3. Dictat vom December 1875.

[44] Ich bin nun nahe daran, mein achtzigstes Jahr zu vollenden. Welch eine Periode von großen Wechselfällen, entscheidenden Ereignissen, die zwischen 1795 und 1875! So unbedeutend das einzelne Leben auch ist, so erfährt es doch in jedem Augenblick die Rückwirkung der allgemeinen Angelegenheiten. Was sonst eine Anmaßung wäre, die großen Begebenheiten mit seinem Leben in Verbindung zu bringen, ist doch andrerseits wieder unerläßlich und gleichsam eine Pflicht der Reminiscenz.

Meine Geburt fiel noch in das Jahr 1795, in welchem sich die allgemeinen und deutschen Angelegenheiten insofern fester gestalteten, als die Idee, die Revolution zu überwältigen, aufgegeben wurde und das System der preußischen Neutralität sich bildete. Unter diesen Eindrücken wuchs ich auf, da auch das Kurfürstenthum Sachsen, dem ich angehörte, die preußische Politik vollkommen theilte. Auch in das Städtchen, das wir bewohnten, und das, wie oben berührt, viel inneres Leben hatte, drangen die Beziehungen der öffentlichen Angelegenheiten ein: der Name Napoleon blieb uns nicht unbekannt. Die Kinder empfingen den Eindruck einer außerhalb unserer Beziehungen emporgekommenen ungeheuren Gewalt, die jedoch nicht als feindselig betrachtet wurde, sondern nur durch ihre Großartigkeit imponirte. Ich erinnere mich der Mittagstafel auf dem großväterlichen Gute bei Querfurt, wo ein gelehrter Candidat es versuchte, den Namen zu erklären. In unmittelbarster Nähe berührten uns die Ereignisse von 1806. Zum erstenmal erschienen die preußischen Regimenter vor dem Ort; unsere[45] Husaren brachen auf, um ihnen zur Seite den Kampf gegen Napoleon zu bestehen. Am 14. Oktober waren wir in größter Aufregung, die älteren Knaben, denen ich mich zugesellte, glaubten Kanonendonner zu hören, wenn sie Löcher in die Erde gruben; ich vernahm nichts davon. Aber baldigst erschienen Wagenreihen, die den Rückzug ankündigten. Nach einigen Tagen erschienen die französischen Chasseurs; sie wurden als fremde Soldaten, die sich aber hervorgethan hatten, aufgenommen, mit Furcht, aber ohne Haß. Für uns hatte es nun die größte Bedeutung, daß zwischen Sachsen und Frankreich Friede geschlossen wurde; dem Kurfürstenthum gesellten sich die thüringischen Fürstenthümer bei. Ich besinne mich wohl auf den gothaischen Offizier, ich denke einen Seebach, der uns auf dem Marktplatz in Wiehe, noch zu Pferd, dies Ereigniß erzählte. Eine Anzahl übelwollender Flugschriften und Gedichte gegen den König von Preußen trugen dazu bei, die Population Preußen zu entfremden. Ich erinnere mich, daß ich doch vielen Ärger dar über empfand. Die Erhebung des Kurfürstenthums zum Königreich machte dagegen doch einen guten Eindruck. Das Einverständniß mit Frankreich erhielt die Schulen, die ich zu besuchen anfing, in der Ruhe, die für die Studien nothwendig war, in lebendiger, aber doch sehr unparteiischer Theilnahme. Auf mich machte fast mehr der Ton der Bulletins, als ihr Inhalt, Eindruck. Mit der Bewegung des Kampfes aber stieg auch die allgemeine Theilnahme für oder wider; wobei denn mehr von den französischen Marschällen und ihrem Kaiser, als von den Schicksalen von Europa die Rede war. Aber in kurzem vernahmen wir auch andere Stimmen; ich las gerade den Agricola des Tacitus und war sehr in meiner Seele bewegt, als ich die Gedanken einer britischen Königin in den Proklamationen der Alliirten wiederfand. Mein besonderer Patron, der Mathematicus Schmidt, war sehr französisch gesinnt; denn er schrieb Napoleon eine universalhistorische Mission zu; aber in der Jugend regte sich doch das lebendigste Mitgefühl für die deutsche Sache. Mein Freund und Gönner, der Collaborator Wiek, billigte sehr meine Vergleichung des Widerstandes der Briten gegen die Römer und der Alliirten gegen die Franzosen. Dort an der großen Landstraße stießen dann die großen Gegensätze sehr nahe auf einander. Wir sahen Napoleon auf seinem Marsch nach Lützen, hörten aber nach einigen Monaten den Bericht mit an, welchen General Thielmann, der mit den Sachsen zu den Verbündeten übergegangen, über die Erfolge der Schlacht von Leipzig vor der Pforte laut verlas.

