Drittes Kapitel

Unter dem Sozialistengesetz

Politische Anfänge

[21] Die Arbeiterbewegung stand zahlenmäßig trotz mancher schönen Anfänge doch noch aufrecht schwachen Füßen. Die großen Massen kannten nur die Tretmühle der Arbeit und kümmerten sich nicht um Gesetzgebung und andere öffentliche Angelegenheiten. Die sogenannten Gründerjahre, die dem Krieg gegen Frankreich folgten, entfesselten eine wüste Spekulation. Der Schwindel stand in Blüte. Millionenunternehmungen entstanden. Der Reichtum wuchs, und auch die Löhne stiegen. Aber noch viel mehr stiegen die Wohnungsmieten und die Lebensmittelpreise. Die Wohnungsnot spottete jeder Beschreibung. Massen proletarischer Familien waren obdachlos; sie kampierten mit ihren Habseligkeiten auf dem freien Gelände in der Umgebung Berlins.

Unter dem Druck der Verhältnisse öffneten sich nun doch auch den Gleichgültigsten die Augen. Noch aber hatten weder die Partei noch die Gewerkschaften eine feste Form. Die Führer, Bebel und Liebknecht, traten wohl für Arbeiterschutz, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit u.a. ein, aber die kapitalistische Entwicklung der Zeit nach dem Kriege verhinderte jeden Erfolg dieser Forderungen für die Arbeiter. Daraus entstanden Streiks über Streiks, und die ganze Hetze polizeilicher Verfolgungen setzte ein. Aber unter all diesen Kämpfen wuchs das Klassenbewußtsein der Arbeiter. 1875 kam es dann auch zu einer Vereinigung der beiden bestehenden Parteirichtungen.

Als dann 1878 das Sozialistengesetz erlassen wurde, wandte sich das Interesse immer weiterer Kreise des Proletariats politischen Fragen zu. Die Ausweisungen von Familienvätern, die Unterdrückung der sozialistischen Agitation überhaupt bewirkte, daß viele Proletarier erst von dieser Partei und ihrer Tätigkeit Kenntnis erhielten. Eine Partei, deren Angehörige heldenmütig solche Leiden ertrugen, mußte von hohen[22] Idealen erfüllt sein. Es war fast wie bei den ersten Christenverfolgungen. Je mehr Sozialisten ausgewiesen wurden, um so stärker wuchs im geheimen die Schar der Anhänger. Das ist die werbende Kraft der reinen Ideale.

Die wirtschaftliche Entwicklung brachte es mit sich, daß immer mehr Frauen aus der Familie gerissen und in die Fabriken, Werkstätten, auf die Bauten, in die Landarbeit, die Kohlengruben gedrängt wurden. Sie fanden auch in Berufen Arbeit, die sonst ausschließlich von Männern ausgeübt wurden. Diese Frauen aber, deren Tätigkeitsfeld bisher nur die Familie war, verstanden es nicht, die Erwerbsarbeit in Geld zu bewerten, sie betrachteten ihren Lohn meist nur als Zubuße zu dem des Mannes. Sie arbeiteten für viel geringeren Lohn als die Männer und beeinflußten so die Lebenshaltung der Arbeiterklasse auf das allerschlimmste. Das Unternehmertum begriff aber sehr schnell, daß trotz der niedrigen Löhne die weibliche Arbeitsleistung meist nicht geringer als die der männlichen Arbeiter war, der Profit dadurch also bedeutend erhöht wurde. Zudem nahm die Hausindustrie, die elendste aller Betriebsweisen, einen immer größeren Umfang an. Hand in Hand damit ging die Verlotterung des Hauswesens und die Vernachlässigung der Kinder des Proletariats. Das Interesse der gesamten Arbeiterschaft erforderte es daher, zu versuchen, diese Zustände zu ändern, die Schmutzkonkurrentin in eine Kampfgenossin zu wandeln und eine Arbeitszeitverkürzung vorerst für die Frau und Mutter herbeizuführen. Ferner sollten von Staat und Reich sanitäre Maßnahmen gefordert werden.

