Meine beiden ersten Schulen

[80] Nach dem Bisherigen könnte der Leser fast auf die Vorstellung kommen, daß ich so ziemlich wie ein zweiter Rousseauscher Emil ohne Schule aufgewachsen sei. Dem war aber gar nicht so. Im Gegenteil, meine Schulzeit hat ungewöhnlich früh begonnen, schon in meinem fünften Lebensjahre wurde ich von der Mutter dem ersten Lehrer zugeführt. Die Ursache war, daß es ihr allzu schwer wurde, mich zu Hause zu hüten. Ein Kindermädchen zur ständigen Begleitung und Beaufsichtigung war nicht vorhanden; war nun die Mutter im Sommer oft allein zu Hause und durch die Wirtschaft ganz in Anspruch genommen, so konnte sie mich nicht immer im Auge behalten, und das um so weniger, als ich auf alle Weise strebte, ihrer Wachsamkeit mich zu entziehen, um die gewonnene Freiheit zu allerlei Freuden, vor allem jenen untersagten Wasserfreuden zu verwerten. Sie hat mir wohl erzählt, wie sie alle Türen des Hauses zugemacht habe, wie ich aber bald herausgebracht habe, auch unsere schwierigen quer-, nicht längsgeteilten Türen zu öffnen: ich habe die Klinke der oberen, von mir mit den Händen nicht zu erreichenden Türhälfte mit einem auf die Brust aufgestemmten Stock emporgehoben, dann mit beiden Händen die Klinke der untern Hälfte angefaßt und so mit allen Kräften ziehend die ganze Tür aufgebracht, dann habe ich mich eilig möglichst weit aus dem Gesichtskreis entfernt, um irgendwo Spielkameraden zu treffen.

Dem wurde nun also dadurch vorgebeugt, daß ich seit Ostern 51 wenigstens für sechs Stunden des Tages der Schule in Verwahrung gegeben wurde; denn der Anfang mit beschränkter Stundenzahl war damals noch nicht erfunden, wie man denn auch von Hygiene und Überbürdung noch nichts wußte. Ich hab während meiner ganzen Schulzeit von diesen Dingen nichts gehört. Selbst die Wissenschaft von den Pausen war noch so unentwickelt, daß es nur eine Pause vor- und nachmittags gab. Sogar auf dem Gymnasium in Altona, wo wir doch vielfach fünf Stunden vormittags hatten, gab es nur einmal eine Pause von einer viertel Stunde, sonst folgte eine Stunde der andern auf dem Fuße. Und von Hitzeferien wußten wir erst recht nichts. Wenn die Widerstandsunfähigkeit gegen Anstrengungen aller Art in gleicher Progression von Generation zu Generation abnimmt wie bei der letzten, dann möchte es noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts dahinkommen,[81] daß wir von Viertelstunde zu Viertelstunde mit dem Ergographen die Ermüdungsgröße und mit dem Thermometer die Zimmer- und die Bluttemperatur der einzelnen Schüler feststellen, auch den Puls fühlen und die Atmung kontrollieren und für jedes die Kurve aufzeichnen. Eine vortreffliche Aussicht für die Ärzte: wir werden dann mindestens ebensoviel Ärzte als Lehrer in der Schule brauchen.

Ich hab vom fünften bis zum sechzehnten Jahr zwei Volksschulen in Langenhorn besucht: die eine im Osten, die andere, die Küsterschule, im Westen, jede eine kleine Viertelstunde vom Hause entfernt. Eigentlich gehörten wir zur Küsterschule; und die Nachbarskinder gingen dahin. Die Eltern schickten mich aber gegen ein Extraschulgeld in die Osterschule, weil jene damals in recht übler Verfassung war; der Lehrer war ein Trunkenbold, der nirgends etwas leistete außer im Prügeln; wogegen der Lehrer in der andern Schule erst vor kurzem gewählt worden war und für einen recht tüchtigen Mann galt. Das letztere mochte vergleichsweise der Fall sein. Was ein wirklich tüchtiger Volksschullehrer zu leisten vermag, das habe ich erst bei dem zweiten Lehrer, Küster Brodersen, erfahren, zu dem ich im elften Jahre in die Schule kam.

Meine erste Schule ist mir noch ganz gegenwärtig. In einem großen Raum war die ganze Schülerschar beisammen, von kleinen Kindern bis zu halberwachsenen Burschen und Mädchen: es galt bei uns in Schleswig-Holstein die Ordnung, daß Mädchen erst mit fünfzehn, Knaben mit sechzehn Jahren konfirmiert wurden und die Schule verließen. Die Einteilung der Gesamtheit in eine Ober- und Unterklasse war durch einen breiten Gang markiert, der den Raum halbierte. In der Oberklasse saßen wohl etwa 40–50 Knaben und Mädchen, nach Bänken getrennt, in der Unterklasse mochten 60–80 sein, Knaben und Mädchen in den Bänken durcheinander. So im Winter, im Sommer schmolz die Zahl auf die Hälfte und weniger zusammen. Der Unterricht geschah in der Weise, daß der Lehrer sich bald der einen, bald der andern Klasse widmete, meist natürlich der Oberklasse; währenddessen beschäftigte sich die andere Klasse still für sich, die Oberklasse z.B. mit Rechnen oder Schreiben, die Unterklasse vor allem mit Lesenlernen. Das Lesenlernen war damals noch eine ungemein schwierige Kunst, deren Erlernung in der Schule nach der alten Methode jahrelang in Anspruch nahm und von manchem, bei unregelmäßigem Schulbesuch war es[82] fast Regel, nie zu einiger Sicherheit gebracht wurde. Die Übung geschah in der Weise: es wurden Tabellen an Gerüsten, die an den Tischen befestigt waren, aufgestellt; je zwei oder drei Schüler hatten, mit einem »Untergehülfen« als Lehrer, der einen Stock als Zeiger in der Hand hielt, eine zusammen. Zuerst eine Tabelle mit den Buchstaben; dann kamen Syllabiertabellen, a–b: ab, b–a: ba usw.; endlich Tabellen mit Wörtern: a–p: ap, f–e–l: fel, Apfel. Hatte sich einer in ein, zwei Jahren, es konnten aber auch drei oder vier und mehr werden, durch die Tabellen durchgearbeitet, dann kam er in den Katechismus, zuerst den kleinen, hierauf den großen, um nun endlich die Frucht der Lesekunst zu genießen: das Auswendiglernen.

Ich konnte schon lesen, als ich zur Schule kam, und so fiel mir bald die Rolle des Untergehülfen zu: ich hab manche Stunde Jungen, die doppelt so alt waren, auf der Tabelle, mit dem Stab da- und dorthin zeigend, buchstabieren und syllabieren lassen, nicht immer ein dankbares oder angenehmes Geschäft: ein wenig Mißstimmung gegen den jugendlichen Besserwisser regte sich nicht selten, und sie wurde dadurch nicht geringer, daß mich der Lehrer wohl als rühmliches Vorbild hinstellte, wie es denn mit seiner pädagogischen Weisheit nicht immer zum besten bestellt war.

Ein Schultag verlief nun etwa so. Er begann morgens und endete abends mit gemeinsamem Gesang und Gebet der ganzen Schule. Gesungen wurde stehend, oft bis zur Erschöpfung, und nicht bloß im figürlichen Sinn: ich bin wiederholt eigentlich zusammengebrochen, Hitze, Anstrengung und vor allem die unbequeme Stellung (man stand mit gebeugten Knien eingeklemmt zwischen Tisch und Bank) brachten mir ein paarmal einen Ohnmachtsanfall. Dann folgte der Religionsunterricht, an dem wieder die ganze Schule teilnahm, die Unterklasse mehr passiv, womit übrigens der Oberklasse nicht eben eine bedeutsame Aktivität zugeschrieben werden soll. Die Aufgabe bestand darin, die gegebenen Formeln des Katechismus herzusagen und die aufweichenden Erklärungen des Lehrers zu wiederholen, dazu Sprüche aus der Bibel aufzusagen oder aufzuschlagen und vorzulesen. Unser Ausdruck für dieses Ganze war: »Examel halten«. Ich sehe noch den Lehrer in dem breiten Mittelgang auf und ab humpeln, er hatte ein kurzes Bein und hinkte stark, und höre ihn mit etwas dröhniger Stimme die Formeln vorsagen und wieder einfordern, in denen Sünde und Buße, Gnade und Erlösung, ewige Seligkeit und ewige Verdammnis[83] definiert wurden. Die ewige Seligkeit wurde uns als ein immerwährendes und immer wachsendes Vergnügen vorgestellt. Warum immer wachsend? Wenn sie gleichbliebe, gewöhnte man sich daran und hätte kein Vergnügen mehr daran.

Dann kam die Lesestunde: für die Kleinen das Buchstabieren usw., für die Großen das Bibellesen. Wer über die Tubalkain und Nebukadnezar ohne Stolpern hinwegkam, durfte schon immer ein wenig stolz auf seine Leistung sein. Eine besondere Übung war hier auch das Bibelaufschlagen: 2. Kor. 7 V. 14, oder 1. Makkabäer 5, 18: wer's am ersten hatte, durfte vorlesen. Was dort stand, war einerlei. Die Übung diente vor allem dazu, in der Reihenfolge der biblischen Bücher festzumachen.

Nach der Pause, in der erst die Mädchen, dann die Knaben entlassen wurden, folgte die Rechenstunde, wo natürlich wieder den verschieden Geförderten verschiedene Aufgaben gestellt waren, vom Zahlenlernen und Addieren bis zur Regeldetri und dem Wurzelausziehen. In der Oberklasse wurde ebenso wie in der Unterklasse die Sache rein mechanisch vorgemacht: So setzt man bei Lösung einer solchen Aufgabe an, dann macht man dies und dies, dann kommt es so heraus. Es handelte sich lediglich darum, mit dem Gedächtnis den Ansatz und die Folge der Operationen festzuhalten, ganz wie beim Lernen des Katechismus; ein Versuch, die innere Notwendigkeit zu zeigen, wurde nicht gemacht. Daher denn das immer wiederkehrende Vergessen: bei der Regeldetri, bei der Bruchrechnung, beim Wurzelausziehen, immer kehrte die Frage wieder: »Wie wird das aufgesetzt?« Hatte man das Schema, dann rechnete man darnach 40 oder 50 Aufgaben aus dem Rechenbuch, und der Lehrer kümmerte sich nicht weiter darum.

Mit dem Mittaggebet um elf Uhr war der ersehnte Schluß erreicht. Alles rannte in eiligstem Tempo nach Hause, denn ein Frühstück gab es nicht mit in die Schule. Wohl dem, dem der gedeckte Tisch bereit stand; da und dort hatte man aber noch nicht Zeit gehabt zum Kochen, da gab's dann lange Gesichter. Eine kleine Anzahl allzu entfernt Wohnender blieb übrigens über Mittag in der Schule und verzehrte ein mitgebrachtes Butterbrot. Seltsam genug, auch das eine Abwechslung, die auch ich bei schlimmem Winterwetter wohl einmal mitmachte und sehr reizvoll fand. So groß ist das Verlangen der Jugend nach dem »Anderen«.

Der Nachmittagsunterricht begann mit der Schreibstunde. Die Kleinen[84] schrieben auf die Schiefertafel, die Größeren nach Vorlagen, die ausgeteilt wurden, mit Tinte ins Buch. Die allein erlaubte Form der Feder war der Gänsekiel. Der Lehrer saß jeden Tag die erste Hälfte der Stunde und schnitt Federn, die von Zeit zu Zeit eingeliefert werden mußten, ebenso wie ein Tintenschilling. In der zweiten wurde das Geschriebene nachgesehen und verbessert. Aufregender pflegte die zweite Stunde zu sein: es war die Aufsagestunde: einmal in der Woche wurden die aufgegebenen Gesangbuchverse und Bibelsprüche oder der Katechismus abgehört, der Reihe nach, jeder kam dran. Und an jeden kam auch, bald öfter, bald seltener, je nach Begabung, für das Memorieren und aufgewendeten Fleiß die Reihe der Strafexekution. Bei manchem wußte man es vorher, er war stets unter denen, die sich ihre Last Prügel holten. Mit einer gewissen Spannung, gemischt aus Angst, Schadenfreude und der Aufregung, welche die Anwesenheit bei jeder schmerzlichen Operation gibt, sah man dem Augen blick entgegen, wo das Tau, ein dickes Schiffstauende, zum erstenmal in Wirksamkeit trat, um dann in der Regel bis zum Schluß der Stunde nicht mehr zur Ruhe zu kommen. Daß durch dieses Universalwerkzeug, es diente zur Abstrafung aller Sünden, die Fähigkeit, sich zu besinnen und das Gelernte hervorzubringen, gesteigert worden wäre, glaube ich nicht beobachtet zu haben; eher brachten Geschrei und Tränen der Heimgesuchten und Aussicht auf gleiches Schicksal wohl Assoziationshemmungen hervor, die auch den hereinfallen ließen, der unter heiterem Himmel mit seinem Vers glücklich durchgekommen wäre. Gerade die Fleißigen und Ängstlichen litten darunter, die Trägen waren bald so abgebrüht, daß es ihnen nicht mehr ausmachte als der Vorübergang einer Wolke vor der Sonne. Da ich früh lesen konnte, so kam ich früh unter diese Disziplin. Ich erinnere es selbst nicht, aber meine Mutter hat mir erzählt, daß sie mich als Kind einmal nachts im Bett habe weinen hören. Auf die Frage: was mir sei? habe ich geantwortet: ich solle morgen das »Was ist das« zum zweiten Artikel aufsagen und könne es nicht lernen; und dann seien mir schon wieder Schläge angedroht. Sie sei darauf zum Lehrer gegangen und habe ihm vorgestellt: er könne doch nicht von dem Fünfjährigen verlangen, was sonst Zehnjährige leisteten. Und so sei das Unwetter von meinem Rücken noch abgelenkt worden.

Ein andermal wurde die zweite Stunde zur Gesangübung verwendet. Auch das eine gefürchtete Stunde: zwar das Chorsingen machte keine[85] Schmerzen; aber dann kam das Einzelsingen: auch hier der Reihe nach, ob Gott Stimme und Mut dazu gegeben hatte oder nicht. Für manche war es die ärgste Pein, sich einzeln vor der ganzen Schule hören zu lassen und durch ihr Krähen sich dem Gelächter auszusetzen: nicht selten ließ sich einer eher abstrafen, als daß er einen Laut hervorgebracht hätte.

