8.


[75] Noch beim Scheiden hatte mir Devrient den Rath gegeben, sobald wie möglich als Schauspieler in Thätigkeit zu treten und nachdem mir auch Ringelhardt bereits mit gutem Beispiele[75] vorangegangen war, so beschloß ich mein Vorhaben bis zum Herbste unter allen Umständen auszuführen.

Nachdem auch zu Ostern 1807 die sächsischen Hofschauspieler ausblieben, unterhandelte der Leipziger Rath mit Weimar, das vielleicht aus ähnlichen Gründen wie Dessau einwilligte, das Weimarer Hofschauspiel über Sommer an Leipzig abzutreten. Welche Festtage standen mir noch vor Thorschluß in Aussicht. Ich benützte diese Monate dazu, aus dem Besuche des Theaters noch so viel als möglich zu lernen. Zu meiner Freude war bereits ein großer Theil des classischen Repertoirs zur Ausführung gelangt, als plötzlich »die natürliche Tochter« von Goethe angekündigt wurde. Ein Schauspiel von Goethe, das ich noch nicht kannte. Die Erwartung stieg bei mir bis in's Unglaubliche. Ich getraute mir kaum einzugestehen, daß der einleitende erste Act etwas Steifes für mich hatte, und erwartete desto mehr von den nachfolgenden. Aber mit jedem Acte stieg in mir das Gefühl der Peinlichkeit. Ja es kam mir im dritten Acte vor, als ob die Schauspieler selbst mit einer auffallenden Unsicherheit sprächen und sich bewegten. Im vierten Acte passirte mir das Unglück, daß ich ihn bereits für den letzten hielt. Aber ein Urtheil gestattete ich mir nicht. Nach dem wirklichen letzten Acte stieg mir sogar der sonderbare Gedanke auf, ob nicht das Werk von einem Andern sei, und Goethe vielleicht aus Freundschaft seinen Namen als Geleitschein hergegeben habe. Ich war völlig uneins mit mir und kann mir noch heute über diesen Eindruck keine Rechenschaft geben. Doch kann ich nicht läugnen, daß ich nach jenem Abend einer Lectüre »der natürlichen Tochter« mit ängstlicher Scheu ausgewichen[76] bin bis heute. Es ging mir wie vielen religiösen Menschen, die in religiösen Dingen, selbst wenn sie zweifeln, nicht aufgeklärt sein wollen.

Doch fiel mir oft im Leben die nachfolgende sehr verbreitete Anecdote ein, welche ein minder scrupulöser Student geliefert haben soll.

In einer Universitätsstadt wurde einst »die natürliche Tochter« aufgeführt. Nach dem zweiten Acte wendet sich ein Student an einen neben ihm sitzenden ältlichen Herrn mit der Frage: »Um Vergebung, ist das Stück nicht von Vulpius?« (Vulpius war bekanntlich der literarisch übelberüchtete Verfasser von »Rinaldo Rinaldini« und vielen ähnlichen Schreckensbüchern.) Der ältliche Nachbar erwiederte: »Nein, das Stück ist von Goethe.« Nach dem dritten Act fragt der Student: »Wissen Sie gewiß, daß das Stück nicht von Vulpius ist?« »Nein,« sagt der Nachbar, »das Stück ist von Goethe.« Nach dem vierten Acte meint der Student: »Ich glaube immer, das Stück ist von Vulpius.« »Von Goethe,« ist die Zurechtweisung des Nachbars. Am Schlusse endlich behauptet der Student: »Sie mögen sagen, was Sie wollen, das Stück ist von Vulpius.« Da erhebt sich endlich der stattliche Nachbar und sagt mit einem flammenden Auge: »Das Stück ist von Goethe und ich bin Goethe.« »Sehr erfreut,« sagt der Musensohn, »mein Name ist Müller.«