Auch den Frauen erstand in dieser Zeit ein Wecker und Rufer zum Kampf. August Bebel gab sein Buch »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« heraus. Für mich war dieses Buch aber nicht das erste an sozialistischen Schriften, die ich in die Hand bekam, sondern Marx' »Kapital«, das ebenfalls in dieser Zeit erschien. In welchem Abhängigkeitsverhältnis die Frauen, auch die arbeitenden Frauen, damals noch zu ihren männlichen Familienangehörigen standen, habe ich am eigenen Leibe erfahren. Trotzdem ich nun schon lange die alleinige Erhalterin unseres kleinen Haushaltes war, blieb ich für meinen Vater die Tochter, die keine eigene Meinung zu haben brauchte, die sich in allem unbedingt nach ihm zu richten hatte. Ich war von Natur nachgiebig und fügte mich, konnte aber schließlich, als die Zeiten auch für uns immer ernster wurden, meine Gedanken nicht ganz unterdrücken.[23] Da wir den ganzen Tag aufeinander angewiesen waren, ergab es sich von selbst, das wir auch über die Tagesereignisse sprachen. Der Vater hatte, wie ich schon erzählte, eine gute Schulbildung gehabt, und er hat mir dadurch das Verständnis für manche Zusammenhänge geöffnet, das ich mir sonst wohl mühsamer hätte suchen müssen. Er fing dann auch an, mir bei der Arbeit vorzulesen, und es war im ganzen doch eine schöne Zeit bei allem Ernst und bei allem Streit, den wir manchmal miteinander hatten.

Aus der Landeskirche sind wir 1877 ausgeschieden, von da an gehörten wir der Freien Gemeinde an. Hier sind wir dann öfter mit Menschen zusammengekommen, die sich schon Sozialdemokraten nannten. Aber erst ein Zufall hat uns in die Bewegung hineingebracht. Es sollte eine neue Wohnung gesucht wer den, und der Vater sah sich danach um. Er fand eine, aus der die bisherigen Mieter sehr schnell ausziehen mußten, weil der Mann als Sozialist ausgewiesen wurde. Der Vater kam mit diesen Leuten näher in Berührung und lernte dabei erst die Bedeutung des Sozialistengesetzes für die Arbeiterklasse verstehen. Denn es handelte sich hier um ordentliche Leute, die absolut nichts getan hatten, als daß sie eben Sozialdemokraten waren und kein Hehl daraus machten. Von da an interessierten wir uns für alle die Fragen, die damit zusammenhingen, und kauften uns häufig sozialistische Zeitungen. Es kam schließlich so weit, daß der Vater auch ab und zu Artikel für das »Volksblatt« schrieb, trotzdem wir uns noch lange nicht zur Partei rechneten.

Auch von Bebel hatten wir öfter gelesen, und eines Tages war eine Versammlung, in der er sprechen solle, angekündigt. Mein Vater ging hin. Diese Versammlung wurde aufgelöst, der Vater kam sehr empört nach Hause. Bebel aber hatte ihm gefallen. »Das ist ja so ein ganz einfacher Mann, ein schlichter Handwerker.« Als ich dann selbst auch mitzugehen verlangte in solche Versammlungen, war mein Vater zuerst nicht dafür zu haben und suchte es mir auszureden: es wären keine Frauen da, und man würde gar nicht hereingelassen. Ich erreichte es dann aber doch, daß er mich mitnahm.

Die beiden Bücher, die ich schon nannte, August Bebels »Frau« und Karl Marx' »Kapital«, erregten gerade in der Zeit des Sozialistengesetzes das allergrößte Aufsehen. Beide Werke wurden sofort als staatsgefährlich verboten, aber trotzdem recht viel und eifrig gelesen und diskutiert. Da harte Strafe auf die Verbreitung der Werke angedroht war,[24] mußte man bei der heimlichen Beschaffung recht vorsichtig sein. In dieser Zeit, in der das öffentliche Leben so in Fesseln geschlagen war, haben sich viele durch das Studium dieser Bücher in der Stille zu Sozialisten herangebildet. Auch wir mußten diese Bücher haben. Und wir verschafften uns zuerst das »Kapital« von Marx. Bekannte aus der Freien Gemeinde, die schon Sozialdemokraten waren, besorgten es uns. Wir gingen dabei ganz vorsichtig zu Werke, die Frau trug das Buch, den ersten Band, unter das Kleid geknöpft auf dem Körper. Heimlich gingen wir beide an einen stillen Ort, und als wir den stillschweigend wieder verließen, da war das Buch unter mein Kleid geknöpft. Auf diese Weise haben wir dann noch öfter Bücher gekauft. Nun ging zu Hause das Lesen an. Der Vater las vor, und wir sprachen darüber, während ich nähte. An Marx' »Kapital« haben wir im ganzen ein Jahr gelesen. Bebels »Frau« habe ich dann später aber allein gelesen.

