistischen Literatur und dem Ideal des Sonnenstaates, wie es der Fürstensohn von Pergamon den Massen predigte, nicht irgendein Zusammenhang bestehen? Ist doch so viel gewiß, daß sein Versuch, die Gesellschaft auf neue Grundlagen zu stellen, umgekehrt in gewissen sozialreformatorisch gesinnten Kreisen der Literatur lebhaftes Interesse hervorgerufen hat. Der Stoiker Blossius aus Kumä, der einen nicht unwichtigen Anteil an den sozialpolitischen Bestrebungen des Tiberius Gracchus gehabt hat, ist nach dessen Sturz zu Aristonikos gegangen; offenbar doch nicht bloß deswegen, um hier Sicherheit gegen seine plutokratischen Gegner in Rom zu suchen, sondern auch aus innerem Interesse für die gesellschaftlichen Reformgedanken des Königs der Armen!

Seine Verwirklichung hat freilich der Sonnenstaat des Aristonikos ebensowenig gefunden wie der des Jambulos. Sein Verkündiger starb erdrosselt in römischer Kerkerhaft, und überall – diesseits wie jenseits des ägäischen Meeres – triumphierte die bürgerliche Gesellschaft über die Sklaven- und Proletarierscharen, die ja der äußeren und inneren Voraussetzungen für eine soziale Emanzipation durchaus entbehrten.


Das Schicksal der Sonnenbürger ist in gewisser Hinsicht typisch für das Endergebnis der sozialrevolutionären Bewegung in Hellas überhaupt.[406] Dies Endergebnis ist nicht eine Erhöhung der Summe von Freiheit in der Gesellschaft, sondern im Gegenteil eine Steigerung der Unfreiheit und Ungleichheit, der politischen und sozialökonomischen Abhängigkeit.

Selbst da, wo die soziale Demokratie auf kürzere oder längere Zeit siegreich ist, zeigt sich das Illusorische ihres Anspruches, den Massen die endgültige politische und persönliche Freiheit bringen zu können. Die gewaltsame und plötzliche Umgestaltung der Gesellschaft, die Emanzipation durch die politische und wirtschaftliche Enteignung, welche die Parole dieses revolutionären Sozialismus ist, konnte gar nicht anders verwirklicht werden als durch eine straffe Zentralisation der revolutionären Gewalt in den Händen der Führer. Und dann galt es, die in heißem Kampf errungene sozialökonomische Ausgleichung zu sichern! Der Bestand der neuen Ordnung des Güterlebens war ja fortwährend in Frage gestellt durch die oft nach Tausenden zählende, stets auf die Rückkehr lauernde Emigration draußen und durch die zahlreichen der Gleichheit widerstrebenden sozialen Kräfte im Innern, die man doch unmöglich alle auszutilgen vermochte. Eine freie Verfassung, welche zugleich allen der neuen Güterverteilung feindlichen Elementen freien Spielraum gelassen hätte, würde eine beständige Bedrohung derselben gewesen sein, unter Umständen ihre Vernichtung bedeutet haben. Der Bürger der neuen Gesellschaft, dem es vor allem um den ungestörten Genuß und die Ausbeutung seines neugewonnenen Gutes zu tun war, zögerte daher nicht, die Konsequenz aus dieser Situation zu ziehen. Der Einfluß der Masse auf die Staatsgewalt hatte ihm geleistet, was er leisten sollte. So wurde er gleichgültig gegen das, was ihm jetzt nichts mehr nützen konnte – eine Gleichgültigkeit, die uns übrigens schon früher als charakteristisches Symptom der Zeit entgegentrat, – und fügte sich willig in die Notwendigkeit einer starken Regierungsgewalt. Um ruhig wirtschaften oder genießen zu können, überließ er die Staatsgewalt den Machthabern. Es ist erstaunlich, wie sehr in dieser Epoche die Lieblingsideen des doktrinären Demokratismus: die elementare Form der Selbstregierung des Volkes, das zeitlich und sachlich gebundene Mandat, das abhängige und schwache Beamtentum und die Machtlosigkeit der Regierung, im Kurse gefallen sind.

