Spiele und Spielkameraden

[72] Um mit letzteren zu beginnen: meine täglichen Spielgefährten fand ich im nächsten Nachbarhause; es waren nur dreißig Schritt von Tür zu Tür. Fünf Kinder, drei Knaben und zwei Mädchen, bildeten seinen Reichtum; damals freilich wurden sie gar nicht so empfunden, vielmehr erschienen sie als fünf immer hungrige und versorgungsbedürftige Mäuler. Der Besitz war klein, eigentlich zu klein für eine richtige Bauernstelle; Dienstboten konnten nicht gehalten werden, und so waren die Eltern mit Arbeit überlastet, die Frau dazu kränklich und immer unzufrieden, obwohl sie aus ganz dürftigen Verhältnissen stammte. So war denn Schmalhans Küchenmeister; ich merkte wohl den Unterschied. Die Butter auf dem Brot wurde sehr viel sparsamer gestrichen als zu Hause, und bei Tisch wurden die Klöße jedem vorgezählt. Trotzdem schmeckte mir das Butterbrot bei ihnen wundervoll, und die Mutter hatte Mühe zu verhindern, daß ich nicht öfter mich mitfuttern ließ, so groß ist der Reiz des anderen und die Würze der Gemeinschaft. Das Haus, in dem ich als Kind jeden Tag aus und ein gegangen bin, steht nicht mehr, über seine Stelle geht der Pflug. Die Familie wanderte, als die Kinder herangewachsen waren, nach Amerika aus; die dreijährige Dienstzeit, die mit dem Übergang unseres Landes an Preußen vor der Tür stand, gab den letzten Anstoß. Die kleine Stelle wurde verkauft, aus dem Erlös konnten zwei große Farmen in Jowa angekauft werden. Und nun erwiesen sich die Kinder als der Reichtum der Familie: mit eigenen rüstigen Arbeitskräften brachte man es bald zu ansehnlichem Wohlstand.

Doch das lag damals noch unsichtbar im Schoß der Zukunft. Wir ließen uns, als wir in der Schule zuerst vom Mississippi hörten und die Namen der Vereinigten Staaten auswendig lernten, nicht träumen, daß sie einige von uns einmal so nahe angehen sollten. Unsere Lebenswege, die nachher so weit auseinanderliegen sollten, gingen damals noch dicht nebeneinander her. Wir sahen uns jeden Tag, den Gott werden ließ; der Weg zu Hans Peters war von klein auf mein erster Gedanke, trotzdem ich dort vielleicht nicht immer willkommen war, was merkt ein Kind von solchen Dingen? und trotzdem die Mutter es nicht immer gern hatte, mich drüben zu wissen. Von den Kindern waren zwei mir die nächsten, ein Knabe, der im Alter mir einundeinhalb[73] Jahr voraus, ein anderer, der hinter mir ein Jahr zurück war. Sie waren grundverschiedene Naturen. Der jüngere, Heinrich, der weichste, lenksamste, aufrichtigste, treuherzigste Bursche, den man sich denken kann, der ältere dagegen hatte etwas Verschlagenes und Verstecktes, dabei etwas Anschlägiges und Verwegenes in seinem Denken und Tun, das das Mißtrauen meiner Mutter beständig wach hielt; sie suchte mich daher ihm nach Möglichkeit fernzuhalten, was nicht hinderte, daß er mich wiederholt in allerlei Mißgeschick brachte. Es war ein Glück, daß er oft abwesend war, bei einer Großmutter, die eine Zärtlichkeit für ihn hatte, und daß er früh das Haus verließ: er kam in die Stadt als Kaufmannslehrling, wozu ihn Natur und Neigung in der Tat prädestiniert hatten. Er ging später als der Vorläufer der Familie nach Amerika. So blieb der jüngere mir als täglicher Kamerad; mit der Erinnerung an ihn sind in der Tat fast alle meine Jugenderlebnisse und Spiele verknüpft. Wir waren unzertrennlich; natürlich haben wir uns auch einmal gezankt und miteinander gerauft, wie könnten Knaben es unversucht lassen, zu probieren, wer der Stärkere sei? Wir haben auch wohl einmal miteinander tagelang geschmollt und geglaubt: jetzt ist es für immer aus. Und dann fanden wir uns eines Tages unversehens wieder beisammen und wunderten uns, wie wir so lange ohne einander ausgekommen waren.