In dieselbe Stunde fiel wohl auch der deutsche Sprachunterricht. Es wurden Deklinations- und Konjugationsschemata hergesagt, Verhältniswörter mit dem zweiten, dritten und vierten Fall auswendig gelernt und vor allem anhaltend Sätze gebildet, mit denen die Rektion er Verhältniswörter eingeübt wurde: längs des Wassers liegt ein Stein; mittels des Essens werden wir satt usw. Ein Lesebuch besaßen wir nicht; wie wir denn auch kein Gedicht außer den verhängnisvollen Gesangbuchversen gelernt oder gelesen haben. Nur dessen erinnere ich mich, daß uns einmal »Johann der muntre Seifensieder« vorgelesen worden ist, der durch seine fröhliche Tonart einen gewissen Eindruck gegenüber dem grauen Einerlei des Gesangbuchs machte. Auch »Aufsätze« wurden gemacht, aber nur drei- oder viermal im Jahr, ein Brief oder eine Erzählung oder eine »Abhandlung«. Nach dem auf der Tafel jeder so viel oder wenig Sinn oder Unsinn, als er zusammenbrachte und zu Hause zusammenfragte, aufgeschrieben hatte, wurde dann die Musterleistung des Lehrers diktiert und in ein Buch eingetragen, das bei Prüfungen vorgelegt wurde. So erinnere ich mich noch einer Wendung: es wurde ein Brief geschrieben, der einem Freunde von der stattgehabten Kirchenvisitation erzählt; darin hieß es, daß uns der Visitierende »schon durch seinen schönen Namen Bischof Vertrauen eingeflößt habe«. Ich weiß nicht, ob das mir unbekannte Wort einflößen oder der ebenso unbekannte Name Bischof (es war der dänische, statt des deutschen Generalsuperintendenten), mir die Phrase im Gedächtnis festgebohrt hat.

Die letzte Stunde wurde für Geographie und Naturlehre verwendet. Der geographische Unterricht ging wieder vorzüglich auf das Auswendiglernen von Namen; in stereotyper Ordnung wurden Grenzen, Gebirge, Flüsse, Provinzen, Städte jedes Landes gelernt und aufgesagt; vorzüglich kamen Dänemark und Palästina in Betracht, wogegen ich mich Deutschlands nicht erinnere. Harz und Riesengebirge hab ich nie gehört, wohl aber Cote d'Or und Cevennen. Die 96 Städte des dänischen Reichs kriege ich wohl heute noch zustande. Auch die[86] physische Geographie kam vor, die Kugelgestalt der Erde und die Beweise dafür, die Einteilung durch Parallelkreise und Meridiane: wir mußten sie uns durch Einschneiden von Ringen auf einer Kartoffel verdeutlichen, denn ein Globus war nicht vorhanden. Überhaupt litten wir Mangel an Karten; hätte nicht der Vater ein paar alte gerollte Landkarten gehabt, auf denen ich fleißig alle Namen aufsuchte, so würde mir vieles noch wortmäßiger geblieben sein, als es so der Fall war. Die Naturlehre beschränkte sich auf das Vorsagen und Nachbeten einiger Definitionen von Eigenschaften der Körper: Elastizität ist diejenige Eigenschaft der Körper, vermöge welcher usw. Die Reproduktionskraft wurde uns als diejenige Eigenschaft bezeichnet, wodurch die lebendigen Körper von den toten sich unterscheiden; zur Veranschaulichung diente die Geschichte von König Christian II., der auf dem Schloß Sonderburg 22 Jahre gefangen saß und in einem Steintisch, um dessen Rand er mit aufgestemmtem Nagel herumzugehen pflegte, eine Rille eingeschliffen habe. Der Nagel hatte eben Reproduktionskraft, der Stein nicht.

Im Sommer wurde ein- oder zweimal ein Ausflug gemacht: dann durfte man dem Lehrer Pflanzen bringen und nach ihrem Namen fragen. Ob wir grade die botanisch richtigen erhielten, dafür möchte ich nicht einstehen. Übrigens kannten wir die, die uns was angingen, die Kräuter und Unkräuter, am Ende reichlich so gut als der Lehrer.

Wann ich in die Oberklasse gekommen bin, weiß ich nicht, es muß früh gewesen sein; dagegen erinnere ich mich noch wohl des Aufnahmeverfahrens. Es wurde eine Art öffentlicher Prüfung und Abstimmung vor der Oberklasse über die Würdigkeit zur Aufnahme abgehalten. Die Namen der Aspiranten wurden alle an die große Tafel geschrieben; darnach wurden die einzelnen vorgeführt: das Schreibheft wurde vorgezeigt, er mußte einen Abschnitt vorlesen, eine Aufgabe vorrechnen usw., in jedem Fach erhielt er ein Prädikat, das an die Tafel geschrieben wurde; aus der Klasse wurden Vorschläge dafür gemacht, der Lehrer schrieb an, was ihm angemessen schien. Dann wurde aus dem Ergebnis die Platzfolge ermittelt, und damit war der Akt beendet: man zog über den breiten Steig.

Damit trat man zugleich in den Kreis derer ein, aus denen für jeden Tag ein »Obergehülfe« ernannt wurde. Er hatte in Anwesenheit des Lehrers vor allem die Aufsicht über die Unterklasse zu führen, auf[87] Stille zu halten, nachzuhelfen, wo die »Untergehülfen« nicht weiterkamen; es war wohl etwas vom System Bell-Lancaster in das Seminar, auf dem der Lehrer seine Bildung empfangen hatte, durchgesickert. In Abwesenheit des Lehrers hatte der »Obergehülfe« seine Vertretung auch in der Oberklasse; und das war die weniger dankbare Aufgabe: er oder sie, denn die Mädchen waren natürlich nicht ausgeschlossen, hatte dann die Ordnung überhaupt aufrechtzuerhalten und Übertreter oder Übeltäter an die Wandtafel zu schreiben zu nachfolgender Züchtigung. Zu was für Konflikten der Pflichten nicht nur sondern auch der Fäuste dies gelegentlich führte, bedarf keiner Ausmalung. Und der Lehrer war oft abwesend; er ging häufig auf eine Viertelstunde hinüber, um sich zu rekreieren bei einer Tasse Kaffee oder einer Pfeife Tabak. Übrigens brachte er letztere sehr oft auch mit in die Schule, eine lange Weichselpfeife mit silberbeschlagenem Kopf; wenn sie ausging, z.B. über einer Exekution, dann zog er Stahl und Stein aus der Tasche und schlug sich Feuer. Wobei es am Preise des Schwammes nicht fehlte, er sei viel besser und zuverlässiger als die niederträchtigen neumodischen Zündhölzer, die damals eben aufzukommen begannen. Und dazu wurde eine Geschichte aufgetischt: ein Junge wurde einmal vom König gefragt: Wenn du König wärest, was würdest du dann tun? Herr König, dann würde ich immer Schwamm rauchen.