Meine ersten Universitätsjahre wurden dann von lebendigster[46] Theilnahme an dem Fortgang dieser Begebenheiten und ihrer Entscheidung bei Belle-Alliance erfüllt, die dann jedem Einzelnen mehr galten, als seine persönlichen Erlebnisse. Man begreift nun wohl, daß bei allem Fleiß, bei aller Hingebung an die Studien des Alterthums, doch auch die großen Ereignisse, die sich vollzogen, den Geist ergriffen und dazu beitrugen, ich will nicht gerade sagen, ihn durchzubilden, noch weniger zu retardiren, aber ihm eine Richtung auf das öffentliche Leben zu geben. Von besonderer Bedeutung war es nun für uns, daß die thüringisch-sächsischen Lande durch den Frieden an Preußen fielen. Wenn man an der Universität Leipzig das auf das bitterste empfand, so war mein Vater doch dafür. Er hatte alle die Unannehmlichkeiten, die mit der sächsischen Justizverwaltung, der er angehörte, verknüpft waren, persönlich empfunden und zog das Landrecht den sächsischen Gesetzen, die preußische Prozeßordnung, in die er sich nur mit Mühe fand, der sächsischen Justizverfassung vor. Es war ihm sehr erwünscht, daß ich meine erste frühe Anstellung in Preußen fand; für mich selbst hörte jede weitere Rücksicht auf abweichende Verhältnisse auf. Die Erzählungen, die ich von denen, die an den Feldzügen Theil genommen, also aus erster Quelle vernahm, waren sehr geeignet, meine junge Seele mit deutsch-patriotischem Eifer zu erfüllen. Eine Gefahr trat hiebei ein, von dem excentrischen Eifer, den diese Gefühle hervorbrachten, fortgerissen zu werden. Vater Jahn erschien auch in Frankfurt; mein jüngerer Bruder wurde von den Ideen, die sich in ihm verkörperten, unwiderstehlich fortgerissen und folgte ihm auf eine kurze Zeit nach Berlin. Ich war empfänglich dafür, aber doch nicht in so hohem Grade; doch war auch dafür gesorgt, daß ich nicht etwa der entgegengesetzten Partei beifiel. Durch die gewaltsamen Rezessionen, von denen ein Theil meiner Freunde betroffen wurde, wurde ich nothwendig abgestoßen.

Von dem größten Einfluß war es aber auf Gesinnung, Leben und selbst die Studien, daß die Restauration eine Reihe von Jahren die Oberhand behielt. Die historischen Studien haben sich eigentlich in dem Widerspruch gegen die Alleinherrschaft der napoleonischen Ideen entwickelt. Auf diesem Grunde beruhte die große Wirkung, welche Niebuhr's römische Geschichte innerhalb und außerhalb der gelehrten Kreise hervorbrachte. Das besondere Leben im Gegensatz gegen eine allgemeine Herrschaft und die inneren Bedingungen einer großartigen Staatsentwicklung riefen einen allgemeinen Wetteifer selbst in der gelehrten Literatur hervor. Otfried Müllers Arbeiten sind aus demselben Grunde hervorgegangen; die Vorlesungen, welche Steffens in[47] Breslau hielt, sind auf Müller nicht ohne Einfluß geblieben. Die abstruse Gelehrsamkeit verband sich mehr oder minder mit einem politischen Zuge. Der Gegensatz wurde durch Philosophie und Theologie nicht etwa geschlichtet, sondern tiefer angeregt. Man befand sich in der Mitte lebendiger Bewegung nach allen Seiten hin. Als junger Professor in Berlin lebte ich in der Mitte derselben, ich ergriff die Studien der neueren Geschichte mit wissenschaftlichen Tendenzen, die ich in denselben noch vermißte, Studien, die mich nach Wien und dann nach Italien führten.

