Der Haushalt und die Arbeit drinnen und draußen

[32] Den Mitteilungen aus der geschichtlichen und geistigen Welt, in der ich aufgewachsen bin, lasse ich nun einiges aus der äußeren, besonders aus der wirtschaftlichen Lebensumgebung folgen; auch ihre Gestalt hat sich inzwischen in allen Stücken auf das stärkste gewandelt, während sie in den vorausliegenden zwei Jahrhunderten, von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wohl so gut wie unverändert geblieben war: Zeugnis dessen die Bauernhäuser, die ihren Charakter und Zuschnitt in diesem Zeitalter durchaus festgehalten hatten, während sie in den letzten 50 Jahren sich von Grund aus verändert haben. Das wirtschaftliche Leben einer Bauernbevölkerung wird durch die natürliche Beschaffenheit der Landschaft wesentlich bedingt; daher hierüber zuerst ein Wort. Die Westküste des mittleren Schleswig erhält ihren Charakter dadurch, daß sich hier an den Geestrücken ein mehr oder minder breiter Saum von Marschen ansetzt; die Breite wechselt von einer halben bis zu etwa drei Stunden. Die inneren älteren Köge sind Flußmarschen, die häufigen Überschwemmungen ausgesetzt sind, die jüngeren, ans Meer stoßenden Köge sind höher und Überschwemmungen nicht ausgesetzt, sie haben zugleich den schwereren und fruchtbareren Boden. Die Besiedelung ist derart, daß die jüngeren Köge, die erst seit dem 17. Jahrhundert eingedeicht sind, mit großen Einzelhöfen, die inmitten ihres Besitzes liegen, besetzt sind, während die älteren Köge wenige oder gar keine Ansiedelungen haben; die Dörfer, zu denen sie gehören, liegen vielmehr in langen Häuserzeilen hingezogen auf dem Rande der Geest, dicht an der Marsch. So die Dörfer der Kirchspiele Langenhorn, Bargum, Enge; so Risum, Lindholm, Niebüll, Deezbüll, die Kirchspiele auf der Geestinsel des Risummoor. Damit ist Landverteilung und Anbau in diesen Dörfern gegeben: zu jeder Bauernstelle gehört in der Regel ein Streifen Ackerland auf der Geest und ein Streifen Weide- und Wiesenland in der Marsch: die Hofstelle in der Mitte zwischen beiden auf dem Geestrande.

Mein Heimatsort, friesisch »de Horne« (die Hörner) genannt, ist ganz nach diesem Schema gebaut; er folgt in langer Häuserzeile von West[33] nach Ost in einer Länge von einer Stunde der hier einspringenden Marsch, die den Namen des alten Langenhorner Koogs führt; ein niedriger Deich, der ihn gegen Norden und Westen einschließt, stammt aus dem 16. Jahrhundert; im Süden und Osten stößt er an die Geest, auf deren Rand die Bauernhöfe liegen, hie und da sind kleinere und größere Gruppen, z.B. bei der Kirche vereinigt, Wirtshäuser, Handwerker, Krämer, Tagelöhner.

Ungefähr in der Mitte des Orts liegt mein Elternhaus, ein langgestrecktes Bauernhaus, das, ebenso wie die übrigen, Wohn- und Wirtschaftsräume unter einem hohen Strohdach vereinigt. Es erstreckt sich von West nach Ost etwa 120 Fuß lang bei 25 Fuß Breite, wovon das östliche Drittel die Wohnräume enthält, der Rest kommt auf Stall, Tenne und Scheune.

Durch die Haustür unter dem Giebel tritt man in die mit Fliesen belegte Vordiele; die Tür zur Rechten führt in die Wohn- oder »Süderstube«, eine Tür gradaus in die »Norderstube«; jene ist im Winter, diese im Sommer der gewöhnliche Aufenthaltsort, wo die Mahlzeiten und auch die häuslichen Arbeiten, Spinnen, Nähen, stattfinden. Durch die Wohnstube geht's in den mit weißen Fliesen ausgelegten Pesel, der in der Regel nicht gebraucht wird: hier stehen die Koffer und Schränke. Durch die »Norderstube« geht man in die Küche, an die sich der tiefe Keller und darüber die Vorratskammer anschließen. Die glänzend hellblau gestrichene Wohnstube ist zugleich die Schlafstube der Eltern, das Bett, ein eingemauertes Wandbett, wie es damals noch überall Sitte war, abschließbar durch Vorhänge oder Holztüren. Hier steht der eiserne Ofen, anfänglich ein sogenannter »Beileger«, der von der dahinter liegenden Küche aus geheizt wird, die Wände mit biblischen Darstellungen geziert, später ein moderner Aufsatzofen, in dem im Winter der Teekessel beständig brodelt. Am Winterabend sammelt sich die ganze Familie um den großen Klapptisch am Fenster, auf dem eine Talgkerze brennt, welche die Mutter selbst gegossen hat. Der Vater liest die Zeitung, die Mutter näht oder spinnt, die Magd kardet Wolle, der Knecht liest oder raucht im Hintergrund seine Pfeife, dreht auch wohl einmal auf eigene Rechnung Strohseile, wie sie beim Dachdecken Verwendung finden, und ich mache Schularbeiten oder lese in einem Geschichtenbuch. Den Schluß macht um 9 Uhr ein Abschnitt aus Goßners »Schatzkästlein« oder einem anderen Erbauungsbuch, den der Vater vorliest. Im Sommer sitzt man am Abend in der Norderstube[34] und plaudert, der Himmel bleibt hier bis gegen 10 Uhr so hell, daß ein Licht nicht nötig ist; um Mittsommer, wir sind unter dem 55. Breitengrad, bleibt es die ganze Nacht hindurch halbhell, bis gegen 11 Uhr kann man zur Not noch ohne Licht Gedrucktes lesen, nur zwischen 11 und 1 herrscht ein dämmeriges Halbdunkel. Der Schlaf wird im Sommer, vor allem wenn die Arbeit drängt, kurz gemacht, halb 10 zu Bett, 4 Uhr mit der Sonne wieder auf. Dazu 1 Stunde Mittagsschlaf. Im Winter kann man nachholen, da steht man erst nach 6 Uhr auf, immerhin noch so, daß auch am Morgen überall, in der Küche wie im Stall, Licht gebrannt werden muß. Denn die Sonne kommt spät und erhebt sich nur eben über den Horizont, manchen Tag sieht man sie überhaupt nicht.

So das Haus und seine Räume. Süden vor dem Haus ist der Garten und der größere Hofraum, die »Werft«, ein hoher Erdwall schließt sie gegen die Dorfstraße ab. Zu beiden Seiten des Hauses liegen sodann die Felder, die das »Bohl«, die eigentliche Bauernstelle ausmachen, nach Süden und nach Norden je etwa 3 Kilometer lang in schmalem Streifen von ungefähr 40 Meter Breite sich erstreckend. Nach Norden liegt die Marsch, in Fennen, die von breiten fischreichen Wassergräben umgeben sind, abgeteilt; es sind 9 Fennen, von 2 bis 4 Demat (1–2 Hektar) groß. Sie werden in der Regel als Weide für Vieh und Schafe, die tieferen als Wiesen (Meedland) benutzt. Im Sommer ist's ein entzückender Anblick: der weite, grüne, von glänzenden Butterblumen gelbschimmernde Plan mit roten, weißen und bunten Rindern bedeckt, dazwischen vereinzelt weißwollige Schafe und wohlgenährte, meist kastanienbraune Pferde, die sich auf der Weide für den Langenhorner Markt einen blanken, glatten Rücken holen.

Nach Süden liegt die Geest; erst kommen fruchtbare Koppeln, die vor allem für die Milchkühe die nahe Weide bieten, dann folgen ansteigend höher gelegene Äcker, zum Teil recht dürftiger Sandboden. Endlich geht die Geest in die Heide über, die in Gemeinbesitz ist; sie ist das Feld der armen Leute: hier kann jeder Heide hauen, Torf stechen, weißen Sand graben und waschen, um ihn den Hausfrauen zu verkaufen, die damit die Dielen bestreuen, oder Kiesgruben öffnen, die für die Wege das Material liefern. Über die Heide steigt man in einer Viertelstunde zu einer für das Flachland ansehnlichen Erhebung hinauf, worauf die Stolberger Windmühle als stolzes, weithin sichtbares Wahrzeichen der ganzen Umgegend ragt. Von hier aus hat man an einem hellen Sommertag einen weiten Ausblick auf das nahe schimmernde[35] Wattenmeer mit seinen Inseln, den Halligen. Oft wenn wir über Stolberg nach Bredstedt fuhren, hielt hier der Vater und zeigte, mit der Peitsche weisend, die Stätten, die ihm von seiner Jugend her so vertraut waren: das nahe Oland, dahinter Föhr mit Wyck, südlich Langeneß, weiter links das reiche Nordstrand und endlich, am Horizont verdämmernd, Eiderstedt, das Paradies eines Bauernherzens. Wendete man sich nach Norden, dann breitete sich die weite Ebene vor dem Blick aus, zuerst Heide und Geest, am Rand die lange Dorflinie, dahinter die grünen Marschen, bis im Nordosten der Langenberg, ein ähnlicher breiter Hügelrücken wie der Stolberg, von Osten her sich vorschiebend, den Horizont begrenzte. Auch diese Gegend hat ihre Schönheit! Steht man an einem Sommerabend bei Sonnenuntergang hier oben, ist Himmel und Erde und Meer in die Glut farbiger Wolken getaucht, dann wird auch der verwöhnte Blick gestehen: fürwahr, das ist schön und einzig.

Neben dieser eigentlichen Bauernstelle besaß der Vater noch ungefähr ebensoviel »auswärtiges« Land, einzelne Fennen in den Kögen, die er teils geerbt, teils durch Ankauf erworben hatte; sie sind fast alle noch in meinem Besitz. Er bewirtschaftete sie aber großenteils nicht selbst, weil er den Betrieb nicht vergrößern mochte: es hätte das Haus sehr erweitert und die Zahl der Leute vermehrt werden müssen. Sie wurden von Jahr zu Jahr verpachtet, es fanden sich immer Liebhaber dafür, zum Teil aus der Ferne, von der Geest her, wo man Weiden und Wiesen für den wachsenden Viehstand brauchte. So blieb es ein bequemer Mittelbetrieb, für dessen Besorgung, abgesehen von den eigenen Arbeitskräften, ein Knecht, ein ständiger Tagelöhner mit weiteren gelegentlichen Aushilfen zur Zeit der Ernte und eine Magd ausreichten. Die Leute waren selbstverständlich Einheimische, von »Leutenot« war noch nicht die Rede, wenn auch die Löhne rasch stiegen. Die Knechte wechselten öfter, dagegen waren die Tagelöhner mehr ständig; sie besaßen ihr eigenes Haus, waren verheiratet, hatten eine Kuh oder wenigstens ein paar Schafe. Regelmäßig war das Verhältnis so, daß sie vom Hause bezogen, was sie außer dem selbst Erzeugten brauchten, Korn, Fleisch, Speck, Butter, in laufender Rechnung gegen den Arbeitsverdienst. Die Dienstboten kamen vielfach von den inneren Geestdörfern; sie wurden durchaus als zur Familie gehörig angesehen und behandelt.

Längere Jahre diente ein Vetter der Mutter als Knecht bei uns,[36] Andres Niß Ketelsen mit Namen. Er war ein ungewöhnlich tüchtiger Arbeiter und ein liebenswürdiger, gescheiter Mensch, dem ich mich mit leidenschaftlicher Zuneigung anschloß. Er hatte die Feldzüge von 49–50 mitgemacht und wußte sehr lebendig von seinen Erlebnissen, bei Gudsoe, Kolding, Idstedt, zu erzählen; an Willisen und Idstedt konnte er nicht ohne Grimm denken: wir hatten die Dänen geschlagen, dann kam der Befehl zum Rückzug, wir mußten die Zähne zusammenbeißen und ihnen den Rücken wenden. Nach dem Frieden hat er noch in Kopenhagen ein Jahr dienen müssen; er liebte es, davon zu erzählen, wie die alten Schleswig-Holsteiner den dänischen Unteroffizieren jeden Schabernack angetan hätten; der Deutsche fühlte sich persönlich dem Dänen durchaus überlegen. Bald nach der Rückkehr, es wird 1853 gewesen sein, kam er zu uns und blieb 3 Jahre; er hat mich, ich war damals ein Junge von 7–10 Jahren, alle ländlichen Arbeiten gelehrt; ich war, wo ich immer konnte, um ihn, im Hause und auf dem Felde. Ein strenger Lehrmeister, wußte er mich doch so an sich zu ziehen, daß ich meinen Eltern zeitweilig etwas entfremdet wurde. Es war mir ein tiefer Schmerz, als er uns verließ, um nach Amerika zu gehen, als einer der ersten, die damals aus unserer Gegend den Weg über den Ozean angetreten haben. Als wenige Jahre später drüben der Krieg ausbrach, hat er ihn von Anfang bis zu Ende mit durchgefochten. Er ist aber nicht auf einen grünen Zweig gekommen; seine geselligliebenswürdige Natur wurde ihm zum Verhängnis. Schon in der Heimat war in der letzten Zeit, zum großen Kummer meiner Mutter, eine Neigung zum Wirtshausleben und Trunk immer stärker geworden; sie hat ihn auch drüben gehindert, zu erreichen, was so viele Minderbegabte mühelos erreicht haben: Selbständigkeit und Wohlstand. Er ist schließlich verdorben und gestorben, ohne daß wir nähere Kunde davon erhalten haben.

Ich möchte nun den Leser einladen, in den Arbeitsbetrieb, wie er in meinem Elternhaus sich darstellte, einen Blick zu werfen. Er hatte einen erstaunlichen Umfang, er umfaßte beinahe alle ursprünglichen menschlichen Künste und Fertigkeiten, nicht unähnlich dem vielbewunderten antiken Haushalt, dem griechisch-römischen Oikos mit seiner gepriesenen Autarkie, nur daß bei uns das freie Handwerk in einigem Maß für die antike Sklavenarbeit ergänzend eintrat. Im übrigen aber erzeugte das Haus in einer unendlichen Fülle komplizierter Tätigkeiten fast alle Güter, die darin gebraucht und verzehrt wurden. Es ist nicht zu sagen,[37] wie arm an Künsten und Sachwissen dagegen ein großstädtischer Haushalt, der alles fertig vom Markt bezieht, sich darstellt, und sei es der großartigste. Beinahe nur noch das Verzehren ist übriggeblieben, die produktive Tätigkeit fast völlig ausgeschaltet, während in jenem Bauernhaushalt alle schaffende Arbeit, von der Urproduktion an durch alle Stufen der verfeinernden Formgebung hindurch, ihren Ort hat.

Beginnen wir mit der Ernährung. Der landwirtschaftliche Betrieb mit seinen beiden Zweigen, der Viehzucht und dem Ackerbau, lieferte fast alles, was im Haushalt verarbeitet und verbraucht wurde: Weizen und Roggen als Brotkorn; das Mahlen besorgte allerdings die Mühle, die jede Woche mit ihrem Wagen das Nötige abholte und in Gestalt von Mehl wieder ablieferte; ebenso Gerste und Buchweizen, welche die Grütze lieferten, die fast das ganze Jahr hindurch mit Milch oder Bier abends und morgens auf dem Gesindetisch erschien, den ich übrigens am Abend lange Jahre mit den Leuten geteilt habe, während die Eltern Tee tranken. Der Garten lieferte das Gemüse, Kohl, Rüben, Schoten, Karotten, Rote Beete, Petersilie, Zwiebeln, Schnittlauch, auch die ersten Kartoffeln; alles das wurde im Sommer jeden Morgen frisch geholt, für den Winter zum Teil in Sandkästen aufgehoben. Die Kühe, zeitweilig auch die Schafe, gaben im Überfluß die nötige Milch, das zwei- oder dreimalige Melken am Tag war ein wesentliches Stück der Mägdearbeit; alltäglich wurde abgerahmt, allwöchentlich, oder wie oft es notwendig schien, Butter gemacht; im Sommer, wenn die Milch reichlich war, kam die Käserei dazu. Drei Arten Käse verstand die Mutter zu machen: außer dem gewöhnlichen weißen Käse einen gekochten und einen delikaten gebackenen Käse. Jetzt haben die Meiereien, die überall sich eingebürgert haben, dem Haushalt diese Künste abgenommen: man gibt die Milch, das Rohprodukt, her und kauft die Fabrikate. Nicht minder war alles Fleisch und Fett, was auf den Tisch kam, Erzeugnis der eigenen Wirtschaft. Im Sommer wurde von Zeit zu Zeit ein Hammel, im Herbst ein Rind, gegen Weihnachten ein oder zwei Schweine geschlachtet; die Schweine waren im Frühjahr von dänischen Händlern, die ganze Herden von jungen Tieren unter großem Geschrei durchs Dorf trieben, gekauft, den Sommer über mit Milch und Grünfutter durchgebracht und im Herbst gemästet. Das Fleisch wurde eingepökelt oder sauer eingemacht, oder geräuchert, oder zu Wurst verarbeitet, von der es 3 oder 4 Arten gab. So war der Haushalt auf das ganze Jahr versorgt; um zur Abwechslung öfter einmal frisches[38] Fleisch zu haben, tauschte man mit Nachbarn und Verwandten aus, wer geschlachtet hatte, teilte aus, um bei nächster Gelegenheit wieder zu empfangen. Auch mit dem Brot wurde es ähnlich gehalten. Eine große Abwechslung der Gerichte, von Tag zu Tag, von Jahreszeit zu Jahreszeit zeigte die Reichhaltigkeit ländlicher Kochkünste; zu den Fleischspeisen, die täglich auf den Mittagstisch kamen, gesellten sich mannigfache Mehlspeisen, Klöße und Pudding, Mehlbeutel und Pfannkuchen in allerlei Gestalt, nicht zu vergessen den herrlichen Ofenpfannkuchen, der beim Backen mit im Backofen hergestellt wurde: die Speckschnitte, in die knusprige Oberfläche eingebacken, gaben ihm einen besonders guten Geschmack. Gebacken wurde etwa alle 3–4 Wochen, Schwarzbrot und Graubrot, beide aus Roggenmehl, beide frisch von ungemeinem Wohlgeschmack, wie ich es nie wieder gegessen habe. Meist fanden auch einige Brezeln (Kringel) und Pfeffernüsse für die Kinder mit Unterkunft im Ofen. Zu Weihnachten oder auch zu anderen Fest- und Besuchstagen wurde Backwerk und Kuchen aller Art gemacht, ein ganzer Ofen voll; zu Weihnachten durfte ich als kleiner Knabe helfen und die ausgewalzten Teigplatten mit einem Zahnrädchen in Stücke zerschneiden, sie dann durch einen Schlitz in der Mitte umwenden und so das krause Gebäck zustande bringen helfen, das um Weihnachten auf keinem Kaffeetisch fehlte.

Auch Getränke stellte das Haus selber her. Ich erinnere mich noch wohl, der Mutter beim Malzen und Brauen zugesehen zu haben. Der große kupferne Braukessel fehlte in keinem Bauernhause. Es wurde etwa alle vier bis acht Wochen ein Bräu getan; das Bier war leicht, durstlöschend, bekömmlich; in eine Tonne gefüllt, wurde es in den Keller gelegt und allmählich für den Gebrauch abgezapft, im Sommer in großen Steinkruken mit aufs Feld gegeben. Auch diese Hauskünste sind inzwischen eingegangen; in den 50er Jahren wurde in Bredstedt eine Bierbrauerei errichtet, die ein ähnliches Getränk zu wohlfeilem Preis wöchentlich ins Haus lieferte. Seit den 70er Jahren hat übrigens auch das »bairische« Bier seinen siegreichen Einzug bei uns gehalten; in Husum, Tondern, Flensburg sind Brauereien, die mit Flaschenbier auch in den Dörfern hausieren. Sofern dadurch der Genuß der alteinheimischen spirituosen Getränke, des Kaffee- und Teepunschs, einer Mischung von Kaffee oder Tee mit viel Rum und Zucker, die in den Wirtshäusern und vielfach auch in den Familien hergestellt wurden, beträchtlich eingeschränkt worden ist, darf darin ein Gewinn erblickt[39] werden; denn jene aus Tassen heiß genossenen Getränke, die sehr glatt einigen, wirkten furchtbar zerrüttend. Daß sie in unserem Hause nicht gereicht wurden, brauche ich nicht zu sagen. Auch den Gästen wurde nie etwas anderes als Kaffee und Tee vorgesetzt.

