Jahre der Kindheit.

[3] Schubert hat in seinem Leben den Eindruck geschildert, den ihm der Anblick der Gegend Thüringens, in der ich geboren wurde, bei dem Besuch meines väterlichen Hauses gemacht hat. Es ist ein Thal, das sich der güldenen Aue anschließt und häufig zu ihr gerechnet wird,[3] zwischen dem Kyffhäuser und dem Orlas, auf den beiden längeren Seiten von waldbedeckten Anhöhen umgeben, von der Unstrut durchströmt, die sich – denn einst war wohl alles mit Wasser bedeckt – am Fuße des Orlas einen Ausgang gebrochen hat. Seit langen Jahrhunderten aber ist es mit menschlichen Ansiedelungen bedeckt. Die historische Erinnerung reicht – denn das alte thüringische Königreich ist so gut wie vergessen – in die glänzendsten Zeiten der deutschen Geschichte unter dem sächsischen Hause zurück. Einige populäre Erinnerungen, die sich an die Ortsnamen knüpfen, halten Heinrich I. im Gedächtniß. Da ist vor allem das Kloster Memleben, Schöpfung und Sterbestätte der Kaiser, an jenem Durchbruch der Unstrut; die alte Burg Wendelstein, Kloster Roßleben, Kloster Donndorf und die kleine Stadt Wiehe, welche in der Urkunde des 11. Jahrhunderts als eine kaiserliche Veste bezeichnet wird. Hier in Wiehe, in einem von den Vorfahren ererbten Hause, wurde ich am 21. December 1795 geboren. Der Vater gehörte einer Familie an, die wir doch nur bis in die Hälfte des 17. Jahrhunderts genau verfolgen können. Die Vorfahren, die uns bekannt sind, waren alle Geistliche, meist in der Grafschaft Mansfeld.

Unser Stammvater war Israel Ranke, Pfarrer in Bornstedt, einem ansehnlichen Dorf unfern Eisleben, das von Bauern und Bergleuten bewohnt wird, nahe den Ruinen einer Burg der alten Grafen von Mansfeld, von der ein stattlicher Thurm erhalten ist. Israel Ranke hatte einen Bruder mit Namen Andreas1, welcher Pfarrer im Städtchen Hettstedt war, wo man in der Kirche ein Bild von ihm gefunden hat. Andreas war ein Gelehrter, der auf der Universität Leipzig einige Dissertationen verfaßt hat, die etwas Scholastisches in sich tragen, aber in die Fragen jener Zeit eingreifen. Eine Reliquie von ihm ist eine sehr ausgearbeitete Predigt, gehalten nach einem Brandunglück, von dem die kleine Stadt heimgesucht worden war. Sie ist mit einigen historischen Erläuterungen versehen, die ihr in den Augen der Einwohner noch immer einen gewissen Werth geben; sie hat einige Züge, die von Geist zeugen. Auch von Israel sind einige schriftliche Denkmale übrig, die aber nicht gedruckt worden sind. Er lebte ganz seiner Pfarre, welche er von 1671–1694 verwaltete. Das Kirchenbuch zeigt seine Züge in einer festen Handschrift. In seine[4] Zeit fiel eine pestartige Krankheit, so daß er in die Lage kam, eine große Menge Todesfälle in dem Buche aufzuzeichnen; doch wurde das Pfarrhaus davon wie gar nicht berührt. Er hatte eine zahlreiche Familie, wie denn ein Denkmal in der Kirche einem seiner Kinder gewidmet ist, welches ihm starb. Den Stamm setzte sein Sohn Israel Ranke fort, der in dem benachbarten Wolferode das Pfarramt bekleidet hat. Von ihm ist ein Gebet übrig, worin er Gott um Segen für sein Wirken auch in den freien Künsten bittet, damit er den Menschen könne Nutzen schaffen; Worte von Einfachheit und Tiefe, wie sie nicht besser gedacht werden können.