Der große Tag des Jahres war die Kirchenvisitation, zu der Propst und Amtmann aus Husum erschienen. Die vier Schulen der Gemeinde schickten jede ihre obersten Reihen, sie marschierten zuerst in der Kirche nach der Predigt in dem großen Mittelsteig auf und wurden hier von dem Pastor in der Kinderlehre vorgeführt, die der Propst Caspers bald selbst zu übernehmen pflegte, mit sehr viel mehr Geschick die Sache leitend als der Pastor. Nachdem der Kirchenakt mit einer mit eigentümlich schmetternder Stimme gehaltenen Ansprache des Propstes an die Gemeinde Langenhorn, das langgezogene -horn klingt mir noch im Ohr, geendet hatte, folgte die Schulprüfung. Die vier Lehrer führten nacheinander ihre Scharen ins Feld; in den ersten Jahren schnitten wir Oster-Langenhorner meist glänzend ab, unser Lehrer ging mit großer Zuversicht ins Gefecht, die sich uns mitteilte, während ein andrer, ein alter Mann mit weißen Haaren, von solchem Zittern der Hände und Stimme befallen wurde, daß er manchmal kaum ein Wort herausbrachte. Später, als jüngere Lehrer ins Amt[88] kamen, wendete sich die Sache, und unser Lehrer hatte gar nicht mehr Ursache, sich zu erheben. Namentlich geriet er bald gegen den neuen Küster, zu dem ich dann in die Schule kam, ins Hintertreffen. Die Prüfung bezog sich natürlich vor allem auf die Religion; wochenlang wurden hierfür Gesänge und Sprüche wiederholt, selbstverständlich auch der Katechismus mit großen und kleinen Erklärungen. Doch wurde auch aus den andern Fächern geprüft: Kopfrechnen, was unsere schwache Seite war, der Lehrer brachte selbst nichts fertig, wenn ihm eine Aufgabe aus dem Stegreif gestellt wurde; Geographie, wo wir mit den 96 Städten des dänischen Reichs und den 12 Stämmen Israels und ihren Sitzen desto mehr brillierten.

Genug von dieser meiner ersten Schule, die ich sieben Jahre lang besucht habe. Sie stellt im ganzen noch durchaus den Typus der Volksschule dar, wie ihn das 16. Jahrhundert geschaffen, das 18. ein wenig ausgebaut hatte. Das Lesen und Schreiben das große Hauptstück des Unterrichts, der Sachunterricht zumeist Religionsunterricht, vor allem Katechismusunterricht, mit viel Auswendiglernen. Unser »großer« Katechismus stammte noch aus der Aufklärungszeit; er begann mit der Frage: »Was wünschen wir Menschen vor allen Dingen?« Worauf die Antwort lautete: »Wir Menschen wünschen vor allen Dingen, vergnügt und froh zu sein.« Zu welchem Vergnügtsein dann in den folgenden 163 oder wieviel Sätzen mit großen und kleinen Anmerkungen der Weg gewiesen wurde: das Christentum der Weg, hier zeitlich und dort ewiglich glücklich zu werden. Daß dieser Unterricht irgendwelchen Eindruck gemacht habe, ausgenommen die peinlichen Eindrücke aus der Aufsagestunde, dessen entsinne ich mich nicht. Auch der Unterricht in den übrigen Fächern war der Form nach dem Katechismusunterricht nachgebildet: auswendig zu lernende Antworten auf auswendig gelernte Fragen. Pestalozzi war offenbar noch nicht in den Gesichtskreis des Seminars getreten, wo unser Lehrer seine Künste gelernt hatte.

Es war hohe Zeit, daß ich eine Schule verließ, die mir gar nichts mehr zu bieten hatte; ich hatte längst alles gelernt, was hier zu lernen war. Hätte ich noch vier Jahre, bis zur Konfirmation hier absitzen müssen, dann wäre wohl eine verhängnisvolle Stockung in meiner Entwicklung die Folge gewesen; und daß ich schon Primus der Schule war, hätte die Sache nur schlimmer gemacht.

Da trat zu meinem Glück die Erledigung der Küsterstelle und ihre[89] Besetzung durch einen Lehrer ein, dem ich vielleicht von allen meinen Lehren am meisten verdanke: Küster Brodersen.

Ich erinnere mich noch wohl seiner Wahl. Das Kirchspielskollegium hatte sie vorzubereiten, es präsentierte der Gemeinde drei Kandidaten. Die Stelle galt für eine gute; es gingen viele Meldungen ein, die mit den Zeugnissen bei den Mitgliedern des Kollegiums, den Zwölfen, zu denen auch mein Vater gehörte, zirkulierten. Auch fanden zahlreiche persönliche Vorstellungen statt. Die »Charaktere« wurden geprüft und drei Kandidaten mit dem »ersten Charakter« vorgeschlagen, unter ihnen Lehrer Brodersen, aus dem benachbarten Bargum stammend, seit einigen Jahren Lehrer in Oldensworth in Eiderstedt. Ein guter Ruf ging ihm voran, so daß er schon vor der Probe für so gut als gewählt galt. Ein junger Mann, das ernste, schmale, blasse Gesicht von einem dunklen Vollbart umrahmt, so trat er uns bei der Probelektion vor versammelter Gemeinde entgegen. Eine Probe im Orgelspiel in der Kirche war vorhergegangen; jetzt begann die Sache mit Gesang, es war nicht seine starke Seite, namentlich der eine unter den Mitbewerbern war ihm darin sehr überlegen. Desto besser ging es mit dem Unterricht, er hatte alsbald die sichere Führung der Schüler gewonnen. Und so wurde er mit großer Mehrheit gewählt.

Ich bin vier Jahre sein Schüler gewesen; und diese Jahre sind von entscheidender Bedeutung für meine geistige Entwicklung geworden. In ihnen hat sich der Erkenntnistrieb in mir entzündet, sind die Erkenntniskräfte so gewachsen, daß das Verlangen zu studieren als die natürliche Folge sich einstellte. Ich weiß nicht, ob ohne den Unterricht Brodersens der Entschluß jemals in mir gereift wäre; bis dahin war wohl kaum ein Gedanke an die Möglichkeit im Bewußtsein aufgestiegen.

Ich will mit ein paar Strichen den neuen Unterricht und seine Wirkung auf mich charakterisieren. Die äußeren Verhältnisse der neuen Schule waren im ganzen dieselben wie die der alten: die gleichen Schüler, das gleiche Schema der Unterrichtsgegenstände, die gleiche Tageseinteilung usw. Nur in einem Stück lagen die Dinge günstiger: es war die Teilung der Klassen auch äußerlich durchgeführt. Freilich nur durch eine hinterher in den Raum hineingezogene Wand, durch die eine Tür führte: die Unterklasse hatte ihren Eingang durch die Oberklasse. Aber es war für sie doch ein besonderer Lehrer, ein Präparand, vorhanden, der den Unterricht unter der Leitung des[90] Küsters selbständig erteilte, und auch das störende Zusammenunterrichten zweier Klassen in einem Zimmer, das wir freilich kaum empfunden hatten, kam in Wegfall. Vor allem aber, der Küster gehörte der Oberklasse ganz: er hatte sich nicht zwischen Kindern und Halberwachsenen zu teilen, sondern konnte sich ganz den Schülern der Oberstufe widmen, die erst nach einer Prüfung aufgenommen wurden. Es waren ihrer etwa 40–80 Knaben und Mädchen; auch hier war der Unterschied der Zahl im Sommer und Winter groß, doch kaum so groß als in der früheren Schule; der größere Wert des Unterrichts machte sich alsbald auch in der höheren Einschätzung seitens der Eltern und Schüler und in dem regelmäßigeren Besuch geltend.

Lehrer Brodersen war, als er nach Langenhorn kam, in den Jahren seiner besten Kraft, er war um die Dreißig. Zwar ließ seine Gesundheit hin und wieder zu wünschen übrig, aber seine geistige Frische, seine Freude am Beruf war auf der Höhe. Auch die äußeren Verhältnisse begünstigten eine gehobene Lebensstimmung: er nahm bald eine sehr angesehene Stellung in der Gemeinde ein, in jedem geselligen Kreis war er geschätzt und gern gesehen, er selbst organisierte einen solchen in einer sogenannten »Liedertafel«; er fühlte sich ganz heimisch auf diesem Boden. Während in Eiderstedt die Stellung des Lehrers durch die entschiedene Spaltung der Gesellschaft in Großbauern und Tagelöhner, ähnlich wie im Osten, schwierig und unerfreulich gemacht wurde: er gehörte weder zur einen noch zur andern Gruppe, fand er sich hier in einem mehr homogenen sozialen Medium, demselben, aus dem er hervorgegangen war. Auch seine Frau, eine Schwester des späteren Generalsuperintendenten Jensen von Holstein, empfand den Wechsel in jeder Hinsicht wohltätig, auch für die Gesundheit, wie denn auch Brodersen sich bald steigender Rüstigkeit erfreute.