Gekocht wurde, das will ich noch hinzufügen, auf dem offenen Herd unter dem offenen Schornstein. Ein Feuerloch mit Zug war für kleinere Kessel und Töpfe bestimmt, daneben wurde auch auf der freien Herdfläche offenes Feuer angezündet, über das die größeren Kessel an einer nach oben und unten verschiebbaren Eisenstange, die an einem im Schornstein befestigten Querbalken hing, aufgehängt wurden. Ebenso wurde unter dreifüßige Grapen und Pfannen freies Feuer gemacht. Als Feuerung diente ein sehr fester Torf, der im Sommer in langen Tagfahrten aus dem 6 Stunden entfernten Silleruper Moor geholt wurde; daneben auch ein lockerer, an der Oberfläche der Heide gestochener Torf, der vor allem gebraucht wurde, um ein langsames Feuer lange zu unterhalten: am Abend wurde damit auf dem Herd eine kleine Glut zugedeckt, die sich dann bis zum Morgen erhielt; »dat Il reke« war der Ausdruck für diese Art der Feuerbewahrung. War es trotzdem einmal ausgegangen, dann wurde bei der Nachbarin eine Glut geholt; die Phosphorzündhölzer kamen erst allmählich in den 50er Jahren auf, bis dahin hatte man »Schwefelhölzer«, kleine Holzspäne, die mit beiden Enden in flüssigen Schwefel getaucht waren und die von armen Leuten hergestellt und verkauft wurden. Sie zündeten aber nicht durch Reibung, sondern nur an glühender Kohle. Man hatte deshalb kleine Glutbecken auch nachts in der Nähe des Betts stehen, um Licht machen zu können; ebenso brauchten Raucher ein Kohlenbecken, wenn sie nicht etwa Stahl, Stein und Feuerschwamm in der Tasche bei sich führten, wie es denn sehr gewöhnlich war. Wir hatten als Jungen beständig diese Dinge in der Tasche, sowohl um die Pfeife, die wir früh brauchen lernten (ich hab' von dem obengenannten Andres Niß neben anderen besseren Künsten auch das Rauchen gelernt) anzünden, als auf dem Felde Feuer anmachen zu können. Man versteht von hier aus die Bedeutung des Herdfeuers, es war in Wahrheit ein ewiges Feuer, das nie ausging, daher man die Größe der Dörfer nach »Feuerstätten« rechnete. Der Rauch zog durch den Schornstein ab, in dem die Speckseiten und Würste hingen, bis die ängstlichere Brandpolizei dies untersagte; es wurde dann auf dem Boden eine eigene Räucherkammer an den Schornstein angebaut. Übrigens war der Rauch oft eigensinnig; bei[40] gewisser Windrichtung wollte er durchaus nicht den Weg durch den Schornstein nehmen und zog dann durch Türen und Fenster ab, nicht ohne zuvor das Haus zu erfüllen.

Daß auch die Lichter im Hause gemacht wurden, erwähnte ich schon; die Mutter goß sie in einer Blechform: zuerst wurde ein Docht gedreht, dieser in die Form gespannt, dann geschmolzener Talg dazu gegossen. Im Hause meiner Tanten war noch eine ältere Herstellungsform in Übung, ein Großbetrieb: ein langer, schmaler, tiefer, hölzerner Kasten mit sehr dicken Wänden wurde mit geschmolzenem Talg gefüllt; in diesen Talg wurden ein paar Hundert Dochte, die von einer Stange herabhingen, hineingelassen, wieder herausgezogen, aufs neue, nachdem eine dünne Schicht Talg daran erstarrt war, hineingelassen und wieder herausgezogen, bis die gewünschte Stärke der Lichter erreicht war. Man nannte dies Verfahren: Jagde stiepe. Meine Mutter erhielt die dünnen Lichte für den Küchengebrauch von ihnen. Auch diese Künste sind jetzt ausgestorben. Die Petroleumlampe, die am Anfang der 60er Jahre, zuerst in sehr unzulänglicher Gestalt, ihren Einzug hielt, ist jetzt bis in die ärmste Hütte vorgedrungen. In meinen Knabenjahren hab' ich übrigens in einem Nachbarhause noch eine sehr primitive Öllampe in Gebrauch gesehen: aus Binsen, wie sie an jedem Graben wuchsen, wurde der lockere weiße Markfaden (siwwe genannt) herausgestreift und in einem kleinen Ölbehälter befestigt, wo er mit sehr kleinem Flämmchen sparsam genug und dürftig leuchtend brannte.

Das Küchengerät, Kessel und Pfannen, Schüsseln und Teller, Tassen und Gläser, wurde natürlich gekauft. Eine Art großer grauer Töpfe, die besonders zum Sauereinmachen verwendet wurden, kamen aus Varde in Jütland; sie waren wenig geeignet, die Achtung vor der jütischen Kunst und Kultur, die ohnehin gering war, zu steigern. Sie wurden von umherziehenden Wagen gekauft und vorher mit prüfendem Finger beklopft, ob sie auch nicht »skrokk« seien, d.h. einen Sprung hätten, trotz des friesischen Sprichworts: skrokke Potte hule am longsten, angestoßene Töpfe halten am längsten. Glas kam so gut wie gar nicht auf den Tisch, Bier wurde aus dem Napf, Wasser mit der Schöpfkelle aus dem Eimer getrunken, der in der Küche stets gefüllt stand. So wurden die paar Gläser, die sich fanden, viele Jahrzehnte alt; wie denn überhaupt die meisten Sachen ein höchst respektables Alter erreichten. Hätte man der Mutter erzählt, was Berliner Dienstmädchen zerschlagen, ich denke nicht, daß ein Müllwagen im Jahr ausreicht, aus[41] einem größeren Hause es abzufahren, sie hätte es für die allergröbste Aufschneiderei gehalten. Teller gab es in drei Formen: die ältesten bloße Holzkreise, auf solche wurde in altmodischen Häusern bloß das Fleisch aufgegeben, im übrigen langte jeder in die gemeinsame Schüssel, die jüngeren eine Art rohbemalter Steingutschüsseln, die alles faßten, endlich für Sonntag oder im feineren Haushalt einfache weiße Teller. Bei den Vaterschwestern fand sich noch manches feinere, gelb und blau bemalte Stück, das die seefahrenden Vorfahren aus Holland mochten mitgebracht haben. Auch ein chinesisches Porzellan-Teeservice war vorhanden, kam aber niemals auf den Tisch. Die Mutter hatte von einem verwandten Kapitän, der öfter zu uns kam, manches englische Stück. Silberne Löffel waren wohl in jedem nicht ganz armen Hause vorhanden, sie waren das regelmäßige Taufgeschenk und sammelten sich durch Generationen, sie kamen aber nur bei Besuch auf den Tisch, sonst wurde mit Holzlöffeln gegessen, die von umlaufenden Verkäufern aus den Geestdörfern eingehandelt wurden; jetzt sind sie wohl durch allerlei metallene Fabrikware ganz verdrängt.

Der Milchwirtschaft dienten zahlreiche flache Bütten, hölzerne, die der einheimische Böttcher herstellte, oder messingene, die beim Gelbgießer in Bredstedt gekauft wurden. Das Buttern geschah auf die altherkömmliche Weise durch Stoßen des Rahms im Butterfaß (sern), eine beschwerliche und zuweilen recht langwierige Arbeit, über die die Mutter oft geseufzt hat. Der Käse wurde in einer Holzform unter eine sehr primitive Presse gebracht: ein langes Brett, das an dem einen Ende unter einem Klotz an der Wand befestigt war, wurde am andern mit großen Steinen beschwert, und der in ein lockeres Tuch gepackte und in die durchlöcherte Holzform gezwängte Quark (kerl) dem Druck der Hebelwirkung ausgesetzt, bis die Molke (wai) herausgepreßt war. Die Käselaibe wurden dann in langer Reihe luftig aufgestellt und im Winter verzehrt, wenn sie »durch« waren, eine herrliche Zukost zu dem kräftigen Schwarzbrot. Käse wurde nur für den Hausgebrauch hergestellt. Dagegen wurde Butter in ziemlicher Menge verkauft. Jede Woche kam ein Aufkäufer, der sie abholte und nach Flensburg fuhr, wo er sie auf dem Markt oder in den Häusern freihändig verkaufte und danach den Bauerfrauen zu Hause verrechnete.

Hier mag auch des Gartens gedacht werden. Er war die Domäne der Mutter. Sie hatte ihn selbst angelegt; als sie einzogen, war es ein wüster Fleck Erde mit einigen Sträuchern gewesen. Sie machte daraus[42] ein kleines Paradies mit unendlichen Schätzen und Herrlichkeiten für das Herz eines Kindes. Da waren vor allem zwei lange Rabatten mit Stachelbeerbüschen und Johannisbeeren; der fette Boden, dem übrigens jeden Frühling eine tüchtige Düngung zugeführt wurde, brachte sie zu kräftigster Entwicklung, so daß ihrer durch bloßes Naschen gar nicht Herr zu werden war. Erst als die Mutter von Frau Dr. Rickertsen die Kunst lernte, Gelée zu machen, Saft einzukochen und rote Grütze zu kochen, kam die Fülle der Beeren zur rechen Verwertung; der Tisch hatte das ganze Jahr davon gut. Auf den Rabatten wuchsen ferner kleine Obstbäume heran. Die Mutter hatte sie aus Kernen von Äpfeln und Birnen gezogen, die ihr besonders behagt hatten. Sie waren gerade so alt als ich, ihr Fruchttragen begann, als ich zu studieren anfing. Es waren mehr und minder wohlgeratene darunter: süße Äpfel, die früh reiften, darunter ein sehr wohlschmeckender, saure Daueräpfel, von denen einer so harte und saure Früchte trug, daß sie völlig ungenießbar waren; ließ man sie aber liegen und briet sie im Winter im Ofen, dann kriegten sie Geschmack und Wert. Von einem Baum habe ich noch wiederholt in diesen Ihren Früchte geschickt erhalten: sie sind ungewöhnlich saftig und aromatisch. In den Kinderjahren trugen ein paar Pflaumenbäume; es war mein erster Gang, wenn ich zur Zeit der Reife aus der Schule kam, nachzusehen, ob der Wind welche abgeschüttelt habe.

