Aufenthalt in Frankfurt a.O.

[33] (Herbst 1818 bis Frühjahr 1825.)


Ich war noch ziemlich jung und sah noch jugendlicher aus, als ich die Stelle eines Oberlehrers an dem Gymnasium in Frankfurt a.O. antrat. Ich langte gegen Ende der Sommerferien an und hatte noch Zeit, die Umgegend zu durchstreifen und mehr mit den Bäumen und Höhen als mit den Menschen Bekanntschaft zu machen. Die Lage des Ortes befriedigte mich vollkommen. Ein großer Strom, eine waldbewachsene Hügelkette, welche die Region, in der die Stadt erbaut ist, an dessen linker Seite umgiebt, kleine Thaleinschnitte, von Bächen durchflossen oder zwischen denselben; in einer der Vorstädte ein langer Lindengang mit weitem Platze daran. Ferner einige Denkmale in einem verlassenen Kirchhof, die an alte Zeiten gemahnten, z.B. die des Herzogs Leopold von Braunschweig, der hier einen durch ein prächtiges Stück Poesie gefeierten Tod in den Wellen fand; ein Marktplatz, der die Tage der Hanse, mit welcher Frankfurt in einer entfernten Verbindung stand, vergegenwärtigte; eine prächtige Pfarrkirche, die ebenfalls an die Zeiten städtischer Macht erinnerte; endlich auch eine kleinere, Unterkirche genannt, zu der die Schule gehörte: hier war es, wo ich die erste Bekanntschaft mit einigen meiner künftigen Collegen machte. Das allerangenehmste jedoch, was ich vorfand, war für mich die Westermannsche Bibliothek. Sie war in den Räumen des alten Universitätsgebäudes aufgestellt; sonst war dies freilich, obwohl es noch mit den Abzeichen seiner religiösen Stiftung prangte,[33] damals in einem sehr verwilderten Zustand; es diente wirthschaftlichen Zwecken. Zwischen Haufen von Stroh und Reliquien von allerlei sonstigen Gewächsen, auf einem durch aufgelegte Bretter ergänzten Gange, gelangte man in einen großen Saal, der, mit Büchern angefüllt, einen um so besseren Eindruck machte. Ein ehemaliger Professor der Universität hatte die Sammlung zu seinem eigenen Gebrauch gemacht und sie dem Gymnasium durch Testament hinterlassen. Da ich, obwohl aus einer gelehrten Stadt kommend, doch niemals freien Zutritt zu einer größeren Bibliothek gehabt hatte, so sah ich mit um so größerem Vergnügen diese, die ganz eigens, wie man mir sagte, den Lehrern der Anstalt gewidmet war. Wieviel Bücher, von denen ich bisher bloß gehört hatte, bekam ich da in die Hände! Unter anderen machte mir ein wohlerhaltenes Exemplar des Dio Cassius von Reimarus viel Eindruck. Aber auch aus allen anderen Zweigen historischer, philologischer und allgemeiner Wissenschaft fand ich die trefflichsten Werke vor, die mir die Aussicht auf künftige Studien gaben, wie ich sie zu machen wünschte. Denn darauf war meine Seele hauptsächlich gerichtet, obwohl ich mein Amt, zu dem ich in Leipzig in dem philologisch-pädagogischen Seminar schon einigermaßen vorbereitet worden, zugleich wirklich als meinen vornehmsten Beruf ansah.