Man hat von der modernen Sozialdemokratie behauptet: »Wo irgendeine wirtschaftliche Forderung des sozialistischen Programms in einer Weise oder unter Umständen ausgeführt werden sollte, daß die freiheitliche[407] Entwicklung dadurch ernsthaft gefährdet erschien, hat die Sozialdemokratie sich nie gescheut, dagegen Stellung zu nehmen. Die Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheit hat ihr stets höher gestanden als die Erfüllung irgendeines wirtschaftlichen Postulates. Die Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit ist der Zweck aller sozialistischen Maßregeln, auch derjenigen, die sich äußerlich als Zwangsmaßregeln darstellen. Stets wird ihre genauere Untersuchung zeigen, daß es sich dabei um einen Zwang handelt, der die Summe von Freiheit in der Gesellschaft erhöhen, der mehr und einem weiteren Kreise Freiheit geben soll, als er nimmt.«970 Angesichts des sozialdemokratischen Koalitionszwanges und so vieler anderer Ausbrüche des Massenterrorismus bedarf es aber leider nicht einmal einer genaueren Untersuchung, um diese Ansicht, die alle Erfahrungen der Massenpsychologie gegen sich hat, als eine stark optimistische erkennen zu lassen.

Muß doch der Vertreter dieser Anschauung selbst zugeben, daß sie jedenfalls für die früheren »unreiferen« Epochen des Sozialismus nicht gilt. In der Tat hat die antike Sozialdemokratie wenig Neigung gezeigt, der staatsbürgerlichen Freiheit ihre wirtschaftlichen Forderungen zum Opfer zu bringen. Im Gegenteil! Ihr war am Ende jede Staatsform recht, die ihr das meiste zu bieten schien; und das war gerade für den Augenblick wenigstens ein rücksichtsloser Despotismus. Wie oft hat die Masse um den Preis von Schuldenerlaß und Bodenaufteilung dem zugejubelt, der gestützt auf die Gewalt von Faust und Schwert sich zum Herrn des Staates aufwarf und einfach seinen Willen an die Stelle des Volkswillens setzte! In Hunderten von Fällen endet der Versuch der wirtschaftlichen Ausgleichung nicht mit der Vollendung der reinen Demokratie, sondern mit dem Absolutismus eines einzelnen; sie ist nicht der Anfang der »sozialen Befreiung«, wie jener Demagoge von Syrakus träumte, sondern der Anfang der sozialen Diktatur.971 Und dasselbe Volk, das sonst so eifersüchtig über seine Selbstherrlichkeit[408] wachte, gab leichten Herzens all sein Recht und alle Freiheit an den Gewaltherrscher dahin, der seinen Begierden Befriedigung verhieß!

Übrigens erklärt sich diese freiheitsmörderische Tendenz der damaligen Sozialdemokratie doch nicht allein daraus, daß sie – ganz im Geiste des kommunistischen Manifests – ihre Ziele einseitig durch »politische Aktion«, ohne vorbereitende Einrichtungen, durchzusetzen suchte und dafür kein anderes Mittel zur Verfügung hatte als den Terrorismus revolutionärer Hetärien und die revolutionäre diktatorische Zentralgewalt. Hier wirkte vielmehr noch ein anderes mit: die grundsätzliche Unvereinbarkeit des ökonomischen Gleichheitsprinzips mit bürgerlicher und individueller Freiheit. Und der hellenische Geist, der überall rücksichtslos die letzten Konsequenzen zog, hat sich auch dieser Erkenntnis nicht verschlossen. In der sozialen Theorie spiegelt sich die freiheitswidrige Tendenz des doktrinären Sozialismus deutlich wider. Denn es ist gewiß nicht zufällig, daß uns auf dem Höhepunkt des hellenischen Sozialismus, im Sonnenstaat des Jambulos, ein streng autoritärer Kollektivismus entgegentritt: die Leitung der sozialistischen Arbeitergruppen durch ein Zentralorgan, einen »Hegemon«, dem die Genossen wie einem Monarchen folgen.972 Wahrlich, drastischer als durch diese Verbannung der Republik aus der Werkstatt hätte es gar nicht zum Ausdruck gebracht werden können, daß das Ziel des sozialdemokratischen Feldzuges gegen den Reichtum, die Herstellung der wahren Demokratie, eine reine Illusion war!

