5.


[48] Wenige Tage nach meiner Ankunft in Leipzig erfolgte meine Aufnahme unter die Zahl der Studierenden und es währte nicht lange, so mußte ich auch trotz meiner bekannten Friedfertigkeit mit gewaffneter Hanb beweisen, daß ich die gehörige Befähigung zum Studium der Rechte besäße. Diese so ganz ungerechtfertigten Schlägereien unter den Musensöhnen nahmen damals mitunter sehr bedenkliche Dimensionen an, und ich erinnere mich noch einer Rauferei en masse zwischen Leipzigern und Hallensern, welche einem sehr talentirten Jünglinge[48] das Leben kostete. Meine kriegerischen Erstlinge waren glücklicherweise minder gefährlich. Die Veranlassung ist mir entfallen. Hatten mir die neuen Stiefel oder die Geliebte meines Gegners nicht gefallen, oder hatte ich sonst ein collegiales Verbrechen begangen, genug, ein Hitzkopf forderte mich, der noch nie eine Waffe in der Hand gehabt hatte. Dessen ungeachtet stellte ich mich; da ich mich auf meine Fechtkunst nicht verlassen konnte, so vertraute ich meiner ungewöhnlichen Körperkraft. Ich ging auf meinen Gegner los und hieb so mörderlich um mich, daß er völlig aus der Fassung gerieth. Ein mächtiger Hieb schlug ihm die Waffe aus der Hand und er erklärte sich mit der Bemerkung für befriedigt, daß man mit einem Menschen, der von der Fechtkunst keinen Begriff habe, sich gar nicht einlassen solle. Mir war das ganz einerlei. Doch bewog mich diese Affaire, die meine erste und letzte war, sogleich Fechtunterricht zu nehmen und reiten zu lernen, sowie auch in gymnastischen Uebungen mich zu versuchen. Ich lernte ziemlich schwere Lasten heben, war ein sehr gewandter Springer und Schnellläufer und immer fiel mir eine Aeußerung des Conrectors Hofmann auf der Fürstenschule ein, der einst in Bezieziehung auf das Schwimmen sagte: »Schwimmen soll jeder Mensch lernen, das kann sogar das liebe Vieh, und der Mensch soll wenigstens darnach streben, daß das Thier, so weit es möglich ist, nichts vor ihm voraus hat.«

Obgleich nun in meinen neuen Verhältnissen das römische Recht meine vorzüglichste Beschäftigung war, so zog doch die stille Sehnsucht nach der Kunst wie ein rother Faden durch mein Leben und Treiben, und unwillkürlich ergriff ich[49] jede Gelegenheit, meiner Neigung die kräftigste Nahrung zu geben.

Das Theater in Weimar zu sehen, war nun einer meiner heißesten Wünsche, denn weimarischer und attischer Grund und Boden hatte damals für mich ganz dieselbe Bedeutung. Schiller's und Goethe's Schöpfungen lebten in meinem Innern auf unvergänglichen Grundvesten und namentlich Gedichte und Dramen des Ersteren waren damals so vollständig in Blut und Leben der Jugend übergeströmt, daß fast jeder halbwegs Gebildete die bedeutendsten Stellen auswendig wußte. Wie viel mehr ein neunzehnjähriger Studiosus, der bereits den Gedanken in sich trug, diese unsterblichen Werke durch die Macht der Rede selbst zu verkörpern.

Ich hatte während meiner Schuljahre zur Zeit der Ferien die meisten Dramen Schiller's und Goethe's in preiswürdigen Darstellungen gesehen; ich hatte Schirmer und Ochsenheimer in ihrer Blütezeit als Carl und Franz Moor, die Hartwig und Schirmer als Johanna d'Arc und Dunois, als Stuart und Leicester gesehen; Lessing's »Nathan«, mit Christ als Nathan, Schirmer als Tempelherr, Haffner als Saladin, Bösenberg als Klosterbruder, Goethe's »Iphigenie«, »Egmont,« »Clavigo« von denselben Künstlern nachgedichtet, hatten meine leicht empfängliche Seele wenn auch vorerst noch mit halb reifem Urtheile zur Bewunderung hingerissen und namentlich Schiller's Heldengestalten mit ihrem für die Jugend doppelt verführerischen idealen Reize waren fast sämmtlich Wort für Wort mein Eigenthum geworden.

