Erste Kindheitserinnerungen

[16] Ein paar flatternde Bilder, wie sie das Gedächtnis in ziemlich zufälliger Auswahl aus den ersten Kinderjahren festhält, mögen sich hier anschließen.

In mein drittes Lebensjahr reicht meine erste Erinnerung zurück; sie verflicht mich zuerst mit dem Lande Baiern, zu dem ich später so viele Beziehungen gewinnen sollte. Es war im zweiten Jahr des deutschdänischen Krieges, 1849. Ein Regiment Baiern, das vom Osten kam, wurde zu einem Rasttag in Langenhorn einquartiert. Die Mutter hat mir später oft erzählt, welche Angst sie in Erwartung des zu Mittag angesagten fremden Kriegsvolks ausgestanden habe, um so mehr als der Vater zur Kirchenvisitation mußte, die an eben dem Tag stattfand; sie habe erst etwas Mut gefaßt, als sie mich ganz harmlos unter die fremdartigen Gestalten mich habe mischen und sie gegen mich sehr zutunlich und freundlich sich benehmen sehen: sie hätten mich auf den Arm genommen, in die Höhe gehoben und ihren kleinen Friedrich den Großen genannt. Die Erinnerung der Mutter kehrte öfters zu jenem Tag zurück: wie das seltsame Deutsch der Leute ihr Schwierigkeiten gemacht habe, sie sprächen ja gar nicht Deutsch, wie es geschrieben werde; wie der fette Mittagstisch, der ihnen bereitet stand, nicht recht ihren Beifall habe finden wollen, sie hätten den guten Speck nicht essen können, aber ihn eingewickelt, um ihn dann kalt zu speisen; und Ähnliches. Ich erinnere mich bestimmter Vorgänge und Situationen, die mir nicht erzählt sein können. Auch der Zapfenstreich, zu dem ich mitgenommen wurde, hat mir Eindruck gemacht, zwar nicht die Musik, wohl aber die große Trommel, die ich für einen Braukessel ansah, es kam mir wunderlich vor, daß große Leute darauf so herumhämmerten.

Aus dem folgenden Jahr ist mir ein anderes in Erinnerung. Ich bin draußen in unserm Garten; da höre ich von Zeit zu Zeit einen dumpfen Knall; es sind Kanonenschüsse, sagt man mir: bei Friedrichstadt fand im Herbst 1850 das letzte, nun längst sinn- und ziellose Ringen unserer Krieger mit den Dänen statt, vor der Einsargung der Herzogtümer durch die deutschen Großmächte.

Ein friedliches Bild taucht neben dem kriegerischen auf. Es ist ein Winternachmittag; in der blauen Wohnstube sitzen die Mutter und das Mädchen spinnend in der Nähe des Ofens; der Vater hat seinen Platz[17] bei seinen Papieren am großen Tisch an der Fensterwand. Ich tummle mich als unruhiger Geist in der Mitte, bald auf einem Stecken reitend, die Elle diente mir als Steckenpferd, bald auf dem Fußboden den Sand zu einem Häuschen zusammenkehrend und mit dem Fingerhut der Mutter Kuchen backend; dann klettere ich hinter der Mutter auf ihren Stuhl und schlinge ihr ein Tuch um den Kopf, wie ich es bei Halligfrauen gesehen hatte. Der ewig rege Tätigkeitsdrang des Kindes kann nur von einer Mutter ertragen werden.

Und wieder sehe ich mich im Bett liegen, der kleine Tisch steht davor, und an ihm sitzt die Mutter und schneidet mir aus Papier Pferde und Kühe, Schafe und Schweine aus. Ich war ihr blutüberströmt ins Haus getragen worden: das Pferd eines Nachbars, an das ich von hinten mit der Gerte herangetreten war, hatte mich mit dem Huf ins Gesicht geschlagen; die Oberlippe war ganz zerrissen, und an der Stirn war eine Wunde. Man hatte gleich angespannt und mich zum Doktor in Bredstedt gebracht, wo der Schaden geflickt wurde. Von alledem weiß ich nichts, wohl aber davon, daß ich nun im Bett lag und von der Mutter in der angedeuteten Weise getröstet wurde. Ich hatte zugleich einen kleinen Tuschkasten mitgebracht erhalten und malte nun die weißen Tiere rot und schwarz und blau an. Wenn man ihnen die Beine auseinanderspreizte, konnten sie trefflich stehen und gaben viel Beschäftigung. Später schnitt ich sie mir selber mit der Schere aus und kam so zu herdenreichem Besitz.

Ein andermal liege ich auf unserer Süderwerft in der Sonne: Mit einem alten Messer werden kleine Gräben im Rasen ausgehoben und Hecktore aus dicken Schwefelhölzern geflochten und eingesetzt. Die so entstehenden Fennen werden dann mit bunten Flintsteinen, gelben, blauen, weißen und schwarzen besetzt, die der Großvater mir von Stollberg mitgebracht hat: das sind nun meine Pferde und Kühe.