Aber ist das, was um den Preis der Freiheit erkauft werden sollte, die Erhöhung des allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Niveaus, der Wohlfahrt und des Glückes der großen Mehrheit, auch nur vorübergehend in irgend erheblichem Maße erreicht worden?

Die öftere Wiederholung so gewaltsamer Experimente, wie es die Vernichtung der Schuldverträge und die Vertreibung zahlreicher in Produktion und Handel tätiger Elemente aus Wirtschaft und Geschäft war, vermag keine Volkswirtschaft ohne schwere Einbuße an produktiven Kräften zu ertragen. Wie zerstörend mußte diese die Bedürfnisse des Wirtschaftslebens so vollständig ignorierende Gewaltsamkeit in der antiken Stadtstaatwirtschaft wirken, deren Gleichgewicht ohnehin stets ein labiles war, zumal wenn sie in so erschreckender Häufigkeit wiederkehrten, wie es damals in vielen Städten der Fall war! Eine solche Unsicherheit des Rechtes, eine solche Umwälzung in den ökonomischen[409] und Besitzverhältnissen muß oft den Privatkredit fast vernichtet, Handel und Verkehr zeitweilig gelähmt haben.

Und war etwa der Proletarier, der durch die Expropriation der bisherigen Eigentümer und Unternehmer mit einem Schlag in den Besitz von Kapital, von Haus und Hof kam, wirklich immer ein besserer oder auch nur gleich tüchtiger Wirtschafter wie der Vorbesitzer? Was er jetzt besaß, war ihm mühelos in den Schoß gefallen als ein Geschenk des Glückes oder vielmehr als ein Raub. Es fehlte ihm von vorneherein der Segen, der auf dem durch eigene Arbeit erworbenen Gute ruht. Und nur zu oft mag es auch hier geheißen haben: wie gewonnen, so zerronnen! – sei es, daß der neue Besitzer, der als Neuling mit den Schwächen des Dilettantismus an die Stelle erfahrener Geschäftsleute trat, verkehrt wirtschaftete, weil er mit der Verwaltung eines Kapitals, mit der Bewirtschaftung von Grund und Boden nicht genügend vertraut war, sei es, daß er das gewonnene Gut in der instinktiven Erkenntnis, doch nichts Rechtes damit erreichen zu können, oder einfach aus gewohnter Arbeitsscheu im Genuß des Augenblicks vergeudete. Bei dem Charakter des Proletariats, dem hier der Sieg zufiel, ist es in der Tat nicht zu verwundern, daß die Lage des Staates nach dem Siege der Revolution oft ganz der des Schiffes in dem bekannten platonischen Bilde glich, dessen Bemannung »über die Schiffsvorräte zechend und schmausend sich hermacht und die Fahrt so fortsetzt, wie es von solchen Menschen sich erwarten läßt«.973 Wie oft endlich mag die Unsicherheit des neuen Besitzes, der ja jeden Augenblick einer Reaktion der Enteigneten zum Opfer fallen konnte und tatsächlich sehr oft zum Opfer gefallen ist, von größerem Arbeits- und Kapitalaufwand abgeschreckt haben. Alles Verhältnisse, welche einen Rückgang der Produktion notwendig zur Folge haben mußten und jedenfalls die Möglichkeit, allen eine dauernde Erhöhung der Lebenshaltung zu verschaffen, empfindlich verringerten.

Daher ist die Klage der Gegner der sozialen Revolution, daß dieselbe zur Verarmung und ins Verderben führe,974 gewiß in vielen Fällen zutreffend gewesen. Und man wird wohl nicht irre gehen, wenn man[410] die rettungslose Stagnation und Zerrüttung der hellenischen Volkswirtschaft in den letzten Zeiten der nationalen Selbständigkeit wenigstens teilweise auf diese Ergebnisse des sozialen Krieges zurückführt.975

Sowenig aber unter diesen Umständen von der sozialen Revolution auf die Dauer eine Steigerung des sozialen Glückes zu erwarten war, sowenig konnte sie eine bleibende Umgestaltung im Sinne der sozialen Gleichheit bringen. Daß keine noch so radikale Teilung, selbst wenn sie, wie in Sparta, das gesamte Bodeneigentum umfaßte, eine wirkliche Gleichheit schaffen konnte, bedarf keines Beweises. Das Wort des Kleomenes hätte sich gegenüber den inneren Notwendigkeiten der Volkswirtschaft nicht zu behaupten vermocht, es wäre auch ohne die makedonischen Sarissen dem Untergang geweiht gewesen. Aber wir können weitergehen und sagen: die Gleichheitsforderung selbst enthielt in sich ein Moment, welches ihre volle Verwirklichung unmöglich machte.