Schiller und Goethe, diese mir vorleuchtenden Sternbilder[50] von Angesicht zu sehen, das Theater, das sie dirigirten, und dem ihre Werke zunächst gewidmet waren, kennen zu lernen, wurde mir ein unabweisliches Bedürfniß.

Es gelang mir auch bald, diesen Wunsch zu realisiren, denn einer meiner Universitätsfreunde, Falk, reiste nach Jena, nahm mich mit und führte mich in das Haus seines Stiefvaters, des Professors Gruber, ein, wo ich den Dichter Sonnenberg kennen lernte. Sonnenberg schrieb damals gerade sein Höllengedicht: »Donatoa,« gerieth darüber in der Folge bekanntlich in Wahnsinn und fand seinen Tod, indem er in einem solchen Anfalle sich aus dem Fenster stürzte. Wer übrigens Sonnenberg's Lebensweise kannte, wurde von einer solchen Katastrophe kaum überrascht. Er hatte weder Tages- noch Nachtordnung, denn der Unselige arbeitete größtentheils die Nächte hindurch, wobei er, um sich aufzuregen und wach zu erhalten, die entblößten Füße in kaltes Wasser stellte. Die Vormittage verschlief er in der Regel. Bei solchen Gewohnheiten konnten Congestiv-Erscheinungen und Nervenstörungen nicht lange auf sich warten lassen.

Wir gewannen einander sehr lieb, durchstreiften mit einander die Umgegend von Jena, übten uns öfters im Fechten auf den Hieb und recitirten die Gesänge Ossian's, der sein Lieblingsschriftsteller war. Bei dieser Gelegenheit mußte ich ihm gewöhnlich die Colma vorsprechen. Er nannte mich wegen meines blonden Haupthaares seinen »Flamänder«, und als ihm meine Neigung für das Theater bekannt wurde, äußerte er den Wunsch, mich einst als Hamlet und Egmont zu sehen, weil meine Individualität[51] gerade den Idealen entspreche, die er sich von beiden entworfen hätte.

An den gewöhnlichen Schauspieltagen ritt ich mit meinem Reisegefährten nach Weimar.

Wie beschreibe ich meine Empfindungen, als ich Weimar zum ersten Male erblickte und seine Gärten betrat, die man hier Straßen nannte. Als ob ich an einem hohen Festtage die Kirche beträte, blieb ich in stiller Anbetung vor jedem Hause, vor jeder Stelle stehen, die durch die Erinnerung an einen der auserwählten Geister aus Weimars Areopag geheiligt war. Mein erster Gang war natürlich nach den Häusern Goethe's und Schiller's; wir umschlichen dieselben in stiller Ehrfurcht, und mit wem hätten wir an Glückseligkeit tauschen mögen, wenn einer von ihnen an das Fenster trat oder gar auf die Straße kam und wir ihm eine Strecke nachfolgen durften. In dem reizenden Parke lustwandelten wir trotz der unfreundlichen Februarwitterung, bis das Schauspiel beginnen sollte. Im Theater postirten wir uns so nahe als möglich hinter Goethe's Stuhl und lauschten seinen und Schiller's Blicken und Mienen. Schmerzlich berührt war ich von dem Ausdrucke der vorgeschrittenen Kränklichkeit in Schiller's Erscheinung. Welche Veränderung in so kurzer Zeit! Und daneben die von Gesundheit der Seele und des Körpers strahlende Erscheinung seines olympischen Vor- und Mitkämpfers! Dieser Jupiterkopf, dessen Ausdruck zu sagen schien: Die Welt liegt zu meinen Füßen! So oft ich Goethe ansah, fielen mir die Worte Verrina's ein, der von sich selber sagt: »Es ist eine Qual, der einzige große Mann zu sein.«

Nach geendigter Vorstellung speisten wir noch in Weimar[52] zu Abend und bestiegen sodann unsere Philistergäule, um in dunkler Nacht nach Jena zurückzukehren.