Wichtiger für den Haushalt war der Gemüsebau. Der Grünkohl nahm ein ganzes Viertel ein, er hatte die Aufgabe, dem Wintertisch grünes Gemüse zuzuführen die er auch treulich erfüllte, wenn nicht der Kohlweißling ihn vernichtete: es gab Jahre, wo die Raupen des Kohlweißlings, nachdem sie die Blätter bis auf die Strunke abgenagt hatten, in so unermeßlichen Scharen zur Verpuppung an den Wänden des Hauses und über die Fensterscheiben emporkrochen, daß alles von ihnen und ihren Spuren bedeckt war. Ein anderes Viertel nahmen Frühkartoffeln ein: ich hab oft am Morgen, ehe ich zur Schule ging, der Mutter eine Schüssel voll für unseren Mittagstisch geholt und an Brunnen abgewaschen. Herrlich waren die Mohrrüben (gelbe Wurzeln) ein 4 Beete voll; ich sah mit Verlangen ihrem Wachstum zu: im Juli wurden die ersten gezogen und roh verzehrt; etwas so Zartes und Süßes und Saftiges als diese jungen Mohrrüben meine ich nie wieder gegessen zu haben. Übrigens gab es die allerersten regelmäßig bei unserer guten alten Tagelöhnerin; sie nahm mich um diese Zeit einmal abends mit[43] sich, dann wußte ich schon, ging's in den Garten, und ich wurde mit einer Handvoll Mohrrüben königlich beschenkt. Zu meinem Geburtstag durfte ich mir selbst in unserem Garten nach eigener Wahl ziehen, was ich wollte. Dazu kamen die Zuckererbsen, hochrankende und kriechende: mit jungen Mohrrüben und Kartoffeln in Rahm gekocht, gaben sie ein Gemüse, vor dem jedes andere verschwindet. Doch wer könnte alles aufzählen, was in diesem Garten noch wuchs: bitterliche Rüben, Rote Beete, Petersilienwurzeln, Poree, Kürbis, Erdbeeren, Wermut, an verborgenen Stellen auch mannshohe Nesseln. Und natürlich Blumen. Da gab's vor allem vor dem Stubenfenster das runde »Krautbeet«: es war eingefaßt mit blühendem Lavendel; darin standen, blühend nach der Jahreszeit, Primeln und Aurikeln, Rosen und Nelken, Astern und Reseda. Außerdem gab's noch ein Beet mit »allerlei«, auf Geratewohl gemischter Blumensamen wurde hineingestreut und setzte sich durch, wie er mochte. Leuchtende Georginen taten sich bald da, bald dort aus dem Gebüsch hervor. Als die Bäume größer wurden, ruhte die Mutter nicht, bis sie dem Vater für ihren Gemüse- und Blumengarten noch ein Stück sonnigen Landes nahe beim Hause abgewonnen hatte.

Der Blumengarten setzte sich vor den Fenstern des Hauses fort. Fuchsien, Levkojen, Rosen, Nelken, Passionsblumen, an zierlichem Spalier gezogen, füllten die Fenster, manche als jahrelange Hausgenossen, die durch Ableger erneuert wurden. Der ganze Schmuck kostete gar nichts, nicht einen Pfennig: die Mutter hätte auch nichts dafür ausgegeben, selbst wenn Blumentöpfe zu kaufen gewesen wären: warum kaufen, was man selber ziehen kann? An keinem Punkt kommt mir die Roheit des großstädtischen Haushalts mehr als hier zur Empfindung: was wird im Jahr für Blumentöpfe und abgeschnittene Blumen ausgegeben, und der Erfolg? Sie prunken einen Augenblick auf dem Tisch, kümmern dann ein paar Tage oder Wochen und dann kommen sie in den Müll.

Wie die Ernährung, so wurde auch die Bekleidung in der Hauptsache mit den eigenen Mitteln und Künsten des Haushalts bestritten. In meiner Jugend wurden fast nur eigengemachte Wollkleider getragen. Im Frühjahr wurden die Schafe erst gewaschen, dann geschoren, ein paar gute Schuren für den Eigengebrauch ausgesucht und der Rest verkauft. Es folgte die Verarbeitung meist im Winter: die Wolle wurde gekämmt, gekardet, gesponnen, auf der Garnwinde aufgewickelt, gewoben, das Zeug beim Färber gefärbt und endlich vom Schneider, der ins Haus[44] auf Arbeit kam, zu Hosen, Jacken, Westen und Röcken verarbeitet. Der übliche Stoff, den die männliche Welt so gut wie ausschließlich trug, hieß »Web«: ein festes, sehr dauerhaftes, regelmäßig dunkelblau gefärbtes Gewebe, ähnlich dem preußischen Militärtuch, übrigens in verschiedener Stärke und Qualität. Frauen trugen einen ähnlichen, nur gestreift farbigen Stoff als Rock, dazu Schürze und Mieder aus anderem, häufiger gekauften Stoff. Webstühle waren in vielen Häusern, so im Elternhaus des Vaters wie der Mutter, nicht in unserem: es fehlte an Zeit und auch an Raum dafür. Dagegen waren die Spinnräder im Winter wohl in jedem Hause in schnurrender Bewegung: nachmittags und abends saßen die Mutter und das Mädchen regelmäßig am Spinnrad. Jetzt sind Spinnrad und Webstuhl so gut wie verschwunden. Sie vertragen sich nicht mit dem Sofa und dem Klavier, die inzwischen auch in die Bauerstube ihren Einzug gehalten haben.

In meinen Jugendtagen war das Sofa noch ein unbekanntes Möbel, ein paar Armlehnstühle am Klapptisch und vielleicht in einem alten Haushalt eine Bank mit Kissen in der Ofenecke boten für die alten Leute ausreichende Bequemlichkeit. Bei der Bank fällt mir ein: Die Kunst des Teppichknüpfens war zu meiner Zeit schon selten geworden; sie muß früher gewöhnlich gewesen sein, denn noch gab es überall bunte geknüpfte Kissen für alte Holzstühle, wie sie noch in älteren Häusern häufig waren, und besonders auch für die Wagenstühle, die man zu sonntäglicher Ausfahrt auf die Leiterwagen schnallte. Übrigens fand sich noch vor kurzem in Langenhorn eine alte Frau, die wundervolle Arbeiten dieser Art zu machen verstand. Die neumodischen Stühle und Wagen haben die Kunst vertrieben.

Am Stricken hatten sich bis vor kurzem auch die Männer beteiligt; namentlich auf den Halligen war es üblich, daß im langen Winter, wo es für das Mannsvolk eigentlich nichts zu tun gab, wollene Jacken, Unterjacken, lange Kniestrümpfe, Zipfelmützen, Handschuhe und Halstücher angefertigt wurden. Ich hab auch noch Stricken gelernt, freilich nur zu raschem Vergessen, es war aus der Mode gekommen und galt nicht für passend.

Wie die Kleidung, so war die Wäsche Erzeugnis des Hausfleißes. Die Mutter kaufte jeden Herbst einen »Stein« Flachs in Bredstedt ein. Er wurde von ihr eigenhändig »gehechelt«, erst durch grobe, dann durch feinere Kämme von Eisenstacheln gezogen und so von der »Heede« gesondert, in zierliche Bündlein (Knoke) aufgeknüpft und dann versponnen.[45]

Die Leinwand, die sie aus dem Garn von einer Nachbarin weben ließ, wurde auf der Wiese gebleicht und dann zu Hemden, Bettlaken, Handtüchern Tischtüchern, Überkleidern verarbeitet. Daß die Reinigung der Wäsche im Hause geschah, ist selbstverständlich. Hier und da wurde wohl auch noch Seife im Haushalt gekocht, doch habe ich das nicht gesehen. Hingegen waren die Betten durchaus »eigengemacht«: Das Inlett wurde gewebt, genäht und mit den Federn und Daunen gefüllt, die von den Gänsen, die in jedem Hause gehalten wurden, gewonnen waren; zweimal im Sommer wurden die im Frühjahr eingetanen Gänse nicht ohne Geschrei und Seufzen gerupft. Endlich gaben sie im Herbst, wenn sie geschlachtet wurden, auch die Flügel und Federn her; die Flügel dienten als Flederwische und Feueranpuster; die großen Federn wurden sorgfältig aufgehoben, um als Schreibfedern Verwendung zu finden; in der ersten Schule mußten wir etwa alle 4 Wochen ein paar Federn mitbringen, die der Lehrer schnitt; Stahlfedern waren ihm eine verhaßte Neuerung.

Um das Gebiet der Bekleidung zu absolvieren, bemerke ich noch, daß Knaben und junge Leute nicht Röcke, sondern Jacken von der Länge der Weste zu tragen pflegten. Nur Männer trugen Schoßröcke. Wer's dazu hatte, besaß außer dem Rock aus eigengemachtem Stoff für hohe Festtage auch einen Anzug aus gekauftem schwarzen Tuch; er reichte regelmäßig fürs ganze Leben, denn er kam nicht mehr als drei-oder viermal im Jahr aus dem Schrank, am Karfreitag, bei Begräbnissen und Hochzeiten. Die Kopfbedeckung war ganz allgemein die Mütze, sie war durch ihre Haltbarkeit bei dem beständig herrschenden Wind empfohlen, ebenso wie das stets getragene Halstuch durch den notwendigen Schutz gegen Erkältungen. Die Fußbekleidung war mannigfach: im Hause wurden meist ledergefütterte Holzpantoffeln (Klosse) getragen; draußen bei nassem und kaltem Winterwetter Holzschuhe, in die man ein Strohgeflecht legte: sie hielten die Füße ausgezeichnet trocken und warm, sie kamen aus Jütland und wurden am Anfang des Winters in ganzen Wagenladungen importiert. Bei trockenem Sommerwetter wurden Lederschuhe getragen; der Schaftstiefel gehörte mehr zur Sonntagstracht, außerdem wurde er im Winter bei grundlosen Wegen angezogen. Die Jugend erfreute sich im Sommer des Vorrechts barfuß zu gehen; und ich gestehe, daß es ein schönstes Stück der Naturfreiheit ist, auf freien Sohlen ohne die hemmende und beengende Umhüllung über weiche Wiesen und Weiden dahinzufliegen.[46]

Übrigens wird der Fuß bald so abgehärtet, daß auch ein Stoppelfeld ihm nicht viel anhat, nur die gepflasterte Straße und die Chaussee wird bald unleidlich, glücklicherweise waren wir nicht genötigt, darauf zu gehen. Schmerzlich aber war es, wenn der Sonntag kam und nun der kirchlich-sittliche Anstand nötigte, die freien Füße in die harten Stiefel zu zwingen. Auch die Schule wollte die Barfüßer nicht leiden; wir brachten dann wohl Strümpfe und Schuhe oder Holzpantoffeln in der Hand mit und zogen sie vor der Tür an und wieder aus.