Das, was diese Gleichheitsidee der Masse im letzten Grunde erzeugt, ist ja nicht eine abstrakte Theorie von der Gleichheit des Menschen oder Bürgers, mit der sie von ihren Anhängern theoretisch begründet wird, sondern vielmehr ein psychischer Trieb, der unausrottbar in des Menschen Brust lebt, er sei arm oder reich. Es ist der Trieb nach Glückserhöhung,976 der Wunsch, mehr zu besitzen und mehr zu genießen, als der gegebene Augenblick es ermöglicht; – jenes ewige Sehnen des Menschenherzens, welches den einzelnen mit der Stellung, die er seinen Mitgeschöpfen gegenüber einnimmt, sich nicht begnügen läßt und ihn immer wieder antreibt, eine andere zu begehren, die in irgendeinem Sinn günstiger ist. Und die Art und Weise, wie sich dies Verlangen nach erhöhter Lebenshaltung bei der Masse äußert, besteht nun eben darin, daß sie zunächst dasselbe haben und dasselbe sein will, wie die über ihr stehende Klasse. Die Gleichheit mit dem Höheren ist das erste sich darbietende Ziel, in dessen Erreichung der Trieb nach eigener Erhöhung sein Genüge sucht. Der Niedere will zunächst dem Höheren gleich sein. Wie aber, wenn er ihm gleich geworden ist? Wird er sich damit bescheiden, auf der Staffel der Glücksleiter, die er erstiegen hat, stehen zu bleiben? Das ist durchaus gegen die Erfahrungen, die man noch zu allen Zeiten mit der Schrankenlosigkeit der menschlichen Begierden[411] gemacht hat, und wie sie uns gerade in der hier behandelten Epoche bereits in so charakteristischer Weise entgegengetreten ist.

Diese Erfahrungen zeigen, daß das, was für den Niederen früher der Inbegriff seines Strebens gewesen, nun sofort wieder der Ausgangspunkt für neues Begehren wird. Eine psychologische Tatsache, die recht deutlich zeigt, daß das Interesse des Niederen für die Herstellung der Gleichheit im Grunde kein anderes ist als das, welches der Höhere an der Erhaltung der Ungleichheit hat. Eine kleinbürgerliche oder kleinbäuerliche Existenz konnte unmöglich für alle durch den Umsturz zu einer solchen Existenz Gelangten eine definitive sein. Ist man den anderen gleich geworden, so möchte man auch schon Herr sein. »Man begehrt« – wie Plato treffend bemerkt – »nicht nur Hab und Gut der anderen, sondern sogar sie selbst.«977 Eine Beobachtung, die lebhaft an den Ausspruch erinnert, den im Jahre 1848 eine Kohlenträgerin gegenüber einer vornehmen Dame tat: »Ja, gnädige Frau, jetzt wird alles gleich werden; ich werde in Seide gehen und Sie werden Kohlen tragen.« Eine Äußerung, die, mag sie wirklich gefallen sein oder nicht, eine tiefe psychologische Wahrheit enthält und zu der es jedenfalls tausendfache Analogien gibt.

Es ist daher gewiß nicht zufällig, daß in den letzten Jahrhunderten des Griechentums fast überall da, wo unter der Parole der Gleichheit der Kampf des Niederen gegen den Höheren siegreich durchgekämpft wurde, das Streben des einzelnen, die anderen zu überflügeln, die brutalsten Formen annahm, daß die soziale Ausgleichung so oft mit dem Emporkommen der Tyrannis Hand in Hand ging. In ihr verkörperte sich recht eigentlich die Pleonexie der Masse, auf deren Schultern sich der Tyrann – oft aus der untersten Hefe des Volkes – emporschwang.