In Wien war die literarische Bewegung bei weitem gebundener, als in Berlin; das legitimistische System beherrschte die Geister oder suchte sie zu beherrschen. Ich hatte das Glück, mit Friedrich Gentz in eine ziemlich nahe Beziehung zu kommen; er galt als eines der Oberhäupter der sogenannten Ultras und hielt an den antirevolutionären Doktrinen eifrig fest; aber er war ein Mann von Geist, der ganz in seiner Weltstellung lebte und sie jeden Augenblick überschaute. Ich besuchte ihn alle Woche einmal, in einer Abendstunde. Politische Unterhaltung war ihm eine Art von Bedürfniß, und, wie man weiß, er sprach sehr gut. Die allgemeine Situation war keineswegs mehr so beschaffen, wie sie in Folge des sogenannten heiligen Bundes in Aussicht genommen war; die Erhebung der Griechen unter der Unterstützung von England hatte alle Gemüther in neue Richtungen getrieben. Mit den Griechen und ihren Protectoren kam ich nicht in Verbindung; wohl aber mit den Serben, die demselben System, aber auf eine andere Weise angehörten. Es war mir ebenso anziehend, wie belehrend, den Ursprung der serbischen Bewegung aus unmittelbarer Mittheilung kennen zu lernen, unbekümmert, was man in Wien darüber dachte. Meine italienischen Studien, die ich in Berlin begonnen, setzte ich mit immer wachsendem Eifer fort; denn noch war das venetianische Archiv großentheils in Wien: es bot mir die nächste Ausbeute. Aber zugleich vertiefte ich mich in das Element der slavischen Bewegung in der Türkei; ich fing an Serbisch zu lernen, wiewohl nicht mit großem Succeß, da die Information, die ich bekam, in deutscher Sprache gewährt wurde. Aus dem Gespräche von Gentz nahm ich ab, daß das Verhältniß der großen Mächte keineswegs ein sehr einmüthiges war. Die Notizen, welche einige Jahre später das Portefolio publicirte, und die dann das allgemeine Erstaunen hervorriefen, waren mir bereits damals durch Gentz nicht vorenthalten worden. Er sprach oft unter dem Eindruck der letzten Depeschen aus St. Petersburg, deren Inhalt und Ton er gleichmäßig perhorrescirte.[48] In diesem Zustande der großen Angelegenheiten, der mir wenigstens nicht fremd war, reiste ich nach Italien.

