Titulaturen und Anreden im Gespräch und Brief.

Eine bei uns Deutschen besonders wichtige und deshalb der Beachtung sehr zu empfehlende Forderung ist die Kenntnis der jeweils erforderlichen Anreden, die wir bei jeder Gelegenheit anzuwenden haben.

Wohl kann man von beiden sagen, daß sie nur zu den Äußerlichkeiten zählen; aber sie sind einmal in unserem gesellschaftlichen Leben eingeführt und müssen deshalb an dieser Stelle erläutert werden.

Schon in der Kindheit werde – vorausgesetzt, daß in der betreffenden Familie die Regeln der guten Lebensart befolgt werden – eingeschärft, die Beantwortung von Fragen stets dadurch freundlicher zu gestalten, daß die Anrede des mit uns Sprechenden der Antwort hinzugefügt wird. Ein Beispiel möge das klar machen. Der Vater frägt seinen Sohn: »Hast du heute in der Schule gut antworten können?«

Hierauf kann der Sohn kurzweg ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagen. Lautet aber die Antwort: »Gewiß, Papa!« oder »Jawohl, Papa!«, klingt sie da nicht viel herzlicher, verbindlicher?

So kann man auch in der gewöhnlichen Unterhaltung jede Anrede oder Antwort freundlicher gestalten, wenn[62] man die Redeformen durch Hinzufügung der Titulatur erweitert. »Meine Dame!« – »Gnädige Frau!« – »Mein Fräulein!« – »Gnädiges Fräulein!« – »Meine Gnädigste!« – »Frau Baronin!« und andere derartige Anreden sind im Verkehr mit Damen allgemein üblich, und ihre Anwendung schadet niemals, vorausgesetzt, daß der Rang der Dame, mit der wir sprechen, die eine oder andere oben genannter Titulaturen rechtfertigt. Ebenso dürfen wir nicht bei Männern versäumen, die gebührende Titulatur zu nennen. »Herr Professor!« – »Herr Doktor!« – »Herr Baumeister!« – »Herr Rat!« – »Herr Pastor!« und viele andere Titulaturen sind üblich; man sagt aber nicht z.B.: »Herr Kaufmann!« – »Herr Tierarzt!« und ähnliche Titel, die die im gewerblichen Leben eingenommene Stellung bezeichnen. Im Verkehr mit selbständigen Handwerkern ist die Anrede »Herr Meister!« üblich.

Den schriftlichen Verkehr anlangend, würde es zu weit führen, wenn wir uns hier über alle üblichen Anreden auslassen wollten, und wir verweisen deshalb auf das unten genannte, im gleichen Verlage erschienene Werkchen, in dem alles in dieser Beziehung Wissenswerte ausführlich behandelt ist.1

Im Verkehr mit Höhergestellten wird die direkte Anrede durch den Titel ersetzt. Man sagt also nicht zu einem hochgestellten Geistlichen: »Haben Sie« usw., sondern man sagt beispielsweise: »Haben Hochwürden« usw. oder »Haben der Herr Konsistorialrat« usw. Besonders in militärischen Kreisen ist diese Redeform allgemein gebräuchlich und sie verbreitet sich immer mehr. Auch gegen Damen kann sie von Herren angewendet werden, im Verkehr von Damen unter sich oder in der Anrede einer Dame an einen Herrn ist sie jedoch verpönt.

Als allgemein üblich gilt übrigens, daß der Amtstitel überall angewendet wird, wo der Geburtstitel keinen höheren Rang gibt.

Es ist nicht höflich, auf eine nicht verstandene Frage kurzweg mit »Nein!« zu antworten, auch vermeide man[63] die Redewendungen »Wie?« – »Was?«, indem man dafür sagt: »Was wünschen Sie, Herr Doktor?« oder: »Wie meinten Sie, Herr Rat?« oder: »Verzeihung, ich habe nicht verstanden!« Muß man etwas verneinen, und paßt eine Milderung, so sagt man statt des einfachen »Nein!« lieber: »Zu meinem Bedauern« oder: »Leidet« usw.

Fußnoten

1 Brunner, H., Neuester Universal-Briefsteller. Ein Ratgeber für jedermann. Kartoniert Mk. 56.40.


Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895].
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