Das Interesse weiter Kreise der bisher indifferentesten Arbeiterinnen, der Näherinnen, wurde geweckt, als die Regierung im Jahre 1885 beabsichtigte, einen Nähgarnzoll einzuführen, der eine starke Belastung gerade dieser Ärmsten zur Folge haben mußte. Die sozialdemokratische Partei lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf den geplanten Raubzug auf die Taschen der Ärmsten. Eine von den Näherinnen sehr stark besuchte Versammlung wurde abgehalten. Auch mir war eine Einladung zugegangen. Wenn ich nicht irre, war es Frau Marie Hofmann, die das Referat hielt. Sie hatte genaue Berechnungen über die Höhe der Belastungen durch den Nähgarnzoll angestellt, was mit dem, was ich selbst als Näherin bereits errechnet hatte, genau übereinstimmte. Das beabsichtigte Gesetz kam nicht zustande.

Die sogenannte »stille Zeit« bedeutete gerade für die Näherinnen eine weitere, sehr erhebliche Erschwerung ihres Lebenskampfes. Wer könnte da einen Stein werfen auf diejenigen, die in dem Elend versanken. Die sozialistische Partei aber wurde geknebelt, und doch ist die geringe Besserung, zu der die Regierung und die Arbeitgeber sich gezwungen sahen, nur dem Wirken dieser Partei zuzuschreiben.

Als 1889 die Not einen hohen Grad erreicht hatte, gab es viele Frauen, die auf die Erfüllung der Botschaft des »Arbeiterkaisers« gläubig harrten. Sie wurden gar bald enttäuscht und verloren den Glauben, denn es half ihnen niemand, sie mußten erst zu der Erkenntnis kommen, daß die Arbeiterschaft sich selbst erlösen muß.

Die Verelendung der Arbeiterkreise nahm zu. Die Prostitution, die öffentliche[25] wie die geheime, breitete sich mehr und mehr aus. Die Löhne waren so niedrig, daß weite Schichten der Arbeiterinnen, namentlich in der Wäschefabrikation und Konfektion trotz fleißigster Arbeit kaum genug verdienten, um nur das dürftigste Leben fristen zu können. Die Regierung sah sich schließlich gezwungen, etwas gegen das Elend zu tun. So veranstaltete sie im Jahre 1887 eine Enquete über die Lohnverhältnisse in der Wäschefabrikation und Konfektion. Elende Verhältnisse, Wochenlöhne von 8 bis 9 Mark, für Ungeübtere gar nur von 4 bis 5 Mark, wurden festgestellt. Die meisten Arbeiterinnen lebten tagsüber von Kaffee und Brot, und es ging denen gut, die noch eine Mutter oder Schwester zu Hause hatten, so daß sie wenigstens abends eine warme Suppe bekamen. Ein ordentlich zubereitetes Mittagessen war nur am Sonntag möglich.

Die wachsende Not der Arbeiterkreise hatte die Kräfte zu ihrer Bekämpfung wachgerufen. Ebenso war es auch bei den Frauen. Auch die Arbeiterinnen erkannten endlich die Notwendigkeit des Zusammenschlusses. Die bürgerliche Frauenbewegung war auf den Plan getreten mit ihrem Kampf für das »Recht auf Arbeit«, für die Ausgestaltung der Mädchenschulen, für die Zulassung zu höheren Berufen. Hier und da fing man auch von dieser Seite an, sich um die Arbeiterinnen zu kümmern, es wurden Sonntags- und Haushaltungsschulen gegründet, Vereine zur Hebung der Sittlichkeit. Für die Arbeiterinnen aber war die Hebung ihrer wirtschaftlichen Lage das Wesentliche. Ihre Befreiung mußte auch aus ihren eigenen Reihen kommen.

Solche Kämpferinnen gegen die Ausbeutung durch die Unternehmer waren in der weiblichen Arbeiterklasse erstanden, Namen tauchen auf, die ein Leuchten auf den Gesichtern derer wecken, die noch mit ihnen lebten und kämpften.