Unser Kunstenthusiasmus ließ uns im glücklichen Jugendleichtsinne der wirklich bedeutenden Gefahr nicht achten, welcher wir ausgesetzt waren, wenn wir auf unverläßlichen Miethpferden die mit Glatteis bedeckte »Schnecke« und das von angeschwollenen Gebirgsflüssen durchschnittene Mühlthal passirten, wo jeder Fehltritt der Rozinante uns in Abgründe oder Wasserfluten zu stürzen drohte. Im folgenden Frühjahre und Sommer besuchte ich noch viele Vorstellungen in Weimar und im Lauchstädter Bade, dem gewöhnlichen Sommeraufenthalte des Theaters, wohin auch Schiller und Goethe zu folgen pflegten. Wie soll ich die Eindrücke schildern, die ich von diesem Ausfluge zurückbrachte?

Ich hatte nun eine Reihe von Kunstdarstellungen gesehen, auf denen der persönliche Einfluß ruhie, welchen die glänzenden Dioskuren der deutschen Literatur ausübten.

Was sich mir zunächst aufdrängte, war eine bis in das kleinste Detail wirkende Harmonie und Abrundung in allen Theilen der Darstellung. Ich habe in späteren Zeiten viele Vorstellungen an bedeutenden Bühnen gesehen, wo die Hauptrollen und hervorragenden Episoden von glänzenden Talenten zur Geltung gebracht wurden. Ein Universalgenie wie die Bethmann, eine Tragikerin wie Sofie Schröder, einen Charakteristiker wie Iffland und Ochsenheimer, eine Heldenerscheinung wie Fleck hatte das Weimarer Theater nicht aufzuweisen und dessenungeachtet machte fast jede Vorstellung den Eindruck der Vollendung; Goethe wußte mit seinem alles überschauenden[53] Geiste für jede noch so bedeutende oder unbedeutende Rolle beinahe mit Unfehlbarkeit die geeignetste Schauspieler-Individualität auszuwählen und unter seiner Anleitung lebte sich unwillkürlich jeder Darsteller in seine Aufgabe so hinein, daß Alles ineinandergriff wie das Räderwerk einer künstlich combinirten Uhr. Bei dem rein objectiven Standpuncte, den er einnahm, kamen allerdings auch Experimente vor, die heutzutage kaum gewagt werden könnten, weil unsere materielle Zeit jener Naivetät entbehrt, mit welcher sich das Weimarer Publicum von dem Gesammteindrücke eines Kunstwerkes in Illusion zaubern ließ. Auch mußte wohl manche Maßregel den noch weniger vorgeschrittenen Bühnenvorrichtungen und der durch pecuniäre Rücksichten gebotenen Beschränkung im Schauspielerpersonale zugeschrieben werden.

So erinnere ich mich einer Vorstellung von »Wallenstein's Tod« im Lauchstädter Bade, wo der Schauspieler Heide als Max Piccolomini zum Tode ging und den nächsten Act in der Maske des alten Gordon eröffnete. Heutzutage würde das Publicum dem Gordon, wenn er den Kopf zur Thür hereinsteckte, laut entgegenlachen; in Lauchstädt nahm damals Niemand daran Anstoß, wozu allerdings die Verkleidungs- und Verstellungsgabe des Darstellers wesentlich beitrug.

Graff, der Darsteller des Wallenstein, war durchaus keine hervorragende Künstlernatur; er erschien sogar in anderen Rollen mitunter etwas steif und trocken; aber der Vorhang durfte nur aufrollen, so war der lange, hagere Mann mit der hohen Stirn und den ehernen Mienen, mit den wenigen kurzen und gebietenden Bewegungen Friedland vom Wirbel bis zur Zehe,[54] und die einzelnen Mängel verschwanden vor der Gewalt des Gesammtbildes. Wallenstein verträgt ohne Zweifel mehr Schwung und Großartigkeit in den Umrissen, aber Graff's Darstellung fesselte und schloß sich eben harmonisch an die Umgebung an.

Dieses Hinwirken auf einen richtigen Eindruck des Ganzen, was Goethe so meisterhaft zu erkennen und zu vermitteln verstand, ist ja doch auch die Hauptaufgabe des Theaters und des Schauspielers, und ich kann sagen, daß ich in dieser Beziehung durch die genaue Beobachtung der Schauspielwirkungen und ihrer Ursachen aus dem aufmerksamen Besuche des Weimarer und Leipziger Theaters fast Alles gelernt habe, was durch beinahe 60 Jahre einer Bühnenwirksamkeit meinen Künstlerkatechismus ausmachte.

Ich habe, und jeder Schauspieler muß das, immer darnach gestrebt, in der mir gestellten Aufgabe den möglichst bedeutenden Eindruck hervorzubringen, aber nur insoweit es mit dem Ganzen übereinstimmte. Wo sich jedoch die übrige Darstellung nicht um mich als Hauptperson gruppirte, habe ich consequent vermieden, auf Kosten des Ganzen zur Befriedigung meiner Eitelkeit zu glänzen und durch Hervordrängen den harmonischen Gesammteindruck zu stören. Ich sah es auf meiner ganzen Laufbahn als die erste Pflicht an, mich unterzuordnen, und ich war überhaupt nie Schauspieler aus Selbstsucht, sondern um der Sache willen. Ich hielt mich immer an Schiller's Ausspruch:


»Immer strebe zum Ganzen, und kannst Du selber kein Ganzes

Werden, als dienendes Glied schließ' an ein Ganzes Dich an.«
[55]

Ich habe die Schauspieler immer bedauert, die aus dem Lorbeerzweige, der einer ganzen Vorstellung hätte zu Theil werden können, einige Blätter abrissen, gleich muthwilligen Knaben, die nach einem Spielzeug verlangen; der Kranz des Ganzen hatte dadurch wohl kahle Stellen, sie selbst aber hatten darum doch keinen Kranz errungen, weder vor ihrem Inneren, noch vor dem Richterstuhle der Kenner. Solchen Leuten ist es eben nur um das Flitterkleid zu thun. Ferner konnte ich nie begreifen, wie ein Schauspieler eine bedeutende Rolle mit Luft und Liebe geben kann, wenn seine Umgebung ungenügend ist oder absichtlich zu einem Nichts herabgedrückt wird, und ich kann diese Abschweifung von meinem Gegenstande nicht schließen, ohne den sogenannten Virtuosen und Taschenspielern von heutzutage das tiefste Mitleid und, wenn sie wirklich begabte Naturen sind, meinen Abscheu auszudrücken.

Ihr, die ich so gerne mit Namen aufzählte, Ihr Afterjünger der Muse, Ihr seid die strafbarsten Mithelfer an dem Verfalle der deutschen Bühne! Ihr habt die Hauptsache zur Nebensache und eure liebe Eitelkeit zur Hauptsache gemacht! Je glänzender Euch die Natur ausgestattet hat, desto schmählicher ist der Ruhm, durch Ducken und Bücken, durch Schmeicheln und Heucheln, durch eine alberne Claque und eine ekelhafte Reclame die Kunst zur tüchtigen Kuh herabgewürdigt zu haben, »die Euch mit Butter versorgt!« Eure ganze Genugthuung ist, Zinsen einzuheben und die auszulachen, die keine einzuheben vermögen. Die Kunstgeschichte wird zum Erstaunen eurer momentanen Bewunderer und zur Warnung für Andere euren zweifelhaften Werth[56] richtigstellen, wenn sie es nicht vorzieht, eure Namen mit Stillschweigen zu übergehen.

Dieser Sorte meiner Collegen sind auch die französischen Rühr- und Effectdramen der Boulevards weit anziehendere Aufgaben als Shakespeare, Goethe, Schiller und Lessing, denn bei jenen muß für einen Haufen blöder Zuhörer das Orchester zu Sitzplätzen gemacht werden, für die Classiker werden kaum die einfachen Preise bezahlt, und können diese schauspielerischen commis-voyageurs der Eitelkeit nicht widerstehen, mit einer effectvollen, classischen Paraderolle in ihrem Gastspielrepertoire zu glänzen, so wird aus den Rollen der Umgebung das Bedeutendere weggestrichen, damit diese nicht zu sehr hervortreten, oder neben dem Gaste applaudirt werden. Exempla sunt odiosa, allein es sind sogar Fälle vorgekommen, daß gefeierte Gastspielvirtuosen den armen Provinzschauspielern dankbare Reden weggenommen und obwohl sie wie die Faust auf das Auge paßten, ihrer eigenen Rolle einverleibt haben.

Der einzige Trost des redlich Strebenden bleibt zuletzt, daß diese Helden des Tages und der Reclame nach ein paar Jahren falschen Schimmers wie Sternschnuppen verschwinden, oder daß sich schließlich der enttäuschte Enthusiast in Ernüchterung und Uebersättigung abwendet wie von einer feilen Dirne.

Daß mir nach der Rückkehr in die Heimat auf die Genüsse in Weimar Institutionen und Pandecten gar nicht mehr schmecken wollten, wird mir auf mein Wort Jeder glauben, der den Kampf zwischen Kunstliebe und Lebenspflichten durchgemacht[57] hat. Es bedurfte einer großen moralischen Kraftanstrengung, um mich wieder einigermaßen in die Studienwelt zurückzuversetzen. Kaum aber hatte ich den Boden wieder gewonnen, als am Ostermontage 1805 die Dresdner Hofschauspieler ihre Vorstellungen in Leipzig mit dem Trauerspiele »Regulus«, von Heinrich von Collin, eröffneten. Ich eilte in das Theater und war außer mir vor Freude, die alten, wohlbekannten Gestalten aus der Heldenzeit Roms auf der Bühne zu sehen. Die Vorstellung war eine vortreffliche zu nennen, sowohl von Seite der Darstellung als der glänzenden Ausstattung, und ganz berauscht von diesem Genusse brachte ich die halbe Nacht schlaflos zu. Meine Liebe zum Theater schlug in lichte Flammen aus und in diesem Zustande der innersten Erregung besuchte ich während der Ferien meinen Freund Ringelhardt in Ostrau. Dieser vertraute mir auf einem Spaziergange, daß der Entschluß, zum Theater zu gehen, in ihm nun ganz unerschütterlich feststehe und daß er ihn in kurzer Zeit ausführen werde. Das Beispiel meines Freundes riß mich mit sich fort. Als ich von diesem Ausfluge nach Hause zurückkam, eröffnete ich meiner Mutter und meinem älteren Bruder meinen Wunsch. Beide liebten das Theater unendlich und letzterer schenkte meiner Wahl sogleich seinen Beifall; desto mehr aber war meine Mutter überrascht und es kostete nicht wenig, sie für meinen Zweck zu gewinnen.

Wer konnte ihr das verdenken? Sie hatte große Opfer gebracht, um meine wissenschaftliche Erziehung zu vollenden; sie sah mich schon im Geiste in einer gesicherten Existenz und nun wollte ich mich den wildbewegten Wellen anvertrauen,[58] auf denen so viele Kunstjünger elend und spurlos untergehen, während nur wenig Begünstigte das sichere Ufer erreichen und die Stufen hinanklimmen dürfen zum Tempel des Ruhmes und der Ehre, um nach den Kränzen eines Traumlebens zu langen, für deren Besitz man den Vortheilen des wirklichen Lebens den Rücken kehren muß.

Ich fühlte tief die Richtigkeit und Bedeutung der mütterlichen Besorgnisse, aber ein Theaterenthusiast, der zwanzig Jahre alt und Student ist, springt in die heiße Hölle, wenn durch sie der Weg zur Bühne führt. Und in damaliger Zeit, bei diesem Grade von Achtung und Bewunderung, die Literatur und Bühnenkunst genossen! Nichts hätte mich mehr in meinem Entschlusse beirren können, und Alles, was ich meiner Mutter zu leisten vermochte, war die Zusicherung, daß ich die Ausführung meines Vorsatzes in keiner Weise übereilen wollte.

Ich blieb nun noch über zwei Jahre in Leipzig und suchte mich zu meinem Vorhaben wissenschaftlich auszubilden. Der Rechtswissenschaft sagte ich Lebewohl und hörte dagegen bei Professor Plattner Collegia über Logik, Anthropologie, Aesthetik u.s.w. Vor Allem verschlang ich Lessing's, Goethe's und Schiller's Werke und vergrub mich förmlich in Schlegel's und Eschenburg's Uebersetzungen Shakespeare's, wo sich mir eine ganz neue, bisher unbekannte Welt des Genusses und Studiums aufschloß. Die Gewalt dieser Riesenschöpfungen drang überwältigend auf meinen nunmehr gereifteren Geist ein. Von der Schärfe der Shakespeare'schen Charaktere gefesselt, begann ich mit Fleiß und Ausdauer die bekannteren Gestalten mir im[59] Wege des Selbststudiums zu erklären, sie nach den einzelnen Scenen und Beziehungen zu analysiren, zu vergleichen, und suchte dann mein Urtheil an dem Urtheil bewährter Kritiker zu prüfen. Ich las Lichtenberg's Abhandlungen über Garrick, verschaffte mir die bedeutenderen englischen und deutschen Commentatoren des großen Dichters, studirte Alles, was auf Mimik und Declamation Bezug hatte und suchte mich besonders in der letzteren practisch zu üben. Oft wand ich mich durch die schattigen Büsche des Rosenthales, wandelte am Ufer der Pleiße und durch die hohen Kornfelder hinter dem Dorfe Gohlis bei Leipzig, memorirte Mortimer, Posa, Max Piccolomini, Egmont, Tasso und recitirte sie laut. – Nicht selten erschreckte ich arglos stille Wanderer oder friedliche Landleute bei ihrer Feldarbeit, wenn ich unversehens aus einem Gebüsche oder einem Saatfelde hervortrat und, um die Gewalt meiner Stimme zu prüfen, Kraftstellen heraustobte, wie z. B. Mortimer's Worte: »Wenn nur der Schrecken dich gewinnen kann, beim Gott der Hölle, erzittern sollst du auch vor mir!« Oft hörte ich hinter mir lachen oder sah die Leute starr vor Schrecken stehen, indem sie mich vielleicht für einen dem Tollhause entsprungenen Wahnsinnigen hielten. Ja, mich durchglühte ein heiliger Wahnsinn und nichts in der Welt war im Stande, mich irre zu machen.

Mitten in diese eifrigen Vorstudien zu meinem künftigen Berufe dröhnte wie Posaunenruf die erschütternde Trauerkunde, daß der auserkorene Liebling der Musen, der Abgott der Jugend und des ganzen deutschen Publicums, daß Friedrich Schiller am 9. Mai 1895 zu Weimar seinen körperlichen[60] Leiden erlegen sei. Wie ein Keulenschlag betäubte diese Hiobspost Jeden, der an Literatur und Kunst ein näheres Interesse nahm. Fast jedes Haus trauerte, als hätte die Familie einen Sohn, einen Bruder verloren. Wenn die entfesselte Seele eines Abgeschiedenen in jenen lichteren Regionen noch Bewußtsein und Erinnerung haben könnte für irdische Beziehungen, so hätte der Verklärte an der wahrhaft allgemeinen Trauer erkennen müssen, daß er sich einen Kranz errungen hatte, wie er noch keinem Sänger von der Mit- und Nachwelt geflochten worden war, denn diesen Kranz hatte nicht nur Bewunderung, sondern noch weit mehr das Herz des deutschen Volkes gewunden und Johannes Scherr hat in seinem schönen Werke: »Schiller und seine Zeit« das Richtige getroffen, wenn er sagt, daß Schiller in seinem Gedichte: »Das Mädchen von Orleans« unbewußt und doch vorahnend die Prophezeiung für alle seine Werke ausgesprochen habe: »Dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben.«


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 48-61.
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