Und nun ist es Weihnachten. Lange ist davon gesprochen worden, daß das »Kindjen« dann vom Himmel herabkommt und die artigen Kinder beschenkt. Ich habe meine kleinen Gebetchen gelernt, vielleicht auch die zehn Gebote und das Vaterunser. Am Nachmittag habe ich meinen Teller vor dem Fenster im »Pesel« aufgestellt. Nun sitzen wir abends am Tisch, der Reisbrei, das Weihnachtsgericht, ist gegessen, das Evangelium gelesen und ein Weihnachtslied gesungen: da, horch, ein Klingeln, leise beginnend, stärker anschwellend, eine Pause, ich sage meine Gebete mit beklommener Stimme, es klingelt nochmals, und[18] dann ist's ganz still. Mit stockendem Atem öffne ich die Tür zum Pesel, da steht im Schein eines Lichts mein Teller, voll von Kuchen und Äpfeln und Nüssen, obenauf ein Reiter, aus weißem Teig gebacken, Sattel und Zeug mit allen Farben angestrichen. Und neben dem Teller liegt wohl auch noch ein Tüchlein oder eine kleine Peitsche, oder ein Messer und eine Gabel, ganz klein und zierlich, eigens für meine Kinderhand gemacht. Kein Tannenbaum, und sei er noch so reich geschmückt und behangen, kann größeren Eindruck machen, als dieser geheimnisvolle Vorgang auf mein Kindergemüt gemacht hat; ich kann die ängstlich gespannte, feierliche Stimmung noch heute nachfühlen, die mit den rätselvollen, an Glockenklang erinnernden Tönen über mich kam. Für die Prosabetrachtung war es die Magd, die an die Wände des Küchenmörsers klopfte und dann durch das geöffnete Fenster ihre Schürze auspackte.

Zu Weihnachten 1849 wird es gewesen sein, daß ich eine Fibel neben meinem Teller fand; ich erinnere mich ihrer Bilder, des blauen Walfisches und des gelben Wickelkindes noch wohl. Wann ich begonnen habe, unter Leitung der Mutter die Buchstaben zu studieren, weiß ich nicht; vermutlich haben mir die krausen Zeichen nicht lange Ruhe gelassen. Jedenfalls konnte ich, als ich im fünften Jahr in die Schule kam, fertig lesen.

Auch die ersten Besuche der Kirche gehen in frühe Jahre zurück. Ich hole der Mutter aus dem Garten ein Sträußchen Rosen und Lavendel, sie legt sie mit dem weißen Taschentuch auf das Gesangbuch, nimmt mich an die andere Hand, und wir wandern den Steig zur Kirche hinauf, von wo die Glocken uns schon entgegenklingen. Ich sitze neben ihr auf der lehnenlosen Bank und warte der Dinge, die da kommen sollen. Die Orgel beginnt, ich lasse sie mir wohl gefallen; dann steigt ein schwarzgekleideter Mann auf die Kanzel und beginnt zu reden, was ich nicht verstehe, eintönig und anhaltend, ich werde müde und nicke ein, und die Mutter hat Mühe genug, mich auf der Bank zu halten. Noch ein anderes Bild taucht in verschwimmender Anschauung auf: Der kleine Tisch, in dessen Schublade ich meine Spielsachen hatte, steht nicht an seinem gewohnten Ort in der Stube, sondern im Pesel, wo ich ihn aufsuche, meine Sachen zu holen, und darauf liegt aufgebahrt im weißen Kleidchen ein kleiner Leichnam, mein erstes Brüderchen, das bei der Geburt gestorben ist. Deutlich erinnere ich mich dagegen, wie beim Begräbnis des letzten die Frau Dr. Rickertsen ihre Kinder[19] und mich anstellte, Blumen und Grün auf den Weg und das Grab zu streuen.

Ein letztes Bild und ich lasse den Schleier über die Kindheit fallen: Ich gehe zögernd an der Hand der Mutter zu einer Nachbarin, einen Strauß Blumen, es waren weiße Narzissen, in der andern Hand. Nicht zum Geschenk waren sie bestimmt, vielmehr handelte es sich um einen Raub, den ich zurückbringen mußte. Ein älterer Knabe hatte meine Augen auf die schönen Blumen im nachbarlichen Garten gelenkt und mir über den Zaun geholfen. Ich kam harmlos mit meinem Anteil nach Hause; die Mutter aber hatte die Herkunft der Blumen bald herausgebracht und nötigte mich sogleich zu dem beschämenden Gang. Die gute Nachbarin war gerührt und wollte sie mir lassen, aber dafür fand sie keineswegs die Genehmigung der Mutter, welche die Sache sehr ernst nahm.

Bis hierher etwa war die Darstellung geführt, die ich vor 30 Jahren gemacht hatte, um diejenige, die sich entschlossen hatte, meine Lebensgefährtin zu werden, in die geschichtliche Welt einzuführen, aus der ich stammte. Ich wollte zugleich sie vorbereitend mit denen bekannt machen, die damals alle noch lebten und in deren Kreis ich hoffte sie in kurzem einzuführen. Nun sind sie alle längst hinübergegangen, die, für die ich schrieb, und die, von denen ich schrieb. In dem Folgenden will ich nun zunächst einige Bilder aus der Umgebung skizzieren, in der ich mit wachsendem Bewußtsein meine Knabenjahre verlebt habe. Bald wird es eine völlig versunkene Welt sein, sie ist in schneller äußerer und innerer Umwandlung begriffen; vielleicht wird es eben darum nicht unerwünscht sein, aus dieser Welt von einem, der noch darin gelebt hat, etwas zu vernehmen.

Quelle:
Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1910, S. 16-20.
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