28. Brief.

[188] Lieber Wilhelm!


Ich habe mich mit Dir in die vornehmsten Verhältnisse versetzt, in welchen Du Dich mit Andern befinden wirst, und Dir die vornehmsten Regeln angegeben, die Du in Absicht Deines Betragens in jedwedem zu beobachten hast. Es gibt noch mehrere, wo Du mit einer geübten Aufmerksamkeit und nöthigen Kenntniß der eingeführten Sitten leicht sehen wirst, wie Du Dich benehmen mußt.

[188] So wirst Du bey einem Balle gut und mit Anstande tanzen, das ist, mit einer anständigen Haltung des Körpers und Bewegung der Arme und mit Beobachtung der Ordnung. Kannst Du das nicht, so thust Du besser, gar nicht zu tanzen, um nicht Andern. Verdruß und Unannehmlichkeiten zu verursachen und Dich selbst lächerlich zu machen. Man braucht kein Ballettänzer zu seyn, um gut zu tanzen; die Hauptsache kommt darauf an, seinen Körper mit An, stand zu tragen, Kopf und Arme schicklich zu bewegen und eine gefällige Miene zu haben, Dieß ist mehr werth, als die künstlichsten Pas, Uebrigens mache auch bey Bällen keinen beleidigenden Unterschied unter den Damen; tanze nicht immer mit einer oder mit wenigen, die etwa Mode sind, sondern mit so vielen, als es Dir möglich ist.

Bist Du in einem Koncerte oder einer Komödie, so wirst Du aus Achtung gegen das Publikum die größte Stille beobachten, und die Aufmerksamkeit durch nichts unterbrechen. Den Virtuosen wirst Du gerne loben, aber nicht gerade der erste seyn, welcher ihm Beyfall zuklatscht.

[189] Bey feyerlichen Zusammenkünften und Gastmätern wirst Du diejenigen, welche da die vornehmsten und ersten Personen vorstellen, überall zu unterscheiden und auszuzeichnen wissen und ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken als Andern, wenn auch diese sonst Höhere sind.

Gehest Du mit Höhern oder Damen, so wirst Du ihnen zwar immer die rechte Seite lassen; sobald diese aber die unbequeme oder gefährliche wird, wirst Du sie einnehmen, denn diese Aufmerksamkeit ist mehr werth, als das leere Cerimoniell. Gehst Du mit zwey Höhern oder Damen, denen Du etwas zu erzählen hast, so wirst Du in der Mute gehen, um beyden Deine Aufmerksamkeit schenken zu können. Diese Aufmerksamkeit auf dasjenige, was Andern gefallen kann, muß Dich überall leiten. Du wirst daher, wenn Du einen Höhern begleitest, ihn nicht verlassen, um mit einem Andern, der Dir begegnet, zu sprechen. Du wirst, wenn Du zu Pferde einem Höhern begegnest, anhalten, um seine Befehle zu empfangen, und wenn er zu Fuße ist, und mit Dir sprechen will, absteigen, daferne er Dir nicht befiehlt, sitzen zu bleiben. Begleitest Du ihn zu Pferde, so laß ihn zuerst [190] aufsteigen, reite immer auf der unbequemsten Seite, zum Beyspiel, wegen des Staubes, des Windes, der Hecken, oder bey gefährlichen Orten, als durch ein Wasser, voran.

Fährst Du mit Andern, so läßt Du den Höhern zuerst einsteigen und Du setzest Dich rückwärts; Du steigst aber zuerst aus, wenn es ohne des Höhern Unbequemlichkeit geschehen kann. Fährt ein Niederer mit Dir in Deinem Wagen, so muß er den vornehmsten Platz haben; er ist Dein Gast.

Begegnest Du einem Höhern und er spricht mit Dir mit abgenommenem Hute, so wirst Du ihn nicht bitten, sich zu bedecken; das hieße, Dich über ihn setzen und ihm das Cerimoniell erlassen wollen.

Auf Reisen mit Andern schicke Dich leicht in Alles, und bequeme Dich gerne nach Andern. Eigensinn, Anmaßungen sind da doppelt lästig und beleidigend.

Befindest Du Dich in einem fremden Orte oder[191] Lande, so verachte und tadle die Sitten und Gewohnheiten desselben nie; vielmehr bequeme Dich nach ihnen und nimm sie an. Dieß wird Dir Deinen Aufenthalt sehr angenehm machen, Dir die Zuneigung der Einwohner erwerben und Dich in den Stand setzen, alle die Vortheile, besonders Menschenkenntniß zu erlangen, die Du Dir durch Deine Reise verschaffen wolltest. –


[192] ** den 7. Dec. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 188-193.
Lizenz: