Heimat und Elternhaus

[20] Meine Heimat Nordfriesland lag, als ich als Knabe heranwuchs, noch ganz außerhalb der Welt. Keine Eisenbahn brachte die Landbewohner, wie jetzt, in wenig Minuten in die Stadt; nach Flensburg oder Husum, den nächsten Städten, kam man oft in Jahren nicht; manche, vor allem Frauen, haben kaum je eine Stadt gesehen. Wer Hamburg gesehen hatte, war ein weitgereister Mann. Von Kopenhagen brachten einzelne, die dort gedient hatten, bescheidene Kunde, nicht aus der[20] Vogel-, sondern mehr aus der Froschperspektive. Daß es auch ein Berlin gab, wußte man nur aus der Geographie, es war uns ferner als heute St. Louis oder Moskau. Auch der Verkehr innerhalb der Landschaft selbst war ein sehr beschwerlicher und eingeschränkter. Es gab keine Chaussee an der Westküste; die jetzige Straße zwischen Husum und Tondern, die auch durch den östlichen Teil der Gemeinde Langenhorn läuft, ist erst am Anfang der 60er Jahre gebaut worden; bis dahin gab es nur den uralten »Ochsenweg«, von den jütischen Ochsen, die auf ihm den Weg in die Marschen getrieben wurden, so genannt. In großem Bogen die Marschen selbst umgehend, zog er am Rande der Geest durch tiefen Sand von Tondern nach Leck, von Leck über Sollbrück nach Bredstedt, und nochmal mit großem Bogen von Bredstedt über Bohmstedt nach Husum. Daneben gab es noch einen Weg durch die Marschen, der aber nur während des kurzen Sommers passierbar war, im Winter nur bei Frost und dann kaum wegen der fußtief eingefahrenen Geleise: im Frühjahr und Herbst war der Weg bei ewig nassem Wetter ein bodenloser Morast; dazu ging er mit endlosen Krümmen und Kehren von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof. Etwas besser waren nur die Deiche. Übrigens fehlte es auch diesen Verhältnissen nicht an Lobrednern. Ich erinnere mich noch wohl, wie ein alter Schwager meines Vaters, der noch die Napoleonische Kriegszeit miterlebt und bei Sehestedt gegen die Schweden gefochten hatte, warnend die Stimme erhob, als der Chausseebau begann: haben wir erst die Chaussee, dann kriegen wir auch bald den Feind ins Land, das Militär und der Krieg folgt der Chaussee. Und in der Tat, kaum war die Chaussee da, da kam auch der Krieg von 1864 und brachte richtig die Preußen und Österreicher auch nach Langenhorn.

Natürlich gab es bis dahin in Langenhorn auch keine Postanstalt, so wenig als in den übrigen Dörfern: die Post in Bredstedt war die einzige in der Landschaft. Die dort ankommenden Briefe wurden abgeholt oder durch Privatgelegenheit an den Empfänger befördert. Eine Art von Ersatz für den öffentlichen Briefträger bot ein altes Ehepaar in unserer Nachbarschaft, das erst einmal, später zweimal die Woche nach Bredstedt ging und wie andere Besorgungen, so auch Briefe hin und her mitnahm und im Ort austrug, das Stück für einen Schilling, später für vier Schilling (dänisch). Ich bin oft bei den Alten gewesen, der Vater hatte einen verhältnismäßig starken Postverkehr. Oft habe ich auch Geld hingetragen; es wurde in versiegelten Beuteln geschickt,[21] die die Mutter nähen mußte, Postanweisungen waren eine unbekannte Sache; sie hatten, da es nur Silbermünzen gab, manchmal ein recht ansehnliches Gewicht. Die ersten Goldmünzen habe ich erst mit 15 Jahren gesehen, es waren preußische Friedrichsdor, die der Vater in Zahlung für Vieh nicht gern annahm; ebenso wurden die dänischen Reichsbankzettel, die in den 50er Jahren auftauchten, mit Mißtrauen betrachtet und möglichst bald wieder fortgeschafft. Am meisten standen die alten Speziestaler in Ansehen: dänische Doppeltaler im Wert von 4,50 Mk. Solche in stattlichen Beuteln im Schrank wohlverwahrt zu wissen, war der Stolz altmodischer Bauern. Irgendwelche regelmäßige Wagenverbindung besaß der ansehnliche Ort überhaupt nicht; erst die Chaussee brachte den »Wochenwagen«, der zwischen Husum und Niebüll ein- oder zweimal die Woche fuhr. Und erst die Preußen brachten die Postanstalt. Jetzt hat der Ort zweimalige tägliche Briefbestellung; fünf Züge bringen täglich in einer halben Stunde nach Husum, in vieren nach Hamburg, in acht nach Berlin; und ein Omnibus fährt durch das ganze Dorf, um den Verkehr mit dem Bahnhof zu vermitteln. Der Postverkehr wird in einer Woche jetzt mehr Sendungen bringen als damals in einem Jahr.

