Aufenthalt auf zwei Klosterschulen.

[12] Bei der Reformation der Kirche im 16. Jahrhundert ist ein großer Theil der in dem Thal befindlichen Klostergüter in Privatbesitz übergegangen, andere sind zur Errichtung und Erhaltung von Erziehungsinstituten verwendet worden. Viele Grundstücke, auch die vornehmsten von denen, die wir selbst besaßen, zinsten nach Pforte, wohin freilich ein weiter Weg über den Orlas hinüber führte, und von dem wir bloß durch Hörensagen wußten. Alle Tage dagegen sahen wir Roßleben jenseit des Riethes über der Unstrut vor uns liegen. Es war vor kurzem vollkommen umgebaut worden und nahm sich aus, wie ein schönes Schloß. Da hat uns zuweilen der Weg nach Querfurt vorbeigeführt, wenn wir das großelterliche Gut besuchten. Jenseits dem Holz waren wir dann immer ausgestiegen, um den Weg zu Fuß zu machen; der Vater liebte, das Thal auch von dieser Seite zu betrachten.[12] Bekanntschaft hatten wir in Roßleben nicht; der Vater schien es nicht zu lieben. Sein Augenmerk war für seine Kinder nach Pforte gerichtet, weil er in seiner Jugend mit manchem Zögling dieses Klosters Bekanntschaft gemacht hatte, der in den alten Sprachen eine vollkommene Festigkeit besaß. Diesen größeren Klosterschulen zur Seite gab es aber noch eine dritte in unmittelbarster Nähe, eine Stunde Weges von Wiehe, die für jüngere Knaben zur Vorbereitung für die beiden anderen bestimmt war: Kloster Donndorf, unmittelbar am Gehölze auf einer Höhe, welche das ganze Thal überschaut. Dahin gingen zunächst unsere Wünsche. Doch hatte es bei den nicht immer ganz guten Beziehungen zwischen den Honoratioren der Stadt und dem Schloß, von welchem die Besetzung der Freistellen abhing, einige Schwierigkeit, eine solche zu erlangen, wie doch der Vater wünschte. Ich erfuhr zufällig selbst dort am Bach von einer durch den Abgang eines Bürgersohnes entstandenen Vacanz, und dem Vater gelang es, indem er die Gelegenheit unmittelbar ergriff, die Stelle für mich zu erhalten. Kurz darauf – es war im Frühjahr 1807 – wanderten wir denn, Vater und Sohn, während die kleinen Habseligkeiten des Knaben auf einem anderen Wege herbeigeführt wurden, über das grünende Feld dem Kloster zu. Wir traten ein durch die alte kleine Pforte, durch die einst die Nonnen – denn es war ein Frauenkloster gewesen – nach dem Brunnen tief unten im Thale geschritten waren, und fanden daselbst freundliche Aufnahme. Der Rector prüfte mich ein wenig; ich war sehr empört, als er mir bei der Gelegenheit einiges Zuckerwerk präsentirte; wohl nur nach alter Sitte, denn sonst war das seine Art gar nicht. Nach bestandenem Examen lief ich unter die Schüler, die auf dem Schulplatz Ball schlugen. Hier verließ mich der Vater nach ein paar Stunden Aufenthalt. Ich bin dann nie wieder außer den Ferienzeiten in das väterliche Haus zurückgekommen, das ich jedoch dort mit scharfen, jungen Augen von einem Schulfenster unterscheiden konnte.

Wir waren etwa unser dreißig Schüler von 11–14 Jahren, in zwei Classen vertheilt, von denen der Rector die obere, der Collaborator die andere unterrichtete. Wir wohnten in größeren oder kleineren, immer geräumigen Zellen; ich bekam meinen Platz in der größten und entferntesten von allen, unmittelbar am Schulgarten. Wie hörten sich die Gewitter droben so prächtig an; nie war ich noch so aufmerksam darauf gewesen; wir zählten die Secunden zwischen Blitz und Donner. Die Schule hatte ihren Reiz darin, daß sie zugleich Landaufenthalt war. Der Rector, des Namens Krafft, mochte vierundvierzig Jahre[13] zählen. Uns erschien er schon sehr alt und zwar um so mehr, da er mit der Hand zitterte, wenn er ein Buch oder Papier darin hielt. Er gehörte der rationalistischen, jedoch praktisch-gläubigen Richtung der Kirche an; denn er war Theolog, war aber ganz geeignet für seinen Platz: wohlwollend, aber doch noch mehr streng, keineswegs sehr eingenommen für die jungen Edelleute, welche man ihm schickte; er wies sie immer sehr ernst in ihre Schranken; überhaupt war er für persönliche Gunst unzugänglich. Aber sein Ernst erlaubte ihm doch, uns zuweilen in schönen Tagen in seiner Gartenlaube die lateinischen Exercitien zu corrigiren. Da in dem Kloster nur alle vierzehn Tage gepredigt wurde, so hielt er einen Sonntag um den andern die Gottesverehrung selbst. Im Sommer versammelte er uns unter ein paar großen Rußbäumen im Garten; ich denke, es waren Salzmann'sche Predigten, die er dann vorlas. Sie machten auf uns einen viel tieferen Eindruck, als wenn dann am anderen Sonntag der Pfarrer aus Dorf Donndorf heraufkam und seine Predigt mit donnernder Stimme abhielt. Wir saßen dann hinter der Kanzel, die Emporkirche erzitterte unaufhörlich. Ein noch eindringenderes Gepräge aber trugen die abendlichen Gebete, welche der Rector an den Sommerabenden, wenn wir vom Spaziergang nach Haus kamen, im Holz auf einem dazu eingerichteten Platz oder auch einem anderen, der sich gerade darbot, mit uns hielt. Wir stellten uns dann um ihn her; er sprach ein Abendlied versweise und intonirte den Gesang desselben, dem wir dann mit hellen Stimmen folgten. In dem Waldesdunkel unter den glänzenden Sternen, nach ihnen emporschauend, werden wir gehört worden sein, oder wenn nicht, so gingen wir doch mit erhobenem Gefühl von dannen.