Aber auch die anderen, die aus der Revolution als glückliche Gewinner hervorgegangen waren, lassen wenig von dem Geiste der Solidarität und Gerechtigkeit erkennen, den die soziale Demokratie für sich in Anspruch nahm. Von den gewaltigen im Sinne der Gleichheit und Brüderlichkeit wirkenden Kräften, die aus ihr hervorgehen sollten, von energischer und einmütiger Arbeit zum Aufbau einer neuen besseren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, zur Beseitigung oder auch nur Einschränkung des Kampfcharakters der Volkswirtschaft durch das Prinzip der Solidarität ist nirgends eine Spur zu erkennen.978 Das[412] ist alles graue Theorie geblieben. Nicht bloß, weil es unausführbar war, sondern mindestens ebensosehr, weil es den natürlichen Egoismus und das Interesse der bisherigen Gleichheitsschwärmer selbst gegen sich hatte.

Wenn wirklich ein möglichst großes Maß individueller Gleichheit innerhalb der Gesellschaft hergestellt werden sollte, wenn der eine möglichst dasselbe haben und dasselbe sein sollte wie der andere, dann mußte die sozialdemokratische Bewegung im Sinne einer zunehmenden Sozialisierung fortschreiten, das Privateigentum möglichst durch Kollektiveigentum, die Privatwirtschaft durch Kollektivwirtschaft ersetzen, um den einzelnen immer mehr die Gelegenheit zu individueller Differenzierung und Ausgleichung zu nehmen. Aber so entschieden wir all das in der sozialistischen Theorie anerkannt sehen, in der Wirklichkeit war nicht entfernt daran zu denken, daß die sozialdemokratische Bewegung praktisch diese Richtung nahm.

Sowie das nächste Ziel der sozialen Revolution erreicht war, d.h. eine mehr oder minder große Zahl der Beteiligten in den Besitz eines Kapitals oder einer Scholle Landes gekommen war, stellte es sich klar heraus, daß das treibende Motiv ihres Handelns ein durchaus individualistisches gewesen, daß den einzelnen nicht die opferbereite Hingebung an die Gemeinschaftsidee, sondern sein persönliches Interesse in den Kampf geführt hatte. Und dies Interesse verlangte, daß der einzelne das, was er bei dem gemeinschaftlichen Beutezug gewonnen, festhielt und daß es nun für ihn in derselben Weise Mittel- und Durchgangspunkt zur Erhöhung des Daseins wurde, wie für die früheren Besitzer. Diese Leute hatten jetzt eher Grund, die Saturnalien der revolutionären Phrase zu fürchten. Da sie bei einer neuen Umwälzung nichts mehr zu gewinnen, sondern nur zu verlieren hatten, so brauchten sie sich nicht mehr ins proletarisch-revolutionäre Gewand zu hüllen. Sie wurden – vom sozialdemokratischen Standpunkt aus betrachtet – in der Regel wirtschaftlich ebenso reaktionär, wie politisch. Beati possidentes! Das bleibt der Wahlspruch auch nach der Expropriierung des bisherigen Besitzes. Nur die Personen der Eigentümer haben sich[413] geändert.979 Und die neuen Besitzer haben sich offenbar wenig darum gekümmert, wenn etwa, wie es nicht ausbleiben konnte, so und so viele nicht zum Zuge kamen und leer ausgingen oder wenn neben ihnen Ungleichheit und Armut von neuem emporwucherte. Daß, um dies zu verhüten, die einmal vollzogene Teilung eigentlich immer wieder von neuem hätte wiederholt werden müssen, davon wollten sie sicherlich nichts wissen, solange sie selbst im Besitze waren.

Daher dauerte die Brüderlichkeit, die κοινωνία, schwerlich viel länger, als bis die gegnerische Partei überwunden und das Werk der Beraubung vollendet war, wenn nicht noch während der Liquidation der bisherigen Gesellschaft der Kampf um den Anteil des einzelnen an dem geraubten Gut entbrannte. Dann gingen die Interessen der kommunistischen Stürmer naturgemäß bald auseinander. Und der natürliche, auf Selbsterhaltung, Herrschaft und Genuß gerichtete Instinkt, der habsüchtige und unterdrückende Sonderwille, kurz das, was Lassalle einmal den uns noch immer im Fleische haftenden Knorren der Besonderheit nennt, suchte und fand hier bald dasselbe Feld der Betätigung, wie im Rahmen der bisherigen Gesellschaft. Daher ist von einem systematischen und konsequenten Ausbau der sozialen Demokratie, von einer wirklichen Sozialisierung der Gesellschaft und einer endgültigen Beseitigung der Besitzesunterschiede nirgends die Rede. Und wie oft ist das Werk der Ausgleichung an der inneren Schwäche und Haltlosigkeit der neuen Gesellschaft gescheitert! Wie oft ist es kaum über die ersten Anfänge hinausgekommen, als es auch schon der siegreichen Reaktion der Gegner erlag!