Die Folge von alledem war eine Abgeschlossenheit des Lebens, von der man sich heutzutage kaum eine Vorstellung zu machen imstande ist. Das Dorf oder vielmehr die Kirchgemeinde, die mehrere über etwa zwei Stunden zerstreute Dörfer zur Einheit zusammenfaßte, bildete einen durchaus in sich geschlossenen Lebenskreis. Die Erwachsenen kannten noch die größeren Bauern aus den friesischen Nachbardörfern im Süden und Norden, die Jugend sah nicht über die Grenzen der Heimatsgemeinde, wie sie allsonntäglich um die Kirche sich sammelte, hinaus. Fremde kamen selten ins Dorf; war einer städtisch gekleidet, erkennbar an weißem Halskragen und offener Weste, hatte er »Weiß vor der Brust«, so wurde er mit einiger Scheu von uns betrachtet und durch Abziehen der Mütze geehrt, denn er hatte die Vermutung für sich, ein Pastor aus einem Nachbardorf oder ein Beamter aus der Stadt zu sein; die Einheimischen trugen die Weste geschlossen und ein Tuch um den Hals.

Nur mit dem eine Stunde südlich gelegenen Bredstedt, dem Mittelpunkt der gleichnamigen Landschaft, war der Verkehr ein etwas regerer; es war der Markt und der Sitz des Postmeisters, des Landvogts und des Aktuars. Hierher wurden die Erzeugnisse der Landwirtschaft,[22] soweit sie nicht an Ort und Stelle verzehrt oder abgesetzt wurden, zu Markt gebracht, von hier die notwendigen Geräte und Waren geholt. Es gehört mit zu meinen frühesten Erinnerungen, daß ich mit dem Vater auf einem mit Kornsäcken beladenen Wagen die langen Landwege nach Bredstedt gefahren und dort bei Kaufleuten, Käufern und Verkäufern eingekehrt bin, gelegentlich wohl auch auf einem Gang in das Bureau des Landvogts oder des Aktuars und Steuereinnehmers ihn begleitet habe. Ich war nicht wenig stolz, wenn der Herr fragte: ob ich der Sohn sei? und ein freundliches Wort an mich richtete.

Was die politischen Verhältnisse anlangt, so erfreute sich die Westküste des Herzogtums Schleswig im Grunde tiefer Ruhe. Der Krieg von 48–50 hatte sich fast ganz an der Ostküste abgespielt. Die friesische Bevölkerung war selbstverständlich deutsch gesinnt, sie hatte an dem Krieg Anteil genommen, doch ohne großen Enthusiasmus, wie sie denn auch von irgendwelcher dänischen Bedrückung nichts gewußt hatte. Nach der Wiederherstellung des Friedens fügte man sich ohne Schwierigkeit in die alten Verhältnisse; man hatte die Erinnerung, von den Preußen verlassen und verraten worden zu sein, und die Empfindung, daß im Grunde Schleswig durch Geschichte, Gesamtcharakter und Verkehr mit Dänemark zusammengehöre. Mein Vater lebte ganz in dieser Empfindung, Friedrich VI. war der König, unter dem er aufgewachsen war, den er in der Jugend öfter gesehen hatte; auch Christian VIII. war noch ganz und gar der angestammte Landesherr, freilich hätte er den »offenen Brief« von 1846 nicht schreiben sollen: damit sei der erste Zwiespalt zwischen deutschen und dänischen Untertanen entzündet worden. Nur von Friedrich VII. hielt er nichts. Trotzdem hörte er nicht auf, die Verbindung mit Dänemark als natürlich und gegeben zu empfinden. An eine Trennung von diesem Lande, mit dem das Herzogtum Schleswig seit grauer Urzeit eng verknüpft gelebt hatte, gar an eine Angliederung an Preußen, das ferne und ungeliebte, dachte in den 50er Jahren in diesen Kreisen niemand. In Holstein lagen die Dinge schon etwas anders, aber die Eider bildete damals noch eine sehr tief einschneidende Grenze. Auch in den Städten und im Osten, vor allem in Angeln, wurde anders empfunden. Aber die Bauernbevölkerung der friesischen Westküste lebte im ganzen in tiefem politischen Frieden.