Die übrigen nächsten Nachbarhäuser hatten keine Kinder, oder wenigstens nicht in unserem Alter; erst in einiger Entfernung kamen wieder kinderreiche Häuser. Wir trafen uns namentlich am Sonntag nachmittag, um größere Gesellschaftsspiele: Schlagball oder Kaak oder Lauf- und Versteckspiele und Ähnliches zu spielen. Auch vor dem Beginn der Schule wurde meist gespielt, man fand sich eine viertel oder halbe Stunde vorher ein, besonders vor dem Nachmittagsunterricht; dann wurden große Massenspiele gespielt, so daß es oft mit sehr erhitzten Köpfen in die Schule ging.

Ich versuche nicht, die unendliche Mannigfaltigkeit der Spiele zu beschreiben, die uns als Erbe uralter Tradition zufielen; sie pflanzten sich von Geschlecht zu Geschlecht von selber fort, jedes nachfolgende wuchs hinein, spielte sie seine Zeit und übergab sie wieder dem jüngeren Nachwuchs. Kein Erwachsener kümmerte sich darum, kein Lehrer hätte es seiner Würde gemäß gehalten, sich in Kinder- und Knabenspiele zu mischen, sie wuchsen wild wie das Unkraut am Zaun, auf das niemand achtet. So wußten wir gar nicht, was für einen Schatz wir[74] an diesen Spielen besaßen, und niemand sagte es uns; und vielleicht sind das die besten Schätze, die man genießt, ohne von ihrem Wert zu wissen und zu reden.