Dessen Sohn war ein Johann Heinrich Israel Ranke, geboren 1719. Er war erst 6 Jahr alt, als sein Vater starb, der kaum so viel hinterließ, daß seine Wittwe leben konnte. Der Knabe wuchs in dem Hause des benachbarten Geistlichen, Decan in Dederstedt, auf, bis er in die Jahre kam, wo ein Lebensberuf ergriffen werden mußte. Da es an allem Vermögen fehlte, so gerieth man auf den Gedanken, den anschlägigen Knaben ein Handwerk lernen zu lassen. Es giebt dort in der Gegend manche Handwerker, welche sich bis nahe zur Kunst erheben; auch damals mag es solche gegeben haben. Der junge Ranke aber wollte nichts davon hören; er wollte werden, was sein Vater und sein Großvater gewesen waren, nämlich Geistlicher. Er entschloß sich kurz und gut, nach Halle zu wandern, um dort Aufnahme in die lateinische Schule des Waisenhauses nachzusuchen. Wir finden seinen Namen in dem Register der Schule 1733. Er wußte es zu erreichen, daß er in Halle und Leipzig studieren konnte, und gelangte zuletzt in die Pfarre des kleinen Dorfes Ritteburg, wo die Unstrut unmittelbar an dem Garten vorüberfließt. Dort hat er mehr als ein Menschenalter gepredigt. Er verheirathete sich mit einem Fräulein Eberhardi in Hechendorf, von welcher das kleine Besitzthum der Familie an uns übergegangen ist. Auch er selbst wußte sehr gut Haus zu halten und hatte einige Capitalien erübrigt. Vielen Kummer machte es ihm, daß er seine Pfarre als Emeritus verlassen mußte. Er that das nur, indem er sein Studierzimmer als sein Eigenthum reservirte. Er ist 1799 in Wiehe gestorben, wohin er sich, den Achtzigen nahe, zu seinem Sohne begeben hatte. Er war ein gelehrter Mann und hatte eine Menge Bücher hinterlassen, fast ausschließlich theologischen Inhalts, die mehr noch der ersten als der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angehörten. Sie lagen auf unserem Boden zusammengehäuft; Classiker fanden sich beinahe keine darunter. Er scheint der orthodoxen Schule von Halle angehört zu haben. Der merkwürdigste Ueberrest[5] von ihm war eine hebräische Bibel und ein Exemplar der Septuaginta mit dem neuen Testament; sie waren mit einer lateinischen Interlinearversion versehen, die der Großvater mit kleiner, aber sehr leserlicher und sauberer Handschrift zwischen die Zeilen geschrieben hatte.

Mein Vater, Gottlob Israel Ranke, war, nicht ganz zur Zufriedenheit des Großvaters, auf der Universität Leipzig von der theologischen zur juridischen Facultät übergegangen, hatte in einigen kleinen Stellen am Harz gestanden und sich dann als praktischer Jurist in Wiehe niedergelassen, wo ihm von seiner frühverstorbenen Mutter ein Haus und ein kleines Landgut zufiel. Seine Thätigkeit war zwischen Bewirthschaftung dieses Besitzes und juristischen Geschäften getheilt. Er machte keinen Anspruch auf Gelehrsamkeit, war schlicht und einfach in seinen Sitten, von unerschütterlicher gläubiger Religiosität, wie er es denn zuweilen bereute, nicht auch Pfarrer geworden zu sein; dabei jedoch ein Mann, der in seiner Bildung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angehörte, der Aufklärung nicht abhold. Auch uns wies er gern über die Schranken der Schule hinaus auf das Leben an; er forderte uns auf, fremde Sprachen zu lernen, auch die neueren, von denen jedoch ihm selbst keine Kunde beiwohnte. Er ließ die alten Stämme in dem Berge, der unser bestes Erbtheil war, ausroden und nutzbare Obstbäume an ihre Stelle setzen. Den Garten, den er erwarb, der aber mehr aus ein paar Teichen bestand, ließ er wirklich zu einem Garten umschaffen, die Untiefen verschütten und Bäume pflanzen, die er dann mit eigener Hand pfropfte. Seine vornehmste, unermüdliche Sorgfalt aber war der Familie gewidmet, die ihm allmählich aus einer gesegneten Ehe erwuchs.