Und man muß gestehen, es geschah von dänischer Seite kaum etwas, das geeignet gewesen wäre, diesen Frieden zu stören. Dänische Münze[23] wurde eingeführt, die alten lübschen und hamburgischen Schillinge und Sechslinge verschwanden, das war aber auch fast das einzige, woran der gemeine Mann den Wechsel spürte; und schließlich, den entsetzlich verschlissenen Schillingen, womit Hamburg die Herzogtümer überschwemmt hatte (sie gingen in großen Tüten um, die aber immer erst nachgezählt werden mußten, weil regelmäßig einige fehlten und falsche Mecklenburger dabei waren) nachzuweinen, hatte man auch keinen Grund. Dabei blieb die Rechnungsmünze die alte, für Vieh und Dienstbotenlohn der Hamburger Taler (3,60 Mk.), für Land und Korn die Hamburger Mark (zu 16 Schilling = 1,20 Mk.). Schikanen, wie sie möglich gewesen wären durch »Mißverständnis«, indem man dänische Reichstaler (2,25 Mk.) oder Reichsmark Pf (37 Pf.) verstanden zu haben vorgegeben hätte, kamen an der Westküste gar nicht vor, wohl an der Ostküste.

Im übrigen blieb Verwaltung und Sprache dieselbe. Die alte Selbstverwaltung der friesischen Bauerngemeinden wurde nicht angetastet; die alten Namen und Funktionen blieben, der »Vollmächtiger« als Gemeindevorsteher, die »Zwölfe« als Kirchspielskollegium, das den »Vollmächtiger« und die übrigen Gemeindebeamten wählte; die »Bauervögte«, die in den einzelnen Dörfern die Polizeiverwaltung hatten usw. Der »Landvogt« in Bredstedt, der das Gericht hielt, war ein Einheimischer, der Bruder des Propstes Caspers in Husum. In schwereren Fällen war die Urteilsfindung bei dem alten »Bondengericht«, zwölf Bauern aus der Landschaft, die ihr Amt, wenn ich mich nicht irre, als lebenslängliches innehatten Nur der Aktuar, der die Polizei- und Steuerverwaltung hatte, war ein Fremder oder wurde wenigstens als »dänischer« Beamter gehaßt, übrigens mehr um seiner Sportelgier als um seiner Gesinnung willen. Wenn ich noch den Amtmann in Husum, der auch ein Deutscher war (Johannsen), und den Propst Caspers nenne, so sind das alle Beamten, von denen ich gehört habe. Amtmann und Propst kamen jährlich im Sommer einmal in das Dorf zur Kirchen- und Schulvisitation, wobei zugleich alle Gemeinderechnungen revidiert wurden. Ein Festmahl, das die Frau Hauptpastorin auszurichten hatte und bei dem das ganze Kirchen- und Gemeindekollegium mitbewirtet wurde, war die Krönung des Festes. Doch ich vergesse: in den ersten Jahren nach dem Krieg, es wird 52–53 gewesen sein, hatten wir auch einen dänischen Gensdarmen im Ort; er hatte seine Wohnung in einem einsamen Bauernhof eine Stunde[24] vom Dorf und ließ sich möglichst wenig sehen. Daß er jemand Verdruß gemacht habe, erinnere ich mich nicht gehört zu haben. Doch weiß ich noch, daß mir einmal ein älterer Junge plötzlich die Mütze vom Kopf riß und sie versteckte mit dem Ausruf: »Der Gensdarm kommt«; an der Mütze war eine blau-weiß-rote Troddel, die »Rebellenfarbe«. Im übrigen bin ich auf das »dänische« Regiment während der 18 Jahre, die ich unter dem Szepter der dänischen Könige gelebt habe, kaum irgendwo gestoßen. Die dänischen Farben, den Danebrog, das weiße Kreuz im roten Feld, habe ich in meinem Heimatsort überhaupt niemals gesehen; es wurde kein Königsgeburtstag gefeiert, auch in der Schule ist der Tag niemals erwähnt worden. Dänische Soldaten oder vielmehr Uniformen, denn es steckten Landeskinder darin, habe ich zum erstenmal, ich glaube in meinem 13. Lebensjahr, in Flensburg gesehen; hier begegnete ich auch den dänischen Farben zuerst, und zwar kleinen Fähnchen auf den Gräbern der dänischen Gefallenen von 1848–50 auf dem Kirchhof. Und auch die ersten dänischen Laute werde ich hier gehört haben, wenn nicht etwas früher auf einem Pferdemarkt in Handewitt, wohin Onkel Ipke mich einmal mitgenommen hatte.