Schon 1872 wurde von den Genossinnen Hahn und Pauline Staegemann der erste Berliner Arbeiterfrauen- und -mädchenverein gegründet, mit Johanna Schackow als Schriftführerin. Zum erstenmal stellten sich hier die Frauen auf den Boden der klassenbewußten Sozialdemokratie. Fünf Jahre später gelang es dann der Polizei, ihn mit dem berühmten Paragraphen 8 des preußischen Vereinsgesetzes abzuwürgen. Dieser Paragraph lautete: »Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, dürfen keine Frauenspersonen, Schüler oder Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen.« Der Verein hatte sich als besonders »staatsgefährlich« dadurch verdächtig gemacht,[26] daß die Genossinnen Cantius und Staegemann, die als seine Führerinnen allgemein bekannt waren, eine öffentliche Versammlung einberiefen, in der sie scharfen Protest erhoben gegen die höchst unchristliche Herzenshärte und Intoleranz, welche ein Geistlicher in Rixdorf am Grabe eines Selbstmörders bekundet hatte. Der Verdacht wurde bestärkt durch den regen Anteil, den seine Führerinnen und Mitglieder an der Wahlbewegung nahmen. Die Vorstandsmitglieder wurden wegen Vergehens gegen das Vereinsgesetz bestraft, »weil nicht zu bezweifeln gewesen, daß der Verein die Tendenz verfolge, durch die Frauen auf die Männer und die Kindererziehung sozialistischen Einfluß auszuüben«.


Pauline Staegemann, eine Frau mit klarem Blick und großem Herzen, ist eine der bekanntesten unter den ersten führenden Genossinnen gewesen. Sie stand damals noch so recht tatkräftig mitten im Leben, und ihre Familie hat nicht unter ihrer Arbeit für die Allgemeinheit gelitten. Noch bis kurz vor ihrem Tode hat sie sich auch der Kleinarbeit, die unsere Bewegung erfordert, nicht entzogen. Wie hätte ihr feines, von der Not des Lebens und dem Kampf um die Frauensache gefurchtes Gesicht wohl geleuchtet, wenn sie es noch hätte erleben können, wie ihre älteste Tochter, Elfriede Ryneck, mit unter den Abgeordneten des ersten Parlaments der deutschen Republik stand!


Zu der Arbeiterinnenbewegung kam damals auch Frau Gertrud Guilleaume, eine geborene Gräfin Schack. Sie war in Paris mit den Bestrebungen um die Aufhebung der Reglementierung der Prostitution bekannt geworden, sie hatte die ungeheure Gefahr für die Frauen und für die Arbeiterinnen im besonderen erkannt, und sie trug dann die Aufklärung über diese Zustände und den Kampf dagegen auch nach Deutschland. Bei der bürgerlichen Frauenbewegung hatte sie einen schweren Stand. Man hatte hier die Scheu, von diesen heiklen Dingen auch öffentlich unverblümt zu sprechen, noch nicht überwunden. Sie hatte schließlich erkannt, daß die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterin das beste Mittel ist, diese von der Prostitution fernzuhalten, und sie schloß sich dann ganz der Arbeiterinnenbewegung an. In ihrer Zeitschrift »Die Staatsbürgerin« führte sie eine offene und rückhaltlose Sprache. Das machte sie bei den Behörden nicht gerade beliebt. Ihre Zeitschrift wurde verboten, und sie selbst mußte als lästige Ausländerin Deutschland verlassen. Durch ihre Heirat mit einem[27] Schweizer, von dem sie später geschieden wurde, hatte sie das Heimatrecht verloren. In England ist sie 1903 gestorben.

Agnes Wabnitz, die den Verein der Arbeiterinnen Berlins (Nord) und den Verein der Mäntelnäherinnen mit gründen half, hat alle Not und Sorge der Heimarbeiterinnen in ihrem Leben kennengelernt. Begabt und lernfreudig, wie sie war, hat sie manche Nacht an der Nähmaschine zubringen müssen, um die Mutter und die Familie des Bruders zu erhalten. Aus ihr hätte eine Kämpferin ersten Ranges werden können, wenn sie Zeit gehabt hätte, sich die geistigen Waffen zu schmieden. Aber auch so hat sie nicht geruht, hat agitatorisch mit Mut und Begeisterung gewirkt, bis sie, von Schikanen der Polizei und der Behörden verfolgt, mit ihren Nerven zusammenbrach. Einmal hatte man sie schon ins Irrenhaus gesperrt, und als man ihr jetzt wieder zehn Monate Gefängnisstrafe auferlegte, nahm sie auf dem Friedhof der Märzgefallenen von 1848 im Friedrichshain zu Berlin das tödliche Gift. Nicht die Furcht vor der Gefängnisstrafe trieb sie in den Tod, aber den Gedanken, noch einmal als Gesunde ins Irrenhaus gebracht zu werden, wie es ihr nach dem Vorhergegangenen sicher bevorstand, konnte sie nicht ertragen. So ging sie.