Wahrlich, der Glaube an die Zeugungskraft der Revolution, die Theorie von der unermeßlichen schöpferischen Leistungsfähigkeit der revolutionären politischen Gewalt und der revolutionären Enteignung hätte nicht drastischer ad absurdum geführt werden können, als durch die traurige Ergebnislosigkeit des Klassenkampfes in diesem Musterland der sozialen Revolution, das mit einem völligen Bankerott der Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit endet.

Zu einer entscheidenden Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zu einem Sieg, der wirklichen Frieden gebracht hätte, ist es nirgends gekommen und konnte es niemals kommen. Es ist ein Ringen ohne Ende, und der wahre Volksstaat, in dem es keinen[414] Klassengegensatz, keinen Unterschied von arm und reich mehr gibt, blieb eine ewig vertagte Hoffnung. Selbst da, wo der Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaft ein vollständiger und die radikale Ausgleichung momentan gelungen scheint, erweist sich diese Hoffnung bald als eine Illusion, als ein trügerisches Phantom der revolutionären Ideologie, das an der Festigkeit der historischen Gesellschaft notwendig zuschanden wird. In der Tat ein schlechtes Präjudiz für die Richtigkeit der Prophezeiung des kommunistischen Manifestes, daß der Sieg des Proletariates die allgemeine Gleichheit verwirklichen werde!

Und wie teuer hat diese Erkenntnis, daß es keine radikale Lösung der sozialen Frage im Sinne wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und Glückseligkeit geben kann, von der ganzen Nation bezahlt werden müssen! Nicht bloß den wirtschaftlichen Verfall hat die furchtbare Entartung des Parteikampfes gefördert, sie hat auch das Volksleben vergiftet, das Volksgemüt verwüstet, den ganzen Lebensboden des Volkes unterwühlt und zerstört.

Je mehr die materielle Gier, die Pleonexie,980 wie Thukydides es bezeichnet, den alten politischen Gegensatz zwischen Oligarchie und Demokratie verschärfte und verbitterte, um so zersetzender wirkte der Kampf der Parteien auf alle die sozialen Gefühle, die den Bürger mit dem Bürger, den Menschen mit dem Menschen verbinden. Wo der Mitbürger so oft ein Feind war, dessen Reichtum man für sich begehrte oder vor dessen Empörung man bangte,981 da mußte der uns schon früher so drastisch entgegengetretene Geist des Mißtrauens immer mehr in allen Verhältnissen sich einnisten;982 und dieses Mißtrauen ward nur zu reichlich genährt durch die zahllosen Äußerungen sittlicher Entartung, wie sie überall »in der Hinterlist des Angriffes und der unerhörten Art der Rache zutage trat«.983

»Von feindlicher Seite« – sagt Thukydides in seiner Analyse dieses sozialpsychologischen Krankheitsprozesses – »nahm man versöhnliche Anträge nur dann an, wenn man sie nun einmal wegen des augenblicklichen[415] Übergewichts der Gegner annehmen mußte und sich gleichzeitig gegen dieselben ausreichend gedeckt fühlte, nie aus Vertrauen und Großmut. Hinterher Rache zu üben, galt mehr, als sich vorher vor Leid geschützt zu haben. Versöhnungseide, wenn sie etwa vorkamen, hatten nur einen ganz ephemeren Wert. Beiderseits nur im Drange der Not geleistet, galten sie nur so lange, als kein Machtzuwachs von außen her kommen wollte.«984

»So gab es keine Art von Schändlichkeit, die nicht durch den Parteikampf großgezogen worden wäre. Gutherzigkeit und Edelsinn wurden verlacht und schwanden dahin. Versöhnliche Gesinnung zu wirken, war weder ein Wort zuverlässig, noch ein Eid furchtbar genug. Über dergleichen waren alle in ihrer Denkweise hinaus, so daß sie überhaupt an Treue und Zuverlässigkeit nicht mehr zu glauben wagten.«985 Als weiteres Symptom dieser sittlichen Entartung, die gewiß nicht bloß im Zeitalter des peloponnesischen Krieges, sondern überall da zutage trat, wo der Klassenkampf seinen Höhepunkt erreichte, darf man das bezeichnen, was man die Umwertung der Moral genannt hat: die sophistische Umdeutung, die sich je nach Umständen die Begriffe des Rechtes und der Sitte gefallen lassen mußten.986 »Tobsüchtige Verwegenheit galt als aufopfernde Tapferkeit; in wohlüberlegter Bedächtigkeit sah man eine Beschönigung der Feigheit und in besonnenem Maßhalten einen Vorwand der Unmännlichkeit. – Wer immer schalt, mit nichts zufrieden war, der galt allemal etwas und fand Gläubige. Wer ihm widersprach, der wurde verdächtig. Hatte einer die Gegenpartei listig zu Fall gebracht, so galt er für klug, für noch tüchtiger aber der, welcher rechtzeitig Lunte gerochen hatte.«987

Kurz, »auf jede Weise rangen sie, übereinander Meister zu werden, indem sie dabei vor den äußersten Mitteln nicht zurückschreckten und sich gegenseitig mit immer empfindlicheren Strafen belegten, die sie nicht nach der Gerechtigkeit und dem Staatsvorteil bemaßen, sondern nach dem schadenfrohen Belieben der Parteien. Und so waren sie immer bereit, entweder durch den Mißbrauch der Justiz zu ungerechten Strafurteilen oder durch das Übergewicht der Fäuste sich den Sieg zu verschaffen und so für den Augenblick ihr Mütchen zu kühlen. Diejenigen aber, die es mit keiner Partei hielten, wurden von beiden tödlich verfolgt, entweder weil man im Kampfe nicht auf sie zählen[416] durfte, oder weil man es ihnen nicht gönnte, daß sie allein mit heiler Haut davonkommen sollten.«988 Kurz, alle sozialen Beziehungen werden vergiftet, das ganze öffentliche und private Leben maßlos verbittert. Generationen von Menschen wachsen heran, die nur leben, um sich zu hassen und zu befehden. Der Bürgerzwist wird unter solchen Verhältnissen sozusagen der normale Zustand. »Man wird darin geboren, man lebt darin, man stirbt darin.«989 In der Tat eine »Reinkultur des Klassenkampfes« auf engstem Raum, wie man diesen Zustand treffend bezeichnet hat!

Je mehr aber diese allgemeine seelische Disposition den Bürger dem Bürger entfremdete, um so fester hielt sie diejenigen zusammen, welche die Interessengemeinschaft zu gemeinsamem politischem Handeln verband. »Die Eide, die man der Hetärie schwur, hielt man nicht sowohl aus Scheu vor dem göttlichen Gesetz, als vielmehr im Bewußtsein gemeinsamer Verbrechen«; »Parteigenossenschaft war ein engeres Band als Verwandtschaft, weil jene in höherem Grade bereit war, rücksichtslos mitzuwagen.«990 Und wie die Bande des Blutes, so war Freundschaft, Religion, Vaterland nichts gegenüber dem Interesse der Partei. Das Interesse des einzelnen am Staat ging hier zuletzt nur noch so weit, als der Einfluß oder die Herrschaft seiner Partei reichte; oder vielmehr man vergaß des Vaterlandes, weil alle Gedanken, alle Wünsche, alle Kräfte der Partei geweiht waren. »Es gab im Leben des einzelnen und des Staates kaum einen Ehrgeiz, einen Gedanken, eine Tat, die nicht zu diesem Kampf der Parteien in Beziehung gesetzt wurden.«991 Das Gefühl, daß es auch eine Pflicht gegen das Vaterland als solches gibt und daß Gesetz und Rechtsprechung des Staates den einzelnen bindet, geht den Gemütern mehr und mehr verloren. Die Revolution erscheint ihnen immer mehr wie ein legitimes Recht. Hat man sich doch dank den ewigen Proskriptionen und ihrer häufigen Folgewirkung, der Rückkehr mit gewaffneter Hand, nicht nur gewöhnt, des Vaterlandes zu entbehren, sondern auch es wie Feindesland zu bekämpfen. Und das Endergebnis ist der völlige Indifferentismus, die Vaterlandslosigkeit.