Sonst lebten wir ungestört im Gebrauch unserer alten angestammten Sprachen: das Hochdeutsche, die Sprache der Kirche, der Schule und des Staates, das heißt im schriftlichen Gebrauch, denn im mündlichen Verkehr bedienten sich die Beamten wohl auch des Plattdeutschen; Plattdeutsch die Sprache der Stadt, des Marktes und in wachsendem Umfang auch der Familie; Friesisch die alteinheimische Sprache der Bevölkerung, die aber nur Haus- und Dorfsprache war. Eine Literatur hat sie nie gehabt, im öffentlichen Leben ist sie jedenfalls seit der Reformation nicht mehr gebraucht worden: erst war Platt-, dann Hochdeutsch die Sprache der Kirche und Schule und ebenso der Kanzlei. Es ist von der dänischen Regierung kein Versuch gemacht worden, in diese alte Ordnung einzugreifen. Die Danisierungsbestrebungen haben sich, soviel ich sehe, auf das Gebiet des alten Wettbewerbs beider Sprachen an der Ostküste beschränkt; die Eroberung oder Wiedereroberung der zwiesprachigen Städte und des der dänischen Sprache während der Zeit des Übergewichts deutschen Wesens verloren gegangenen Landgebiets, vor allem zwischen Schlei und Flensburger Föhrde, war das Ziel, das man, wenigstens zunächst, ins Auge gefaßt hatte. Selbst in Gemeinden, zu denen auch ein paar kleine dänisch sprechende Dörfer[25] gehörten, z.B. Enge, der Heimatsgemeinde meiner Mutter, hat man die alten Verhältnisse gelassen und keine dänische Predigt durchzusetzen versucht. Und in der Landschaft Bredstedt, zu der auch zwei dänische Kirchspiele (Joldelund und Viöl) gehören, haben zwar die dänischen Prediger in den deutschen Gemeinden mit großer Mühe deutsche Vakanzpredigten gehalten, ich habe sie selber gehört; unsere alten deutschen Prediger waren aber gewiß nicht in der Lage, durch dänisch gehaltene Predigten den Liebesdienst zu erwidern. Erst Pastor Thomsen, ein Angliter von Geburt, konnte dänisch; bei ihm hab' ich es gelernt, als ich meine Studien begann.

Die Sprache in meinem Elternhause war die friesische; ich habe sie mit meinen Eltern und Verwandten gesprochen, solange sie lebten; es macht mir noch heute keine Mühe, wenn ich in die Heimat komme, friesisch zu sprechen, wenn auch hie und da ein selteneres Wort sich nicht gleich einstellen will. Daneben gewöhnte sich das Ohr und die Zunge von klein auf an das Plattdeutsche; es war in nicht wenigen Familien Haussprache; wo eine plattdeutsche Mutter einzog, verschwand das Friesische alsbald als Umgangssprache; natürlich, jeder Friese kann auch platt, aber nicht umgekehrt: es kommt überhaupt kaum vor, daß ein geborener Plattdeutscher, ein Städter etwa, Friesisch sprechen lernt; selbst die plattdeutsche Dienstmagd trägt ihre Sprache ins Haus. Es ist daher kein Zweifel, daß die friesische Sprache in nicht ferner Zeit an der Westküste Schleswigs ausgestorben sein wird. Der Verlust wird, abgesehen von dem, was die Sprachwissenschaft an altertümlichen Formen und Wörtern damit einbüßt, nicht zu groß sein; die friesische Sprache ist wirklich eine arme Sprache; das heißt sie ist reich an Ausdrücken für alle sinnlichen Dinge, die in dem Umkreis des bäuerlichen Lebens liegen; für Tätigkeiten und Zustände, Dinge und Geräte aus jener Anschauungswelt hat sie einen sehr reich entwickelten Wortschatz, so daß man bei der Übersetzung in die deutsche Buchsprache beständig zu Umschreibungen genötigt ist. Aber für die geistige Welt ist man immerfort genötigt, Anlehen beim Deutschen zu machen, wie es denn ja auch das Plattdeutsche nicht vermeiden kann.