Mittlerweile hatte mich Devrient benachrichtigt, daß er sich mit Fräulein Neefe (einer Schwester des rühmlich bekannten Decorateurs Hermann Neefe) verehelicht habe. Ich fuhr daher im Sommer nach Dessau hinüber, um meinen neugewonnenen Freund in seiner jungen Häuslichkeit zu besuchen und ihn um[77] Rath zu fragen, wie ich es anfangen könnte, um bei Bossann ein Debut zu erhalten. Bossann wurde von meiner Bitte in Kenntniß gesetzt, entschuldigte sich aber, daß ihm die reducirten Verhältnisse des Dessauer Theaters nicht gestatteten, ein neues Mitglied aufzunehmen. Ein Debut ohne Engagementsabsicht sei aber gegen seine Grundsätze.

Es lag wohl auf der Hand, daß dies nur eine Ausrede war, um den Volontär, dem er nicht traute, schonend abzuweisen. Dagegen versprach er mir die wärmsten Empfehlungen an die Direction des Theaters in Nürnberg. Dieses Schreiben war der einzige magere Trost, den ich von Dessau mitbrachte.

In diese Zeit fällt eine Anecdote, welche damals in Leipzig den Gegenstand großer Belustigung bildete und hier eine Stelle finden möge:

Der Tilsiter Friede hatte dem preußisch-französischen Kriege ein Ende gemacht. Sachsen war, von der Gewalt der Ereignisse gedrängt, als Mitglied des Rheinbundes der Sache des Franzosen-Kaisers beigetreten und die außerordentliche Erscheinung dieses Mannes im Zusammenwirken mit seinen Waffenerfolgen übte solch' einen bedeutenden Einfluß aus, daß es an freiwilligen Bewunderern und officiellen Ovationen nicht fehlte. Friedrich August war selbst ein aufrichtiger Verehrer des genialen Kriegsfürsten, wozu sich noch ein Gefühl der Dankbarkeit gesellte, denn zum Lohne für seine Ergebenheit war er von seinem gewaltigen Freunde und Bundesgenossen zum Könige von Sachsen mit bedeutenden Gebietsvergrößerungen auf Kosten Preußens erhöht worden.

Napoleon kehrte aus dem Felde zurück und wurde auf[78] der Durchreise nach Paris in Leipzig erwartet, wo das Frühstück eingenommen und umgespannt werden sollte.

Der Stadtrath von Leipzig glaubte daher den Beifall der sächsischen Regierung zu erwerben, wenn er dem großen Eroberer und Freunde König Friedrich Augusts eine glänzende Huldigung darbrächte Demzufolge wurde eiligst und schleunigst vor dem Grimma'schen Thore eine gewaltige Triumphpforte gezimmert, malerisch ausgestattet, mit Kränzen und Blumenguirlanden geschmückt und mit der schmeichelhaften Inschrift versehen: Fortunae reduci. (Der zurückführenden Glücksgöttin.) Weißgekleidete Mädchen sollten den Helden ansingen, der Leipziger Rath ihn im Pomp empfangen und die junge Kaufmannschaft hatte sich mit großen Kosten glänzend uniformirt und beritten gemacht, um als Ehrengarde den Sieger von Jena und Friedland im Triumphe vor den Thoren einzuholen. Am bestimmten Tage sollten Kanonenschüsse die Ankunft Cäsars und den Beginn des Festes bezeichnen. Sächsische Cavallerie bivouakirte die Nacht hindurch im Straßengraben vor der Stadt. Die ritterliche Handelsjugend hielt aber diese Aufopferung für überflüssig, der Kaiser war um 6 Uhr angesagt. »Morgen,« hieß es, »morgen um 6 Uhr früh!«

Aber o Tücke des Schicksals! Hatte der Gefeierte durch schadenfrohe Berichterstatter Kunde erhalten, was ihm Drohendes bevorstehe, hatte er allzu große Eile oder war ein anderer Dämon thätig, genug, der Besieger Preußens und Rußlands langte unerwartet schon um 5 Uhr an. Die Kanonenschüsse erdröhnten, die sächsische Cavallerie-Escorte saß auf, aber weder die Blüte von Leipzigs Jungfrauen, noch die Träger[79] von Wage und Elle, noch auch die Väter der Stadt hatten sich vom weichen Lager erhoben.

Ich, ein flinker Bursche, hatte mich beim ersten Schusse aufgemacht und erreichte die Post, als gerade der Wagen des Kaisers mit frischen Pferden bespannt wurde.

Nun erschien endlich der flügge gewordene Theil des Stadtrathes, aber bevor er sein »Großmächtigster, Unüberwindlichster« oder dergleichen vorbringen konnte, lehnte sich der Adjutant des Kaisers aus dem Wagenschlage und bemerkte, daß Seine Majestät schlummerten und keine Ordre gegeben hätten, Sie zu wecken.

Tief in die Ecke gedrückt, sah ich den Mann des Jahrhunderts lehnen, ein Tuch über das Antlitz geworfen.

Ein Peitschenknall! und fort ging es in halber Carriere, die sächsischen Kürassiere hintendrein zum Rannstädter Steinwege hinaus nach Lindenau, und erst hier nahm Napoleon das Frühstück ein, auf welches Leipzig so stark gepocht hatte.

Kaum war der Gegenstand der Feier verschwunden, so flatterten gleich einer Schaar weißer Tauben aus allen Straßen die Festmädchen herbei, und ganz zuletzt kamen die Centauren Merkurs angeschnaubt, um mit dem verdutzten Magistrate bestürzte Blicke zu wechseln.

Mittlerweile hatte sich die ganze Stadt aus den Federn losgewunden und die Straßen füllten sich mit erwartungsvollen Zuschauern, die nun von dem Mißlingen des projectirten Triumphzuges Kunde erhielten.

Unter dem homerischen Gelächter der Menge trabten die[80] so mitleidwürdig enttäuschten Ehrengarden so schnell als möglich nach Hause, um sich den Blicken der Spötter zu entziehen, und die verunglückten Ritter vermieden es in der ersten Zeit nach Thunlichkeit, sich öffentlich zu zeigen.

Ich und mein Schulfreund Ernst Schmorl konnten dem übe rmüthigen Jugenddrange nicht widerstehen, diese verhängnißvolle Cavalcada durch Parodirung zu verewigen. In einer launigen Stimmung setzten wir uns zusammen, nahmen Schiller's »Jungfrau von Orleans« zur Hand und adaptirten den berühmten Monolog des vierten Actes als elegische Klage einer zerschmetterten Kaufmannsseele.

Aus diesem Opus II meiner schriftstellerischen Erdenmission füge ich einige meinem Gedächtnisse treugebliebene Bruchstücke bei, zur Erheiterung jener Leser, die an dergleichen Scherzen überhaupt Gefallen finden.

Scene: Ein Schlafzimmer. Flöten und Hoboen hinterder Scene spielen die Melodie: »Schlaf, Kindlein, schlaf!« Er sitzt mit der Schlafmütze auf dem Kopfe und mit verzweiflungsvoller Geberde auf dem Bette.


Die Waffen ruhn, des Krieges Stürme schweigen,

Auf Polens Schlachten folgt Gesang und Tanz;

Durch Leipzigs Straßen tönt der muntre Reigen,

Die Esplanade prangt in Festesglanz;

Und Pforten bauen sich aus grünen Zweigen,

Und um die Latten windet sich der Kranz.

Das weite Leipzig fasset nicht die Gäste,

Die wallen zu dem deutschen Völkerfeste.
[81]

Und einer Freude Hochgefühl entbrennet,

Und ein Gedanke schlagt in jeder Brust;

Was sich noch jüngst in blutgem Haß getrennet,

Das theilt entzückt die allgemeine> Lust;

Was nur zum rhein'schen Bunde sich bekennet,

Das ist des Namens stolzer sich bewußt;

Erneuert ist der Glanz der Kaiserkrone

Und Leipzig huldiget – Fortunens Sohne.


Doch ihn, der all' das Herrliche vollendet,

Das allgemeine Glück, ihn rührt es nicht;

Gott Morpheus hat ihm Träume zugesendet,

Ein neidisch Tuch verhüllt sein Angesicht.

Und ich, der sich zu träg' im Bett gewendet

Und so versäumt des Sachsen Ehrenpflicht,

Ich muß mich aus dem Kreis der Freude stehlen,

Die schwere Schuld des Schlafens zu verhehlen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


(Er versinkt in stille Wehmuth. Man hört Kanonenschüsse.)


Wehe! weh' mir, welche Töne!

Wie erschrecken sie mein Ohr,

Schnell, mein Pferd! und bringt die schöne

Blaue Uniform hervor!


Daß ein Sturmwind mich erfaßte,

Trüge mich vor's Grimm'sche Thor,

Ach, so käm' ich all' den Andern

Und dem Kaiser selbst zuvor!

– – – – – – – – – – – – – – – –


(Die Musik geht in eine weiche Melodie über.)
[82]

Fromme Elle! hätt' ich nimmer

Mit dem Rosse dich vertauscht,

Hätte nie des Säbels Schimmer

Meinen Kaufmannsgeist berauscht!


Wärst du nimmer mir erschienen,

Einziger Napoleon,

Ach, so trüg' ich, dir zu dienen,

Nicht so bittern Spott davon!


Mußt' ich denn ihn auf mich laden,

Diesen furchtbaren Beruf?

Konnt' ein Aug' ich wach erhalten,

Das der Himmel schläfrig schuf?


Willst du deinen Ruhm verkünden,

Leipzig, wähle die Geschwinden,

Welche steh'n im Schilderhaus:

Die Soldaten sende aus;

Die stets wachenden, die braven,

Die nicht gähnen, die nicht schlafen,

Nicht den zarten Kaufmann wähle,

Nicht des Schwengels müde Seele.


Kümmert mich das Loos der Schlachten,

Mich der Zwist der Könige?

Sorglos stand ich sonst im Laden

Beim levantischen Kaffee.

Eitelkeit riß mich in's Leben,

Hieß ergreifen mich den Stahl,

Mich der Schande preiszugeben.

Ach, bereuenswerthe Wahl!


Uebrigens war dieses Kunstwerk kein vereinzeltes. Das verunglückte Reiter-Experiment hatte viele Homere und Virgile[83] gefunden. Das parodistische Talent hatte in Leipzig zu jener Zeit zahlreiche und begabte Vertreter, wozu das rasche Auftauchen der classischen Literatur Deutschlands wesentlich beitragen mochte. So lieferte mein Universitätsfreund Roller, nachmaliger Rector am Gymnasium zu Glogau, eine meisterhafte Parodie des Schiller'schen Reiterliedes auf die lächerlichen Eigenschaften der Leipziger Stadtsoldaten oder Stadtmeisen.

Ein Seitenstück zu dieser Gattung von Scherzen lieferte ich ebenfalls unter Schmorl's Mitwirkung. Wir verfaßten nämlich zu Nutzen und Frommen für unsere Collegen einen Universitäts- oder Studentenkalender, wo anstatt der Kalender-Heiligen die Familiennamen der hübschesten Leipziger Mädchen figurirten; die schönsten aber erschienen in rother Schrift statt der Sonn- und Feiertage. Dieser Kalender cursirte in allen Kreisen und von den Schönen selbst wurde mit Leidenschaft darnach gefahndet, weil sich jede als Sonntag zu finden hoffte.

O ihr glücklichen Jugendjahre! nur noch wenige Bemerkungen und ich schließe mit euch für immer ab!

Wir befanden uns nunmehr im Anfange des Monates September 1807. Es wäre meinem unwiderstehlichen Drange unmöglich gewesen, noch einen Winter zuwartend hinzubringen. Ich war 22 Jahre alt und es war die höchste Zeit, meine Lehr- und Wanderjahre anzutreten.

Um Michaeli begann allerorten die eigentliche Theatersaison und ich hatte die größte Eile, wenn ich irgendwo unterkommen wollte. Daß die Sache ihre Schwierigkeiten hatte,[84] verhehlte ich mir nicht. Wenn schon Bossann es ablehnte, auf Treue und Glauben einen Anfänger aufzunehmen, den er wenigstens doch persönlich kannte, so mußte ich erwarten, daß jeder Fremde mit weit triftigerem Grunde nein sagen würde. Ich hatte daher so gut wie gar keine Aussicht auf Erfolg und es schien sehr gewagt, auf das Ungewisse eine für meine Verhältnisse immerhin kostspielige Reise nach Nürnberg zu unternehmen.

Diesen Selbstmonologen gab meine Mutter den beredtesten Ausdruck. Sobald ich aber die Wahrheit dieser Bedenken aus dem Munde eines Anderen vernommen hatte, waren auch vor der Hartnäckigkeit meines Entschlusses bereits alle Schwierigkeiten verschwunden und ich bekämpfte den mütterlichen Dolmetsch meiner eigenen Ueberzeugung mit allen Waffen der Sophisterei, die mein kunstbegeisterter Querkopf in das Feld zu führen vermochte. An die Spitze jeder meiner Einwendungen stellte ich den Satz: Aller Anfang ist schwer, aber ohne Anfang kein Fortschritt und fortes fortuna juvat.

Meine Mutter ließ endlich ab, einem Rasenden Vernunft zu predigen und meinte zuletzt, ich solle mir in Gottesnamen die Hörner abstoßen; auch leuchtete ihr selbst ein, daß ich durch Müßiggang nur verlieren könnte. Sie packte mir mit der vollen Zärtlichkeit einer sorgenden Mutter einen tüchtigen Koffer mit Wäsche und Kleidern, ich warf die unentbehrlichsten Bücher hinein und eine Brieftasche mit den Ersparnissen meiner Mutter sollte mich gegen die ersten Bedürfnisse sicherstellen.[85]

Ich nahm von meinen Freunden und Bekannten bedeutungsschweren Abschied, versicherte mich eines Platzes auf der »Ordinairen«, steckte Bossann's Empfehlungsschreiben als künstlerischen Freibrief und meine Studentenmatrikel als Reisepaß zu mir, und von den heißen Segenswünschen meiner theuren Mutter und Geschwister begleitet, von meinen vertrauten Collegen und Freunden auf die Post escortirt, fuhr ich am 6. September 1807 fröhlichen Muthes und auf gutes Glück hinaus in die weite Welt auf die labyrinthischen Pfade der Kunst.[86]

Fußnoten

1 Das Originalmanuscript dieser Rede befand sich noch unter Anschütz's Papieren und folgt hier dieses interessante Schriftstück aus der Feder des l9jährigen Fürstenschülers:


Rede an den Särgen unserer verunglückten Brüder Friedrich Leopold Hallbauer aus Rochlitz und Carl Heinrich Mendte aus Zwenkau, entworfen und gehalten von Johann Immannuel Heinrich Anschütz aus Leipzig den 28. Juni 1804.


Zum Staube wird, was Staub ist nur versenkt,

Des Himmels Funke kehrt zum Himmel wieder.

Matthisson.


Du, den Flügel der Ehrfurcht decken, durch alle Myriaden hinauf, heilig in deinen unendlichen Gesetzen und unerforschlich in deinen tiefen Wegen, in deinen Wegen, die unsere Schicksale bezeichnen. Unergründlich bist du dem denkenden Staube, der schauende Seraph durchdringt deine Rathschlüsse nicht, deine Rathschlüsse, die wir gebeugt heute in deinem Heiligthume verehren.

Ach! zwei Opfer, Sprößlinge der Hoffnung, liegen hier in schauerlicher Stille vor deinem Altare.

Verstummt in Schmerz stehen um sie die treuen Pfleger ihres Wuchses, die jugendlichen Mitgefährten zittern um die plötzlich Verwelkten, gleich den Kindern der Unschuld, der Eintracht und der Schönheit in der Pflanzenwelt, die ein giftiger Hauch plötzlich zur Erde beugte!

Mitergriffene meines namenlosen Jammers! zu welchem uns, ach, reuiges Bekenntniß, ein Tritt aus den Grenzen der Ordnung und der Pflicht gleich in den Abgrund schleuderte, blickt mit mir hinauf zu dem unendlichen Erbarmer, vor dem nur die Wahrhaftigkeit im reuigen Geständniß bestehen kann. Ach, sieh' unsere Thränen um die gefallenen Opfer, höre ihre heiligen Laute, die sie jetzt selbst, näher dem Throne deiner Huld, vor dir stammeln. An den Särgen der Frühentrissenen fasse der heilige Entschluß fest und ewig unsere Seele, in reinerer Tugend, in lauterer Gesinnung hinfort vor dir zu wandeln.

Ach, noch schwebt der Vergangenheit Schauer wie ein schreckender Traum vor unserer Seele, nur noch vor wenig Stunden standen diese beiden Sprößlinge unserer Pflanzstadt, von treuen Händen gepflegt, in voller Blüte unter uns, und nun, ach, getroffen vom Strahle des Geschicks, sind sie dahin. Ach, ihr seid früh dahingeschieden! Kaum waren die Frühstrahlen eures Lebens angebrochen, als ein finsteres Gewölk die Freude verschlang und alle unsere Hoffnung begrub. Wer vermag die Bestürzung zu schildern, die uns Alle versteinerte, als, im traulichen Zirkel aufgeschreckt, wir den Jammerruf vernahmen: »Dort kämpfen Brüder mit verschlingenden Wellen, eilt, ach, eilt sie zu retten!« Freundschaft, Menschenliebe und jedes Gefühl der Pflicht schlug mächtig in jeder Brust. Alle eilten wir den in Gefahr schwebenden Brüdern zu, um sie zu retten, aber ach, zu spät kam unsere Hilfe, schon hatten die reißenden Fluten die Unglücklichen ergriffen und sie in ihren Tiefen begraben. Erbarmer, nimm sie in Schutz, war unser Aller Ruf. –

Weinet nicht, trauernde Theilnehmer meines Schmerzes, keine Verbrechen, ein jugendlicher Fehltritt war ihr Ende. Durch desVersöhners ergriffene Huld wandeln ihre seligen Geister jetzt in den Gefilden der Unsterblichkeit. Weine nicht, Vater! Weinet nicht, Mütter! Die Schale der Leiden eurer Kinder ist nun ausgeleert, schon umglänzt mit heiterem Strahle sie ein ewiger Tag. Weinet, o weinet nicht, uns Alle ereilt auch endlich der Tod, wir Alle gelangen zum Wohnplatz der Ruhe. So wie ein Vater sein Kind an den Busen der Mutter legt, um es zu beruhigen, so legt auch uns, nachdem unsere Freuden dahin und alle unsere schönen Pläne vereitelt sind, der Allgütige, nach tausend erlittenen Schmerzen an den Busen der Ewigkeit.

Feiert, Versammelte! diesen Tag mit stiller Trauer, weihet den Frühgeschiedenen der Wehmuth stummes Opfer, und kommt einst der Tag, der auch unser Loos entscheiden soll, o, dann wünscht mit mir:


Eine heit're Abschiedsstunde,

Sanften Schlaf im Leichentuch,

Brüder, einen sanften Spruch

Aus des Todtenrichters Munde!


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866.
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