Die Ferien gingen zu Ende. Der Director traf ein. Es war mein alter Bekannter aus diesem Seminar, Ernst Poppo; damals schon ein namhafter Mann durch seine Thucydideischen Studien, eben erst 24 Jahre alt und bereits an die Spitze dieser Schule berufen, aus der er nun etwas Rechtes in seinem Sinne zu machen gedachte. Er war nicht so ausschließend Philolog, wie man ihm wohl nachsagte. Er verstand, was damals nicht gewöhnlich war, Englisch und las es gern. In seiner Jugend hatte er in einem Lesekreis, an dem sich sein Vater, Archidiaconus in Guben, betheiligte, Bekanntschaft mit der laufenden politischen und allgemeinen Literatur gemacht und seine Richtung, welche im allgemeinen eine liberale war, genommen. Dann an der Universität Leipzig studierend, hatte er sich mit großer Entschiedenheit den philologischen Bestrebungen der Hermannschen Schule hingegeben, weniger jedoch der Beschäftigung mit den Poeten, welche die anderen alle vollkommen einnahm, als mit den Prosaikern, die er zu emendiren suchte. Ich besinne mich noch, wie er damals als junger Magister auf dem Katheder stand, streitfertig und jedem Gegner gewachsen: eine lange hagere Gestalt, den Ehrendegen etwas linkisch an der Seite. Er war ein besserer Grieche, als wir anderen alle; er sprach sogar griechisch. Daß er das auch in der Schule einzuführen[34] suchte, hat ihm an seinem pädagogischen Rufe geschadet; doch war er keineswegs so pedantisch, wie man gesagt hat. Er besaß entschieden Gabe für den Unterricht in dessen essentiellen Zweigen und genoß eine große Autorität in jeder Beziehung. Uebrigens ein trefflicher Mann, ohne Falsch; kein fremdartiges Bestreben kam in seine Seele; die Schule emporzubringen, war seine einzige Idee. Daß er mich für geeignet hielt, ihn dabei zu unterstützen, gereichte mir zu großer Genugthuung, und ich war entschlossen, mein Bestes dafür zu thun.

Dem Director zunächst stand ebenfalls ein ehrenwerther Mann als Prorector, der Mathematiker Schmeißer. Er hatte Verdienste um die Methode, und ich besinne mich, daß der Mathematiker Jacobi mir ihn später als einen Mann genannt hat, der eine neue Bahn des Unterrichts eingeschlagen habe. Mein nächster College war Oberlehrer Stange, nicht viel älter als Poppo, der schon länger als Alumnatsinspector – denn mit der Schule war ein kleines Alumnat verbunden – fungirt hatte, Sohn eines Professors in Halle, ein Mann von ruhiger Außenseite, etwas verlegen und wenig versprechend, der aber die ausgebreitetsten Kenntnisse besaß und besonders nach der Seite hin, die uns anderen immer ein fremdes Land geblieben war, den Naturwissenschaften. Er liebte und pflegte Blumen und pachtete wohl ein kleines Ackerstück um die halbe Stadt, wie man die nächsten Anhöhen nannte, um mit einem Freunde in Gemeinschaft diesen seinen Hang zu befriedigen. Er war eine tiefe, von Ehrgeiz freie, mittheilsame, grundehrliche Natur und keineswegs ohne inneren Schwung. Wie oft sind wir etwa nach einem heiteren Gelag unter jenen Linden der Vorstadt in der Nacht spazieren gegangen und haben uns nicht allein, wie ein Alter sagt, dieses leuchtenden Dunkels erfreut, sondern zugleich die mannigfaltigsten, von verschiedenen Seiten kommenden Ansichten ausgetauscht und die Welt nach unseren Begriffen vor uns entstehen lassen! Bald überließ er mir einen Theil seiner Wohnung, in die ich neben ihm einzog. Wir vier waren die oberen Lehrer, alle unverheirathet, was denn ein noch ziemlich an das Studentenleben erinnerndes Verhältniß veranlaßte. Eigentlich muß ich sagen, daß ich dort in Frankfurt mehr davon genoß, als in Leipzig; mit einem, wenn auch nicht großen, Gehalt versehen, konnte man sich etwas mehr regen, als dort. Den Einwohnern fiel es auf, wenn wir lebhaft und in vieler Eintracht, unaufhörlich sprechend und disputirend, unsere Spaziergänge machten.

Um von den geselligen Verhältnissen auch einmal zu reden, so war es ein großes Ereigniß, nicht allein für mich, sondern besonders[35] auch für Stange, daß mein Bruder Heinrich, ehe ich, wie man sagt, dort noch warm geworden war, bei uns eintraf und bei mir wohnte. Er war erst in seinem zwanzigsten Jahr; man wollte kaum glauben, daß er seine Studien bereits absolvirt hatte. Er war, man möchte sagen, vollkommen schön und gewann alle Herzen durch Liebenswürdigkeit und jugendliche Anmuth. Er theilte im allgemeinen meine Studien, doch war er mehr geborener Pädagog als ich; wie er denn auch nach kurzer Zeit zum Unterricht herangezogen wurde; er nahm dann selbständig an einer pädagogischen Anstalt in der Stadt Antheil. Der Bewegung, die damals in den Gemüthern der Jugend obwaltete, stand er einen Schritt näher als ich; er gesellte sich den Turnern mit Entschiedenheit bei und brachte mich erst dadurch in eine gewisse Verbindung mit dem Thun und Treiben derselben. Wir sahen Jahn in dem goldenen Löwen, einem Gasthof zu Frankfurt, als er von einer Turnerfahrt aus Schlesien zurückkam, mit ansehnlicher Begleitung junger Leute. Auch auf mich machte er durch seine mannhaft zuversichtliche Erscheinung einen gewissen Eindruck; mein jüngerer Bruder schloß sich ihm mit unbedingter Hingebung an. Ebenso war er von den kirchlichen Strömungen lebendiger berührt, als ich; doch neigte er sich ursprünglich, wenn ich dies verrathen darf, mehr den vom Positiven abweichenden Gesinnungen zu. Er war von der Friesschen Philosophie mehr berührt worden, als ich; ich war, wenn ich mich nicht irre, gläubiger, als er. Allein gar bald kämpfte sich in ihm die ihm eingepflanzte religiöse Gesinnung unter den gewaltigsten inneren Seelenbewegungen durch; er wurde sogar krank darüber. Nach einiger Zeit sah man ihn fleißig, sein Gesangbuch unter dem Arme, nach der Kirche gehen, obwohl er da nicht viel Nahrung für seine Sinnesweise fand. Ich dagegen war niemals, was man sagte, kirchlich gesinnt, obgleich niemand die Bibel und selbst das Neue Testament höher schätzen und tiefer verehren konnte, als ich.

Ich muß nun wohl auch von meiner Theilnahme an dem Unterrichte, was doch die Hauptsache war, ein Wort sagen. Ich unterrichtete, wie ich denn auch zu etwas anderem nicht fähig gewesen wäre, in den drei höchsten Klassen, namentlich in der dritten. Ich kann nicht beschreiben, wieviel Vergnügen mir die Empfänglichkeit gerade dieses Alters für die Erzählungen weltgeschichtlichen Inhalts, die ich vortrug, gemacht hat. Eine bloß jugendlich-kindliche Theilnahme, die sich aber dann in schriftlichen Reproductionen des Gehörten als fruchtbar erwies. An und für sich gereichte mir die Durcharbeitung des universalhistorischen Stoffes, die dazu nothwendig war, zum größten[36] Nutzen und Vergnügen. Dann wurde in den höheren Klassen Homer und Horaz traktirt; die Freude der Jugend an den homerischen Darstellungen, sowie nur die ersten Schwierigkeiten überwunden sind, ist unbeschreiblich. Wir lasen einiges sehr genau, anderes rasch und vielleicht flüchtig, was uns jedoch den großen Inhalt um so näher brachte. Die grammatische Erklärung wurde keineswegs versäumt; die Grammatik von Thiersch, die damals erschien, wurde fleißig studiert, da sie sich gerade auf Homer bezieht; übrigens aber hielten wir doch noch mehr und zwar nicht allein in der Formenlehre, sondern auch in der Syntax an Buttmann fest, einem grammatischen Autor von wahrhaftem Talent, der die ältere Berliner Schule philologischer Studien in sich repräsentirt. Er führt zu Bemerkungen, die über das, was er sagt, noch hinausgehen; man tritt dem grammatisch bildenden Genius der alten Hellenen noch näher, als es durch die bloßen Regeln geschehen könnte. Sprache und Gedanken bilden sich an dem Studium der horazischen Oden; da ist jedes Wort an seiner Stelle, jedes Gedicht ein kleines abgeschlossenes Ganze. Es mag sein: viel Nachahmung – aber selbst durch diese anregend, indem sie in weitere Fernen leitet; und zugleich doch tief von dem Hauch des römischen Wesens durchweht. Nichts entzückte uns mehr, als die ersten Oden des dritten Buches, welche über die römische Geschichte große Aussicht gewähren und das Kaiserthum in seiner Identität mit dem römischen Namen und in seiner Nothwendigkeit darstellen. Dafür, d.h. für den Ursprung aus dem Griechischen und die Darstellung des Römischen, war uns nun auch Virgil von der größten Bedeutung. Man hatte damals aufgehört, diesen Dichter zu schätzen, ausgenommen in dem landwirthschaftlichen Werk. Es fiel unter den Freunden auf, daß ich auch an der Aeneide Geschmack fand und sie in der Schule ganz durchlesen ließ. Mein Exemplar ist noch am Rande mit mannigfaltigen, guten und schlechten, Anmerkungen angefüllt. Ich schrieb dem Gedicht universalhistorische Bedeutung zu.