Wie die Spiele, so waren die Spielzeuge unser eigenes Werk; niemand lehrte sie machen, niemand kümmerte sich darum, wie wir damit zustande kamen, es stand alles auf dem eigenen Können und Wollen. Spielwarenläden gab es Gott sei Dank damals noch nicht, nicht in Langenhorn und nicht in Bredstedt; und um ein Geschenk verlegene Onkel und Tanten gab es auch nicht. Höchstens daß zu Weihnachten oder zum Jahrmarkt eine Kindertrompete für einen Groschen oder eine ebensolche Peitsche oder ein paar Holztiere in einer Bude gekauft wurden. Aber die eigentlichen Spielzeuge machten wir uns selber; die Mädchen machten sich ihre Puppen und zogen sie mit farbigen Läppchen an, sie stickten sich ihre Bälle, ein Kork diente als Unterlage, er wurde mit altem Wollgarn rund gewickelt und dann die Decke darauf »geflammt«, je bunter, desto schöner. Wir Knaben machten uns Bogen und Pfeile, aus Weidenzweigen und Rohr mit Eisenspitze, zu der ein Nagel verarbeitet wurde; doch erhielt ich später einmal, vom Nachbar Rademacher angefertigt, einen richtigen Flitzbogen mit Lauf, aus dem mit Murmeln oder geschwänzten Pfeilen geschossen wurde. Aus einem Lederstück mit zwei Schnüren daran wurde eine gefährliche Schleuder hergestellt, die wohl einmal einem Schaf ein Bein gekostet hat. Ein prachtvoll fernreichendes, wenn auch nicht ferntreffendes Werkzeug war auch eine schmiegsame Gerte, auf die eine kleine Kartoffel gesteckt und weggeschleudert wurde. Natürlich fehlte es nicht an Windbüchsen und Wasserspritzen, Hollunderzweige wurden dazu ausgehöhlt. Ein Blasrohr hab ich mir noch gemacht und mit gefiederten Pfeilen versehen, als ich schon die ersten lateinischen Vokabeln lernte. Wind- und Wassermühlen waren an jedem Hause und jedem Wasser, das Gefälle hatte oder aufgedämmt und zum Fließen gebracht werden konnte. Einen kleinen Schiebkarren, den wir so notwendig für die Bewegung von Steinen und Erde brauchten, machte mir der Onkel Ketel. Sehr beliebt waren Schaukeln und Wippen, jene in der Scheune, diese über einem Erdwall oder einem Hecktor angebracht. Im Herbst wurden Drachen gebaut, bis zur Lebensgröße, nur die Schnur dazu mußte gekauft werden, sonst machten wir alles selbst, Gestelle und Beklebung und auch den Kleister, womit sie befestigt wurde. Auch ein Kartenspiel haben wir wohl versucht selber[75] zu machen, sonst gab der Nachbar Wirt ein abgedanktes Spiel her. Würfel schnitten wir uns selber und brannten mit einem glühenden Draht die Augen ein; noch ein anderes Würfelgerät wurde gemacht, Punker genannt, ein sechsseitiges hölzernes Prisma, dem auf jeder Seite ein Zeichen eingeschnitten wurde. Mein größter Stolz aber in dieser Branche war ein selbstgefertigtes Schachspiel: ich schnitt die Figuren aus weichen Lindenzweigen, klebte die Stücke mit Siegellack zusammen und färbte sie mit Tinte. Ein Besuch aus Flensburg, der ein paar Tage bei uns war, hatte ein Spiel bei sich und mich die Züge gelehrt. Einen ganzen Winter lang habe ich mit Freund Heinrich, dem ich wieder die Züge zeigte, mit jenen Figuren fast jeden Abend gespielt. Ich habe nicht wieder gespielt, bis ich auf die Universität nach Berlin kam, hier hatte ich die Genugtuung, mit meinen selbstgelernten Künsten ganz mit Ehren zu bestehen.

So lehrte uns die Not viele Künste, ohne »Knabenhandfertigkeitsunterricht«. Unser Hauptwerkzeug, ein Messer, wie man es auf dem Jahrmarkt für 10 Schilling erstand; dazu hatte der Vater in einem Kasten einiges Zimmermannswerkzeug. Er liebte auch die Selbsthilfe, wie er denn auch seine Wagen und Pflüge, seine Hecktore und Scheunenwände selber mit roter Farbe anstrich, die er selbst mischte.

Die Spiele wechselten mit der Jahreszeit. Im Frühjahr begann das Ballspiel im Freien, abwechselnd mit dem Spiel um Murmeln, das von den Größeren im großen betrieben wurde und sich in manchen Formen dem Glücksspiel näherte, wie es denn auch in das Spiel um Geld überging, das zeitweilig sehr stark betrieben wurde. Es wurde mit kupfernen »Bankschillingen« nach einem Stein oder Strich geworfen; wer dem Ziel zuletzt am nächsten war, warf erst: Kopf oder Krone, und so der Reihe nach, wobei für unsere Verhältnisse ganz ansehnliche Umsätze gemacht, auch wohl einmal Spielschulden kontrahiert wurden, denen auch hier der Charakter von Ehrenschulden in besonderem Sinn anhaftete. Der Sommer brachte vor allem die Lust zum Wasser mit, es wurde im Wasser gewatet und gebaut, gebadet und gefischt; das begehrteste war das Kahnfahren, ein seltenes und fast immer erschlichenes Vergnügen. Die Wasserfreuden haben mich am häufigsten mit der Mutter in Konflikt gebracht. Sie begannen schon in den Kinderjahren und haben nie ganz aufgehört. An dem Nachbarhaus von Hans Peters floß ein kleiner Bach (Sill) vorbei. Hier waren wir schon als vier- bis fünfjährige Knaben im[76] Sommer fast täglich zu finden; wir fingen fingerlange Stichlinge, auch wohl einmal einen kleinen Hecht oder schwarze Wasserkäfer (Schuster) und sperrten sie in abgedämmte kleine Behälter, bauten Wassermühlen, vor allem aber wurde gewatet, die Hose wurde bis zum Knie und weiter aufgekrempelt und nun die tiefsten Stellen gesucht. Es war keine Gefahr dabei, es gab wohl nirgends viel über einen halben Meter Wasser. Aber die Hosen! Sie waren wie das böse Gewissen; versuchte man auch, sie rasch noch vor dem Nachhausegehen in der Sonne zu trocknen, sie wurden doch zum Verräter. Und so endete das nasse Vergnügen nicht selten zu Hause mit der salzigen Nachflut der Tränen.

Im Herbst waren die Drachen an der Tagesordnung; auch die Windmühlen klapperten. Ein anderes Spiel war das, daß man einen Tonnenreifen (houp) von dem Winde vor sich hertreiben ließ; er setzte, wenn er einmal in Schuß war, über Gräben und Zäune, wohl eine halbe Stunde lang, und die wilde Meute querfeldein hinterher. Im Winter nahmen in erster Linie Schnee und Eis uns in Anspruch: allerlei Schneebauten wurden errichtet und in Schneeballenschlachten verteidigt, von den Dünen Schlitten gefahren, vor allem aber war das Schlittschuhlaufen die ersehnte Lust, die Gräben am Hause boten erste Gelegenheit. Später wurden stundenweite Ausflüge über die überschwemmten Wiesen gemacht. Am schönen Sonntagnachmittag fanden sich wohl ein paar hundert Schlittschuhläufer zusammen, es wurden Fangspiele gespielt, mit allerlei Künsten des Vor- und Rückwärtslaufens. Einen unwiderstehlichen Reiz übte auf die Schulknaben auch ein eben auftauender Graben; nachdem das Eis von den Rändern abgeschmolzen war, wurde es mit dem Beil durch Querschnitte in halbmeterlange Schollen geteilt; nun galt es, über sie so rasch hinzulaufen, daß, während der hintere Fuß die letzte Scholle unter Wasser drückte, der vordere schon auf der nächsten sich stützte, so daß man eben trockenen Fußes davonkam; natürlich, bis das Verhängnis einen doch ereilte, indem eine Scholle zerbrach oder man daneben trat. Das gab dann wieder eine häusliche Krise; die letzten Schläge, die ich von meinem Vater erhalten habe, folgten einem solchen Unfall, dann wurde ich ins Bett gesteckt; beides übrigens in jeder Hinsicht, der pädagogischen wie der medizinischen, die zweckmäßigste Form der Behandlung des Falles.

Genug, die tausend Freuden unserer Spiele und auch die Schmerzen,[77] die, wie die Dornen an den Rosen, sich überall an die Freuden heften, zu vergegenwärtigen. Nur auf eine Leidenschaft muß ich doch noch mit einem Wort eingehen, die mich zeitweilig ganz besaß: die Leidenschaft des Fischfangs. Es geschieht mir noch heute nach fünfzig Jahren, daß ich im Traum die Erregungen der Fischjagd nacherlebe. Wir fingen Fische mit allen möglichen Mitteln, mit dem Netz, mit dem Aalstecher, mit der Schlinge, mit der Angel und nicht zuletzt mit der Hand. Zum Fischen mit dem Netz hat mich unser Knecht Andres Niß zuerst mitgenommen und angeleitet: das Netz wurde quer über den Graben oder den Sielzug gespannt, Bleiklümpchen zogen es von unten zu Boden, Holzklötzchen hielten die obere Kante an der Oberfläche; dann ging man 10 oder 20 Meter rückwärts und trieb die Fische, mit den sogenannten »Klotstöcken« ins Wasser stoßend, in das Netz, in dem sie sich verwickelten und mit ihm herausgehoben wurden. An einem guten Tag brachten wir wohl zehn Pfund Hechte und darüber, groß und klein, nach Hause. Das Zappeln der Holzschwimmer, ihr völliges Untertauchen, wenn ein großer Fisch ins Garn ging, kommt mir am häufigsten im Traum zurück. Von der Angel wurde nicht viel Gebrauch gemacht, desto mehr von der Schlinge: wir fertigten sie aus den langen Haaren, die wir dem Schweif der Pferde entnahmen; diese wurde an einer starken Schnur und mit ihr an einem Stocke befestigt. Wenn die Hechte in den Gräben im hellen Sonnenschein wie schlafend standen, dann schlichen wir heran, ließen leise die mit einem Bleiklümpchen beschwerte Schlinge herunter, führten sie unmerklich über den Kopf und die Brustflosse hinüber, und dann wurde der Fisch aufs Land geschnellt: eine sehr aufregende Jagd, die nur bei großer Sicherheit des Auges und der Hand gelang. Ich hab aber oft eine ganze Anzahl so in kurzer Zeit gefangen, wohl bis zu einem Pfund schwer.

Sehr verhängnisvoll für die Wasserbewohner wurden die drei trockenen Sommer der Jahre 57–59. Die Gräben und vielfach auch die tieferen Gewässer trockneten aus; in den Wasserlachen konnte man die Fische mit den Händen greifen oder mit dem Rechen herausholen, namentlich wenn man das Wasser trübte; die Fische kamen dann, Luft zu schöpfen, an die Oberfläche und ließen sich mühelos fangen. Hechte, Schleie, Barsche usw. fielen uns auf diese Weise in die Hände. Aale hab ich vielfach mit den Fingern aus dem Schlamm gezogen; die Stelle, wo einer steckte, war an dem Luftloch erkennbar, das an die Oberfläche ging;[78] mit festem Griff gepackt, waren sie leicht gehoben. Die Mutter war oft wenig erbaut, wenn ich am Abend mit meiner Beute heimkehrte; man konnte sie doch nicht wegwerfen, andererseits war die Arbeit der Reinigung eine höchst unerwünschte Vermehrung notwendigerer Geschäfte.

Andere Jagd als auf Fische habe ich nicht kennen gelernt, es sei denn auf Vögel, denen wir wohl einmal im harten Winter nachstellten: ein Sieb wurde schräg auf die Kante gestellt, an dem Pflock, der es hob, ein Bindfaden befestigt und dieser ins Haus geleitet. Wenn nun die Spatzen, Blaumeisen, Rotkehlchen dem unter das Sieb gestreuten Futter nachgingen, zogen wir den Pflock weg und das Sieb fiel über die Gefangenen. Es wurde ihnen aber nichts angetan, als daß sie höchstens einmal auf einen Tag in die Stube genommen wurden; dann sorgte die Mutter schon für ihre Befreiung.

So viel von den mit den Jahreszeiten wiederkehrenden Spielfreuden. Von Festen ist wenig zu berichten. Die kirchlichen Feste waren so gut wie rein spiritueller Natur, durch gehäuften Kirchenbesuch, an den hohen Festtagen anfänglich wohl noch vor- und nachmittags, der Jugend keineswegs empfohlen. Zu Weihnachten gab es für die Größeren keine Geschenke mehr; hatte man einmal die verhängnisvolle Entdeckung gemacht, wie es mit den Gaben des »Kindjens« zugehe, dann schwand mit der holden Täuschung auch die Füllung des Tellers, höchstens, daß ein doch notwendiges Stück zum Fest überreicht wurde. Zu Ostern gab es bunte Ostereier, aber auch nur für die Kleinen. Familienfeste, Geburtstage wurden nur etwa bei Tisch einmal ein wenig ausgezeichnet; und ich gestehe, daß ich einigermaßen geneigt bin, ein Zuwenig in diesen Dingen weniger schlimm zu finden als ein Zuviel. Durch das Zuviel kann das Schenken zu einer wahren Landplage werden, für die Beschenkten ebensosehr wie für die Schenker, die ja übrigens in der Regel die Rollen wechselsweise spielen.