Was dem neuen Unterricht seinen Charakter gab, das war, daß er sich nicht bloß an das Gedächtnis, sondern an den Verstand wendete. In jeder Stunde wurde das Nachdenken herausgefordert, man bemächtigte sich der Sache innerlich, und so behielt man sie als dauerndes Eigentum. So z.B. im Rechnen: man wurde angeleitet, sich Rechenschaft von dem Warum zu geben, nicht bloß einen Ansatz zu behalten. Ich erinnere mich, wie mir ein Licht aufging, als uns hier die Lehre von der Wurzelausziehung vorgetragen wurde. Wie entsteht das Quadrat aus einer zweistelligen Zahl? Und welche Elemente sind also[91] darin enthalten? Es wurde uns an Zahlen- und Buchstabenbeispielen klargemacht und auch an der geometrischen Darstellung veranschaulicht, daß das Quadrat der Zehner, das Quadrat der Einer und das doppelte Produkt aus Zehnern und Einern darin sei; und daß man also bei der Auffindung der Wurzel auf die Herausziehung dieser Elemente ausgehen müsse. So kamen wir ebenfalls bald hinter das Geheimnis der Dezimalrechnung, der Kubikwurzelausziehung usw. Die Geförderteren, es gab natürlich mehrere Abteilungen, mit denen sich der Lehrer abwechselnd beschäftigte, während die andern inzwischen Aufgaben rechneten, wurden auch in die Algebra und Geometrie eingeführt. Mit dem Gebrauch des x zur Bezeichnung einer gesuchten unbekannten Zahl fing die Sache an. Die lebhafte Freude ist mir noch gegenwärtig, die wir empfanden, als es uns gelang, mit diesem geheimnisvollen x Aufgaben aufzulösen, die sich sonst nicht wollten zwingen lassen: indem man ihnen gleichsam mit dem heimtückischen Werkzeug des x in den Rücken fiel und sie als gelöst voraussetzte, wurden sie widerstandslos. Ich hab in dem letzten Jahr lange Zeit allein aus einem Lehrbuch der Algebra von Saß meine Aufgaben gerechnet; hätte ich hier nicht gelernt, algebraische Gleichungen aufzulösen, dann hätte ich es vermutlich in meinem Leben nicht gelernt, jedenfalls nicht auf dem Gymnasium. Und auch die Elemente der Geometrie verdanke ich diesem Unterricht. Ich weiß nicht mehr, wie weit wir vorgedrungen sind und wie viele folgten, immerhin waren es einige, darunter auch Mädchen. Wir trugen unsere Sätze und Beweise mit sauber gezeichneten Figuren in ein Heft ein und waren stolz auf diesen Besitz. Manche Zeichnung mit Kreide an eine Wand gab Zeugnis von dem Eifer und der Freude, mit dem der Verstand sich dieses seines eigensten Gebietes zu bemächtigen begann: es war die zwingende Gewalt des Begriffs und der Logik über die Unendlichkeit der Erscheinungen, die uns mit stolzem Machtgefühl erfüllte. Besonders schön und aufregend waren auch die Stunden für das Kopfrechnen. Man lernte mit allerlei Schlichen und Kniffen, durch Ergänzung und Umformung usw. die unbequemen Ziffermassen handgerecht machen und bewältigen; wer's am besten konnte, hatte es erst heraus und durfte dann vorrechnend zeigen, wie er's gemacht hatte. So wurde der Verstand hier gleichsam mobil gemacht; hatten wir bisher nur stumpfsinnig nach einem gegebenen Schema Aufgaben aufgesetzt und mechanisch ausgerechnet, immer besorgt, den Ansatz[92] und das Schema nicht zu vergessen, so fühlten wir uns jetzt als Erfinder und Herrn der Sache.

Nicht anders war es in den übrigen Gebieten, im Deutschen, in der Naturkunde, in der Geographie. Im deutschen Unterricht wurde die Satzlehre vorgenommen, wir lernten Subjekt und Prädikat, Hauptsatz und Nebensätze unterscheiden, die Freude am Analysieren verwickelter Gebilde stellte sich ein. Gelesen haben wir auch hier nicht, wir besaßen kein Lesebuch, wohl aber las der Lehrer uns Geschichten und Gedichte vor, die wiedererzählt wurden, mündlich und schriftlich. Wir machten jetzt alle 14 Tage eine schriftliche Arbeit, sie bestand zunächst meist in der Wiedergabe einer einmal vorgelesenen Geschichte. Da galt es denn aufmerken, den Faden festhalten, um die einzelnen Momente daran wieder aufreihen zu können. Ich hab mit großem Vergnügen diese Arbeiten gemacht, besonders als ich in anerkennenden Unterschriften des Lehrers eine weitere Aufmunterung fand. Auch kleine Ausarbeitungen aus andern Gebieten des Unterrichts, der Naturkunde, der Religion, der Geographie wurden gelegentlich aufgegeben. Und natürlich fehlten Briefe nicht. Die Stunde, in der die Aufsätze zurückgegeben wurden, wurde von allen mit Spannung erwartet, ein Zeichen für die Teilnahme, die auf ihre Ausarbeitung verwendet war. Zur Belohnung wurden hin und wieder am Schluß der Stunde Rätsel aufgegeben; manches derselben ist mir noch in der Erinnerung und die lebhafte Bewegung der Köpfe, die dadurch hervorgerufen wurde, nicht minder; ich halte sie für ein vortreffliches Mittel, das Interesse zu wecken und den Scharfsinn zu üben.

Auch die Geographie und die Naturkunde erhielten ein andres Gesicht. Vor allem wurde die Anschaffung eines Atlas allen, die es vermochten, zur Pflicht gemacht. Mir ist der Schubertsche Atlas, soweit er hinter den neuesten Erzeugnissen der Kartographie zurückbleibt, ein wahrer Schatz gewesen, von dessen fleißiger Benutzung die noch in meinem Besitz befindlichen Blätter in zahllosen Spuren Zeugnis ablegen. Dadurch wurde erst ein sicheres Fundament für die Anschauung gewonnen. Freilich, Gebirge und Felsgestein wußte auch er nicht zu zeigen; und so werde ich wohl fortgefahren haben, Berge nach dem Bilde unseres Stolberges als große Anhäufungen von Sand und Lehm vorzustellen. Aber von der Zusammengehörigkeit von Gebirgs- und Flußsystemen wußte uns der Lehrer doch eine Vorstellung zu geben. Deutlich ist mir noch gegenwärtig, wie er die mitteldeutschen[93] Gebirge vom Fichtelgebirge als dem Grundstock ausgehen ließ und dazwischen den Flüssen, Main, Saale, Eger, Naab, ihren Lauf anwies. Mein starkes Interesse für Geographie fand durch eine derartige Hinweisung eine große Anregung. Es ist nur nötig, daß an einem Punkt einmal ein Licht aufgesteckt wird, dann findet, wer offene Sinne hat, sich schon weiter. Was ich von der Schule an geographischen Kenntnissen und Anschauungen mitgebracht habe, das geht alles auf die Dorfschule in Langenhorn zurück; aus Altona hab ich nichts mitgenommen. Da gegen hab ich später viel geographische Literatur gelesen, Reisebeschreibungen und Theoretisches.