Zu den besten und unvergessenen der ersten Führerinnen gehört vor allem auch Emma Ihrer. Sie ist 1857 als Kind einer kleinbürgerlichen Familie in Glatz in Schlesien geboren. Über die bürgerliche Frauenbewegung kam sie zur Arbeiterbewegung, und sie erzählt in ihrer 1898 erschienenen Schrift »Die Arbeiterin im Klassenkampf« sowohl von den verfehlten Versuchen bürgerlicher Frauen, sich der Arbeiterinnen anzunehmen, als auch von der rastlosen Arbeit einer kleinen Schar mutiger Arbeiterfrauen, die Arbeiterinnen zu organisieren und für den Klassenkampf zu gewinnen. Eine ganze Reihe von Vereinen sind noch zur Zeit des Sozialistengesetzes mit ihrer Hilfe gegründet worden. Gelegenheiten zur Auflösung von Arbeiterinnenvereinen fanden sich natürlich genügend. So wurde der Berliner Verein zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen nach einjährigem Bestehen wegen »Beschäftigung mit Politik« aufgelöst. Er hatte sich nämlich an den Berliner Magistrat mit einer Petition wegen Zulassung der Frauen zu den Gewerbegerichten gewandt. 1891 gründete Emma Ihrer, zum Teil mit eigenen Mitteln, die erste Wochenschrift der sozialdemokratischen Frauen, »Die Arbeiterin«, die aber in ihrem zweiten Jahrgang den Namen »Die Gleichheit« annahm. Genosse Dietz, Stuttgart,[28] übernahm die Zeitschrift 1892, und auch die Redaktion wurde nach dorthin verlegt. Da Emma Ihrer, deren Mann in Velten bei Berlin eine Apotheke besaß, nicht nach Stuttgart übersiedeln konnte, übernahm Clara Zetkin, die nach dem Fall des Sozialistengesetzes aus Paris nach Deutschland zurückgekehrt war, die Redaktion. Aber noch einige Jahre blieb Emma Ihrers Name als Herausgeberin am Kopf der Zeitschrift stehen. Sie hat neben ihrer politischen Agitation sich sehr eifrig an gewerkschaftlicher Arbeit beteiligt, und sie ist als erste Frau in die 1890 gegründete Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands gewählt worden.

»Wirken für andere war ihres Glückes ergiebigster Quell«, lautet ihr Grabspruch. Ich werde noch oft in meinen Erinnerungen von ihr zu sprechen haben.

Auch der Frau soll hier gedacht werden, die zwar keine Parteigenossin, sondern Anarchistin war, die aber einen beispiellosen Opfermut gezeigt hatte. Es war Frau Agnes Reinhold, die wegen Verbreitung anarchistischer Flugblätter am 10. Juli 1890 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Diese Frau hat alle Schuld auf sich genommen, damit ihre Genossen frei ausgingen, und die Strafe hat sie restlos abmachen müssen. Es ist noch eine große Reihe anderer Genossinnen, die mit zu jenen ersten gehörten, die in dem Kampf um die Besserung der Lage der Arbeiterinnen die Fahne vorantrugen: Marie Hofmann, Frau Hahn, Johanna Schackow, Johanna Jagert, Frau Cantius, Frau von Hofstetten, die noch heute mit ihren 73 Jahren in ihrer Abteilung mitarbeitet, Margarete Wengels, Clara Zetkin, Wilhelmine Kähler, Martha Rohrlack-Tietz und viele andere. Aber wenn auch die Namen vergessen sind, ihre Taten leben, und der gute und kräftige Samen, den sie säten, der ging auf und trug Früchte.