Das Hochdeutsche habe ich wohl erst in der Schule sprechen gelernt; verstehen und lesen konnte ich es schon früher. Sichere Fertigkeit habe ich kaum erreicht, ehe ich es als Achtzehnjähriger auf dem Gymnasium in Altona täglich mit den Mitschülern zu sprechen genötigt war. Mein Vater hat es sein Lebenlang ungern gesprochen, er pflegte auch mit[26] Hochdeutschredenden plattdeutsch zu sprechen; er verstand vollkommen Hochdeutsch und schrieb es ganz gut, aber es war der Zunge nicht geläufig geworden, wogegen die Mutter mit der leichteren Zunge der Frau sich noch in späterem Alter leicht dazu bequemte; nur mit mir konnte sie es nicht sprechen: es wäre ihr gewesen, als ob sie zu einem Fremden redete. Daher meine Frau und Kinder, wenn wir später bei den Großeltern zum Besuch waren, oft in Verlegenheit kamen, wenn das Friesische bei Tisch oder sonst durchbrach.

Der Vorstellungskreis des Elternhauses, wie er in der Unterhaltung zutage trat, bewegte sich natürlich zunächst um die Angelegenheiten des häuslichen und wirtschaftlichen Lebens. Mit Besuchern, die sich nicht selten einstellten, mit den Verwandten, mit denen man öfters am Sonntagnachmittag zusammenkam, wurden vor allem die Verhältnisse der Landwirtschaft, des Viehstandes, der Aussichten für Korn- und Heuernte durchgesprochen, selbstverständlich auch das Wetter, das für den Landbewohner und gar für den Landwirt eine so unermeßlich große Bedeutung hat: für den Städter ist es bloß eine Sache größerer oder geringerer Annehmlichkeit, für den Bauer ist es die Lebensfrage! Das ganze Gedeihen des Hauses, die Frucht langer und mühevoller Arbeit hängt davon ab. An diese Dinge schlossen sich die Gemeindeangelegenheiten, Dorf und Wege, Koog und Deiche, Kirche und Schule. Der Vater stand mitten in diesen Dingen drin und hatte ein lebhaftes Interesse dafür. Er besprach sie gern und eingehend mit sachkundigen Leuten; vor allem war es ein Nachbar, Carsten Oldsen, der oft auf eine Abendstunde herüberkam, ein sehr einsichtiger, ruhiger und rechtschaffen denkender Mann, mit dem man gern über alle Dinge des öffentlichen Lebens sich unterhielt. Ich habe ihm später oft über die politischen Vorgänge in Berlin, über Bismarck und den alten Wilhelm berichten müssen. Der Vater hatte für die politischen Dinge weniger Teilnahme, wo er nicht wirken konnte, hörte auch sein Interesse auf; um Parteien und Parteifragen kümmerte er sich nicht im mindesten. Der Staat war ihm der König; wie er denn bis an sein Ende nicht aufhörte, Staatseigentum, Land oder Gebäude als »Königs« zu bezeichnen, was in meinen jugendlichen Tagen von meiner Seite wohl einmal den Versuch unzeitgemäßer Belehrung hervorrief.

Anders stand es mit den religiösen Dingen, für sie war in dem ganzen Kreise der väterlichen wie der mütterlichen Verwandtschaft ein sehr lebhaftes Interesse vorhanden. Die Mutter liebte es auch, sie in den[27] Kreis des Gesprächs zu ziehen, wie sie denn etwas Lehrhaftes und wohl auch Bekehrungseifriges in ihrem Wesen hatte. Der Vater dagegen war in diesem Punkt zurückhaltend, ja verschlossen, die innerlichsten Dinge bringt man nicht über die Lippen; ich erinnere mich kaum irgendeines Gesprächs über religiöse Dinge, an dem er sich aktiv beteiligt hätte; er ließ es geschehen, sah es auch nicht ungern, aber er sprach sich selber nicht aus. Und nicht anders hielt er es mit sittlichen Lebensfragen; sie bewegten ihn wohl innerlich, er konnte sich auch schriftlich darüber äußern, nicht aber mündlich; ein der Scham verwandtes Gefühl mochte ihm die Lippen schließen, während die Mutter auch hier leicht zum Worte war, auch ihr Urteil über andere nicht ängstlich zurückhielt.