Die Zustände in Venedig repräsentirten noch ganz das alte System; meine Wirthin hatte noch den letzten Dogen gesehen. Die Erinnerungen an San-Marco waren noch nicht verloschen, und ich lebte und webte, wie sich denken läßt, in dem Mitgefühl mit der alten Republik. In diesen Directionen war es keine Störung, daß der Kronprinz von Preußen eintraf, mit jugendlicher Lebendigkeit für Alterthum und Kunst eingenommen und die Hoffnung, daß er das Alte aufrecht erhalten und neu beleben werde. Man konnte an den Idealen der Restaurationsepoche festhalten, der es gelungen war, über die griechischen Zerwürfnisse hinwegzukommen. Mir wurden die Griechen erst in Venedig lebendig, bei denen es nicht geringen Eindruck machte, daß Professor Reisig, der eben angekommen war, leider um daselbst zu sterben, das Altgriechische so gut sprach oder noch besser, als sie selber. Ich werde mir die Mühe nehmen müssen, diesen Aufenthalt einmal ausführlicher zu schildern. Hier will ich nur den politischen Horizont bezeichnen, unter dem ich dann nach Florenz und Rom ging. Wir waren im Jahr 1829, und alles war mit den großen Gegensätzen der Restauration und der Revolution beschäftigt, die damals Frankreich agitirten und durch die französischen Zeitungen aller Welt mitgetheilt wurden. In der Gesellschaft, die ich zu Rom sah, regte sich die Meinung, daß es mit der älteren Linie der Bourbonen doch nicht gehe und daß sich unter der Hand die Herrschaft der Orleans in Frankreich vorbereite, von denen man annahm, daß sie etwa die Politik Wilhelms III. in England einschlagen würden. Einen positiven Anhalt hatte das nicht, und das System der Restauration erschien in aller Welt zu gut befestigt, als daß man einen baldigen Umsturz hätte erwarten können. Aber er vollzog sich in dem folgenden Jahr, plötzlich, gewaltsam, durchgreifend. Karl X. mußte die Flucht ergreifen; Louis Philipp von Orleans trat wirklich an seine Stelle. Es lag nun nicht so sehr an der inneren Schwäche der Restaurationsideen, als an dem veränderten Zustand von Europa überhaupt, den Mißverständnissen, die zwischen Oesterreich, Rußland und England eingetreten waren, daß man wohl einen Augenblick daran denken konnte, einen conservativen Kreuzzug gegen die neue französische Regierung zu unternehmen, ihn in der That aber nimmermehr auszuführen im Stande gewesen wäre. Bei meinem zweiten Aufenthalt in Venedig im Jahr 1830 waren die Beamten des dortigen Archives und viele andere in der Stadt der Meinung, daß dies dennoch geschehen müsse, weil nur so die Continuation[49] des Alten und Neuen aufrecht erhalten werden könne. Aber ganz an ders war der Lauf der Dinge: die revolutionären Sympathien breiteten sich jeden Augenblick weiter aus und behaupteten sich auch außerhalb der französischen Grenzen in Belgien; ihre Analogien triumphirten in England, sie bedrohten die deutschen Fürstenthümer und Regierungen. Anders war es nicht, als daß der Gegensatz der beiden Systeme, welche die Welt umfaßten, nochmals durchgekämpft werden mußte; nicht jedoch in der früheren Weise, durch einen weltumfassenden Krieg aller Mächte, sondern durch innere Bewegung.

Dies war die Signatur der Periode, die mit dem Jahre 1830 eintrat. Kein lebender Mensch konnte sich diesem großen Streite entziehen; auf eine oder die andre Weise mußte ein jeder Partei nehmen. Bei meiner Rückkehr nach Berlin, im Frühjahr 1831, wo ich nun wieder das Katheder bestieg, wurde ich mitten in diesen Streit gezogen und hielt mich sogar für verpflichtet, durch eine historisch-politische Zeitschrift an demselben Theil zu nehmen. Die Richtung, die ich einschlug, war nun aber weder Revolutioun noch Reaction. Ich hatte das kühne Unterfangen, zwischen den beiden einander in jeder öffentlichen oder privaten Aeußerung widerstrebenden Tendenzen eine dritte zu Worte bringen zu wollen, welche an das Bestehende anknüpfte, das, auf dem Vorangegangenen beruhend, eine Zukunft eröffnete, in der man auch den neuen Ideen, insofern sie Wahrheit enthielten, gerecht werden konnte. Das Unternehmen ging eigentlich über meine Kräfte; wie sehr sah ich mich getäuscht, wenn ich gemeint hatte, eigentlich müsse mir jedermann beistimmen! Ganz das Gegentheil geschah: meine früheren Freunde, wie Varnhagen und Alexander von Humboldt, die das Heil der Welt in dem Fortschritt der Revolution sahen, bezeigten mir Ungunst und Entfremdung. Meine damaligen Freunde, Radowitz und Gerlach, die sich soeben ein Organ in dem politischen Wochenblatte erschaffen hatten, duldeten mich nur eben, weil ich der Revolution nicht ganz beifiel. Einen Trost und eine Stütze fand ich in dem Beifall von Männern wie Eichhorn1, Savigny, Schleiermacher, die mich möglichst unterstützten. Die beiden ersten bildeten meine tägliche Gesellschaft. Fast noch eine größere Rolle aber spielte die Bekanntschaft mit Ancillon, den ich in Venedig kennen gelernt hatte, und um den sich dann wieder eine conservative Gesellschaft[50] gruppirte. In Ancillon repräsentirte sich noch einmal Sinn und Art der französischen Kolonie in Berlin: in allgemeiner Bildung, einer immer gegenwärtigen Kunde der Ereignisse der Geschichte, sowie der Dogmengeschichte der Philosophie suchte er seinesgleichen. In seinen Gesprächen war er bei weitem conservativer, als in seinen Schriften, doch hielt er auch an denen fest. Nicht selten sah er den König, beinahe täglich seinen Zögling, den Kronprinzen, der dann fortfuhr, an allen Produktionen der Literatur und Kunst unter Ancillons Mitwirkung, der alle Abende vorlas, den lebendigsten Antheil zu nehmen.