In der Naturkunde zog mich besonders der schlichte physikalische Unterricht an; Pflanzen- und Tierkunde kam überhaupt nicht vor, es sei denn, daß jede Woche eine Abbildung eines Tieres an dem Wandschrank aufgehängt und zu seiner Nachzeichnung ermuntert wurde. Dagegen hat der Unterricht in der Physik mich vielfach in Bewegung gesetzt. Versuche wurden in der Schule nicht vorgenommen, es fehlte auch an dem einfachsten Apparat. Wohl aber wurden die einfachsten Lehren aus der Statik und Mechanik sowie aus der Wärmelehre so faßlich-anschaulich vorgetragen, daß ich mich zu Hause daran machte, sie experimentell nachzuprüfen. So die Lehre vom Hebel oder vom Heber. Der Heber tat's mir schon durch seine Beziehung zu meinem Element, dem Wasser, an. Da es keine gebogene Glasröhre und keinen Gummischlauch gab, ich glaube, in der ganzen Landschaft Bredstedt wäre damals so etwas nicht zu finden gewesen, jedenfalls nicht in unserm Dorf, so mußte ich selbst erfinden, was ich brauchte: ich bog mir durch Einlegen in Wasser die langen Stengel des Löwenzahns, die überall auf dem Hof wuchsen, zu einer krummen Röhre zurecht und hing sie mit dem kurzen Arm in einen Eimer Wasser; und siehe da: das Wunder ging, das Wasser stieg über den Rand des Eimers herüber. Ich hab später noch mannigfachen häuslichen Gebrauch von dieser in wirkliches Leben übersetzten Einsicht gemacht. Noch manches Ähnliche gelang. Gerade daß es ganz dem eigenen Spürsinn und der eigenen Erfindung überlassen blieb, die Versuche und die Mittel dazu sich zu beschaffen, hat jene elementaren Dinge so tief in das anschauliche Erkennen eingeprägt, als es einem mit reichen Mitteln ausgestatteten Physikunterricht vielleicht nicht gelungen wäre. Die Armut macht erfinderisch, der Reichtum unterdrückt die Kräfte; so ist es auch hier: ist alles aufs schönste experimentell vorgemacht und[94] theoretisch in Ordnung gebracht, so bleibt nichts zu tun übrig, und in dem Gefühl, daß alles erledigt ist, legt sich der Schüler zur Ruhe.

Seltsam ist, daß ich so gut wie gar keine Erinnerung an einen geschichtlichen Unterricht habe, weder aus der ersten noch aus der zweiten Schule. Gorm der Alte und Ansgar, das sind, kommt mir vor, die beiden einzigen Namen, die mir daher geblieben sind. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt keine andern gehört haben. Von dänischer Königsgeschichte, von holsteinischen Herzögen, von deutschen Kaisern oder preußischen Königen finde ich in meiner Schulerinnerung gar nichts; vielleicht ist Gustav Adolf in Verbindung mit der Reformationsgeschichte vorgekommen; doch bin ich dessen nicht sicher. Ob mit Rücksicht auf die schwierigen politischen Verhältnisse von einem eigentlich geschichtlichen Unterricht überhaupt abgesehen worden ist? Oder ob er von der Art war, daß er keine Spuren in meinem Gedächtnis zurückgelassen hat? Ich kann es nicht sagen.

Am wenigsten war der Religionsunterricht bei dem neuen Lehrer ein anderer und wirksamerer als in der alten Schule. Zwar der alte »große« Katechismus wurde durch einen neuen ersetzt, von Bischof Balslev in Ribe verfaßt; ich glaube, er war nach dem Schema der neulutherischen Orthodoxie abgefaßt und erhielt auf engstem Raum das System der Dogmatik im Sinne der neuen Rechtgläubigkeit; die Lehre von den zwei Naturen und den drei Ämtern Jesu, von der Ordnung des Heilsweges durch Erkenntnis und Bekenntnis der Sünde, durch Neue und Buße, Glaube und Rechtfertigung, Heiligung und Beseligung war darin ausführlich behandelt, und wir wußten von allen diesen Dingen auf Befragen mit kraftvollen Definitionen zu dienen. Aber irgendwelcher Einwirkung auf Verstand oder Gemüt erinnere ich mich nicht. Ohne Zweifel war der Unterricht so gut, als er in der Volksschule nur erwartet werden kann. Es lag an den Dingen, nicht an der Behandlung, daß sie keinen Eingang fanden. Und freilich, was weiß ein Knabe von Sünde und Gnade, was ist ihm ein Gott-Mensch und die durch ihn bewirkte Erlösung? Es werden dem normalen, fröhlich in der diesseitigen Welt lebenden jugendlichen Sinn ewig fremde Wörter bleiben, die er nachsprechen lernt, die aber nichts seinem Innenleben Erreichbares ausdrücken. Eher waren die biblischen Geschichten und die Evangelien, die wir allwöchentlich auswendig lernten, etwas für dieses Alter; manche lebendige Anschauung menschlicher Dinge, mancher scharf geprägte Ausdruck, manches sinnvolle[95] Wort ist mir daraus geblieben und hat Denken und Sprache geformt. Doch kann ich nicht sagen, daß in jener Zeit auch diese Dinge irgendein lebhafteres Interesse bei mir hervorgerufen oder mich beschäftigt hätten, wie der Unterricht im Deutschen oder der Naturlehre oder im Rechnen. Sie wurden hingenommen ohne Reflexion und ohne Widerwillen, mehr nicht. Eine lästige Zugabe war das Auswendiglernen, das natürlich auch hier fortdauerte, wenn es auch nicht mehr so im Vordergrund stand. Immerhin mußten wir unsere Gesangbuchverse auch hier lernen.

Noch erwähne ich des Schreib- und Zeichen- und des Gesangunterrichts. Sie wurden auf ganz andre Art betrieben als bisher. Das Zeichnen kam überhaupt als ein Neues hinzu; es machte mir Freude, obwohl es sich so ziemlich auf Nachzeichnen von Vorlagen, besonders von allerlei Ornamenten, beschränkte. Ich hätte vielleicht etwas gelernt, wenn der Unterricht an die Dinge herangeführt hätte. Im Schreiben trat an die Stelle der gedruckten Vorlagen die Vorschrift des Lehrers an der Wandtafel mit taktmäßigem Nachschreiben nach Zählen: ein Verfahren, das die Handschrift des Lehrers in die Finger der Schüler prägte. Das Singen wurde vor allem durch einen bescheidenen theoretischen Unterricht unterbaut: wir lernten die Noten kennen und Tonleitern singen, erhielten ein kleines Notenbuch mit den üblichen Choralmelodien, lernten mehrstimmig singen und übten auch einige weltliche Lieder ein. Alles das hat mich doch auch in diese mir ziemlich fremde Welt einen kleinen Blick tun lassen; die Melodien mancher Lieder gefielen mir so, daß ich sie nicht bloß selbst im Freien für mich sang, obwohl mich Gott nicht gerade zum Sänger bestimmt hat, sondern sie auch einer Cousine beibrachte nebst den Noten. Zeitweilig lernte ich auch mit Leidenschaft patriotische Schleswig-Holstein- und deutsche Vaterlandslieder singen: ich hatte mir, ich weiß nicht mehr wie und woher, ein Liederbuch mit Melodien verschafft, denn in der Schule waren sie selbstverständlich ausgeschlossen, und übte mir nun selber Text und Melodie, so gut es gehen wollte, ein. Was ist des Deutschen Vaterland, das Blücherlied, Es war auf Jütlands Auen und natürlich Schleswig-Holstein meerumschlungen: ich konnte sie alle vom ersten bis zum letzten Vers und sang sie mir draußen auf dem Felde, wenn ich allein war. So gewann ein lebendiger Unterricht auch dem dürftigen Boden einige Frucht ab.