Seine Frau, meine Mutter, Tochter des Rittergutsbesitzers Lehmike in Weidenthal bei Querfurt, war ihm in erster voller Jugendblüthe zugeführt worden. Sie bildeten ein unschuldiges, in allen körperlichen und geistigen Beziehungen gesundes Menschenpaar. Die Mutter war sinnvoll, geistig angeregt, nicht ohne einen gewissen poetischen Anflug, der dem Vater fremd war, jedoch minder glaubensfest als dieser, sehr gutherzig und überaus fleißig, unermüdlich thätig für die wachsende Familie. Die Besorgung der Küche, die Beköstigung der Tagelöhner, namentlich im Sommer, lag ihr ob. Später ging sie wenig aus. In ihren früheren Jahren hat sie wohl selbst ihren kleinen Erstgeborenen getragen, wenn sie mit dem Vater oder einer Freundin nach dem Berge spazieren ging; so im Frühjahr 1796, das, wie sie erzählte, besonders schön war. Noch lebte der Großvater im Haus, dessen letzte Jahre sie durch Fürsorge und jugendlich schöne Erscheinung erheiterte. Er[6] war der Meinung, daß Gott sie eigentlich für ihn ausgesucht und ihm zugeschickt habe, mehr noch als für den Sohn. Er war mein Taufpathe; und es ist fast meine erste dunkle Erinnerung, wie er einst, aus seinem Bette aufstehend, mir an dem nahen Tisch ein kleines Geschenk reichte. Er hat mir seinen Segen gegeben.

Von eigenthümlicher Merkwürdigkeit war der Zustand der kleinen kursächsischen Stadt, der wir angehörten. Sie war der Accise wegen vollkommen mit drei Thoren geschlossen, sehr klein, auch auf eine kleine Flur beschränkt. Bei weitem der größte Theil der Flur gehörte den beiden Rittergütern Ober- und Unterhaus an, welche die Freiherren v. Werthern besaßen, eine in diesen Gegenden seit dem 15. Jahrhundert angesessene alte Familie, die damals einige gelehrte Mitglieder zählte. Der Oberhofrichter Friedemann v. Werthern besaß eine große Bibliothek und ist zuweilen von den Professoren von Jena besucht worden. Er hat bei seinem Tode einige gute Stiftungen gemacht. Ich besinne mich noch auf das Geläute der Glocken bei seinem Tode und den Einzug seines Nachfolgers, des Domherrn v. Werthern, der ebenfalls als ein ausgezeichneter Mann betrachtet wurde und als sächsischer Minister in Dresden gestorben ist. Seine Mutter, seine Schwester und sein jüngerer Bruder, der aber nichts als ein bloßer Landjunker wurde, lebten im Schloß. Wir hatten wenig Verbindung mit ihnen, ausgenommen, daß die jungen Damen bisweilen die Mutter besuchten. Doch sind wir wohl auch zuweilen die alte Wendeltreppe hinaufgestiegen, um die verwittwete gnädige Frau – denn das war ihr Titel – zu begrüßen. Sie genoß die allgemeine Verehrung und machte den Eindruck einer würdigen und vornehmen, dabei jedoch anspruchslosen Persönlichkeit. Das Schloß hatte seine besondere Jurisdiction, deren Verwaltung ein Amtsschösser führte, welcher jedoch ein geschulter Jurist sein mußte.

Die Stadt bildete, hiervon abgesondert, ihr eigenes Gemeinwesen. Den Kern derselben bildeten einige alte Familien, die von den Rathmannen, welche aus früheren Zeiten erwähnt werden, stammen mochten. Damals trieben sie hauptsächlich Ackerbau, den sie mit kleinem bürgerlichen Gewerbe verbanden. Sie hießen Bremer, Köhler u.s.w. und schieden sich nach der Lage ihrer Häuser; so gab es »Köhler hinter dem Rathhause«, »Köhler in der Straße«, diese uns gegenüber. Sie hatten beide kleine Kramläden; der erste besuchte die Leipziger Messe, natürlich zu Fuß, und holte seinen Bedarf von daher. Besonders machten mir die ältesten Mitglieder dieser Familie vielen Eindruck; namentlich war da der alte Vater »Bremer an der Kirche«, welcher den Ruf[7] hatte, in sonst unheilbaren Krankheiten helfen zu können. Mir hat man versichert, daß er mich selber durch eine Art Besprechung einst vom Tode gerettet habe. Die Frau Köhler, von der ich häufig ein Loth Kaffee herüberholte, soll eine besondere Zuneigung zu mir gehabt haben. Einst fand man mich in ihren Armen beinahe erdrückt und riß das schreiende Kind mit Mühe von ihr los. Sie war bereits halb wahnsinnig und hat sich die Nacht darauf die Kehle abgeschnitten. Manches Dunkle und Geheimnißvolle hatten überhaupt diese alten Familien; in ihnen lebte neben jenen Erinnerungen an das sächsische Kaiserhaus auch das Andenken der Grafen von Rabenswald, einer Burg, von der sich mitten im Holz auf dem Berge noch Ruinen finden. Da sollte die alte Gräfin umgehen, den Kopf unter dem Arme, einen Schlüsselbund an der Seite; denn sie sei sehr haushälterisch gewesen. Auf diesem dunklen Hintergrund erhob sich jedoch ein sehr heiteres Leben und Treiben in der kleinen Stadt. Ein eigenthümliches Gepräge giebt ihr ein munterer Bach, der mitten hindurchläuft, dann, aus dem Schloßteich verstärkt, Mühlen treibt und durch das Rieth nach der Unstrut rinnt. Um den Bach bei seinen Uebergängen sammelten sich an Sommermonaten die Menschen; das Vieh, das eine jede Haushaltung hielt, wurde hereingetrieben, die Pferde, die vom Acker kamen, in die Schwemme am Teich geritten. Es gab vier Jahrmärkte – denn das Städtchen bildete zugleich einen Mittelpunkt für die umliegende Landschaft – wo sich fremde Handelsleute und zugleich die Bauern von den Dörfern her einfanden, die Familien aus der Nachbarschaft ihren Besuch machten, um die nöthigen Bedürfnisse für die nächste Zeit einzukaufen. Dem Vater waren sie wegen der Ausgaben, die sie veranlaßten, nicht sehr angenehm; desto mehr den Kindern, die etwas Neues sahen und einen Festtag hatten.

Zu der Bürgerschaft gehörten der Oberpfarrer, der Diaconus, der Rector der Schule, der Cantor. Es waren die drei ersten nicht ganz unbedeutende Männer. Der Oberpfarrer Schneider war der Vater des namhaften Philologen Carl Ernst Christoph Schneider, welcher, damals ein junger Mann, sich auf den Schulen hervorthat und, etwa zwölf Jahr älter als ich, mir zum Muster vorgestellt wurde. Von den jüngeren Söhnen desselben, die jedoch nicht so solid waren, hat einer, Wilhelm Schneider, ein Mensch von großem angeborenen Talent, später viel mit mir verkehrt. Es war viel Leben in dem Haus, mehr noch als bei uns. Der Vater Schneider war ein aufgeklärter Prediger jener Zeit, ohne jedoch im mindesten vom Dogma abzuweichen. Großen Einfluß aber auf die Gemeinde oder ihre einzelnen Mitglieder hatte[8] er nicht. Als Diaconus hatten wir lange Zeit den jungen Rosenmüller aus einer bekannten Gelehrtenfamilie aus Leipzig, der auch selbst literarische Velleitäten hegte, die er aber nicht zur Ausführung brachte. Er hielt die Beziehungen zu Leipzig aufrecht, die überhaupt die vornehmsten aus der Ferne waren; ein Mann von einer gewissen Feinheit im Umgang, den wir viel sahen. Eine andere Classe bildeten die Juristen, alles herangezogene Fremde. Sie verwalteten die Patrimonialgerichte in der Nachbarschaft – wie mein Vater Gehofen und Nausitz, später Schönewerda verwaltete – oder widmeten sich auch der Advocatur. Der Advocat schlechthin so genannt hieß Ockart, wahrscheinlich der beste Kopf in der Stadt, ich will nicht sagen, ob in der Theorie, aber in der Praxis; streng und abstoßend, den Kindern flößte er eher eine gewisse Furcht ein, und wacker durch und durch. Das Gericht in der Stadt wurde von dem Stadtschreiber, einem kleinen verwachsenen Mann, der überdies immer an der Brust litt, verwaltet. Er war der allgemeine Hausfreund, ein guter Rathgeber, gewiegter Jurist. Noch mehrere Andere kamen hinzu, die dann mit dem Amtsschösser einen kleinen Kreis von Gelehrten bildeten; sie hatten alle studiert und erzählten gern von ihren Erlebnissen auf den Universitäten. Nicht immer zwischen den Männern, aber zwischen den Frauen war ein vertrauliches Verhältniß, das sich dann weiter auf die Häuser der Aerzte erstreckte, von denen einer ein Eingeborener war und zugleich die Apotheke des Ortes besaß. Er hatte sein Doctordiplom in voller Pracht unter dem kleinen Spiegel der Wohnstube aufgehängt; es war von der Universität Erfurt. Für einen besonderen Arzt galt er nicht. Man hat mir erzählt, daß er mir in einer meiner Krankheiten – denn ich war schwächlich von Natur – eine Arzenei gegeben hat, die immer schlechter wirkte, bis endlich der Vater in der Meinung, ich müsse ja doch sterben, mir die Qual ersparte, sie mir einzugeben. Hierauf sei ich besser geworden; der gute Mann aber habe bei seinem nächsten Besuche den Schrank vertraulich geöffnet und wahrgenommen, daß seine Medicin unberührt geblieben sei; er habe sich hierauf in heftiger Entrüstung entfernt. Es gab auch noch einen zweiten Arzt im Orte, der höher geschätzt wurde und in seine Stelle eintrat. So hatten wir denn in dem kleinen Städtchen die drei Facultäten mehr oder minder gut vertreten; immer ein Gewinn für die Einwohner, die sonst ganz in ihrem Ackerbau aufgegangen wären und auf diese Weise mit den allgemeinen Ideen und Interessen in Verbindung gehalten wurden.