Mir konnte nun nicht entgehen, daß eine vorzugsweise politische Schriftstellerei meinen Beruf doch nicht erfülle. Das Beste, was in der Zeitschrift vorkam, war doch eigentlich historisch. Meine ganze Seele trieb mich, die historischen Arbeiten, zu denen ich das reichste Material mit nach Hause gebraucht hätte, nun auch an den Tag zu fördern. Ich schrieb die Geschichte der Päpste, noch unter dem Eindruck meines Aufenthaltes in Italien, namentlich in Rom. Auffallend war es mir, daß Bunsen, der sonst meine Stellung theilte und auch meine politischen Arbeiten billigte, mit dem ersten Band der Papstgeschichte nicht zufrieden war. Er meinte, nicht der romanischen, sondern der germanischen historischen Entwickelung müsse sich die Arbeit des Historikers widmen. In dem zweiten Theil der Päpste war ich genöthigt, nur zu viel auch von der deutschen Geschichte zu sprechen. Die ›Arbeit hatte das Gute, daß sie mich in voller Anschauung der allgemeinen Verhältnisse erhielt. Der Beifall, den sie im allgemeinen fand, und selbst die Widerrede, die sie hervorrief, waren für mich dadurch bedeutend, daß sie auch mir eine Stellung in den all gemeinen Bestrebungen und Streitigkeiten der Welt verschafften. Ich hatte mich der äußersten Unparteilichkeit beflissen, ohne doch das Positive aufzugeben; ein Sinn, in welchem ich nun auch meine Vorlesungen hielt, die jetzt mehr Anklang fanden, als früher. Die Zustände von Berlin in den letzten Jahren Friedrich Wilhelms III. beruhten darauf, daß die revolutionären Tendenzen literarisch einwirkten, aber auch literarisch bekämpft wurden. Doch ging die Bedeutung der Männer, die an der Universität zusammenwirkten, nicht ohne stetes Widerstreben gegen einander, weit über diesen Gegensatz hinaus. Es waren Männer vom ersten Rang, die Universität stand in ihrer vollsten Blüthe; denn die Wissenschaft wird von den Gegensätzen der Politik zwar berührt, aber geht nicht in derselben auf. Das eigene Leben der historischen Wissenschaft[51] war ich bemüht durch die historischen Uebungen zu fördern, die dann den glücklichsten Erfolg hatten.