Literarische Gegenstände, Theater, Musik, Kunst, Dichtung und was sonst das Hauptgericht auf der Tafel großstädtischer Geselligkeit bildet, fehlte natürlich ganz, es kam einfach im Vorstellungskreis nicht vor. Gelesen wurden nur ernsthafte Sachen, die es mit dem Wirklichen zu tun haben; alles, was die Engländer fiction nennen, wurde auch grundsätzlich verschmäht. Es gab auch damals Frauen in Langenhorn, von denen man sagte, daß sie »Geschichten« (Romane) läsen; es kam meiner Mutter unbegreiflich vor, wie jemand seine Zeit mit dem Lesen von »Geschichten, die nicht wahr sind«, hinbringen könne. Gar plattdeutsche Geschichten und Erzählungen, wie sie in der Zeitung gelegentlich vorkamen, fand sie unaussprechlich läppisch: so was haben wir ja alle Tage zu Hause auch, und dabei kann es nicht einmal »richtig« geschrieben werden. Ihre Lektüre bewegte sich so gut wie ausschließlich im Kreis religiöser Stoffe: immer zur Hand waren Bibel und Gesangbuch und ihre Erbauungsbücher, von denen sie eine recht ansehnliche Zahl, namentlich Predigtbücher, zusammengebracht hatte. Mein Schrecken darunter war eine Postille von dem alten Angst Hermann Francke, den sie besonders hochschätzte; ich mußte an Sonntagnachmittag, wenn die Kameraden draußen spielten, eine Predigt vorlesen, das heißt es war nicht gerade Gebot, aber es war der stille Wunsch, dem ich mich ungefähr ebenso ungern entzog als fügte. Wurde nun der dicke Quartband von Francke geholt, dann kam ich gewiß nicht unter einer Stunde frei, es konnten auch anderthalb werden, das 18. Jahrhundert hatte Zeit und hielt darauf, daß seine Prediger ihr Brot nicht müßig aßen. Ich versuchte daher wohl die Wahl auf einen jüngeren zu lenken, L. Hofacker oder L. Harms in Hermannsburg, der später[28] durch seine Missionsarbeit ihre Gunst vorzüglich gewonnen hatte: ich liebte ihn keineswegs, aber er tat's doch mit einer halben Stunde. Der Vater las daneben nicht ungern geschichtliche und geographische Darstellungen, von denen er eine kleine Auswahl besaß. Ein seltenes Fest war es, wenn er in meinen ersten Knabenjahren einmal die Karte von Europa aufrollte und mir die Länder und Städte zeigte. Zuweilen geschah es auch, daß ich ihn dahin brachte, von Napolen zu erzählen: es war die große Erinnerung seiner Jugendjahre, wie der Gewaltige erst alle Länder Europas niedergeworfen hatte und dann auf den Eisfeldern Rußlands von einem Stärkeren überwältigt worden war. Auch Friedrich der Große und Peter der Große fanden sich in kleinen Volksdarstellungen in unserem Bücherschatz, ich hab sie mehr als einmal gelesen. Eine dänische oder schleswig-holsteinische Geschichte besaßen wir nicht, so wenig als eine deutsche oder Weltgeschichte. Dafür aber mehrere Geographiebücher; eines behandelte die dänische Monarchie; die ausführliche Darstellung von Island, Grönland und den Faröern machte es mir besonders wert. Später hat der Vater manches Geschichtsbuch und auch wohl eine populäre naturwissenschaftliche Darstellung, die ich mitbrachte, gelesen. Er war für jede Belehrung über die Wirklichkeit bis in sein Alter hinein empfänglich. »Geschichten« dagegen, Romane, Erzählungen, Dichtungen hat auch er sein Leben lang nicht gelesen, es sei denn John Bunyans Pilgerreise, die einmal in winterlichen Abendstunden gelesen worden ist: ihr lehrhaft-erbaulicher, nicht ihr poetischer Charakter verschaffte ihr Beifall.