Hier aber kann ich nicht weiter gehen, ohne noch eines Freundes zu gedenken, der sich uns ein paar Jahr später zugesellte; er heißt Ferdinand Heydler. Schon bei meinem Aufenthalt in Pforte war er mir bekannt geworden, und das innigste Verständniß hatte mit mancherlei Streit gewechselt, wobei ich mich von Fehlern keineswegs freisprechen will. Aber ich liebte ihn tief und innig. Er war aus der Nähe von Dresden gebürtig, Sohn eines Pfarrers und nach dessen frühem Tode in ein öffentliches Institut in Dresden aufgenommen. Er hatte da, wie er mir immer sagte, zu viel Romane gelesen; dann aber war er,[37] weil man aus ihm, da er Talent hatte, etwas machen wollte, nach Pforte gebracht worden. Seine Begabung und seine zwanglos einnehmende Natur machte ihn dort populär. Wir vereinigten uns bald zu gemeinschaftlicher Lektüre; er imponirte mir immer durch den Geist des Verständnisses, den er für alles Fremde zeigte. Gegen mich verhielt er sich, wie angedeutet, freundschaftlich ergeben, aber doch nicht in allem einverstanden. In Leipzig stand ich ihm weniger nahe; doch entfremdeten wir uns niemals von einander. Bei jener studentischen Wanderung, die ich im Jahre 1817 nach dem Rheine unternahm, fand ich ihn in Würzburg, wo er bereits eine Stelle angenommen hatte, die er aber, da das Institut, dem er angehörte, sich nicht behaupten konnte, wieder verlassen mußte. Wir sahen damals zusammen den Katholicismus in vollem Ansehen, wir stiegen mit einander die Stufen des Käppele an den Stationen hinauf. Er begleitete mich dann einen großen Strich jener Wanderung hindurch. Seitdem hatte er eine provisorische Stellung in Halle gefunden, von wo er, nicht ohne mein Zuthun, bei der ersten eintretenden Vacanz nach Frankfurt berufen wurde. Eine ganz herrliche und in ihrer Art unvergleichliche Natur, voll von Adel der Gesinnung, freigebig selbst über das ihm gesteckte Maß hinaus – und immer in Geldbedürfniß –, den höchsten Ideen und Anliegen der Menschheit durch und durch zugewandt; in den Studien fest begründet, ein sehr guter Lateiner; er machte treffliche Verse in Pfortischer Art und Weise; einige schöne lateinische Oden sind ihm gelungen, auch in deutschen versuchte er sich mit Glück. Man kann denken, wie uns die Ereignisse der Zeit, das erste Wiederaufflammen des revolutionären Geistes in Spanien und Neapel in Bewegung setzten. Er wohnte, nachdem mich Stange verlassen hatte, in einem Hause mit mir, er unten, ich oben. Zuweilen wurden die neuesten Nachrichten aus dem Fenster von unten nach oben mitgetheilt. Er widmete sich der Schule doch noch mit größerem Eifer, als ich; wenigstens kostete es ihm, da er mehr Schülerarbeiten corrigiren mußte, mehr Zeit, als mir. Er konnte nicht viel ausarbeiten, denn er arbeitete langsam. Er bewegte sich auf den Grenzgebieten der Philosophie und der Theologie. Später wurde er strenggläubig, damals war er das noch nicht. Die Freundschaft, die er mir erwies, die Nachsicht, die er mit meinen Fehlern hatte, macht mir ihn unvergeßlich; noch mehr jedoch der Kern seines Wesens, der mit allem Großen und Guten, was die Geschichte zeigt, verwandt war und anfangs mit idealem Schwung, später mit Unterordnung unter die Heilslehre der Kirche danach strebte. Unter anderen Differenzen, die zwischen unseren Urtheilen bestanden, betraf[38] eine den Werth Virgils. Er wollte meine welthistorische Combination, die Orient und Occident, Rom und Carthago und ein unermeßliches Weltgeschick poetisch ergriffen sah, doch nicht recht begründet finden; dagegen stimmte er mir ganz bei, wenn ich die homerischen Epen in ihre Theile zerlegte und, ohne dem Ursprunge aus mannigfaltigen Gesängen entgegenzutreten, doch auch die Einheit, die Ueberarbeitung und Composition nachzuweisen versuchte, wie denn eine Idee davon auch bei der ursprünglichen Hervorbringung einzelner Gesänge obgewaltet haben müßte. Ich machte den Entwurf davon, den Heydler acceptirte. Seine schriftstellerische Thätigkeit ist nicht über ein paar Programme hinausgegangen, doch habe ich Anfänge einer philosophischen Grammatik bei ihm gesehen, die mir bedeutend schien. An jenen nächtlichen Spaziergängen mit Stange nahm er seiner Zeit immer Antheil. Ich hatte zuweilen Ursache, auf ihre größere Intimität eifersüchtig zu sein; sie haben dann nach meinem Abgang an der Schule zusammengearbeitet und sie zu immer größerer Blüthe bringen helfen unter dem wackeren Director, der für den Einfluß Heydler's zugänglich war. Nach einigen Jahren hatten sich Poppo, Schmeißer und Stange verheirathet; Heydler verlobte sich erst, als ich abging. Die Zeiten eines nur den Wissenschaften und Ideen gewidmeten Zusammenwirkens wären damit vorüber gewesen, wenn ich auch nicht abgegangen wäre. Mich aber riefen nun meine Studien nothwendig an eine andere Stelle.

Ein unendlich leichter Uebergang führt von den philologischen und allgemein-wissenschaftlichen Studien, welche die historischen schon in sich begreifen, zu den eigentlich historischen. Mir wurde derselbe noch besonders dadurch vermittelt, daß ich die Aufgabe bekam, den Primanern Geschichte der alten Literatur vorzutragen. Dies aus den gewöhnlichen Handbüchern zu thun, widerstrebte aber meinem Sinn und Wesen. Ich glaubte zu bemerken, daß die Verfasser derselben nicht einmal die Vorreden der Autoren genau gelesen, geschweige denn die Werke selbst. Ich konnte diesem Mangel nicht so rasch, als ich gewünscht hätte, abhelfen. Welch eine Aussicht aber eröffnete sich von dieser Stelle auf die Historie und Literatur im allgemeinen! Dann aber folgten Studien der alten Historiker; gleichfalls in Beziehung zu den mir aufgetragenen Lehrstunden, aber doch in diesen engen Rahmen nicht zu fassen. Die alten Historiker wurden nun systematisch durchgelesen; denn nur im Thucydides war ich einigermaßen bewandert, Herodot las ich nun erst vollständig durch. Die Verbindung des Sagenhaften und Historischen übte ihre volle Wirkung auf mich aus; so die Anmuth der Sprache die Durchsichtigkeit der Darstellung, aber[39] hauptsächlich die unendliche Weltumfassung, die sich in diesem Grundbuch des historischen Wissens ausgeprägt hat. Die Bibliothek bot die Erläuterungen von Larcher, die der Uebersetzung ins Französische beigefügt sind, dar; aber wieviel ließen diese zum wirklichen Verständniß noch übrig! Die Erläuterungen Creuzer's über das ägyptische Alterthum führten um vieles tiefer ein; aber zu rechter Einsicht gelangte man doch nicht. Creuzer's übrige Arbeiten, namentlich über Symbolik und Mythologie, eröffnen einen Kreis des Wissens, der mir neu war; doch konnte ich auf diesem Wege nicht folgen, da sie mich zu sehr in Combinationen zu verwickeln drohten, in denen ich den Boden unter den Füßen zu verlieren fürchtete. Das war selbst der Fall mit Otfried Müller's hellenischen Stämmen und Städten. Unser Director war principiell dagegen; er zog die einschlagenden Abschnitte von Manso oder Göttling bei weitem vor. Für mich war zu viel Mythologie darin; aber die Verbindung derselben mit den Denkmalen aus alter Zeit, die Idee von gesonderten Stammeseigenthümlichkeiten, die in allen Vorstellungen über Gott und Welt mitspielen, und die Gelehrsamkeit an und für sich, welche aus den abgelegensten Regionen Erläuterungen herbeischaffte, erweckten meine Bewunderung, nicht jedoch Nacheiferung. Denn mein Sinn war von Natur mehr auf das eigentlich Historische, mehr auf das Verständniß der großen Begebenheiten selbst gerichtet, als daß ich mythologischen und municipalen oder localen Forschungen, selbst in dem Glanze, in dem sie bei Müller erschienen, volle Aufmerksamkeit hätte widmen mögen. Ich vermißte selbst bei Müller eine nähere Erörterung derselben, und