Ein Leser war ich immer gewesen. Bisher hatte ich wenig Bücher in[96] die Hände bekommen, ich habe schon früher einiges genannt; ein Lesebuch, zu dem ich immer von Zeit zu Zeit wiederkehrte, war die Bibel gewesen, besonders die Geschichten des alten Testaments, Makkabäer, Tobias, das Buch Esther und derartiges. Nun erhielt der Lesetrieb neue Nahrung: der Lehrer richtete eine kleine Schülerbibliothek ein, es waren die üblichen Jugendbücher von Nieritz, O.v. Horn usw. Wöchentlich durfte man eins dieser Bücher leihen gegen eine Gebühr von einem Bankschilling (3 Pf.). Ich hab viele gelesen, ich gestehe, den heutigen Reformern der Jugendliteratur zum Trotz sei es gesagt, mit viel Vergnügen, und, soweit ich urteilen kann, ohne Schaden an meiner Seele oder an meinem Geschmack zu nehmen. Manche dieser kleinen Erzählungen ist mir in so lieber Erinnerung geblieben, daß ich sie noch meinen Kindern wiedergeschenkt habe: Friedl und Nazi, Aus der Franzosenzeit (ein patriotischer Schmugglerroman aus der Zeit der Kontinentalsperre), Fürst Wolfgang von Anhalt, Die Belagerung von Wien (1683) usw. Sie haben meinen Gesichtskreis erweitert, meine Fähigkeit, Deutsch zu sprechen und zu schreiben, gemehrt, überhaupt in jeder Hinsicht mich bereichert. Und ich kann in der Verfolgungswut, die gegen diese Schriftsteller jetzt unter den neunmal gescheiten hamburgischen Pädagogen ausgebrochen ist, nur ein Zeichen der maßlosen Reform- und Neuerungssucht erblicken, die in dieser Zeit wie ein brüllender Löwe umhergeht und irgend etwas sucht, das sie verschlinge. Natürlich ist auch Minderwertiges unter jenen Sachen, aber nicht minder ist gewiß, daß manches Gute darunter ist, und daß es töricht ist, eine besondere Jugendliteratur überhaupt zu verwerfen: es hat sie immer gegeben und wird sie immer geben. Man darf nicht den Geschmack der Erwachsenen als Maßstab an sie anlegen; die harmlose Freude an bunten Ereignissen, das natürliche Verlangen nach einem »guten Ausgang«, das sind Dinge, die man der Jugend nicht verargen und nicht verwehren soll. Mit einer Literatur, die sie nicht selbst schätzt, sie mag im übrigen so schätzenswert sein als sie will, ist nichts gewonnen. Der Unterlehrer gab mir wohl einmal aus seinem Bücherschatz etwas mit, einen Band Öhlenschläger oder Ähnliches, ich hab wohl einen Versuch damit gemacht, aber es ging mir nicht ein. Ja ich gestehe, daß ich noch als Sekundaner in Altona mit Schiller dieselbe Erfahrung machte: Don Carlos, Jungfrau von Orleans, ich hab sie gelesen, ich ehrte sie, wie Gretchen sagt, doch ohne Verlangen.[97]

Mit einem Wort berühre ich hier eine gegenwärtig viel erwogene Frage: die Frage der gemeinsamen Schulerziehung der Geschlechter. Ich hab die Sache in zehnjähriger Erfahrung kennen gelernt und kann bezeugen, daß das Zusammenleben auch in der Schule uns immer als selbstverständlich vorgekommen ist. Ein Unterschied in der intellektuellen Leistungsfähigkeit zwischen den Geschlechtern ist uns wohl nie in den Sinn gekommen; von den Mädchen wurde dasselbe gefordert und geleistet. Dumme und Gescheite gab es auf beiden Seiten. Was den Einfluß auf das innere Verhältnis zueinander anlangte, so begann in der letzten Zeit die Verschiedenheit der Geschlechter wohl mit leisen und unbestimmten Anklängen gefühlt zu werden; kleine Anziehungsverhältnisse bildeten sich, die hier und da auch über die Schulzeit hinaus dauerten. Wobei, soviel ich mich entsinne, die Anknüpfung meist von der weiblichen Seite ausging, durch kleine Aufmerksamkeiten und auch wohl durch die kleinen Künste einer harmlosen Koketterie. Daß gelegentlich auch einmal nicht mehr ganz harmlose Begegnungen stattfanden, auch sie zuerst von der weiblichen Seite herbeigeführt, die Knaben waren spröder und verlegener, will ich nicht verschweigen. Ich möchte sie aber nicht der Schule und der Gemeinsamkeit, die sie herbeiführte, zur Last legen. Sich zu treffen, hätte es ohne sie auch nicht an Gelegenheit gefehlt, wenn sie gesucht wurde; und vielleicht war es doch gerade das lange tägliche Gemeinschaftsleben, das es auch bei jenen Begegnungen nicht zu eigentlichen Ausartungen kommen ließ. Hiermit ist nun freilich nicht entschieden, daß das, was dort möglich und angemessen war, auch an andern Orten, in der Großstadt, oder unter andern gesellschaftlichen und sittlichen Umständen möglich ist.

Unser Lehrer war zugleich Küster, und das hat auch mich in den Kirchendienst hineingezogen: die beiden obersten Schüler waren seine Gehülfen und Stellvertreter. Der Küsterdienst hatte damals, wenigstens in unserer Gegend, nichts, was das Ansehen des Lehrerstandes zu mindern geeignet schien; im Gegenteil, er verlieh dem Küster persönlich zugleich die Stellung des Hauptlehrers in der Gemeinde. Früher war er vielfach der einzig seminaristisch gebildete Lehrer gewesen, wie denn einer der Lehrer in unserm Kirchspiel auch damals noch ohne Seminarbildung war. Da der Küster zugleich den Organistendienst verwaltete (früher hatte Langenhorn einen besonderen Organisten gehabt), so erfuhr auch sein Einkommen dadurch eine Steigerung.[98] Wir hatten also an dem ganzen Kirchendienst unsern Teil, am sonntäglichen Gottesdienst, am Abendmahlsdienst, vor allem am Leichenkondukt.