Der Collaborator war noch ein junger Mann, der sich zu seinem theologischen Examen präparirte und zu diesem Zwecke zuweilen auch mit einigen Schülern die Evangelien in der Ursprache las; denn hier hatten wir Griechisch angefangen. Er führte uns weite, weite Spaziergänge. Wir besuchten einmal die Sachsenburg an der Unstrut, wo wir dann die Nacht bei einem unserer Verwandten in Gorsleben zubrachten, die ganze Jugend auf der Streu. Den anderen Morgen wurden die Berge erstiegen und die Ueberreste der Burg gründlich besichtigt. Ein andermal besuchten wir im Dickicht des Waldes die freilich nur unbedeutenden Reste von Rabenswald, oder einen und den anderen Schwedenhügel. Noch habe ich das Gefühl von den sonnigen zugleich und schattigen Sommertagen, bei den Teichen von Kleinrode, wohin unsere Spaziergänge meistentheils führten, von alle dem[14] Leben in Luft und Wasser, das sich da regte. Wir genossen die Natur, aber wir studierten sie nicht. Der Rector besaß einige Kunde, war aber nicht mittheilsam; der Collaborator war ein Candidat, der davon wenig wußte. Dagegen war ihm eine schöne Gabe der Erzählung eigen; er hatte historischen Sinn und es war ein Fest für uns, wenn nach den schwereren Lehrstunden an den beiden großen Tafeln die Bänke auseinandergerückt wurden und der junge Lehrer zu erzählen oder auch vorzulesen anfing, was in alten Zeiten geschehen war. Besonders war es sächsische und thüringische Geschichte, die dann durch die nahen historischen Plätze einen besonderen Reiz für die Jugend bekam.

Das Alterthum wurde uns nur etwa durch Becker's Erzählungen aus der alten Welt bekannt. Da bekamen wir zuerst einen Vorgeschmack der Homerischen Gedichte. Wir scharten uns dann sehr bald in Trojaner und Griechen und theilten die Rollen der Helden unter uns aus. Unser Achill war der Sohn des Rectors von Roßleben, Wilhelm, der etwas älter als die meisten anderen war, derselbe, der sich später durch geographische Studien über das alte Germanien, namentlich auch über unsere Gegenden, einen Namen gemacht hat; leider ist er sehr früh, gestorben. Nicht wenig Eindruck machten auf uns die Rittergeschichten, die wir zu lesen bekamen, namentlich wenn sie in die thüringische Geschichte einschlugen, so daß sie die Burgen, die wir besuchten, und die umliegenden Gegenden belebten. Zum erstenmal bekamen wir auch ein Schiller'sches Werk zu hören, und zwar das Lager. Die Exemplare waren bei der Beschränktheit der Mittel nicht eben häufig; unser Wilhelm hatte aus Roßleben eins mitgebracht und las einmal daraus vor. Ich selbst konnte es nicht in die Hände bekommen, doch blieb mir der Eindruck der Darstellung des unmittelbaren Lebens in der Poesie immer gegenwärtig. Dazwischen lasen auch wir die Napoleonischen Bulletins in der Leipziger Zeitung, welche gehalten wurde. Sie erfüllten zugleich die Phantasie und führten in die Tagesgeschichte, welche nie großartiger war, uns aber in unserem sächsischen Kloster doch nur eben als Weltbegebenheit berührte. Aus den verschiedensten Zeiten drangen so lebendige Momente in das jung Gemüth, das Vornehmste blieben aber immer die Erinnerungen aus der alten Welt. Zuweilen besuchte mich mein einige Jahre jüngerer Bruder Heinrich, einer der lieblichsten Knaben, welche man sehen konnte, schön und verschämt. Wir gingen dann wohl mit einander nach Wiehe, und auf den Stegen durch das Korn schreitend, dessen Aehren uns Beide überragten, erzählte ich ihm[15] von den Heroen der Vorzeit; er lauschte mir mit größtem Interesse und Vergnügen. Die eigentlichen Studien hielten sich innerhalb der Elemente des Wissens, doch fingen sie schon an, einiges Vergnügen zu gewähren, namentlich poetische Stellen, die dann und wann einmal vorkamen. Doch erschien Theologie noch immer als die größte aller Wissenschaften, wie denn bei unseren Lehrern der Oberhofprediger Reinhard in Dresden als der größte Mann in der gelehrten Welt und als ein höchst nachahmenswerthes Muster glücklichen Emporstrebens betrachtet wurde.

Mein Aufenthalt auf der Schule war durch mannigfaltige Krankheiten, namentlich ein lang anhaltendes kaltes Fieber, welches in der Gegend und in der Schule grassirte, ungedeihlich geworden; ich sah erbärmlich aus. Oft hat mein Vater, wenn ich ihm davon sprach, daß ich bald nach Pforte zu kommen gedenke, gemeint, er werde mich wohl dahinaus bringen, aber auf den Gottesacker, der am Wege lag, nicht weiter. – Gott fügte es aber anders; ich genas, und im Mai 1809, nachdem sich auch in Pforte unerwartet eine Stelle gefunden hatte, machten wir uns in der That dahin auf. Jetzt wurde der Orlas, der bisher den Gesichtskreis beschränkt hatte, wirklich überschritten, die tiefe Thalschlucht von Bibra hinunter zurückgelegt und die andere Höhe von uns zu Fuß neben dem Wagen erstiegen. Nach ein paar Stunden erreichten wir die Höhen über Kösen, nicht auf der Landstraße, sondern zur Linken derselben. Da that sich nun das Thal von Naumburg auf, dessen Dom wir noch eine Stunde weit hinter der Schule erblickten. Der Vater blieb bei dem Anblick stehen, um ihn zu genießen; ich ging voller Erwartungen der nächsten Zukunft hinter dem Wagen her, die Höhen abwärts voran.

Schulpforte ist die namhafteste von allen den Schulen, die in alten Klöstern errichtet worden sind. Es ist rings vollkommen von einer hohen Mauer umschlossen, abgesondert von allen anderen Ortschaften, eine kleine Welt, und zwar eine Schulwelt für sich. Wir hatten einen Freund an dem ersten Geistlichen John, der früher Diaconus in Wiehe gewesen und durch die Empfehlung Thielmann's befördert worden war. Ein kleiner, wohlhäbiger Mann, der ebenfalls der rationalistischen Richtung der Zeiten, in denen sie mit dem positiven Glauben noch nicht gebrochen hatte, angehörte; voll unendlichen Wohlwollens, nicht ohne Wissen, obwohl ohne eigentliche Wissenschaft. Er nahm uns auf das freundlichste auf. Den anderen Tag bestand ich das Receptionsexamen. Nach demselben bei Tisch bemerkte John als etwas Auffallendes, daß der kleine Bürgerliche den Vorzug vor einem[16] großen Edelmannssohn davongetragen, der zugleich mitgeprüft worden war, aber sich sehr unwissend gezeigt hatte. Mir war es auffallend, daß man das bemerken konnte; denn es war ja nach meinen Begriffen von Donndorf her ganz in der Ordnung. Was sollte der Standesunterschied bei einer Prüfung?

Die ersten Zeiten in Pforte waren angenehm in Bezug auf die Knaben von gleichem Alter, die mir nahe standen und unter denen ich bald Freunde fand; sehr unangenehm in Bezug auf die älteren, welche einen Vorrang besaßen und sogar kleine Dienste forderten, die an den alten Pennalismus erinnerten. Erträglich wurde es bloß dadurch, daß ein Jeder nach einiger Zeit selbst in die mittleren und höheren Classen zu kommen hoffte. Es waren mehr als anderthalb Hundert junge Leute zusammen, ohne allen weiteren Unterschied, als den der Jahre und der Classen. Eine Anzahl gab es, welche bei den Lehrern als Kostgänger lebten; sie wurden aber schon als Fremdlinge betrachtet. Der Charakter eines Portensers bestand darin, Alumnus zu sein. Das Eigenthümliche war, daß dieser Cötus der Alumnen sich als eine Genossenschaft, als die eigentliche Corporation der Schule betrachtete, über welche die Lehrer die Aufsicht führten, ohne daß man gerade zu unbedingtem Gehorsam gegen sie verpflichtet sei. Die Lehrer bestanden aus zwei Classen, den ordentlichen, welche den Titel »Professoren« vor kurzem erhalten hatten, aber noch immer die alten Schultitel führten: Inspector, Conrector, Cantor u.s.w., und den Collaboratoren, welche auch, noch nicht lange Zeit in Wirksamkeit waren und die unmittelbare Aufsicht führten. Sie wohnten je einer zwischen zwei Stuben, in denen man arbeitete, um dies um so besser ausführen zu können. Natürlich waren sie verhaßt; man sah ihnen alle ihre kleinen Lächerlichkeiten ab; selbst eigentliche Achtung genossen sie nicht, wenn sie sich nicht ganz besonders gelehrt erwiesen. Die Schule war fortwährend im Zustand geheimer Rebellion gegen diese jungen Zuchtmeister, denn Anfänger waren sie alle. Die ordentlichen Lehrer standen einen Schritt entfernter. Sie waren Männer in Jahren, von ausgeprägter Individualität, in guten Umständen, mit Familie. Ihnen zu gehorchen war man nicht sehr geneigt, doch geschah es.

Als die Gelehrtesten galten der Rector und der Mathematicus Schmidt; der Letztere, ein Mann von kleinster Statur, der älteste von allen, durch eifrige Religiosität in dem alten Sinne etwa meines Großvaters, mannigfaltige Kenntnisse, auch der Natur, und eine gewisse Gabe der Poesie ausgezeichnet. Er hatte vor dem dreißigsten Jahre keine Stelle annehmen wollen, weil unser Herr und Heiland[17] auch erst im dreißigsten Jahre zu lehren angefangen. Er fühlte einen frommen Abscheu gegen alle Einmischung heidnischen Wesens in die allgemeinen Anschauungen; er erklärte Jupiter für einen weiland König von Kreta. Man sagte ihm nach, er habe sich aus seinem Exemplar von Schiller's Gedichten den Bogen, auf welchem ›Die Götter Griechenlands‹ stehen, herausbinden lassen. Sein Dichter war Klopstock, dessen versteckte Heterodoxien er entweder nicht bemerkte, oder sich gefallen ließ. Er hatte von der Messiade ein kostbares Exemplar mit Kupferstichen, die er zuweilen, etwa nach Tisch, wenn man das Glück hatte, von ihm eingeladen zu werden, vorzeigte. Sein Hauswesen war auf das beste, sauberste, anständigste eingerichtet. Die Frau und die bereits ältere Tochter theilten seine Gesinnungen. Ein Sohn hatte schon die Stufe der Collaboratur überstanden und ein besseres Schulamt anderswo erhalten. Er zeigte sich, wenn er erschien, als das Abbild seines Vaters; es ist jener Schmidt, der viel über Missionen geschrieben hat, doch fehlte ihm der Genius des Alten. Von dem Mathematicus stammte das Berglied, das alle Jahr an dem Bergtage gesungen wurde, an welchem die Schüler in einer Art von Procession die waldumkleidete Anhöhe, an deren Fuße Pforte liegt, erstiegen. Es ist ganz eigens zu diesem Zweck angethan, voll von Würde und jugendlicher Freudigkeit. In früheren Jahren hatte er gar manche andere kleinere Gedichte, voll Geist und Anmuth, jedoch nur für die Alumnen und die Schule verfaßt. Denn in der Schule gingen alle seine Gedanken auf, so wie eigentlich auch die der übrigen Lehrer. Der Mathematicus war voll von heiligem Eifer gegen jede Uebertretung; er sagte wohl, wer sich einer solchen schuldig mache, stehe schon mit einem Fuß in der Hölle. Seine mathematischen Lehrstunden waren gründlich, ohne doch eigentlich recht anzuregen. Er gab zur Ergänzung auch noch Privatstunde, etwa für fünf Schüler, die sich dann um seinen runden, aus zwei Hälften zusammengesetzten Tisch versammelten, von dem er zu erzählen liebte, wer alles schon von namhaften Menschen daran gesessen habe. Es war ein enges Stübchen, ringsum mit Büchern bis hoch hinauf besetzt, die er dann, wenn von einem oder dem anderen die Rede war, die Leiter ersteigend herunterholte. Den Titel las er dann vom ersten Wort bis zum Verleger herunter wörtlich ab. Außer dieser hatte er sich noch eine freiwillige Lehrstunde, die er die moralische nannte, vorbehalten, mit der er die Woche zu eröffnen pflegte. Er kam in einer frischen Perücke, sein Bibelbuch vor sich hertragend, feierlichen Angesichts in das nahe Auditorium. Die Stunde war durch historische Beispiele, die er einflocht,[18] der Jugend interessant. Das Eigenthümlichste mochte sein, daß er an den Feldzügen Napoleon's den größten Antheil nahm und ihn als einen Helden der Menschheit verehrte. Man sagte, er erwarte von ihm die Zurückführung der Israeliten in das gelobte Land. Bis zum Brand von Moskau war er immer sehr wohl unterrichtet, dann nicht mehr. Er hat später, als er in den Ruhestand trat, seine Wohnung über dem Kreuzgange verlassen und eine andere, noch engere bezogen. Aber er war sehr zufrieden damit, denn in der neuen könne er doch die Sonne aufgehen sehen; ein Anblick, dessen er bisher entbehrt habe, und den ihm Gott aus besonderer Gnade in seinem Alter alle Tage gewähre.