blieb den mehr auf das Faktische bezüglichen Forschungen getreu. Der alte Meursius mit seinen Sammlungen wurde fleißig durchstudiert, obwohl es mir doch nicht gelingen wollte, aus den beigebrachten Notizen eine genügende Einsicht, z.B. in die attischen Zustände zu gewinnen. Und viel zu sehr war ich bereits von Thucydides und seinen weit über das Besondere hinausreichenden, große Ansichten eröffnenden Darstellungen selbst des höchst Speciellen erfüllt, als daß ich ihn nicht wie mit seinem Vorgänger, so mit seinem Nachfolger zu verbinden getrachtet hätte. Für die theosophischen Momente der griechischen Geschichte Xenophons, die doch an homerische und herodoteische Weltauffassung anknüpfen, war ich ganz besonders zugänglich. Neben alle dem Heidenthum webte doch gleichsam etwas, was der alttestamentlichen Auffassung historischer Zustände entspricht. Ich fühlte mich dadurch in einer positiv-religiösen Anschauungsweise bestärkt. Wer das so nach einander studiert, empfindet den ungeheuren Abstand der späteren Historiographie, die gleichsam aus[40] der Mitte weicht, welche alles erläutert und verständlich macht. Xenophon ist seinen Vorgängern bei weitem nicht gleich, doch erhebt er sich unendlich weit über die späteren. Ich konnte nicht begreifen, warum Niebuhr ihm so abhold war.

Erst unter den Römern erscheinen wieder ebenbürtige Genien. Ich brauche kaum zu sagen, wie sehr die ersten Bücher von Livius mich hinrissen. Die Vorrede wurde auch in der Schule mit Bewunderung, man möchte fast sagen Andacht gelesen. Die Mischung von Sage und Gedichte im ersten Buche hat, Herodot ausgenommen, ihres gleichen nicht und selbst mit Herodot verglichen den größeren historischen Inhalt voraus, der die Grundlage eines Lebens enthält, welches die Welt übermeistert hat. Der erste Blick lehrte, daß Dionysius von Halicarnaß hierin nicht zu vergleichen ist. Er hatte das Mitgefühl mit dem werdenden Rom nur, insoweit es einem Griechen möglich. Jedoch ich komme auf dieses Verhältniß besser später einmal zurück, wenn ich die Jahre erreiche, in denen ich tiefer eingehende Studien machen konnte. An den damaligen nahm auch mein Bruder Heinrich Antheil. Er hatte gegen Niebuhr noch mehr einzuwenden, als ich. Ich selbst folgte diesem möglichst und war nicht allein von der Tiefe und Vielseitigkeit der Forschung, die doch immer die Hauptsache im Auge behält, sondern auch von der Größe der Darstellung, wo eine solche versucht wird, imponirt. In die Untersuchungen über die streitigen Momente der Verfassung konnte ich ihm indeß nur wendig mehr folgen, als Otfried Müller in Beziehung auf die griechischen. Noch weniger Boeckh über den Staatshaushalt von Athen. Daß diese Männer lebten und ihre große eigenthümliche Begabung zur Erforschung der realen Zustände des Alterthums verwandten, war eine Erscheinung, die jene Jahre hindurch die mitstrebenden Jüngeren beherrschte und ihnen zugleich Respekt und Muth einflößte. Von Niebuhr wurde nun die Fortsetzung der Römischen Geschichte, die ihn bis in die Bürgerkriege geführt haben würde, aufs schmerzlichste vermißt; nicht allein weil sich sein System da erst erproben mußte, sondern weil er da erst einen seinem großen Talente entsprechenden Gegenstand gefunden hätte. Hierfür lag auch kein classisches Muster von weiterer Umfassung vor. Ich muß gestehen, daß mir die Abschnitte der allgemeinen Geschichte Johannes Müller's, welche diese Zeiten berühren, großen Eindruck machten; doch sind sie viel zu fragmentarisch und epigrammatisch, um zu einer genügenden Ansicht zu führen. Die classischen Autoren, die wir studierten, führen in jedem Momente weiter; ich beschäftigte mich viel und eingehend damit. Die Studien wendeten sich[41] nun auch auf Appian und Dio Cassius, die nichts Hinreißendes haben, aber die merkwürdigsten und bedeutendsten Notizen darbieten.