Der Sonntag begann für uns mit einer Vorwirkung: am Sonnabend vormittag mußten wir bei dem Pastor, der die Predigt hatte, »die Nummern holen«, d.h. die Bestimmung der Gesänge und Verse, die am Sonntag gesungen werden sollten. Wir gingen dann, nachdem wir sie dem Küster überbracht, in die Kirche und malten sie mit großen Ziffern auf die durch die ganze Kirche und ihre vier Emporen verteilten Tafeln. Ebenso war die Uhr auf der Kanzel aufzuziehen, die neben der alten noch vorhandenen, aber nicht mehr benutzten Sanduhr ihren Stand hatte. Daß wir die alte Kirche mit allen ihren Winkeln dabei durchkrochen, ist selbstverständlich: es gab keine Geheimnisse für uns; auch auf den Kirchenboden gelangten wir und sprangen von Balken zu Balken: ein Fehltritt auf die alten von unten angenagelten morschen Bretter hätte wohl den Absturz in die Tiefe zur Folge gehabt. Hin und wieder bin ich auch mit dem Küster zum Stimmen der Orgel gegangen: ich mußte dann die Töne anschlagen. Am Sonntag hatten wir von neun oder zehn Uhr an, je nach Beginn des Gottesdienstes, Dienst, es wurden in der Küsterei die Anschläge für den »Stegel« (das Kirchhofstor) geholt: wir hatten sie auf hölzerne Tafeln aufzunageln und diese dann am Stegel anzuhängen. Das Läuten der Glocken (renge) mußte von stärkeren Armen besorgt werden, wohl aber war unsere Aufgabe, vor Beginn und nach Schluß der Predigt durch Anziehen des Klöppels mit einem an ihm befestigten Seil (Klempe) der Gemeinde von diesem Ereignis Kunde zu geben. Es geschah mit sechs durch längere Pausen getrennten Schlägen, denen zum Schluß drei rasche Schläge folgten. Es war offenbar die Betglocke, die auch die Daheimgebliebenen mit der versammelten Gemeinde verband. Dieselben Schläge der Betglocke riefen auch am Morgen und Abend des Werktags, im Winter um acht Uhr früh und vier Uhr abends, im Sommer um sechs zum Gebet. Ich weiß nicht, ob die Zahl der Schläge irgendeinem alten Gebet entspricht, denn dem Vaterunser will sie sich ja nicht ganz anpassen. An den hohen Festtagen und zur Abendmahlsfeier waren die großen, armdicken Wachskerzen auf dem Altar anzuzünden, ebenso vom Pastor die Geräte nebst Wein und Brot zu holen und zurückzubringen. Bei Kollekten setzten wir die Becken am Stegel aus und überwachten den Eingang der[99] Gelder, von denen uns für diesen Dienst gleich ein Präzipuum von je 20 Pf. ausgezahlt wurde.

Am wichtigsten und einträglichsten war der Leichenkondukt. Man unterschied »stille Leichen« und solche, bei denen Hausandacht und Gesang der Schüler gefordert wurde. Das letztere war noch das Gewöhnlichere, namentlich in den abgelegeneren und kirchlicheren Teilen der Gemeinde. Die Zahl der Schüler wurde bestellt, sie wechselten von 6–16; der Küster wählte sie aus, die beiden »Kirchendiener« waren immer dabei, so daß ich in einem Jahr wohl 20–30 Leichen habe zu Grabe singen helfen. Wir fanden uns etwa eine halbe Stunde vor dem Beginn des Akts im Trauerhause ein, traten in die Tür des Pesels, wo der Tote, regelmäßig im noch offenen Sarg, aufgebahrt lag, und sprachen ein leises Gebet. Dann wurden wir in einen andern Raum geführt, wo Warmbier mit eingebrocktem Weißbrot auf dem Tisch stand, neben seinem Teller fand jeder einen großen Wecken, und in diesen war der Obolus für die zu erwartende Gesangleistung gesteckt, er variierte zwischen einem dänischen Vierschillingstück und einer Mark (etwa 9–40 Pf.). Vor der Ansprache des Geistlichen (der Abdankung) wurde gesungen, ebenso zum Schluß. Währenddem wurde der Sarg geschlossen und auf den bereitstehenden Wagen, den ein Nachbar stellte, getragen. Nun setzte sich der Küster oder sein Stellvertreter mit den Schülern an die Spitze des Zuges; unter Gesang wurde der Hof verlassen und auch auf dem Wege zur Kirche von Zeit zu Zeit ein Vers gesungen. Vor dem Kirchhofstor wurde haltgemacht, der Sarg von den Trägern, als welche wieder die Nachbarn des Gestorbenen fungierten, die ihm auch nach Anweisung des Küsters das Grab gegraben hatten, auf die Bahre gesetzt und zweimal um die Kirche getragen unter Vorangang des Sängerchors; dann wurde der Weg zur Grabstätte eingeschlagen und unter dem Gesang des Verses: »Begrabt den Leib in seine Gruft«, der Sarg hinabgelassen. Hierauf Gebet und Segen des Geistlichen, nochmaliger Gesang, und nun gings in die Kirche, wo die eigentliche »Leichenpredigt« stattfand, der regelmäßig ein kurzer Lebenslauf des Toten eingefügt wurde. Natürlich fehlte es nicht an Gesang vor und nach der Predigt. War die Entfernung des Trauerhauses von der Kirche groß, so konnte es über alledem ziemlich spät werden, und wir verzehrten dann wohl, dem Hunger zu wehren, den eingesteckten großen Wecken während der Predigt.[100]

Daß die Trauer um den Toten oder die Scheu vor Tod und Grab uns dabei tief ins Gemüt gegangen sei, kann ich nicht sagen. Im Gegenteil, es waren öfters recht lustige Fahrten, die wir so machten, und unser Verhalten wohl nicht immer geeignet, Ernst und Würde der Feier zu erhöhen. So erinnere ich mich, daß einmal vor dem Zug ein Wagen mit Äpfeln denselben Weg gefahren war und von Zeit zu Zeit einen kleinen Teil seiner Ladung verloren hatte; der Anblick der ersten Äpfel und die Aussicht auf fernere Beute wirkte unwiderstehlich, unser Tempo wurde immer rascher, so daß wir zuletzt den Leichenwagen ganz aus den Augen verloren. Besonders reizvoll war durch ihre Ungewohntheit eine nasse Spätherbstfahrt nach einem entfernt gelegenen Hof, der nur mit dem Boot zu erreichen war, in das dann auch der Sarg gesetzt wurde: unser Gesang über den Wassern wird noch einmal so laut ertönt sein als sonst. Eine gewisse Abhärtung gegen die Eindrücke, die Tod und Grab machen, war überhaupt die Folge dieses Leichendienstes: der Anblick des Toten im Hause, der Anblick der aus dem Grab aufgeworfenen Gebeine und Schädel auf dem alten Kirchhof ließ uns allmählich so kalt, wie die Totengräber im Hamlet.

Ostern 1862 verließ ich die Schule, der ich das letzte Halbjahr nur noch als Halbtagsschüler angehört hatte, ich hatte inzwischen meine gelehrten Studien begonnen. Waren es auch nicht schmerzliche Gefühle, mit denen ich Abschied von meinem Lehrer nahm (wann wären diese bei solchem Anlaß überwiegend?), so empfand ich doch, was ich ihm in diesen Jahren schuldig geworden war, mit lebhafter Dankbarkeit. In der Tat, er war ein Lehrer von Gottes Gnaden: klar und sicher, in der Sache lebend, daher heiter und frei, nicht ohne den notwendigen Ernst und, wenn's sein mußte, die gebührende Strenge, ich habe sie nicht so selten zu erfahren Gelegenheit gehabt, wenn mich der Hafer stach; aber ich glaube nicht, daß jemand sie ihm nachgetragen hat. Man fühlte in der Strafe die Notwendigkeit und zugleich die Unwilligkeit dessen, der sie erteilte, daß so etwas hier notwendig sei. Seine Fähigkeit, an die Dinge heranzuführen, war ungewöhnlich; alle Begabteren folgten dem Unterricht mit einem spontanen Eifer, wie ich ihm nur auf der Universität wieder begegnet bin. Daß ich ihm noch als Professor der Pädagogik mich habe vorstellen und ihm bezeugen können, was sein Bild mir auch hierfür bedeute, ist mir eine große Freude gewesen.

Quelle:
Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1910, S. 80-101.
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