Doch eines Festes muß ich noch gedenken, es war eigentlich das Fest des Jahres: der Langenhorner Jahrmarkt, gegen Ende August. Lange Zeit vorher wurden die Tage abgezählt, die es noch bis zum Jahrmarkt sei. Dann begann die Vorfreude: am Sonnabend kamen die Dorfstraße entlang Pferdekoppeln, mit allerlei Aufputz an Schweif und Mähne, geheimnisvolle Kastenwagen, aus denen hin und wieder ein fremdartiges Gesicht zum Fenster hinausguckte, das Karussell, die Pferde und Drachen und Boote auf Wagen verpackt, einige Kunstreiterpferde mit aufgeputzten Reitern usw. Wir lagen auf dem Erdwall[79] vor unserm Hof, und all diese Herrlichkeiten passierten, die Begierde weckend, vor unseren Augen vorüber. Am Sonntag nachmittag um vier Uhr wurde der Markt »eingeläutet«; natürlich waren wir schon zur Stelle: die Budenstadt, die auf unserem Spielplatz über Nacht entstanden war, wurde besichtigt, die Preise verglichen, die Obststände begehrlich angeschaut, das Karussell probiert, die Buden mit wilden Tieren sondiert, man wollte doch sicher sein, für sein Geld etwas zu haben, die Moritaten, die zur Drehorgel mit Demonstrationen an einem großen in Felder geteilten Tableau auf Wachsleinwand abgesungen wurden, so lange gehört, bis man sie auswendig konnte: ich erinnere mich noch einer gräßlichen Schauertragödie mit sechsfachem Mord aus Spanien. Halbtot vom Getöse, Gedränge, Hitze, Staub und Gerüchen kam man am Abend nach Hause, und doch glücklich in dem Gefühl, daß ja die Herrlichkeit erst im Angehen sei. Der Montag war erst der Haupttag: da kamen die Besuche, Verwandte und Bekannte von außerhalb stellten ihre Wagen und Pferde ein; überall war der Tisch gedeckt; für die Kinder fiel ein »Jahrmarkt« in die Börse, und so zog man mit Krösusgefühlen dem Marktplatz wieder zu. Man erwog und teilte ein, um das Menschenmögliche zu erschwingen; die ersten Äpfel und Birnen wurden erstanden, zehn Stück für einen Schilling, sie waren meist noch unreif, der Geruch unreifen Obstes ist bei mir noch heute mit dem Langenhorner Jahrmarkt unlöslich assoziiert; der Seiltänzer, der vor der Kunstreiterbude sich sehen ließ, wurde bewundert, ein Feuerfresser vor der Wildentier-Bude angestaunt; noch stärker zog das Brüllen des Löwen oder das Brummen des Bären, das man aus dem Zelt heraus hörte, und so faßte man sich ein Herz und riskierte seine paar Schillinge. In einer anderen Bude zeigte sich ein Mann ohne Arme; er konnte aber mit dem Fuß schreiben: Ich habe noch das Blatt, auf dem er eine Rose gezeichnet hat mit der Umschrift: Keine Rose ohne Dornen. Und so ging das weiter, bis der Tag sich neigte. Leer am Beutel, krank am Herzen zog man endlich heimwärts; der längste Arbeitstag machte nicht so müde und zerschlagen als dieser Jahrmarktstag. Das hinderte nicht, daß man sich bald auf den nächsten zu freuen begann. Außer dem heimischen Jahrmarkt wurde noch zuweilen der Bredstedter Markt im Oktober und der Lecker im Frühjahr besucht. In Leck wurden die jütischen Kühe gekauft, die auf den Marschweiden im Sommer sich mästeten, um dann auf dem Husumer Herbstmarkt verkauft zu werden.

Quelle:
Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1910, S. 72-80.
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