Was nun aber das meiste Leben in den Ort brachte, das war[9] das Militär. Es waren ein paar Schwadronen Husaren in Wiehe eingelagert unter einem Oberstlieutenant, vor dessen Thüren oben am Bach, nicht weit von der Oberpfarre, drei Trompeter alle Abend bliesen. Mehrere Offiziere, von denen einer eben in unserem Hause Wohnung nahm, Wachtmeister und Corporale waren uns allen namentlich bekannt. Die Husaren sahen wir mit Vergnügen durch die Straßen sprengen; ihre Uebungen, die Pferde, die sie ritten, ihre Anstelligkeit und Vorzüge bildeten den Gegenstand des Tagesgesprächs. Die Officiere hielten sich am meisten zum Schloß, doch lebten sie auch viel mit den Honoratioren der Stadt, die denn eine Classe für sich bildeten, zusammen. Ihre Verdienste oder auch der Mangel derselben, ihre Unregelmäßigkeiten, wie wenn sie Abends in bürgerlicher Kleidung ohne Urlaub wegritten, um etwa einem Ball in der Nachbarschaft beizuwohnen, die Vermuthungen über ihre Tapferkeit oder Feigheit, zu denen sie Anlaß gaben, der größere oder geringere Aufwand, den sie machten, die Aufschneidereien der jüngeren in den Gesellschaften, ihre Streitigkeiten unter einander: alles das gab Leben und beschäftigte die Menschen. Eigentlich nahe kam uns jedoch in unserer Familie keiner, einen ausgenommen, und das war ein Bürgerlicher: mit dem machte der Vater Freundschaft. Vor den übrigen zog er den Hut tief, tief ab; sonst vermied er ihren Umgang. Die vornehmste Figur unter allen war Thielmann, der später so namhaft geworden ist; damals das Ideal eines militärischen Mannes, von Energie und Willenskraft; er machte sich gewaltig geltend. Später hat in unserem Hause der ältere Sohn Schiller's gewohnt; doch war es lange, nachdem ich es verlassen hatte. Aus der früheren Zeit erinnere ich mich nur, daß einer der Officiere – ich denke, es war ein Planitz – mir das Bild Schiller's, das er unter seinem Spiegel hatte, zeigte, mit der Bemerkung, daß dieser treffliche Mann vor kurzem gestorben sei; es muß im Jahre 1805 gewesen sein. Die Gedichte Schiller's aber kannten wir nicht etwa, sie sind erst durch den Sohn importirt worden.

