Auf dem Kirchgange.

[14] Daß bei feierlichen Gelegenheiten und hohen Kirchenfeiern unsere Landleute sich unschicklich betragen, ist ihnen, gottlob, nicht nachzusagen. Da ist durch die kirchliche und dörfliche Sitte alles Tun und Lassen seit alter Zeit vorgeschrieben. Eher kann es schon passieren, daß Landleute in der Sorge, sich recht würdig bei der Feier zu betragen, zu steif erscheinen und vor Verlegenheit oft sehr seltsame Dinge tun. So ging es jedenfalls Beckers Minchen.

Das Minchen war vor wenigen Sonntagen erst eingesegnet worden. Heute ging sie zum ersten Mal allein im langen schwarzen Kleid zur Kirche. Als sie kaum zwanzig Schritte von der Kirchhofspforte entfernt war, sah sie den Herrn Pastor mit einem anderen Geistlichen, der heute in der Kirche predigen wollte, davorstehen. Da geriet das Minchen in Verlegenheit. An welcher Seite schickte es sich, an den Herren vorüber zu gehen? Zur rechten oder zur linken? Der Durchgang war sehr schmal. Wie sollte es grüßen? Es war nun doch kein kleines Schulmädchen mehr und konnte daher keinen Knix machen? – Das Minchen wurde feuerrot und rannte in seiner Verlegenheit in eine andere Dorfstraße hinein, um hintenherum auf den Kirchhof und in die Kirche zu kommen. Alla Kirchgänger, die dem Minchen mit dem Gesangbuch in der Hand begegneten, fragten es, ob es denn schon wieder aus der Kirche nach Hause wollte? Das Minchen schüttelte nur verlegen den Kopf, bis es hinter der Mühle auf einen Fußsteig kam, der an eine niedrige Stelle der Kirchhofsmauer führte. [14] Hier kletterte es über die Mauer und kam so mit Verspätung in die Kirche und auf den Orgelchor, wohin der Herr Kantor seine Sänger bestellt hatte. Beinahe wäre es für den Chorgesang zu spät gekommen. Und das alles, weil das Minchen nicht wußte, wie es auf dem Kirchgange den Herrn Pastor grüßen sollte.

Es mag noch manches Minchen geben, das hier nicht Bescheid weiß. Für jedes Mädchen ist es sein und schicklich, wenn es am Herrn Pfarrer oder anderen Herren und Damen vorübergeht, mit freundlicher Stimme ein »Guten Morgen« oder »Guten Tag« zu wünschen. Blicken die betreffenden Personen das Mädchen dabei an, so neigt es auch leicht den Kopf zum Gruß. Sprechen auf dem Kirchwege angesehene Leute mit einem Mädchen oder gehen sie mit ihm ein Stückchen des Weges, so schickt es sich, bescheiden an die linke Seite zu treten. An der rechten Seite läßt man stets die Personen gehen, die man ehren will. Auch gehört es sich, daß man auf Fragen nicht intmer nur mit »Ja« oder »Nein« antwortet, sondern den Titel oder den Namen hinzufügt. In diesem Punkte kann man leider recht oft hören, daß Mädchen auf dem Lande wenig ehrerbietig, selbst von ihrer Herrschaft, sprechen, wenn sie dritten Personen von ihnen erzählen. Statt zu sagen, der Herr hat befohlen oder die Frau wünscht das so und so, sprechen sie häufig nur von »er« und »sie«. Das klingt dreist und nichtachtend, und ein Mädchen, das weiß, was sich schickt, sollte auch im Kreise von dreisteren Gefährtinnen sich nie hinreißen lassen, es ihnen nachzutun, sondern ihre höfliche Art ruhig beibehalten. Wie wert wird eine Hausfrau ihr Mädchen halten, von dem sie weiß, daß es auch hinter ihrem Rücken ehrerbietig und in schicklicher Weise von ihr spricht. Leider ist bei Frauen und Mädchen das Gegenteil nur zu oft der Fall. Solche Zungensünden fallen häufig genug selbst bei der Rückkehr vom Kirchgange vor, weil man sich da mit guten Freundinnen und Bekannten trifft. Daß solche unfreundlichen Nachreden besonders häßlich sind, wenn man eben aus der Kirche gekommen ist, wo man ermahnt wurde, alles zum »besten zu kehren«, sollte sich jedes christliche Mädchen mit besonderem Ernste sagen.

Quelle:
Bartz (Friedenau), Marie Luise: Willst genau du wissen, was sich schickt? Potsdam 1912, S. 14-15.
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