Dennoch ist mir manches von Unterhaltungslektüre in die Hände gekommen. Das erste ein Robinson Crusoe; die Frau des Buchbinders in Bredstedt, der auch für alle literarischen Bedürfnisse der Landschaft sorgte, hatte das Heftchen meinem Vater als Weihnachtsgeschenk für mich mitgegeben, ich weiß nicht, ob für Geld oder aus gutem Herzen. Ich habe in meinem Leben nicht viel Bücher mit solcher Leidenschaft gelesen; es steht mir noch mit seinem grauen Papier und den paar bunten Holzschnitten vor Augen. Wenn ich ein Stück gelesen hatte, mußte ich, ich mochte wohl 7 oder Jahre sein, erst in die Dreschtenne gehen und den Knechten erzählen, wie es Robinson nun weiter ergangen sei. Ich hatte überhaupt einen starken Mitteilungsdrang; so erinnere ich mich, daß ich auch Onkel Ketel, meinem sehr geliebten Mutterbruder, wenn wir unterwegs waren, das Vieh draußen auf entfernten Weiden[29] zu besehen oder umzuquartieren, allerlei Geschichten erzählt habe, die mir irgendwie in die Hände gekommen waren, vielleicht durch eine zirkulierende Lesebibliothek, die mein erster Lehrer eingerichtet hatte. Sammelte der Vater daraus landwirtschaftliche Kenntnisse, so war ich für die Erzählungen empfänglich, die in Volkskalendern und anderen ähnlichen Erzeugnissen mit verfrachtet waren. Später kam durch meinen zweiten Lehrer, den Küster Brodersen, manches andere dazu: Jugendgeschichten, Naturwissenschaftliches und Geschichtliches, auch erste Stücke aus der deutschen und nordischen Literatur. Ich hatte eine große Leselust und habe mir oft mit einem Buch drinnen oder draußen ein verborgenes Plätzchen gesucht, um nicht entdeckt und zur Arbeit oder einem Gang gerufen zu werden. Ein Lindenbaum am Hause, in dem ich mir hoch oben in den Zweigen einen Sitz gemacht hatte, bot ein vorzügliches Versteck.

Eine Bemerkung über die kirchlichen Verhältnisse und das Verhältnis des Elternhauses zur Kirche mag diese Betrachtungen beschließen. Die Eltern waren beide kirchlich gesinnt und, der Vater wenigstens, regelmäßiger Kirchgänger; die Mutter wurde durch ihre große Körperschwäche viele Jahre vom Kirchenbesuch so gut wie ferngehalten. So war es selbstverständlich, daß auch ich jeden Sonntag in die Kirche ging, wo ich anfangs als Kind neben der Mutter, dann als Junge neben dem Vater meinen Platz hatte, bis ich später als Schüler der Küsterschule auf dem Schülerchor zu erscheinen hatte. Das innere Verhältnis zu unserer Kirche war dabei kein enges; unsere Prediger genügten dem religiösen Bedürfnis, namentlich der Mutter, nicht. Sie wußte es daher bei dem Vater durchzusetzen, daß er hin und wieder am Sonntag trotz der Abneigung, den Pferden den Sonntag zu nehmen, den Wagen anspannte und uns in eine Nachbarkirche fuhr, wo ein durch Wärme und inneres Leben ihr mehr zusagender Prediger des Amts waltete. So sind wir öfters erst nach Bargum, dann nach Ockholm gekommen, wo wir eine sehr merkliche Vermehrung der meist so gut wie leeren Kirche brachten. In der Tat waren die Prediger, die unserer Gemeinde in meinen Knabenjahren vorstanden, durch nichts hervorragend; der alte Hauptprediger, ein Rationalist dürftigen Zuschnitts, hatte auf gutes und bequemes Leben im Diesseits gesetzt; der Diakonus war ein Mann nicht ohne Eifer, aber ohne Begabung und persönliches Leben; seine Predigten kamen über allerlei Erinnerungen aus Katechismus und Dogmatik nicht hinaus. Trotzdem blieb damals[30] der Kirchenbeschin in der Gemeinde ein ziemlich regelmäßiger; die Sitte beherrschte daru iauch den Gleichgültigen und selbst den Widerwilligen. Erst nach 1870 ist das anders geworden. Seitdem konnte es geschehen, daß sich in der Kirche, die gegen 600–700 Personen faßte, nicht mehr als drei, vier Leute außer den paar gebetenen Besuchern einfanden. Die Prediger, von denen der eine unaussprechlich langweilig, ein anderer um seiner persönlichen Lebensführung willen unerträglich war, haben dazu das Ihre beigetragen. Aber ohne Zweifel hat auch ein großer Umschwung in der Sitte stattgefunden: das Band, das den einzelnen mit der Kirche als der geschichtlichen Lebensform verbindet, hat an Stärke sehr viel verloren. Der elterlichen Generation wäre ein Leben ohne Kirche noch undenkbar vorgekommen; von der jetzt heranwachsenden würde das Verschwinden der Kirche kaum noch als eine große Lücke in ihrem Leben empfunden werden. So rasch hat sich die Entfremdung gegen die Kirche auch auf die ländlichen Gemeinden eines an sich kirchlichen Landstriches ausgedehnt. Vor allem trägt dazu wohl der Umstand bei, daß das ganze Leben weltförmiger geworden ist, der gesamte Vorstellungskreis mit anderen Interessen sich erfüllt hat: die tägliche Zeitung, der Roman, die Vergnügungen, die Reisen haben die Kirche und den Sonntagsgottesdienst, die vor zwei Menschenaltern eigentlich noch die einzige Unterbrechung des Werktaglebens boten, entbehrlich gemacht. Denn darüber wird man sich freilich nicht täuschen, daß es auch damals nicht das persönliche religiöse Bedürfnis war, das die große Masse Sonntags in die Kirche führte.

