Vorwort.

[3] Hier in Venedig werde ich ganz besonders an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens erinnert. Wie viele Freunde und Gönner, die mir bei meinem ersten und zweiten Aufenthalt freundschaftliche Dienste erwiesen, konnte ich jetzt nur an ihren Gräbern besuchen; andere, die mir nahe standen, sehe ich in eisgrauer Gebrechlichkeit wieder, kaum zu erkennen gegen damals. Wie oft hat uns in den letzten Jahren zu Haus die Nachricht von dem Abscheiden bald des einen, bald des anderen Freundes erschreckt, auf dessen längeres Leben wir mit Sicherheit rechneten. Dann aber ist auch das meiste von dem verschwunden, was das Gedächtniß eines Jeden über ihn selber aufbewahrt; wie wir soeben bei Jacob Grimm erlebten, von dessen Beziehungen und Motiven ich gleich nach seinem Tode die wichtigsten Momente nicht in Erfahrung bringen konnte, die er selber ohne langes Besinnen mit aller Bestimmtheit mitgetheilt hätte. Entschuldigung genug, wenn ich ein paar freie Stunden dazu anwende, um einen Abriß meines Lebenslaufes, wobei mir mein Sohn Otto die Feder leiht, zu Papier zu bringen.

Quelle:
Ranke, Leopold von: Zur eigenen Lebensgeschichte. Leipzig 1890, S. 3.
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