Ich selbst hatte mich allmählich auch von meinem Vater etwas freier gemacht. Das war nicht ganz leicht. Ich hatte durch das Lesen nun gelernt, mir meine Meinung zu bilden, in eine Versammlung durfte ich aber immer noch nicht allein gehen. Das gefiel mir auf die Dauer nicht mehr. Da hörte ich eines Tages, daß die Schäftearbeiter im Englischen Hof in der Alexanderstraße eine Versammlung angesetzt hatten. Ich hatte plötzlich einen energischen Augenblick und erklärte: »Ich gehe heute abend in die Versammlung der Schäftearbeiter!« Diese Energie muß meinen Vater vollkommen überrascht haben. Er schwieg ganz still und ließ mich auch allein gehen.[29]

In dieser Versammlung habe ich zum erstenmal gesprochen. Als Redner trat ein Vertreter der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine auf, der offenbar zwischen den Standpunkten stand. Er war nicht Fisch, nicht Vogel, und seine Rede befriedigte weder die einen noch die andern. Ich saß an einem Tisch mit mehreren Frauen zusammen, und eine von ihnen meinte: »Schade, daß Ihr Vater nicht hier ist. Der könnte dem mal unsere Meinung sagen.« »Ach«, sagte ich, »das kann ich auch. Ich weiß mit den Hirsch-Dunckerschen ganz genau Bescheid.« Ich hatte gar nicht weiter darauf geachtet, daß die eine der Frauen aufstand, nach vorn ging und wieder zurück kam. Aber auf einmal höre ich von dem Leiter der Versammlung meinen Namen nennen und mich zum Wort auffordern. Ich dachte in dem Augenblick, ich müßte in die Erde sinken, hatte aber nur den einen klaren Gedanken, wenn du jetzt nicht sprichst, dann lachen sie alle über dich. Als ich dann auf dem Podium stand und die vielen Köpfe unter mir sah, habe ich mit Zittern und Zagen angefangen zu sprechen. Das Zittern verlor sich dann, ich wurde sicherer und hatte auf einmal das Gefühl: Nun hast du gesagt, was du sagen wolltest. Damit ging ich dann wieder auf meinen Platz und hörte, wie der Vorsitzende sagte: »Die Frau, die jetzt gesprochen hat, hat das einzige Vernünftige vorgebracht, was zu dieser Sache hier zu sagen ist.« Ich wurde noch an demselben Abend in eine Kommission gewählt, und am nächsten Tag stand etwas von meiner Rede in der Zeitung. Damit ging ich nun doch stolz zu meinem Vater, dem ich am Abend vorher nichts mehr davon erzählt hatte, und nun freute er sich und meinte: »Ich habe ja schon manchmal gesagt, du könntest das, was du mir immer hier allein erzählst, ganz gut auch mal in einer Versammlung vorbringen.«

Noch unter dem Sozialistengesetz getrauten sich die Arbeiterinnen schon Vereinigungen zu bilden. Wir hatten z.B. eine Lokalorganisation der Schäftearbeiter und -arbeiterinnen gegründet. Die erste Versammlung, die von dieser Organisation veranstaltet wurde, hatten wir Frauen sowohl einzuberufen wie zu leiten.

Das war uns noch etwas Ungewohntes und erschien uns als ein ganz besonderes feierliches Ereignis. Die einleitenden Worte, die uns vor allem wichtig erschienen, wurden zu Hause sorgfältig eingeübt, und zu der Versammlung hatten wir uns unsere besten Kleider angezogen, und um es besonders gutzumachen, uns sogar frisieren lassen.

Es hat dann aber doch noch verschiedene Jahre gedauert, bis ich selbständig[30] in Versammlungen als Referentin auftrat. Lange habe ich ein unangenehmes Gefühl nicht überwinden können, wenn ich in der lautlosen Stille meine eigene Stimme hörte. Ich habe auch noch immer Lampenfieber gehabt. Aber das ging ja wohl auch Größeren so, wie man oft erzählen hört.

Mit der eben genannten Organisation der Schäftearbeiter und -arbeiterinnen habe ich auch die erste Maifeier erlebt. Es war am Donnerstag, den 1. Mai 1890. Man sah bereits in den frühen Vormittagsstunden sonntäglich gekleidete Gruppen von Arbeiterfamilien hinausziehen ins Freie. Wie war das nur möglich? An einem Arbeitstage wagten die Proletarierscharen nicht zu arbeiten, dem Unternehmer damit den Profit zu kürzen? Sie wagten zu feiern an einem Tage, der nicht von Staat oder Kirche als Feiertag festgelegt worden war?