Bei weitem mehr beschäftigten wir uns mit Sallust und Cäsar. Die Catilinarische Verschwörung wird durch Auffassung und Darstellung eines zusammenhängenden Ganzen immer als ein Meisterstück betrachtet werden müssen; für den Charakter der römischen Historiographie ist das Werk in zwiefacher Hinsicht entscheidend. Es ist das erste Produkt der moralischen Geschichtschreibung, die hernach vorgewaltet hat. Es trägt eine Moralität vor sich her, von der es sehr möglich ist, daß der Autor in seinem Leben sie nicht darstellte; aber sie drückt den Genius Roms, wie er sich in diesen Conflicten der mächtigen Oberhäupter untereinander unter Einwirkung des Staates bildete, vollständig aus. Eine Idee, welche in der römischen Gesammtheit wirkte, ohne das Eigenthum jedes Einzelnen zu sein. Denn in allen literarischen Produktionen erscheint zugleich die Gemeinschaft des geistigen und moralischen Wesens. Wer wollte darauf schwören, daß Catilina grade so gewesen sei, wie er hier geschildert wird? Aber er erscheint, in seiner Abweichung von dem, was Sitte, Herkommen, Verfassung und selbst die Idee gebot, als ein repräsentativer Mensch. Er hätte, wenn er Meister geworden wäre, das römische Wesen von Grund aus zerstört. In Cicero erscheint die Conservation dieser Ideen und Sitten würdig und geschickt. Mag auch Cicero noch andere Eigenschaften gehabt haben, dies waren die vornehmsten. Er wird dadurch unsterblich, inwiefern ein nothwendiger Grundzug des allgemeinen Lebens in seiner Person erscheint. Mir lag nahe, mich auch um den Stil des großen Redners zu bekümmern. Ich fand in der Configuration der Sätze, ihrer inneren Struktur etwas, was ich sonst weder bei Lateinern noch Griechen anzutreffen gemeint hatte. Es ist die Verflechtung des Nebensächlichen in den Hauptsatz. Denn was man auch sagen mag, so kann sich Widerspruch erheben, oder wenigstens Zweifel an der Vollgültigkeit des Vorgetragenen. Bei Cicero findet sich nun, daß er die möglichen Einwürfe im voraus kurz und bündig beseitigt, was denn seinem Stil eine ungewohnte Fülle und etwas Mustergültiges für alle Zeit verleiht. Der gesunde Menschenverstand kommt in ihm auf eine glänzende, majestätische Weise zu Worte. Die Briefe sind dann für die Zeitgeschichte unentbehrlich; für die Geschichte einiger Jahre sind wir am meisten auf sie angewiesen. Sie dienen zur Ergänzung der Sallustischen Erzählungen nach allen Seiten hin.