Noch eines halte ich der Erwähnung wert: der Aberglaube ist meiner Jugend in jeder Gestalt fremd geblieben. Im Elternhause hatte er keinen Ort schon wegen seiner Unverträglichkeit mit dem religiösen Vorsehungsglauben. Und in der ganzen Umgebung machte die nüchterne, verständige, im besten Sinne aufgeklärte Denkweise der Bevölkerung ihm das Aufkommen schwer. Kleine Spuren eines Glaubens an Hexerei oder an Vorzeichen sind mir begegnet, aber sie spielten in keiner Weise eine Rolle: jedenfalls in unserer Gemeinde und in der ganzen bekannten Welt gab es keine Hexen. Und ebensowenig waren Abwehrmittel, Amulette und dergleichen gegen bösen Zauber oder gegen Krankheiten von Mensch und Vieh im Gebrauch. Auf Träume gab niemand etwas, und die böse Wirkung der Dreizehn war ebenso unbekannt. All diese Dinge hab' ich erst in dem aufgeklärten Berlin kennen gelernt. Ich erinnere mich wohl des Erstaunens, als ich eines[31] Tages in einem Restaurant mit ein paar Berliner Familien, die der Crème der Aufklärung, der freireligiösen Gemeinde, angehörten, zusammensaß und plötzlich eine der Frauen aufschrie: Herrgott, wir sind 13 am Tische. Im Augenblick stob alles auseinander, um das böse Omen noch abzuwehren, und setzte sich dann in kleineren Gruppen wieder zusammen. So sind mir auch Traumbücher erst in Berlin bekanntgeworden; sie liegen noch heute neben Liebesbriefstellern und Hintertreppenromanen in den meisten Papierläden zum Kauf aus und werden fleißig gekauft und benutzt, nicht allein von Dienstmädchen, die sich daraus über ihre Zukunft informieren. Und selten wird man, wenigstens in den kleinen Berliner Wohnungen, über die Türschwelle schreiten, ohne ein Hufeisen darauf angenagelt zu finden. Auch in unserer Küche finde ich regelmäßig da oder dort solchen Fund aufgestellt. Ebenso hab' ich das Bleigießen in der Neujahrsnacht erst in Berlin kennen gelernt. Und in welchem Umfang kluge Frauen, die aus Kartenlegen und Kaffeegrund Zukunftsforschung treiben, in der Metropole der Intelligenz Zuspruch finden, wird ja durch gelegentliche Gerichtsverhandlungen bekannt. Daß meine Hochachtung vor dieser Intelligenz durch solche Erfahrungen nicht gesteigert worden ist, brauche ich nicht zu sagen. Übrigens hängt die Sache wohl mit zwei Dingen zusammen: der östlichen Provenienz der Masse der Berliner Bevölkerung und der Ansammlung der höfisch-aristokratischen Welt. Daß diese für den Aberglauben in jeder Form eine spezifische Empfänglichkeit hat, dürfte in dem gesteigerten Selbstgefühl dieser Gruppe seine Erklärung finden; der Intimität mit den himmlischen Mächten, die der Intimität mit den allerhöchsten Herrschaften auf Erden zur Seite geht, entspricht der Glaube, daß die persönlichen Schicksale des einzelnen Wichtigkeit genug haben, um durch besondere Vorgänge (Vorzeichen) vorbedeutet und je nachdem durch besondere Kräfte und Machenschaften, als z.B. das Gesundbeten, beeinflußt werden zu können. Unser gesunder Bauernstand stand der Natur nahe genug, um nicht zu erwarten, daß so besondere Umstände mit ihm gemacht würden. Und durch verdrehte Literatur sich den Kopf zu verwirren, ließ ernsthafte Arbeit, der beste Schutz gegen fratzenhafte Gedankenverirrungen, nicht zu.

Quelle:
Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1910, S. 20-32.
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