Genug vom Hause und den häuslichen Verrichtungen. Ich lasse noch einiges über die ländlichen Arbeiten draußen und meine Beteiligung an ihnen folgen, sie aufreihend nach den Jahreszeiten, durch die sie auch in der Wirklichkeit bestimmt wurden.

Wenn gegen Ende März die Sonne sich höher über den Horizont zu heben und Boden und Wetter für die Arbeit draußen aufzugehen beginnt, fängt das neue Jahr für den Landmann an. Die Winterarbeit ist abgeschlossen, das Ausdreschen des Korns beendigt; durch das sogenannte »Mäusebier«, ein stattlicheres Mittagessen, wurde der Tag gefeiert, an dem die letzte Garbe vom Boden in die Tenne wanderte, damit wurde den Mäusen der letzte Unterschlupf entzogen, und manche fiel der lauernden Katze in die Klauen. Auch der Dienstbotenwechsel war durch altherkömmliche Ordnung in diese Zeit gelegt; am Petritag (22. Februar) zogen Knechte und Mägde in den neuen Dienst, meist mit stattlichem Koffer, der es notwendig machte, sie mit dem Wagen abzuholen. Übrigens rechnete der Vater, um das hier beiläufig zu bemerken, noch regelmäßig nach dem mittelalterlichen Heiligenkalender, Johanni, Jacobi, Simon Judä usw.

Die Außenarbeit begann mit der Düngung der Ackerfelder. Da der Vater regelmäßig noch einige Düngerstellen kleiner Leute aufkaufte, häufig auch gute Garten- und Stavenerde, so fing das Geschäft ziemlich früh an. Er ließ es sich nicht nehmen, selbst zu fahren, was ihm dann, bei den meist herrschenden scharfen Ostwinden, nach der winterlichen Verwöhnung beim warmen Ofen, Jahr für Jahr eine schwere Erkältung zuzog, die aber als ein Naturereignis, das sich nicht vermeiden läßt, hingenommen wurde. In den späteren Jahren bin ich hin und wieder auch zu dieser Leistung herangezogen worden, doch meist erst in vorgerückterer Jahreszeit: der Vater ließ fast den ganzen Sommer hindurch, wenn sonst keine Feldarbeit war, allerlei Erdarbeiten ausführen.[47]

An der folgenden Ackerbestellung hab ich von klein auf teilgehabt. Zuerst wurde ich beim Pflügen als »Pflugjunge« gebraucht, der die Pferde lenkt. Manchen langen Apriltag habe ich mit dem Vater draußen die entfernten Haferfennen gepflügt; eine Mittagpause wurde kaum gemacht, die Kälte ließ es nicht zu, Pferde und Menschen futterten nur rasch das Nötigste. Dann hatte ich, während der Vater die Aussaat besorgte, die er nie aus der Hand gab, zu eggen, eine mir bitter verhaßte Arbeit: es gibt wohl kaum etwas Ermüdenderes, als über die Furchen des frisch gepflügten Ackers den langen Tag hinzustolpern. Später hab ich auch den Pflug selbständig geführt, eine Sache, die mir viel besser zusagte.

Der Mai brachte die ersten Frühlingstage, freilich noch mit harten Rückfällen des Winters gemischt. Das Vieh, das bisher im Stall seinen Winterschlaf gehabt hatte, wurde auf die Weide getrieben: ein fröhlicher Tag, der als der eigentliche Sommeranfang mir in der Erinnerung steht. Auch von den Tieren selbst wurde der Auszug aus dem Stall mit ausgelassener Freude gefeiert, die sich in allerlei tollen Sprüngen und Ringkämpfen äußerte; manchmal ging bei dem Stoßen und Ringen ein Horn verloren, daher die Redensart: »sich die Hörner ablaufen«: was so in Verlust gekommen war, zog sich dann vor weiteren Kraftleistungen betrübt zurück. Den Kälbern, die zum erstenmal auf die freie Weide kamen, pflegte die Bedeutung der Wassergräben in einer praktischen Lektion eingeprägt zu werden: sie wurden herangeführt und dann unversehens von der Seite hineingestoßen. Der ausgestandene Schrecken hielt sie für lange Zeit, manche für immer, von dem Versuch der Grenzüberschreitung ab. Andere fröhliche Frühlingstage waren die Tage der Schafwäsche und der Schafschur, freilich nicht so sehr für die Nächstbeteiligten, die ziemlich jämmerliche Gesichter zu beiden Prozeduren machten.

Übrigens hatte ich zu den Schafen ein besonderes Verhältnis. Schon die Ankunft der Lämmer im April hatte ich zu überwachen, für jedes Lebende erhielt ich einen Schilling; dafür mußte ich früh auf dem Felde nachsehen, ob was angekommen sei, und es, wenn es nötig schien, mitsamt seiner Mutter nach Hause bringen. Die armen Dinger fielen oft noch auf den Schnee, überstanden aber auch dies und konnten in der Regel schon nach ganz kurzer Zeit aufstehen und sich am Euter der Mutter erholen. Gefährlich wurden ihnen zuweilen die großen Raben, die ihnen, wenn die Mütter sie nicht abzuwehren vermochten, die Augen[48] aushackten und sie dann anfraßen. Geschah es, daß die Mutter ums Leben kam, dann zog man die Lämmer wohl »mit der Flasche« auf: eine Federspule, in ein Leinwandläppchen gewickelt, wurde auf einen alten Teetopf gesetzt, und sie gewöhnten sich rasch daran. Sie kamen dann, wenn ich ihnen rief, schon von weitem gelaufen und blieben ihr Leben lang besonders zahm und anhänglich. Im Sommer wurden sie öfters auf den Äckern oder Stoppelfeldern süden vom Hause »getüdert«, d.h. an einem 4–5 Meter langen Strick angepflöckt. Mein Geschäft war es dann, ihnen dreimal am Tag einen neuen Weideplatz zu geben und für Wasser zu sorgen. Manchmal brachte ich ihnen dann auch sonst etwas mit, besonders waren Mohrrüben ein sehr geschätzter Leckerbissen, nach dem ein besonders zahmes oder intelligentes Tier mir wohl die Taschen durchsuchte.

Hin und wieder waren auch die Kühe auf einige Tage zu hüten, wenn etwa die Weide sonst knapp wurde. Es waren bequeme Tage, und über die Langeweile kam man durch allerlei Beschäftigung weg; meist waren auch Kameraden in der Nähe. Vor allem wurde eine Hütte aus Erdsoden und Hölzern mit einem Dach von Binsen gebaut, die gegen Regen Schutz gab. Es wurde Feuer angemacht, Bohnen oder Kartoffeln geröstet, Kaffee gekocht usw., natürlich auch geraucht. Feuerzeug hatten wir stets, meist in doppelter Gestalt, bei uns: Stahl und Stein und außerdem ein Brennglas, mit dem der Schwamm entzündet wurde. Als Feuerung dienten trockene Kuhfladen, auch trockenes Gras und Binsen.

Nach der Frühjahrsarbeit trat gegen Mitte Mai eine größere Pause in der Feldarbeit ein, die bis Anfang Juli dauerte. Für mich war dann kaum etwas zu tun, und ich ging einstweilen wieder in die Schule, die meist auf einen kleinen Bestand zusammengeschmolzen war. Die größeren Kinder, vom 12. Jahr ab, auch früher, Knaben und Mädchen, gingen nach Ostern entweder in Dienst auf den Sommer oder sie wurden zu Hause verwendet. Die ärmeren wurden meist als Hütejungen vermietet, oft weit weg auf die Geestdörfer, wo es Einfriedigungen der Felder damals noch gar nicht gab. Der kleine Rest rückte dann enger zusammen, und auch der Unterricht leistete wohl mehr als in der überfüllten Winterschule, wo sich der Lehrer vor allem mit den Zurückkehrenden beschäftigen mußte, um bei ihnen die Elemente wieder aufzufrischen oder zu befestigen.