Man kann als Epilog auf diese ganze Entwicklung die Worte eines späteren Griechen hierher setzen: »Das ist es (nämlich der Kampf gegen das Eigentum anderer),992 was ewige Zwietracht und gegenseitige Vernichtung und jede andere nur erdenkliche Art von Unheil erzeugt.[417] Glücklich diejenigen Staaten, die darüber nur ihre Unabhängigkeit verloren und nicht wie andere ganz und gar zugrunde gingen!«

Kein Wunder, daß für die Parteien des Besitzes die Interessengemeinschaft mit dem kapitalistischen Rom genügte, um demselben Hellas zu Füßen zu legen! Hat sich doch selbst ein Polybios zu der Ansicht bekannt, daß dem erschöpften und zerrütteten Land nur noch durch die zwingende Gewalt der Fremdherrschaft zu helfen sei! Ja, er sieht dies Geschick mit einer gewissen Befriedigung sich vollenden! Er setzt der Fremdherrschaft ein literarisches Denkmal, dessen ausgesprochener Zweck ihre geschichtliche Rechtfertigung, ja geradezu ihre Verherrlichung ist!

Ein Akt der politischen Abdankung, der in seiner Art für den Zerfall des nationalen Wesens ebenso bezeichnend ist wie die gesellschaftliche und wirtschaftliche Abdankung, zu deren Träger sich seit langem eine verbreitete Gedankenrichtung gemacht hatte. Wenn Polybios um der äußeren Ruhe willen alle politischen Güter der Nation dahingab, so vollzog er auf dem staatlichen Gebiet denselben Akt der Entsagung, wie längst vor ihm auf dem gesellschaftlichen Antisthenes, der die Unabhängigkeit von allen äußeren Gütern anpries als den einzigen Weg zum Frieden der Seele. Denn was jene politische Abdankung dem Griechen als ζῷον πολιτικόν übrig ließ, war wahrlich nicht mehr wert als die Einladung des Diogenes von Sinope, sich mit Wasser, Brot und etwas Sonnenschein zu begnügen!

Und wie charakteristisch als soziales Zersetzungsprodukt ist dieser cynische Bettelphilosoph selbst, der das Evangelium der Armut, der Weltentsagung und Weltverachtung predigt, die letzte Charakterfigur, welche das bürgerliche Leben der Griechen erzeugt hat! Was ist sein Anspruch, den Menschen die wahre Freiheit und Gleichheit zu bringen, anders als die Bankerotterklärung des sozialen und ökonomischen Freiheits- und Gleichheitsgedankens selber? Der Gedanke, der die Sehnsucht ungezählter Tausender war, der der Nation ein Meer von Blut und Tränen kostete, wird hier zur Burleske durch den Humor des Bettelstolzes, der aus der Not eine Tugend macht und sich würdevoll in die Fetzen seines Elends drapiert.

Wie bezeichnend ist es, daß die Verse, in denen der Dichter des Cynismus, der Thebaner Krates, das Symbol des cynischen Bettlerdaseins, den Ranzen (griechisch Pera), verherrlicht, selber eine Parodie darstellen!993[418]


»Pera, so heißt ein Land, inmitten des dunkelen Wahnes;

Herrlich ist es und fest und frei von jeder Befleckung.

Lenket doch kein schmarotzender Wicht sein Schiff in den Hafen,

Auch kein Lastergeschöpf, das da prunkt mit käuflichen Reizen;

Aber Zwiebeln trägt es und Lauch und Feigen und Brote.

Nimmer streiten die Menschen darum in grimmigem Wettkampf,

Nicht um Ehre und Gut entbrennt das tobende Ringen.«994


Die Umwertung der Werte,995 die in dem Kampf um die äußeren Güter, um Macht und Besitz eine so große Rolle spielt, hat hier die Wertung dieser Güter selbst ergriffen. Sie sollten überhaupt aus dem Platz verdrängt werden, den sie in den Herzen der Menschen einnehmen. Freilich ein ohnmächtiges Beginnen, so oft es sich auch seitdem im Verlaufe der Menschengeschichte wiederholt hat![419]

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1.
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