Als der dritte Band der Päpste erschienen war, ging ich einst mit Savigny in seinem Garten auf und ab, und er fragte mich, was ich nun zuerst unternehmen wollte. Mein Entschluß war bereits gefaßt. Ich hatte das innere Bedürfniß, der Geschichte des Katholicismus die der Ursprünge des Protestantismus zur Seite zu setzen, und wie denn nach meiner Sinnesweise die gründlichsten Studien allem anderen vorangehen mußten, so hatte ich bereits Materialien gefunden, welche zu einer neuen Arbeit eine sichere, weitreichende Grundlage bilden konnten. Es waren die Reichstagsakten der Stadt Frankfurt a.M.; denn nur aus der Coincidenz der religiösen und politischen Bestrebungen ließ sich das große Ereigniß der Reformation der Kirche einigermaßen begreifen. Andere Informationen lieferten die Archive von Berlin, Weimar, Dresden, wozu dann die voluminösen theologischen Werke hinzukamen. Ich fühlte mich oft nicht ganz behaglich in der Composition von Reichstagsakten und Theologumenen; auf der anderen Seite war wieder mein ganzes Interesse dabei. Doch ich halte inne. Ich will nur noch mit einem Worte berühren, daß, während ich arbeitete, in Berlin der Horizont sich dadurch vollkommen veränderte, daß Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestieg. Er war ganz der Mann der Zeit, d.h. er lebte und athmete in den großen Gegensätzen; aber er hatte zugleich Partei genommen für das Positive und das Historische. Er meinte seinem Staat und der protestantischen Kirche eine Stellung auf immer sichern zu können, indem er doch den Formen, welche die Epoche forderte, näher trat. Allein nicht die Formen allein begehrte die revolutionäre Tendenz, sondern zugleich das Wesen. Eine neue Epoche trat durch die Revolution von 1848 ein: die Impulse, die sich im Jahre 1830 erhoben hatten, bekamen jetzt die Oberhand; und nicht auf immer konnte der ausgebrochene Kampf durch friedliche Mittel geführt werden. Wer hätte daran nicht in seiner ganzen Seele Theil nehmen sollen? Jeder Anmuthung, das Wort noch einmal zu ergreifen, wich ich beharrlich aus. Es lag mir mehr daran, die großen historischen Erscheinungen, die auf denselben Gegensätzen beruhen, zur Anschauung zu bringen: die Entwickelung des preußischen Staates, die Bildung der französischen Macht, endlich die Geschichte des 17. Jahrhunderts in England.

Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. trat der Gegensatz der constitutionellen und ständischen Tendenzen in Evidenz.[52] Auf den Geist der Zeit aber hatte der Unterschied, den der König mit Recht machte, doch keine eigentliche Rückwirkung; vielmehr wurden die Zeitgenossen von einem neuen großen Gedanken erfüllt, der an die frühere Epoche anknüpfte und dessen Realisation man vom König erwartete: dem Gedanken der deutschen Einheit. Der König lebte und webte in demselben; aber bei jedem Schritt wurde er durch Rücksicht auf Oesterreich verhindert vorzuschreiten, was denn die Agitation nothwendig vermehrte. Meinerseits war auch ich von diesem Gedanken nicht unberührt geblieben; ich glaubte vielmehr in der Geschichte der Reformation den Akt des deutschen Geistes zum Bewußtsein gebracht zu haben, durch welchen die Nation ihre innere Einheit am meisten documentirt hatte; denn der Protestantismus galt eine ganze Periode hindurch als die deutsche Religion. Aber die deutsche Idee war in den folgenden Zeiten durch die großartigsten Anstrengungen von der anderen Seite her zurückgedrängt, selbst in sich gebrochen worden, so daß sich die historische Aufmerksamkeit, selbst ohne persönliche Beziehung, dem Staate zuwandte, in welchem der protestantische Gedanke die größte politische Energie entwickelt hatte. Ich hatte Freunde, welche in der preußischen Geschichte gleichsam den zweiten Theil der Reformationsgeschichte erblickten. Indem ich mich diesem Stoff zuwandte, mußte ich jedoch inne werden, daß er auch noch ganz andere Lebenskräfte in sich trug, die ihn wieder beschränkten. Ich mußte vor allem das partikularistische Leben des preußischen Staates zu begreifen und darzustellen suchen, wodurch denn die Persönlichkeit des großen Königs, in der es sich in der Welt geltend machte, in den Vordergrund trat. König Friedrich Wilhelm IV. war, so viel ich bemerkte, wenn ich ihn dann und wann einmal sah, was doch nur selten geschah, mit diesem Vorhaben nicht ganz einverstanden. Seinen Beifall gab er mir erst zu erkennen, als ich in dem dritten Bande die deutschen Fragen näher berührte: er meinte, das Buch werde nun eben ganz deutsch. Er faßte die Deutschheit jedoch anders, als die Zeitgenossen, lediglich von conservativer Seite: Aufrechterhaltung des Bundes, Erneuerung der ständischen Rechte, die zwar die Bureaukratie, aber nicht die Monarchie beschränken sollten, eine Ordnung der Dinge, welche schlechterdings nicht französisch sein sollte – darin sah er die Deutschheit. Durch die Revolution von 1848 wurde er aber inne, daß die entgegengesetzten Elemente stärker waren, als er gedacht hatte; er hatte die Welt seinen Ideen zu unterwerfen gemeint, sah sich aber bald in die Vertheidigung zurückgeworfen.[53]