Im Juli begann die Ernte, zuerst die Heu-, dann die Kornernte. Sie[49] brachte auch mir wieder Arbeit im Freien; es sind in meiner Erinnerung schöne glänzende Tage, vor allem die langen sommerlichen Tage auf den Wiesen beim Heumachen. Das Mähen begann meist in der ersten Juliwoche; mir fiel dabei die Rolle des »Vorstreichers« zu, d.h. ich hatte mit der Harke die gemähte Schwade umzuwenden, um für den Mäher den Anschlag wieder frei zu machen; es war nämlich bei uns nicht, wie sonst meist üblich, »aus dem Gras« zu mähen. Wenn ich mich nicht irre, habe ich im 8. Jahr, vielleicht schon im 7., mit dieser Tätigkeit begonnen und sie bis zum 15. regelmäßig 2–3 Wochen im Jahr geübt, anfangs für einen, später auch für zwei Mäher. Mit Sonnenaufgang wurde aufgebrochen, die Morgenzeit, wo das Gras vom Tau naß ist, ist für den Mäher die günstigste, oft war erst ein Weg von einer Stunde zu den entfernteren Wiesen zu ma chen. Um 8 Uhr war Frühstücks-, um 11 Uhr Mittagspause. Der mitgebrachte Proviant, Butter, Brot, Speck und Käse, dazu ein Trunk kühlen Biers, schmeckte den auf dem frisch gemähten Gras Hingestreckten herrlich; zuweilen hatte die Mutter wohl auch noch irgendeine Überraschung eingepackt, besonders an meinem Geburtstag, den wir zufällig fast immer in der Fenne »Zwischenbrück« feierten. Nachdem noch die Sense frisch geschärft war, legten sich die Mäher zum Mittagsschlaf nieder; er gelang mir selten, und so benutzte ich die Stunde zum Umherstreifen: vor allem übte das Wasser auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft; ich badete, stellte Fischen nach und hab manchen als gute Beute nach Hause gebracht. Auch Honigernten wurden öfters eingebracht: Hummelnester, auf der Erde und unter der Erde, wurden aufgespürt und ihrer gefüllten Honigtöpfchen beraubt. In kleereichen Jahren waren sie häufig und gut versehen. Ich erinnere mich besonders eines Jahres, wo wir fast bis zum Überdruß Honig von Erdhummeln hatten: ich folgte dem Flug des einzelnen Tieres bis zum Eingang zum Nest und grub es dann aus. Die Jagdfreude ließ die schmerzhaften Stiche, die es setzte, kaum fühlen. Länger als der Vormittag wurde oft der Nachmittag, die Hitze nahm zu, die Frische der Arbeiter ab, nicht selten ging an heißen Tagen das Getränk vor der Zeit aus; dann wurde ich wohl auf eine Wasserexpedition geschickt nach dem nächsten Hause oder fließenden Wasserlauf; auch das stehende lauwarme Wasser der sumpfigen Gräben wurde in der Not getrunken; es hat uns auch nicht geschadet. Um 6 Uhr, wenn die Betglocke schlug, wurde Feierabend gemacht, und nun kam noch der Nachhauseweg, oft allerdings nahm die Müden ein[50] des Wegs kommender Wagen mit. Zu Hause gab's dann Mittagessen und frisches Bier, und nachdem man noch eine Stunde geplaudert oder den Garten heimgesucht hatte, in dem die Stachel- und Johannisbeeren jetzt reif wurden, ging's zu Bett. So folgte ein Tag dem andern.

Dazwischen kamen dann Tage, wo das Heu, das in der Regel 5–10 Tage in Schwaden zum Ausdörren und Trocknen liegen blieb, zusammengebracht und entweder gleich auf Wagen verladen oder in Diemen (ruk) aufgesetzt wurde, die man später nach Gelegenheit, zuweilen erst im Spätherbst holte. Zum »Schwälen« (friesisch swalle) wurden auch Mägde und Taglöhnerfrauen, soviel ihrer man kriegen konnte, mitgenommen; in hellen Kleidern und »Helgoländer« Hüten erscheinend, bildeten sie für die grünen Wiesen eine muntere Staffage, überhaupt pflegte es dabei sehr lustig zuzugehen; die Scherze wurden allerdings nicht auf die Goldwage gelegt.

Außer dem Wiesenheu wurde noch meist etwas Außendeichheu für den Winter eingebracht; das kurze Gras von stark salzigem Geschmack wurde vor allem von den Schafen gern gefressen. Das breite Vorland vor dem Louisenkoog war für uns der Gewinnungsort. Im Juni wurden die »Nummern«, die durch Steinzeichen abgeteilt waren, auf das Jahr zum Mähen verpachtet; meist nahmen mehrere Haushaltungen eine zusammen. Früh um 2 Uhr wurde aufgebrochen, das zähe Gras läßt sich nur solange es naß ist mähen. Drei, vier Wagen voll Mäher stellten sich ein und es entwickelte sich auf dem grünen Meeresboden auf kurze Zeit ein buntes und bewegtes Treiben. Wir Jungens hatten inzwischen Zeit, uns die befremdliche Welt draußen zu besehen, wir wateten in den Schlick hinaus, Krabben und »Porren« (Garnelen) zu fangen, oder sammelten blaue Mies- und weiße Sternmuscheln, auch die seltsame Pflanzenwelt zog die Aufmerksamkeit auf sich, der stark duftende Strandwermut, die bläulichen Strandnelken usw. War es 8 oder 9 Uhr geworden, dann wurde das Gras, noch naß und grün, auf Wagen verladen und soviel als möglich gleich mit nach Hause genommen; denn immer drohte die Flut, die es wegschwemmen mochte. Es geschah doch ziemlich häufig, daß ein stärkerer Westwind, mit der Springflut zusammenwirkend, auch im Sommer das ganze Meedland draußen unter Wasser setzte, dann wurde alles, was die Flut draußen antraf, Heu und fliegende Brücken, wie sie für die Priele notwendig waren, weggeschwemmt, meist freilich am nahen Ufer wieder abgesetzt. Es[51] fand dann eine Verteilung des angespülten Heus statt, das aber durch das lange Treiben in der trüben Salzflut an Wert sehr verloren hatte.

Wenn die Heuernte sich dem Ende näherte, begann die Kornernte; Roggen, Gerste, Hafer machten den regelmäßigen Bestand. Weizen, Raps und Bohnen, wie sie in den Außenkögen gesät werden, gedeihen in der älteren Marsch weniger. Die Fenne im Louisenkoog, die der Vater in den ersten Jahren selbst gepflügt hatte, war später stets verpachtet. Das Kornschneiden, das bei uns damals noch durchaus mit der Hand verrichtet wurde, überließ der Vater so gut wie ausnahmslos einer Tagelöhnerfamilie; ich habe daher die Sichel kaum mehr als handhaben gelernt, nicht aber eigentlich damit gearbeitet. Dagegen war ich beim Einbringen des Korns regelmäßig mit tätig; ich besorgte das Verladen der Garben auf den Wagen. Ich habe viele Hunderte von Heu- und Kornladungen aufgebaut, mit der Freude, die eine kunstsichere Hand an ihrem Werk empfindet. Die Sache ist nicht ganz so einfach, wie sie der Laie sich vorstellen mag; Blick für Gleichgewicht und inneren Verband ist notwendig, um ein hochbeladenes Fuder gegen Umwerfen oder Ausrutschen einzelner Stücke auf tief ausgefahrenen, schlingrigen Wegen zu sichern. Der erste Wagen, ich erinnere mich des Tages noch wohl, war eine Roggenladung, die ich mit Andres Niß aufbauen sollte; die glatten Garben rutschten mir wiederholt reihenweis zur Seite herunter, und er war nicht ein Mann von sehr elastischer Geduld: so kostete es viel Mühe und Tränen, bis wir schließlich glücklich den Baum auf das Fuder bringen konnten. Und dann kam das Malheur nochmals auf dem Wege nach Hause.

War die Ernte eingebracht, dann gab es für mich wieder eine Pause, die der Schule gehörte, etwa von Anfang oder Mitte September ab. Erst die Herbstbestellung der Äcker gab mir wieder zu tun, meist aber nur ein paar Tage. Dann kam allmählich der Winter heran. Das Vieh, das den ganzen Sommer auf der Weide zugebracht hatte, wurde am Anfang November aufgestallt; oft waren die Weiden und die Wege dahin schon halb überschwemmt; die großen Herbstregen brachten zuweilen schon im August eine vorübergehende Überschwemmung der tieferen Marschen; von Ende November ab standen sie regelmäßig bis in den April hinein zu einem erheblichen Teil unter Wasser. Ich hab oft Vieh und Schafe durch knietiefes Wasser auf den überschwemmten Wegen nach Hause gebracht. Das verstand sich von selbst, man wußte es nicht anders.[52]

Den Winter über gab es für mich in der Wirtschaft eigentlich nichts zu tun, außer daß ich gelegentlich einmal aushilfsweise die Pferde und das Vieh fütterte und tränkte, oder bei starkem Schneefall den Schafen, die sich im übrigen selbst durchschlugen, Futter brachte. Da der Vater sich um die Stallarbeit so gut wie gar nicht kümmerte, so kam auch ich wenig dazu, wenn nicht etwa der Knecht mich einmal bat, ihn zu vertreten. Der Tag gehörte dann der Schule und die Abendstunden der Arbeit und dem Lesen, oder auch einmal dem Spiel mit Nachbarskindern.

Zuweilen machte ich mich auch, als ich größer wurde, dem Vater nützlich durch eine hilfreiche Hand bei seinen vielen Schreib- und Rechnungsarbeiten. Er hatte einen für einen Landmann ungewöhnlich großen Umfang von derartigen Geschäften. Nicht nur hatte er die Vermögensverwaltung der Geschwister ganz in der Hand, sie scheuten sich vor jedem derartigen Geschäft: so leicht er die Feder führte, so schwer wurde es ihnen; dazu kamen allerlei mühvolle Gemeindeämter mit umständlicher Rechnungsführung und nicht selten auch allerlei Korrespondenz. Endlich noch eine ganze Reihe von Vormundschaftssachen: er hatte zeitweilig nicht weniger als vier Vormundschaften für zum Teil kinderreiche Familien.

Die schwierigste Aufgabe dieser Art erwuchs ihm, als er die Regelung der Angelegenheiten eines zur See verunglückten ihm verwandten Kapitäns in die Hand nehmen mußte. Es war der Mann seiner Cousine, der einzigen Tochter der Schwester seines Vaters. Er besaß ein Schiff, eine schmucke Brigg, womit er vor allem nach England, auch wohl nach den russischen und mittelländischen Häfen fuhr. Da kam eines Tages, es war im Dezember 62, ein dänisch geschriebener Brief aus Kopenhagen: aus Säby in Jütland werde gemeldet, daß das Schiff Viktoria, Kapitän Nommensen aus Langenhorn, dort in einem Schneesturm gescheitert und daß mehrere Leichen an den Strand getrieben seien. Es war eine erschütternde Kunde; der Kapitän hatte seine beiden ältesten Söhne als Matrosen mit an Bord gehabt: miteinander hatten sie das Todesschicksal in der eisigen Nacht geteilt. Er war oft gebeten worden, nicht die Söhne mit auf das eigene Schiff zu nehmen, daß nicht einmal ein Schlag alle vernichte; eigenwillig, wie er war, hatte er sich darüber hinweggesetzt. Nun war es so gekommen. Und die Familie litt schwer unter dem harten Geschick.

Auch sonst war die Lage schwierig. Die Witwe war mit fünf unversorgten[53] Kindern zurückgeblieben, der jetzt älteste Sohn in meinem Alter; die Vermögensverhältnisse verwickelt und nicht günstig; die wichtige Frage war: ob es gelingen werde, die 10000 Reichstaler, mit denen das Schiff versichert war, einzubringen. Es wurde nicht ohne Ursache bezweifelt, ob die Versicherungsprämie bezahlt sei. Natürlich war mein Vater, der auch sonst sich schon öfter der Angelegenheiten angenommen hatte, der nächste, an den man sich wendete. Es gelang ihm durch viele Schreiberei und Reisen nach Bredstedt und Flensburg die Sache zu ordnen. Die Todesurkunden aus Säby gingen ein, und die Versicherungsgesellschaft erkannte die Zahlungspflicht an. Im Frühjahr konnte er die Summe in Flensburg in Empfang nehmen. Ein paar Jahre darauf starb auch die Witwe, und die Kinder wanderten zusammen nach Amerika aus; nach Chikago hat er noch den mündig Gewordenen ihr Erbteil nachgeschickt.

So viel vom Elternhaus, in dem ich als Knabe aufgewachsen, in dessen Lebensgemeinschaft und Lebensbetätigung ich von klein auf hineingewachsen bin. Ich kann nicht anders sagen: ich blicke mit unbegrenzter Befriedigung auf die Jahre zurück, die es mich gehegt und gebildet hat, gebildet nicht so sehr durch Reden und Hören, als durch unmittelbare Teilnahme an der Fülle von Leben und Wirksamkeit, die es in seinem engen Kreise beschloß. In der Tat, wenn ich ein solches Bauernhaus mit den Großstadthäusern vergleiche, in welchen nun ein immer mehr anschwellender Teil unseres Volkes lebt und aufwächst, dann kann ich nicht umhin, die fortschreitende Verarmung der Jugend zu beklagen, Verarmung an Bildungsmöglichkeiten und Verarmung an Freuden. Dort war die ganze Welt in lebendiger Wirklichkeit gegenwärtig: die Natur mit allem Reichtum ihrer Formen und Erzeugnisse war uns zugänglich und vertraut, Äcker und Felder, Wiesen und Weiden, Heide und Moor, fließende Bäche und stehende Gräben, Wehlen und Teiche, Dünen und Hügel, Deiche und Dämme, Watten und Priele, Flut und Ebbe, wir kannten sie, nicht von einem kurzen Sonntagnachmittagsausflug, sondern aus täglichem intimsten Umgang, in jedem Graben haben wir gewatet und Fische gefangen, in jedem Teich und Fluß gebadet, jeden Bach abgedämmt, auf jedem Acker gepflügt, in jeder Fenne gearbeitet, auf jeder Wiese Heu gemacht; über jede Heide sind wir gesprungen und haben Beeren gepflückt oder den Eidechsen zugesehen, auch wohl einmal eine Schlange gescheucht, von jeder Düne haben wir uns im Sommer heruntergewälzt oder im Winter auf Schlitten herabsausen[54] lassen. So haben wir den Himmel bei Tag und bei Nacht gesehen, am Morgen das Erblassen der Sterne und das Aufleuchten des Frührots erlebt, am Abend der untergehenden Sonne ins Angesicht geschaut und die ersten Sterne wetteifernd gesucht und gezählt, das heraufziehende Wetter beobachtet und die sengenden Blitze in fast fühlbarer Nähe niederfahren sehen, den Regen über uns niederrauschen lassen und in der glühenden Sonne nackt im Sande gelegen. Auf Pferden haben wir uns getummelt, ohne Sattel und Zaum manchen wilden Ritt getan, bis der Reiter zur Erde glitt oder auch einmal kopfüber in den Graben geschleudert wurde; mit Kälbern und Lämmern haben wir gespielt, mit Pferden und Kühen auf der Weide gelegen, mit Schafen und Ochsen, die den Weg nicht wollten, den sie sollten, sind wir um die Wette gelaufen; den Fischen haben wir mit Netzen und Schlingen nachgestellt, den Vögeln ihre Nester abgelauscht, den Kibitzen und Rebhühnern die Eier genommen, den Grasmücken und Bachstelzen die Jungen mit Fliegen füttern helfen, ob sie sie schätzten oder nicht. Kurz die ganze Natur lag innerhalb des Bereichs nicht nur unserer Augen, sondern auch unserer Hände und Füße, wir lebten mit ihr als ein Teil ihrer selbst.

Und wie die Natur, so lag das ganze menschliche Dasein in unserem Bereich, nahe, faßlich, verständlich. Alle elementaren Künste der Kultur hatten im Haushalt ihren Ort; das Großstadtkind sieht nur die fertigen Dinge und ihre Verzehrung, wir sahen sie alle entstehen, vom ersten Anfang bis zur Vollendung, das Brot und das Bier, das Hemd und die Jacke, fast nichts kam in unseren Gesichktskreis, von dessen Herstellung wir nicht eine anschauliche Erkenntnis gehabt hätten. Denn auch die Dinge, die das Haus nicht selber herstellte, sahen wir entstehen: der Schneider kam und schnitt auf dem großen aufgeschlagenen Klapptisch nach großem Papiermuster den Stoff zum Anzug zurecht, dann setzte er sich, ein Wunder zu sehen, mit untergeschlagenen Beinen auf denselben Tisch und nähte die Stücke zusammen. Im Frühjahr und Herbst kam der Zimmermann auf einige Tage ins Haus, besserte aus und fertigte Neues, hobelte und sägte, natürlich wir immer dabei zusehend und wohl auch einmal Hand anlegend. Und was nicht ins Haus kam, das suchten wir auf; bei dem alten Schuhmacher waren wir häufige Gäste: man wartete eine Stunde, um das zum Ausbessern gebrachte Schuhwerk gleich wieder mitnehmen zu können und sahe ihm inzwischen zu, wie er mit Leder und Leisten, mit Ahle und Pechdraht,[55] mit Schusterhammer und Messer hantierte oder am Abend durch eine gefüllte Wasserkugel das Licht des dürftigen Öllämpchens auf einen Punkt sammelte.

Und nicht minder kehrten wir gern beim Schmied ein: es war ein fröhlicher Mann, und er hatte es gern, wenn wir im Winter aus der Schule kommend vorsprachen und zusahen, wie er das weißglühende Eisen mit der Zange aus der Kohlenglut zog und mit dem Hammer bearbeitete, daß die Funken in alle Ecken der dunklen Werkstatt stoben und die Mädchen laut aufschrieen.

Wie abstrakt und oberflächlich und dürftig bleibt hiergegen die Vorstellungswelt des Großstadtkindes. Die Natur sieht es nur auf dem Papier, das Bilderbuch und das Lesebuch geben blasse Vorstellungen von Feld und Wald, von Tieren und Pflanzen, höchstens daß es noch einmal am Sommernachmittag die Dinge selbst sieht, aber wieder nur von weitem und ohne an sie heranzukommen: alles ist vor ihm verschlossen und vergittert. Dagegen hat es täglich um sich eine Welt künstlicher Dinge und Vorgänge, in deren Inneres es nicht hineinzusehen vermag: die elektrische Lampe und die Straßenbahn, das Telephon und das Automobil, das Warenhaus mit seinen tausend die Begierde, aber nicht die Erkenntnis herausfordernden Dingen, das Museum mit seinen unverstanden angestarrten Kunstwerken oder Resten einer nur dem Gelehrten erreichbaren Vergangenheit. So wächst es auf unter lauter Dingen, die ihm stumm bleiben, und endlich gewöhnt es sich, nicht mehr zu fragen, sondern mit der Oberfläche und der unverstandenen Benutzung sich zufrieden zu geben.

Und nicht viel anders steht es mit den menschlichen Verhältnissen, den privaten und den öffentlichen. Die Großstadtmenschen sehen sich nur von weitem und kennen sich von der Oberfläche, sie wissen voneinander Namen und Titel, Stellung und Parteirichtung und derlei Äußerliches, aber die Wurzeln des Daseins des andern, die erreichen sie nicht und darum wissen sie auch von dem Innersten des persönlichen Lebens so wenig. Ich bin oft erstaunt gewesen, nach dem Tode eines Mannes, den ich jahrelang gekannt, den ich täglich gesehen hatte, aus seiner Biographie zu erfahren, wie wenig ich im Grunde von ihm gewußt hatte. Dagegen im Dorf weiß jeder vom andern, nicht bloß von gestern und vorgestern, sondern von Eltern und Großeltern her; man sieht die Verhältnisse, unter denen er geworden ist, in denen er lebt, seine Frau und Kinder, seine Heimstätte und seine Arbeit, sein[56] Gedeihen und Mißlingen. Was weiß von allen diesen Dingen in der Großstadt der Kollege vom Kollegen? Sie sehen sich täglich, sie tauschen Gedanken und Meinungen über alle Dinge aus, aber von ihrem eigentlichen Erleben sehen sie meist so gut wie nichts; es bleibt eine schattenhafte Kenntnis von dem Reden, Meinen und Sichgeben des andern.

Und ähnlich mit den öffentlichen Angelegenheiten. Man liest davon in der Zeitung und redet davon am Biertisch und vielleicht in der Volksversammlung. Aber wie am letzten Ende »der Staat« und »die Gesellschaft« aussieht und wirkt, davon gewinnt der Junge, der auf dem Lande aufwächst, viel eher eine lebendige Anschauung. Ich kannte den Landvogt und den Aktuar in Bredstedt, ich wußte, zu wem man geht, wenn man dies oder jenes Geschäft hat, ich kannte die Gemeindebeamten und die Kirchspielsversammlung und wußte, wie es darin hergeht, ich wußte, was der und jener zu tun hatte, der Vater hatte das Geschäft selbst jahrelang gehabt, und ich hatte ihm Handlanger- und Botendienste dabei verrichtet. Ich wußte von den Rechtsgeschäften, von Hypotheken und Stempelpapieren, von Kaufbriefen und Mietsverträgen, sie gingen früh durch meine Hände. Ebenso von Steuern und Abgaben, die »Quittungsbücher« über bezahlte Grundsteuern und Koogssteuern, Kirchen- und Schullasten lagen in der Schatulle des Vaters, und er verwehrte mir nicht sie durchzusehen. So hab ich auch von Einnahmen und Ausgaben des Haushalts früh konkrete Einsicht gehabt: was die Ochsen und Schafe, der Roggen und Hafer, das Heu und Stroh kosteten und also einbrachten, war das tägliche Gespräch. Und wie mit den Preisen der Erzeugnisse die Landpreise stiegen und fielen, wie die Art des Anbaus des Landes mit dem Wechsel der Konjunktur sich änderte, wie der Kornbau zurückging, als der Fettviehexport nach England in den 50er Jahren begann, wie bei steigenden Wollpreisen die Aufzucht von Schafen sich rasch vermehrte und wieder nachließ, als der große Import von Australien einsetzte, alles dies lag vor den Augen schon des aufmerkenden und aufhorchenden Knaben.