Jawohl, die Arbeiter hatten es gewagt, sich selbst nach eigenem Willen einen Feiertag zu schaffen, und nicht nur die Arbeiter Berlins waren so vermessen, sondern die der ganzen Welt. Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß zu Paris im Juli 1889, dem Hundertjahrstage der großen Französischen Revolution, war der 1. Mai als Weltfeiertag der Arbeit eingesetzt worden.

Dieser Feiertag war dazu angetan, in gleichem Empfinden und Denken das Proletariat der ganzen Welt zu einigen. Auf dem Pariser Kongresse war man zu dem Ergebnis gelangt, daß auf dem ganzen Erdenrund das Proletariat zwar graduell verschieden, doch überall gleich unterdrückt und schutzlos ausgebeutet wurde. Es war daher vereinbart worden, daß in allen Ländern an die Regierungen und gesetzgebenden Körperschaften Forderungen zum Schutze der Arbeiter gestellt und mit Nachdruck vertreten werden müssen. Die Arbeitszeit sollte verkürzt, Kinderarbeit verboten werden und anderes mehr. Dann erst würde der Arbeiter sich seiner Familie widmen können und dann endlich einmal auch Zeit finden, an seiner geistigen Fortbildung zu arbeiten. Ferner sollte dieser Feiertag dazu dienen, in der ganzen Welt einmütig gegen den immer mehr überhandnehmenden Militarismus Front zu machen.

Welch herrlicher Gedanke, zu wissen, daß die Ausgebeuteten, die Unterdrückten der ganzen Welt an diesem Tage seelisch miteinander verbunden sind, daß sie mit allen zu Gebote stehenden Mitteln ihre Forderungen an die Regierenden stellen.

Welchen Schrecken dieser erste Weltfeiertag aber der herrschenden[31] Klasse bereitete, zeigt die Tatsache, daß an diesem Tage das Militär in den Kasernen gehalten wurde, damit es gegebenenfalls einschreiten könne. Auch wurden viele Bahnhöfe durch Militär »gesichert«! Einige vernünftige Bahnhofsvorsteher hatten aber auf Anfragen das Militär abgelehnt, da sie keine Gefahr erblickten und den Arbeitern vertrauten.

Die Arbeiterbevölkerung Deutschlands, befreit vom Druck des Sozialistengesetzes, jubelte diesem Tag entgegen. Und der Himmel selbst schien im Bunde mit ihnen zu sein, denn einen so wunderbar herrlichen ersten Maitag hatten wir seitdem nicht wieder. Warmer Sonnenschein, klarer, wolkenloser Himmel, zartes Maigrün an Baum und Strauch, lebenschwellende Knospen, sprießende Saaten, Vogelgesang, kurz, die wie Leben, Kraft und Schönheit wirkende Natur mußte auch den Menschen neuen Lebensgenuß und Kraft einflößen, mußte sie lehren, alles daranzusetzen, die Schönheiten der Welt auch für sich und die Ihren zu gewinnen.

Als ich an diesem ersten Maitag im Kreise lieber Menschen hinauswanderte nach Grünau, war es herzbewegend für uns alle, als wir unsere geliebte Marseillaise von einem Leierkasten ertönen hörten. Die Gaben flossen reichlich, und erfreut darüber sagte der Drehorgelspieler zu seiner alten Lebensgefährtin: »Siehste, Mutterken, daß ich recht hatte.« Er hatte das Stück zu diesem Tage auf den Leierkasten bringen lassen. Nur wer weiß, daß bis zur Aufhebung des Sozialistengesetzes unsere Lieder verboten waren und daß wir Liederbücher oder einzelne Blätter mit gedruckten Liedern nur heimlich vertreiben konnten, wird unsere Freude über das Spiel des Leiermannes begreifen.

An den Bestimmungsort angelangt, wurden nun nach Herzenslust unsere Arbeiterlieder gesungen, wenn auch von ungeschulten, so doch von begeisterten Sängern; revolutionäre Gedichte von Heinrich Heine, Freiligrath u.a. wurden vorgetragen. Wohl jeder der mit uns Feiernden gelobte, eifriger noch als bisher für die Erlösung der Menschheit aus Not und Unterdrückung wirken zu wollen, sein Leben in den Dienst unserer großen heiligen Sache zu stellen. Im ganzen Reiche, ja in der ganzen Welt hat wohl dieser erste Weltfeiertag wie eine Erlösung gewirkt und Kampfesmut und Entschlossenheit ausgelöst.

Quelle:
Baader, Ottilie: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Auflage, Berlin, Bonn 1979, S. 21-32.
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