Der Rector der Schule, Carl David Ilgen, eine lange Gestalt von tiefem Ernst, genoß den Ruf tiefer Gelehrsamkeit in den alten Sprachen, namentlich in der hebräischen. Er war der Sohn eins thüringischen Landschulmeisters, der damals noch bei ihm wohnte, und hatte dann als Professor in Jena sich einen gewissen Namen in der Literatur über das Alte Testament gemacht. In der Schule gereichte es ihm zur Vermehrung seines Ansehens, daß er der Lehrer Gottfried Her mann's gewesen war, des Philologen, der hier als der vornehmste aller Gelehrten betrachtet wurde. Ilgen interpretirte den Horatius, ohne gerade sehr viel auf den Dichter selbst einzugehen. Er beschäftigte sich meistens mit den Alterthümern, die er ausführlich erläuterte, und brachte dann Emendationen an, die uns freilich nicht immer recht munden wollten: einmal brachte er usquequaque in eine Ode; aber er wußte immer die Aufmerksamkeit zu erhalten. Er führte alle Schwierigkeiten der Interpretation ausführlich auf und wußte sie dann so zu lösen, daß wir uns alle befriedigt fühlten. Wir müssen ihm noch alle danken, daß er uns mit Exercitien nicht viel plagte; aber er corrigirte sie gründlich und zeigte bei jedem Wort, daß er ein Kenner war. Seine vornehmste Aktion für die Schulübungen bestand in einem Dictat, das er bei dem Examen, welches zweimal des Jahres eine ganze Woche mit Arbeiten erfüllte, niederschreiben ließ, um es dann in lateinischen Versen zu bearbeiten. Dies war die Hauptaufgabe, die sich wohl noch an die Melanchthonischen Zeiten anschloß. So seltsam diese Art von Uebungen aussieht, ich möchte sie nicht verurtheilen. Der jugendliche Geist brauchte sich nicht zu quälen, um eigene Gedanken, die doch noch unreif sein mußten, in eine andere Form zu kleiden. Man hatte einen gegebenen Stoff, an welchem man nur eben seine Bekanntschaft mit der alten Sprache übte, und zwar in einer freieren Bewegung und mit kleinen Erhebungen über den Boden[19] des Gegebenen, die der Bildungsstufe entsprachen. Das Metrum erschien als eine andere Art von Grammatik; man mußte sie beide beherrschen. Der Rector wußte Stoffe zu wählen, welche das Interesse fesselten, meistens aus der sächsisch-thüringischen Geschichte, wo wir denn lernten, daß das nahe Zscheiplitz von supplicium herkäme und seinen Ursprung an Ludwig den Springer anknüpfte. Wir erschraken einmal, als er unter der lautlosen Stille, mit welcher die Bezeichnung des Themas erwartet wurde, mit seiner donnerähnlichen Stimme aussprach: De lexicographis. Aber es war ihm vortrefflich gelungen; er flößte für die saure und schwere Arbeit der Lexikographen und ihre berühmten Namen lebhaftes Interesse ein. Alles geschah mit gebieterischer Würde. Ilgen war der König oder vielmehr – denn er bezog sich gern auf die Befehle seiner hohen Oberen, die er jedoch meist selbst hervorrief – der absolute Statthalter in diesem kleinen Reich. An Schwächen fehlte es weder bei ihm selbst, noch in seinem Hauswesen; das verschwand aber alles vor der unbedingten Autorität, die er genoß. Er erschien wie das objective Gesetz, seine Wissenschaft als die objective, zu lernende Wissenschaft. Er zog die jungen Leute nicht an sich heran; er fuhr auf und war schrecklich in seinem Ingrimm. Wenn ein Vergehen einer großen Anzahl vorgekommen war, rief er den Cötus zusammen, um seine Entrüstung kundzugeben. Dann brach sein Unwille los, man sah ihn schäumen vor Zorn; ohne Wirkung war das jedoch nicht trotz seiner Uebertreibungen, obwohl es nicht ganz die hatte, welche er erwartete.

Eine ganz andere Natur war der Tertius Lange, der später Ilgen's Nachfolger geworden ist. Dieser beschäftigte sich mit den Einzelnen; er sammelte sie in kleinen Kreisen um sich, ließ sie arbeiten und suchte einen Jeden seiner Natur gemäß zu fördern. Seine gewöhnlichen Lehrstunden waren weder sehr anziehend, noch sehr unterrichtend. Er lehrte Homerische Grammatik durch Tabellen. Sein lateinischer Ausdruck erschien dem Ilgen'schen nicht ebenbürtig. Aber er hatte eine Specialität, durch welche er die Aufmerksamkeit im höchsten Grade fesselte, das war die Archäologie; mit den Ueberresten der alten Kunst, den Ausgrabungen und den Sammlungen der Antiken war er gut bekannt. Er schilderte die alten Tempel, die Säulenordnungen und die plastischen Kunstwerke eingehend und anschaulich. Man hat ihm später diese Lektion als über die Schule hinausgehend gestrichen; sie war aber das Beste, was er seiner Individualität nach geben konnte und gab. Er hatte Sinn für das Schöne, wie in der Kunst so auch im Leben, und besaß eine sehr ausgebreitete Kenntniß der Literatur.[20] Seine Vorträge über die alte Literatur waren ebenfalls für das Bedürfniß der Schule zu ausführlich, aber um so belehrender, je mehr er in die einzelnen Schriften einging. Seine Erklärung dieser oder jener Schrift Cicero's ließ uns kalt; seine literarischen Erörterungen über den Redner und dessen Werke gewannen unsere lebhafte Theilnahme.

In dem Laufe der fünf Jahre, die ich auf der Schule zubrachte, waren meine Studien vornehmlich auf die Lektüre der classischen Autoren gerichtet, namentlich der Dichter. Von Ovid, der fast zu viel Modernes hat, um den jugendlichen Geist zu fesseln, gingen wir über zu Virgil, den wir nicht allein lasen, sondern auswendig lernten. Es gab Einen und den Anderen unter uns, welche die Aeneide von Anfang bis zu Ende hätten hersagen können, wenigstens rühmten sie sich dessen, und wo man sie fragte, konnten sie fortfahren. Indessen war Homer endlich im Griechischen angefangen worden. Ich glaube, ich habe beide Gedichte, Iliade und Odyssee, dreimal durchgelesen; was während des Aufenthalts in Donndorf doch immer mit einer etwas fremden Färbung gefaßt worden war, ging nun in seiner uralten eigensten Gestalt und Farbe an dem Auge vorüber. Sehr wahr, daß dabei nicht alles auf das genaueste erforscht wurde. Aber der Gesichtskreis der ältesten Welt umfing uns; mit unserer ganzen Seele lebten wir darin. Die Zeit des Abendgottesdienstes, wo ich, wie ich bekennen muß, den kalten und matten Vorträgen wenig folgte, verwandte ich vielmehr dazu, die Bibel so viel als möglich ganz durchzulesen. Es waren die Evangelien bei weitem mehr als die Episteln, die Psalmen mehr als die prophetischen Bücher, hauptsächlich aber waren es die historischen Bücher des Alten Testamentes, die ich immer von neuem las. Es war ein vollkommen abweichender, aber doch naheliegender Horizont, wie der der Homerischen Gedichte. Es ist der Hintergrund oder vielmehr die Grundlage aller Bildung, aller Anschauungen der späteren Welt. Die junge Seele gleitet leicht über das Anstößige und Unverständliche weg; aber sie wird von dem Geheimnißvollen, was etwas ganz Anderes und wenigstens die Ahnung des Verständnisses in sich schließt, dem Großartigen und der Macht der Erscheinung, dem starken, unmittelbaren Ausdruck derselben, in ihrer Tiefe ergriffen: sie athmet die Luft des Unvergänglichen ein. Die archaistische Farbe der Luther'schen Uebersetzung erhebt noch besonders über das Gespräch des Tages und die Schriften gewöhnlicher Art in eine andere Sphäre.

Auf dieser Stufe der Bildung mußte dann Klopstock unter den[21] Modernen, die wir erreichen konnten, unser vornehmster Poet werden. Er war in derselben Schule erzogen; einen nahen Brunnen am Steig, der durch den Wald führte, nannte man mit seinem Namen. Die Versuche, das classische Metrum in der deutschen Nation einheimisch zu machen, wie auch wir das wohl versuchten, brachten ihn uns besonders nahe. An den langen Reden seiner Engel und Satane und der ersten Menschen konnten wir freilich immer keinen besonderen Antheil nehmen; sie waren dem Classischen gegenüber bei weitem nicht prägnant genug. Was ihm persönlich ist in seinen Empfindungen, ist überhaupt das Schwächste; aber im Ganzen liegt die große christliche Dichtung, an der so viele Jahrhunderte mitgearbeitet haben, zunächst in der protestantischen Auffassung, wie sie bei Milton erscheint, zu Grunde, fast mehr, als Klopstock selbst sich dessen bewußt sein mochte. In dieser Dichtung liegt eine unendliche Macht, die ihr gleichsam eingeboren ist; sie ist eine Fortbildung des poetischen Elementes, das über den Apokryphen und zum Theil dem Neuen Testamente schwebt; sie wird nie ihre Wirkung verfehlen. Klopstock hat sich noch eines anderen Stoffes, der ersten Anfänge der deutschen Geschichte, zu bemächtigen gewußt oder doch gesucht; für sich selbst, d.h. in der Form mit noch geringerem Succeß, als in der Messiade. Dennoch welch ein Fortschritt gegen die Rittergeschichten, mit denen wir uns früher beschäftigten! Es ist ein Gefühl von Größe und Nationalität und wilder Natur darin, welchem Wahrheit zukommt. Die Oden, denselben Geist athmend, noch kunstvoller und in dem kleinen Stoff energischer, eröffnen zugleich den Blick in das Privatleben eines guten und braven Mannes aus alter Zeit. Klopstock's Fanny und Cidly, seine zurückgewiesenen oder auch erwiderten zärtlichen Neigungen, sein Aufenthalt in der Schweiz und später in Eutin, die kleinen Abwandelungen seiner Lebensschicksale, sein Schlittschuhlaufen und seine Freundschaften bildeten den Gegenstand unserer Interessen und unserer Gespräche. Unter den jungen Leuten, wie sie beisammen waren, selbst bildeten sich Anziehungen, Abstoßungen, Schließen und Unterbrechen von Freundschaften, wofür man sich gewisse Maximen bildete, an denen festgehalten wurde. Ein eifriger Klopstockianer war mein Freund Haun, später Director in Mühlhausen, der in dem letzten Verhältniß von einem seiner Schüler als vir sanctissimus bezeichnet ward und schon in diesem Alter Ernst, Wohlwollen und Würde besaß. Er versuchte sich selbst in der Klopstock'schen Art und Weise, was ihm denn die Ehre verschaffte, einmal am Charfreitag ein langes Gedicht öffentlich vorzutragen. Aehnlichen Sinnes war ein anderer, früh verstorbener[22] Freund, des Namens Harzmann. Die Billigung der beiden ernsten und braven Freunde gab mir in allem, was ich that und trieb, größere Zuversicht.

Von allen persönlichen Begegnungen aber bei weitem die wertheste und nützlichste war die Freundschaft, welche mir einer der Collaboratoren, Wiek, später Director in Merseburg, damals bewies. Ein Mann von Tiefe der Anschauung, etwas dunkel in seinem Ausdruck, namentlich wenn das Feuer des Gesprächs ihn ergriff; aber zugleich den Einwirkungen des Zeitgeistes sehr offen, für das Reue empfänglich und immer bemüht, das eine mit dem anderen zu combiniren. Von den dortigen Menschen war er der Einzige, der einen Begriff von Goethe hatte; er hat mir zuerst von Faust gesprochen. Lange liebte Schiller; er gab uns zuweilen einige seiner glücklich ausgesprochenen Sentenzen, an denen er Gefallen fand, selbst zu Uebersetzungsversuchen. Wir lasen die Schiller'schen Stücke und meinten, indem wir sie bewunderten, sie doch auch beurtheilen zu können. Sie sind dem Standpunkt der Jugend durchaus gemäß; denn sie bringen große objective Gestalten, die man vor sich sieht, vor die Augen; Farbe und Ton der Sprache prägen sich dem Gedächtniß ein. Das ist alles bei Goethe nicht der Fall, dem vielmehr die Welt gleichsam ein persönliches Ereigniß geworden ist, das er auf originelle Weise zusammenfaßt und wiedergebt. Da ist alles mehr subjectiv; ein gereifteres Alter gehört dazu, um daran Wohlgefallen zu finden. So recht eigentlich konnte auch ich mich in Goethe nicht finden. Auch war das alles nur vorübergehend; das ernstliche Studium gehörte ausschließend der alten Welt an. Und da kann ich es nun Wiek nicht genug danken, daß er mich in die Lyriker und besonders die Tragiker des griechischen Alterthums einführte. Ich sehe noch die Erfurter Ausgabe der Sophokleischen Stücke vor mir, die er besaß und die er vor sich hatte, wenn wir sie miteinander lasen. Wir gingen zu Aeschylus fort, der mir freilich noch fremd blieb. Aber schon genug, wenn man außer dem, was man in der Hauptsache zu fassen meint, noch etwas wahrnimmt, was jenseits steht und für die Zukunft übrig bleibt. Wiek hatte einen vollkommenen Begriff von dem Unterschiede der drei Tragiker. Ich fand an Euripides Gefallen, namentlich den Phönissen, doch geschah es wohl durch Wiek, daß ich mich von Anfang an mehr mit Sophokles beschäftigte. Es versteht sich, daß ich ihn durchlas. Allein für mich, ohne Theilnahme des Freundes, machte ich auch einen Versuch, das eine oder das andere Stück zu übersetzen; Elektra übersetzte ich ganz und machte mit der Reinschrift dem Vater zu seinem[23] Geburtstag ein Geschenk. Die Uebersetzung ist freilich in fünffüßigen Jamben, sie scheint mir aber in der freien Bewegung, die dieses Metrum gestattet, nicht mißrathen zu sein. Ich übersetzte dann Philoktet in sechsfüßigen Jamben, hatte aber den sonderbaren Einfall, die Chöre freier und nach dem Vorbild von Schiller's Braut von Messina sogar in Reimen zu übersetzen. Auch einiger und zwar nicht der beste Einfluß von Goethe läßt sich an der zweiten Arbeit bemerken; die erste ist unschuldiger, anspruchsloser und vielleicht besser. Die Hauptsache aber ist die gründliche und durchgreifende Beschäftigung mit dem wundervollen und unerreichbaren Werk des alten Dichters. An die Uebersetzungen schien sich wohl zu Zeiten Nachahmung knüpfen zu können; ich selbst bildete mir das in diesen frühen Jahren dann und wann wohl ein. Aber dazu war doch kein angeborenes Talent in mir; ich habe nicht einmal den Versuch dazu gemacht. Alles blieb Studium, hauptsächlich doch philologisches. Die Prosaiker wurden wenig getrieben, am wenigsten die Historiker, wohl aber Plato in seinen populären Dialogen. Doch genug davon. Ich will nur noch bemerken, daß die Literatur der Commentare zu den lateinischen und besonders den griechischen Schriftstellern, namentlich die holländische, die in der Schulbibliothek einigermaßen vertreten war, Ruhnkenius, Valkenarius, die Gronovius und Graevius uns nicht unbekannt blieben. Sie eröffneten einen Blicken in die weitschichtige Gelehrsamkeit der späteren Latinität und Gräcität. Es war eine Welt von Citaten aus unbekannt gebliebenen Autoren, die denn doch für die Zukunft die Aufmerksamkeit erregten.