Und nicht bloß die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart, auch ihre Einordnung in den geschichtlichen Zusammenhang wurde ihm sichtbar. Meine Jugendjahre fielen in die Zeit mächtig aufsteigenden Gedeihens der Landwirtschaft; sie begann langsam in den 40er Jahren, ging dann stoßweise aufwärts in den 50er Jahren, man führte das Steigen aller Preise, der Pferde, des Hafers, des Fleisches, auf den Krimkrieg zurück, der die Nachfrage für den Militärbedarf rasch in die[57] Höhe trieb. Dann kamen die 60er Jahre mit der wachsenden Industrie, die Jahre des Aufschnellens nach dem Krieg von 1870, in denen das Land unbegrenzten Wert zu erhalten schien. Vorher war aber eine Zeit der Not gegangen, die den Eltern noch lebendig vor der Seele stand und oft in den Gesprächen vorkam: in den 20er, 30er Jahren waren die Erzeugnisse der Landwirtschaft fast wertlos und unabsetzbar gewesen; für einen dreijährigen Ochsen wurden 10–12 Taler Hamburgisch, für eine Tonne Hafer zwei Mark Lübsch, für ein Pfund Butter zwei Schilling (15 Pfg.) bezahlt. Kein Wunder, daß die Geldknappheit aufs äußerste stieg und daß die schönsten Bauernstellen in Masse für nichts im Konkurs verkauft werden mußten; wer Schulden hatte aus früherer besserer Zeit, oder wer ein wenig leichter das Geld ausgab, der kam alsbald von Haus und Hof.

Von allen diesen Dingen hatte ich eine lebendige Anschauung, ehe ich die Namen von »Staat« und »Gesellschaft« gehört haben mochte: in der friesischen Sprache gibt es keine Wörter dafür. Was will gegen solche konkrete Belehrung der Unterricht besagen, den das Stadtkind, so Gott will, in der Schule über die »Verdienste der Hohenzollern um die Bürger und Bauern« oder über die »Verderblichkeit der sozialdemokratischen Lehren« erhält? oder den es sich selber aus Zeitungen oder Gesprächen gewinnt? Ich hab nachher zeitweilig mit Leidenschaft Nationalökonomie studiert; es war die Freude, das, was ich aus der Anschauung kannte, nun in der großen Theorie wiederzufinden; vor allem hat es mir aus diesem Grund Roschers Nationalökonomie des Ackerbaus angetan; ich hab sogar den Vater dahin gebracht, von mir Vorträge darüber sich halten zu lassen, natürlich nicht Kathedervorträge.

Nicht minder lag auch die soziale Struktur in einfacher und durchsichtiger Gestalt vor Augen. Das Dorf bildete eine übersehbare Lebensgemeinschaft. Das tragende Grundgerüst machten die selbständigen Bauernhöfe aus. Daran lehnten sich die Handwerke: alle notwendigen Arbeiten waren vertreten, jeder Handwerker hatte regelmäßig eine Anzahl Bauern als seine Kundschaft, der Müller, der Schmied, der Rademacher usw.; ihre Aufträge waren die Unterlage seiner Lebenshaltung. Dazu kam als eine dritte Gruppe der Pastor, der Schullehrer, der Arzt, der Beamte: sie standen einigermaßen außer oder über der Gesellschaft, sie mit Leistungen versehend, die nicht auf einheimischen, bodenständigen Künsten beruhen. Ebenso trat die soziale Schichtung, die Klassenbildung[58] in primitiver Form faßlich zutage. Es gab Großbauern, sie waren mehr in den neuen Kögen heimisch, die nicht selbst mit Hand anlegten bei der Arbeit, dann eine sehr breite Schicht von mittleren Bauern, die regelmäßig mehr oder minder sich selber an der landwirtschaftlichen Arbeit beteiligten. Dann folgte eine Schicht kleiner Besitzer, die auf dem eigenen Landbesitz nicht mehr ausreichende Arbeit für die Familienglieder hatten und daher durch übernommene Dienste ihr Einkommen steigerten, sei es durch Fuhrdienste oder durch Krämerei, Tagelohn und Handwerk. Endlich kamen die eigentlichen Tagelöhner, die nur ein Haus mit Garten und vielleicht noch Land für eine Kuh oder ein paar Schafe hatten, sonst es mieteten, sie standen meist in regelmäßigem Arbeitsverhältnis zu einem Bauernhof, ihre Kinder gingen erst als Hütejungen, dann als Dienstboten in Stellung. Endlich am Rand eine sehr kleine Schicht von Armen, meist durch Krankheit und Unglück heruntergekommene oder auch durch eigene Schuld, durch Trunk und Trägheit verkommene Familien: sie lebten von gelegentlicher Arbeit und vom Betteln. Einige Insassen des Armenhauses, erwerbsunfähige Alte, unversorgte, meist uneheliche Kinder, Krüppel, Idioten, machten den Beschluß.

So lag die Gliederung der Gesellschaft nach dem Besitz sichtbar vor Augen, man wußte von jedem Bauern, wieviel Demat Land er besaß, und von jeder Familie, in welchen Verhältnissen sie sich befand, sah auch, wie die Verhältnisse von dem Verhalten abhängig waren, warum diese Familie im Aufsteigen war, jene nicht auf einen grünen Zweig kommen konnte; alles Dinge, die in der Großstadt unsichtbar oder doch undurchsichtig bleiben. Womit es denn doch wohl zusammenhängt, daß allerlei seltsame Meinungen hier so leicht sich durchsetzen, z.B. daß das ökonomische Ergehen des einzelnen von seinem Verhalten überhaupt nicht abhängig sei oder daß seine Verhältnisse nun eben von den Verhältnissen kommen und ähnliche.

Hinzufügen möchte ich noch dies, daß die soziale Gliederung die Einheit der Lebensgemeinschaft nicht aufhob. Es gab in dieser Bauerngesellschaft nirgends eine Spaltung, eine Kluft zwischen den Klassen, wie sie im Osten des Landes vorhanden ist, ja wie sie hier eigentlich die Grundlage der ganzen Gesellschaftsordnung bildet: die Spaltung in Rittergutsbesitzer und Tagelöhner, in offiziersfähige Familien und Gemeine, in Gebildete und Ungebildete, in Hochwohlgeborene und überhaupt Nicht-Geborene. Alle Stufen des Besitzes waren durch kontinuierliche[59] Übergänge verknüpft; zwischen allen bestand, wenn auch mit Abstufungen, conubium und commercium; man saß, wie in der Kirche, so in der Schule und im Wirtshaus beisammen. In der Schule hatten die Kinder der reichen Bauern neben denen der Tagelöhner ihren Platz, und selbst die Insassen des Armenhauses saßen durch die Klasse verteilt, je nachdem ihre Fähigkeiten und ihr Fleiß ihnen einen Platz verschafften. Im ganzen hatten natürlich die Wohlhabenden den Vorzug, schon wegen des regelmäßigeren Schulbesuchs; aber zuletzt gab doch die persönliche Leistungsfähigkeit den Ausschlag. Und nicht anders war es beim Spiel: jeder gilt, soviel er kann; eine Ausschaltung kam auch hier nicht vor, wenn einer sich nicht selbst unmöglich machte. Und dieses einheitliche Leben in der Jugend setzte sich fort auch bei den Erwachsenen. Zwar traten die Unterschiede des Besitzes stärker hervor; doch blieb auch hier die Gemeinsamkeit des Tanzplatzes und der Kegelbahn, der Liedertafel und des Ringreitens: auch der Knecht und das Dienstmädchen war nicht ausgeschlossen. Und so kamen denn Zwischenheiraten nicht so gar selten vor; ein tüchtiger und bewährter Knecht konnte um die Tochter eines Bauern oder die Hand seiner Witwe anhalten, ohne von vornherein der Ablehnung gewiß zu sein, und das Umgekehrte kam wohl noch häufiger vor, daß Bauernsöhne Töchter von Handwerkern oder kleinen Leuten, die dienten, heirateten.

Dieser demokratische Charakter der Gesellschaft prägte sich auch überall in der Sitte und Sprache aus. Wie man bei der Arbeit und bei Tisch auf dem Fuß der Gleichheit verkehrte, es war selbstverständlich, daß die Dienstboten bei uns mit am Tisch aßen, so machte die Sprache in einer bemerkenswerten Weise alle zu Gleichen: alle Gleichaltrigen nannten sich Du, dagegen wurde die ältere Generation ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung mit der Anrede durch den Namen, wie die Eltern durch die Anrede mit Vater oder Mutter, geehrt, während sie die jüngeren mit dem Du ansprach. Nur der Altersunterschied, ein allgemein menschlicher, nicht der gesellschaftliche Unterschied gab eine Vorzugsstellung. Ausgenommen waren nur die Pastoren, Lehrer, Beamte, die natürlich mit ihren Amtsnamen angeredet wurden, meist auch Fremde waren und nicht Friesisch redeten. So bin ich, wenn ich als Student oder junger Doktor nach Hause kam, von den älteren Leuten, auch unserem Tagelöhner, mit Du angeredet worden, vielleicht einmal mit einer Art Entschuldigung: eigentlich darf ich ja wohl so nicht mehr sagen; während ich sie mit dem Namen anredete. Es wäre[60] mir einfach gegen den eingeborenen Sprachsinn gegangen anders zu verfahren. So wenig ich gegen Vater und Mutter jemals das Du über die Zunge gebracht hätte: man konnte durchaus nur sagen: ich bitte Vater, dies oder das zu tun; so wenig konnte ich einen doppelt so alten Mann anders als mit Namen anreden: Wie geht es Carsten?

Quelle:
Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1910, S. 32-61.
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