Nun aber erhebt sich die Gestalt, vor welcher alles dieses republikanische Wesen erblich und zusammensank. Weniger jedoch waren[42] es die Werke Cäsars über die inneren Zustände und den bürgerlichen Krieg, was wir studierten; denn die Kriegshandlungen, welche sie auch da hauptsächlich schildern, sind es doch nicht, worin das Innere des Staatslebens sich entwickelt. Diese sind nur da an ihrer Stelle und verdienen nur da vollkommene Aufmerksamkeit, wo sie zu einem großen Resultat führen. Welches aber könnte größer und welthistorischer sein, als die Eroberung Galliens durch Cäsar, der damit eigentlich das weströmische Reich gegründet hat, und sein Zusammentreffen mit anderen Volkselementen, die er nicht überwand? Die Schilderungen des keltischen Staatswesens in dem Inneren von Gallien und des benachbarten germanischen gehören zu den bedeutendsten Dokumenten aller Zeiten; denn Cäsar schilderte nur, was er sah und erlebte. Dies scharfe Beschränkung auf das genau Bekannte in präciser lichtvoller Sprache giebt seinem Werke seinen eigenthümlichen Charakter und seinen Werth. Die gallischen Kriege Cäsars sind der Grundtext der späteren Geschichte von Europa. Die Jugend kann nun wohl nicht an jedem, was er schildert, theilnehmen; selbst ein gereiftes Alter kann das nicht, es gehört dazu eine mehr kriegsmännische Befähigung; aber mit dem größten Interesse vermag doch ein jeder den allgemeinen Gang der Unternehmungen, die Erfolge der verschiedenen Feldzüge, die Siege, das Aufwogen des altkeltischen Volksgeistes dagegen und dessen Ueberwältigung zu verfolgen. Das Buch ist symbolisch für die Welteroberung und die Gründung des Kaiserthums überhaupt.

Als nun aber das Kaiserthum gegründet war, was wurde daraus? Tacitus stellt es dar, und zwar nicht als ein Lobredner des Siegers durch und durch, sondern zugleich als ein Gegner desselben im Innern und nach Außen. Was sich bei Cäsar nur als ethnographische Notiz über die Germanen findet, wird bei Tacitus eine mit Bewunderung durchdrungene Schilderung ihrer Sitte. Der moralische Ton der alten Historiographie, wie ihn Sallust angeschlagen, erscheint bei Tacitus in höherer Potenz. Wofür sich in Rom kein Platz mehr fand, das moralische Ideal, erschien in den barbarischen Völkern germanischen Ursprungs in vollem Dasein. Cultur und Moral trennen sich gleichsam; jene macht mit der Verderbtheit, diese mit uranfänglichen Zuständen, die man als roh bezeichnen kann, gemeinschaftliche Sache: in diesem Gegensatz, der die folgenden Jahrhunderte beherrscht hat, erscheint Tacitus fast als Prophet und zwar als ein vorwärts gewandter. Ganz in diesem Gefühl ist der Agricola geschrieben, es ist der Gegensatz des ungebrochenen altrepublikanischen Geistes, inwiefern er damals noch existirte und hätte er nicht existirt, wie hätte Tacitus schreiben können[43] gegen den Despotismus der Julier? So sind aber auch Annalen und Historien geschrieben; grade in diesen Gegensätzen liegt ihr Leben. Die Cultur mit Verderbtheit, mit Despotismus im Bunde führt zu den tragischen Ereignissen, in deren Schilderungen Tacitus unübertrefflich ist. Keine Zeit hat etwas hervorgebracht, was dem gleich wäre, was Tacitus über den Tod der Agrippina geschrieben hat. Er ist zugleich höchst gegenständlich, von allen Historikern, die jemals gelebt, der am meisten malerische; auch keine spätere Zeit wird etwas dem Gleiches hervorbringen. Die Dinge begegnen in der Welt nur einmal in voller Prägnanz ihres Daseins; so mögen sie denn auch, wenn das Glück der Zeiten es will, nur einmal dargestellt werden.

Ich war mitten in diesen Studien begriffen, als mein Bruder Ferdinand, der damals in Halle studierte, mich besuchte; ein jugendlich emporkommender, prächtiger, liebenswürdiger junger Mann, der in seinen philologischen Studien lebte und webte und sich mir mit vollem Herzen anschloß. Wie oft haben wir bei einer Tasse Kaffee schwierige Stellen des Tacitus einander zu erklären versucht; wie oft im Grase liegend einen alten oder neuen Classiker gelesen und uns seiner erfreut! Tacitus wurde durch und durch excerpirt.

Quelle:
Ranke, Leopold von: Zur eigenen Lebensgeschichte. Leipzig 1890, S. 33-44.
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