Unter diesen Studien, Ferienreisen nach Hause, manchen angenehmen, anderen unliebsamen Begegnungen und Ereignissen verflossen fünf Jahre in den stillen Mauern von Pforte. Die Clausur war nicht so streng, daß wir nicht vielfach Ausflüge, entweder kleinere in ganzer Menge oder auch größere, jeder allein mit ein paar vertrauten Freunden, unternommen hätten. Da wurden die Wälder und Felder durchstreift, ohne daß wir uns mit Naturstudien im mindesten beschäftigt hätten, die nahen Höhen erstiegen, die uns schon wie Berge vorkamen, benachbarte Burgruinen besucht, unter anderen die Rudelsburg, eine der besterhaltenen, die man findet; wir schrieben unsere latinisirten Namen, Caesarius, Palmitius, so hoch wir konnten, in dem alten ritterlichen Gemäuer an. Die Saale erschien als ein großer Strom, Naumburg als eine große Stadt; für mich war es die größte, die ich noch gesehen. Der Dom mit seinen Thürmen und seinem Platz, und wieder das lebhafte Getreibe der Messe machte auf uns[24] vielen Eindruck. Wie angedeutet: das Besondere war die Einheit der Beziehungen, die sich an die Schule knüpfen, welche uns als die vornehmste von allen geschildert wurde und die mit ihrer Geschichte und manchen berühmten Namen aus dem Kreise der scholastischen Beschäftigungen, die man jedoch bald zu überholen gedachte, die Gemüther fesselte.

Während wir aber in diesen Studien der alten Welt lebten und webten, bewegte sich die Gegenwart in den großartigsten Kämpfen, die jemals vorgekommen waren, welche die Welt erschütterten und wiederherstellten. Wir sahen französische Regimenter auf dem Feldzuge nach Rußland die große Landstraße, welche die Mauern berührt, hinziehen. Im Frühjahr 1813 bei dem ersten Vorrücken der Verbündeten erschienen auch bereits Kosaken mit ihren Fähnlein tragenden Lanzen vor unseren Blicken. Dann bedeckten sich die nahen Höhen bei Kösen mit französischen, von der anderen Seite kommenden neuen Regimentern. Mit vieler Zufriedenheit nahm sie der alte Mathematicus wahr, der sie mit seinem Tubus, seinem kostbarsten Eigenthum, aus dem Fenster betrachtete. Bald erfüllten Bataillone von Infanterie, deren Jugend uns auffiel, den Schulhof. Gleich darauf erfolgte die Schlacht von Lützen, unsern von uns, so daß wir den Wechsel der Erwartungen und Erfolge gleichsam mit erlebten. Früher hatten uns wohl die französischen Marschälle interessirt, und wir hatten uns beim Kegelspiel ihre Namen gegeben. Allmählich hörten die Sympathien auf, man begrüßte die Manifeste der Verbündeten mit freudiger Einstimmung. Ich las gerade Tacitus, die Annalen und besonders Agricola; der Gegensatz zwischen Briten und Römern schien sich mir zu erneuern. Wiek bestärkte mich in der Bemerkung dieser Identität; man sieht: so recht unmittelbar lebten wir doch nicht in der Zeit. Endlich erfolgte die Leipziger Schlacht. Das Thielmann'sche Corps streifte bereits länger in unserer Nähe herum; vor dem Thore der Schule hat der Führer den ersten Bericht von der Schlacht denen, die hinausgeströmt waren, vorgelesen. Wir wunderten uns nur, daß die Höhen von Kösen, die uns unüberwindlich schienen, von den Verbündeten nicht besser besetzt worden waren, um den Rückzug des Feindes zu hindern. Von dem Kriegseifer, der die preußische Jugend in dieser Epoche ergriffen hatte, war jedoch bei uns wenig zu spüren. Nur Einzelne wurden davon berührt und verließen die Schule; ich war viel zu schwach, um daran denken zu können. Der besondere Impuls, den das Gefühl eines gefallenen großen Staates, der mit aller Macht wieder aufzurichten ist, einflößt, hatte keine Stätte in unseren Mauern. Wir ließen[25] die große Weltbegebenheit, unter deren Vollziehung die Erde erzitterte, sich vollenden, ohne daran Theil zu nehmen. Ich war mit den Arbeiten beschäftigt, welche bei dem Abgang von der Schule erforderlich waren, die ich dann Ostern 1814 verließ. Der Vater, der mich dahin geführt hatte, erschien, um mich wieder abzuholen. Als ich in dem gewohnten Geleit an der Schulpforte anlangte und das Hoch empfing, das man den Abgehenden brachte, traten ihm die Thränen in die Augen. Ich fand dabei nichts Besonderes, denn es war das Herkömmliche. Meine Gedanken waren auf fernere Studien und die Zukunft gerichtet.

Quelle:
Ranke, Leopold von: Zur eigenen Lebensgeschichte. Leipzig 1890, S. 12-26.
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Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

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Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

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