Ueberhaupt beschränkten sich die literarischen Beschäftigungen für die Aelteren auf einige juridische Handbücher, zuweilen auch ein geographisches, wie mir denn Engelhardt's sächsische Geographie als ein neues Buch erinnerlich ist, für die Jüngeren auf Bibel, Gesangbuch und einige Schulbücher, z.B. Gedike's Lateinisches Lesebuch. Denn bei dem Rector lernten wir Lateinisch, wenn wir wollten. Der Mann hieß Seyffert. Ich werde ihn nie vergessen. Er hatte eine volle Classe von wilden Buben zu regieren, was denn nicht gut ohne den Stock abging. Doch hielt er sie so in Zucht, daß ich ihn noch in[10] späten Jahren von denen, welche er damals hart behandelte, höchlichst habe rühmen hören. Wir saßen auf dem Chor der Kirche nach den Classen auf den beiden Seiten langhin vor ihm; er hatte seinen Sitz vor dem Chor, wo er uns alle übersah. Er sah es gerne, wenn man etwas nicht verstand und ihn dann noch während des Gesanges danach fragte; wie ich ihn denn einmal wegen des Wortes Polizei, das in irgend einem Liede vorkommt und mir ganz neu war, behelligt habe. Dann erschien er Montag Morgens in der Classe; seine reinen, glänzend gewichsten Stiefel machten unter der schmutzigen Brut einen gewissen Eindruck, sie gehörten dazu. Mit großer Inbrunst erhob er seine Stimme zum Gebet. Er war durch und durch gläubig; zuweilen ließ er sogar hindurchblicken, daß er mit einer oder der anderen Auffassung des Herrn Oberpfarrers nicht übereinstimmte, und tadelte mich, daß ich bei dem Examen den Einwendungen, die er gegen mein Aufsagen vorbrachte, zu geschwind nachgegeben hätte. Die Kinder der Honoratioren nahm er an seinen Tisch in der Schule, was nicht immer von Vortheil war, denn er schonte sie nicht im mindesten. Die Uebrigen nannte er »Du«, die hübscheren Kinder hatten den Vorzug von ihm mit »Er« angeredet zu werden; allein das hinderte nicht, auch denen bei Gelegenheit einen tüchtigen Stoß zu geben, wenngleich er sie mit Schlägen verschonte. Er besuchte uns Abends häufig und versäumte nicht, wenn er Etwas, was ihm mißfiel, bemerkt hatte, was im Hause durchging, uns dies nachträglich vorzuhalten. Ich bin viel mit ihm spazieren gegangen. An den abschüssigen Stellen warnte er mich wohl, obgleich zu spät, mit strengem »Er!« Man konnte ihn nicht eigentlich lieben, man hatte mehr Furcht vor ihm; aber diese war mit Ehrfurcht gemischt, und wenn er auch bisweilen das Ehrgefühl verletzte, so versöhnte er doch wieder, und man blieb ihm anhänglich. Was er etwa versäumte, das holte des Abends der Vater nach, der einst bei dem seinen die Elemente des Lateins auf das gründlichste gelernt hatte, so daß er sie noch vollkommen besaß. Namentlich im Winter gab er uns am Abend einigen Unterricht, und wir mußten ihm unsere Bücher vorweisen. Bei mir war nicht viel Zwang nöthig. Ich that eher zu viel, als zu wenig. Ich zog mich nicht von den Spielen zurück, war gern in Garten und Feld, erkletterte so gut wie ein anderer die Bäume, um Kirschen und Pflaumen zu pflücken, war aber doch gern allein. In der Gasse neben dem Haus lagen Bauhölzer; auf denen bin ich oft stundenlang auf- und abgegangen. Alles das, was ich gelesen hatte, arbeitete dann in meinem[11] Gehirn. Ich brütete über Gott und Welt. Geschrieben wurde nichts, kein Mensch fragte mich, was ich dachte; ich selbst vergaß es wieder.

So war die erste Epoche meines Lebens vor Ausbruch des Krieges von 1806. Die Officiere, die wir beherbergt, die stracken Husaren, deren Reiten wir sonst bewundert, sammelten sich zu ihren Standarten und Fahnen. Ein preußisches Regiment zu Pferd zog vor der Stadt vorüber; Alles strömte hinaus, um es zu sehen. Bald darauf aber hörten wir den Donner der Kanonen von der Auerstädter Schlacht. Wir Knaben liefen auf den Berg und machten Gruben in den Boden, um desto besser zu hören. Gleich darauf berührte der Rückzug auch unser Städtchen. Ich sehe sie noch vor mir, die lange Reihe von Wagen, die zum Hofe gehören mochten, wie sie in unserer Straße hielten. Einige Truppen folgten; der Vater, der bei der Einquartierungsliste übergangen war, holte selbst eine Anzahl Gemeiner heran, die sich um den runden Tisch der Stube setzten, wo ihnen die Mutter ein Abendessen bereiten ließ. Kaum waren sie weg, so erschienen französische Chasseurs, Versprengte, welche Brandschatzung forderten. Der Einzige Mann im Ort, welcher ein wenig Französisch wußte, der Schwiegersohn des Oberpfarrers, der eine Leihbibliothek eingerichtet hatte, begab sich zu ihnen hinaus. Man beschwerte sich hernach, daß er sich zu mehr verstanden habe, als nöthig gewesen wäre. Dann erschienen die stattlichen Männer in fremdartiger Tracht, die der Jugend gewaltig imponirten. Der gute Rector mußte anfangen, aus seinem Dolmetscher Französisch zu lehren, das er selbst nicht verstand.

Quelle:
Ranke, Leopold von: Zur eigenen Lebensgeschichte. Leipzig 1890, S. 3-12.
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