Dann aber gewannen die allgemeinen Ereignisse noch eine andere Direction. Aus der Julimonarchie entstand die Republik, aus der Republik ging die Autorität des dritten Napoleon hervor; und nochmals schien dann ein Kampf mit Frankreich bevorzustehen. Ich hatte diese Idee dem König schon im Mai 1848 angedeutet; daß sie sich im December realisirte, erwarb mir seine Gunst. Erst seitdem habe ich ihn öfter gesehen. Ich hatte indessen, nicht so sehr von den Ereignissen angeregt, als in Folge der Gesammtheit meiner historischen Studien, die französische Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts zu schreiben unternommen. Ich hatte sie dem König Friedrich Wilhelm IV. in den Abendstunden größtentheils vorgelesen; ich fand in ihm den aufmerksamsten und einsichtsvollsten Zuhörer. Seine Bemerkungen machten mich zuweilen bedauern, daß das Buch schon gedruckt war; ich hätte sie sonst hie und da verwerthen können. Er war voll kommen einverstanden damit, als ich ihm endlich anvertraute, daß ich nunmehr an die englische Geschichte zu gehen gedächte. Er sprach die Hoffnung aus, daß ich damit vielleicht durchdringen könne, und gab mir, als ich im Jahre 1857 nach England reiste, einen Empfehlungsbrief an Prinz Albert, der mir dann meinen Weg einigermaßen erleichtert hat.

Schon aber waren seine Tage gezählt. Seine letzten Lebensjahre waren durch die Verwickelungen des Krimkrieges getrübt, die er nur immer aus dem Gesichtspunkt des allgemeinen Kampfes gegen die Revolution und das neue Napoleonische Reich betrachtete. Aber alle diese Fragen, die deutsche und die allgemeine sowie die constitutionelle, ließ er seinem Nachfolger zurück, der dann, auf dem einmal gelegten Grunde fortbauend, doch eine mehr, wenn wir so sagen dürfen, nach der Linken hingewandte Richtung nahm, d.h. der öffentlichen Meinung einen größeren Einfluß gestattete. Auf dieser leichten Wendung, die zugleich eine Abweichung in der religiösen Ansicht, eben auch nur eine Modification, zur Grundlage hatte, beruht dann die weitere Entwickelung der Welt. Wir sind zur Entscheidung in den beiden Hauptfragen gelangt, der deutschen und der europäischen. Noch einmal ist es zum Kampf zwischen Oesterreich und Preußen gekommen: die Schlacht von Sadowa hat zwischen ihnen entschieden und dann zugleich Zustände herbeigeführt, in denen es möglich wurde, den von Frankreich angebotenen Kampf aufzunehmen und auf das glücklichste auszuführen. Was Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1792 unternommen, wovon er aber im Jahre 1795 abstand, das wurde im Jahre 1870 von seinem Enkel ausgeführt. Zwisten diesen Momenten[54] hat sich mein Leben bewegt. So großartig sie sind, so denke ich doch, daß es von denselben nicht beherrscht worden ist; es hat auch seine eigene innere, von allen äußeren Ereignissen unabhängige Bewegung gehabt und sein eigenes Ziel verfolgt. Der allgemeinen Strömung, welche gegen die nächste Vergangenheit wieder ungerecht wurde, setzte ich den Briefwechsel des Königs Friedrich Wilhelm IV. mit Bunsen entgegen.

Fußnoten

1 d.h. Joh. Albr. Eichhorn, der spätere Minister, nicht der Rechtshistoriker Karl Friedr. E., wie S.W. XLIXL Vorrede S. X Anm. 1 irrig angenommen worden.


Quelle:
Ranke, Leopold von: Zur eigenen Lebensgeschichte. Leipzig 1890, S. 55.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon